Edvard Munch – Alpha und Omega - Martina Nommsen - E-Book

Edvard Munch – Alpha und Omega E-Book

Martina Nommsen

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Beschreibung

Zwischen Liebe, Sehnsucht und Intrigen, Trauer, Schmerz und Verlust eröffnet sich das Schauspiel auf der emotionalen Bühne einer einsamen Insel, bevölkert von zwei Menschen und zahllosen Inseltieren. Der aussergewöhnlicher Lithographie-Zyklus Alpha und Omega des bedeutenden norwegischen Malers Edvard Munch (1863-1944) umfasst nicht nur die unglückliche (Liebes-)Geschichte zweier Menschen. Vielmehr verweist die mystische Fabel in ihrer grotesken Vielschichtigkeit auf Munchs intensives Privatleben, geprägt durch sein ambivalentes Verhältnis zu Frauen und fungiert zugleich als symbolischer Auftakt der zweiten Schaffens- und Lebensphase des Künstlers nach seinem Zusammenbruch 1908 und des darauffolgenden Aufenthalts in einer Kopenhagener Nervenklinik.

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Diese Publikation erscheint als Neubearbeitung der Master-Arbeit Edvard Munch. Alpha & Omega. Genese und Symbolik eines Lithographie-Zyklus vorgelegt im Zwei-Fächer-Masterstudiengang, Fach Kunstgeschichte der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 2013.

MARTINA NOMMSEN

EDVARD MUNCH

Alpha und Omega

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1Erster Teil – Edvard Munch

1.1«Meine Bilder sind mein Tagebuch» – das private Leben eines Künstlers

1.2Die Kristiania-Bohème

1.3Die Entdeckung der Graphik

1.4Der Lebensfries

1.5Zum Schwarzen Ferkel

1.6«Durch meine Kunst habe ich probiert, mir das Leben und seine Bedeutung zu erklären» – Munch in Dr. Jacobsons Klinik

1.7«Ich verzehre mich danach die norwegische Natur zu sehen und zu malen» – Munchs zweite Schaffensphase

1.8«Ich habe keine anderen Kinder als meine Bilder» – die letzten Jahre

2Zweiter Teil – Alpha und Omega

2.1Von Die ersten Menschen zu Alpha und Omega

2.2Die Lithographie

2.3Das Prosagedicht zu Alpha und Omega

2.4«Es sind meine besten Arbeiten. Ich finde, dies ist das Vollendetste, was ich bisher geschaffen habe.» Der Alpha und Omega-Zyklus

2.5Die Zusatzarbeiten

2.6Die ersten Menschenund Alpha und Omega – ein Vergleich

2.7Relation von Text und Bild – die Illustration

3Dritter Teil – Die Symbolik von Alpha und Omega

3.1«Eine Abrechnung mit mir und meiner zeit.» Edvard Munch und das Griechische Theater

3.2Religiöse und mythologische Konnotationen

3.3Die Lebensalter

3.4Liebe und Tod

3.5Die Insel als Utopie

3.6Die Groteske

3.7Die Melancholie

3.8Das Schleiermotiv

3.9Edvard Munchs Frauenbild um 1900

4Anhänge

5Dank

6Abbildungsverzeichnis

7Bibliographie

Vorwort

Liebe, Verlust, Sehnsucht und Schmerz – dies ist die Bühne für das emotionale Schauspiel, welches sich in den Arbeiten des Künstlers Edvard Munch offenbart, dessen innovativer Stil sowie dessen Umgang mit Arbeitsmaterialien sich als wegweisend für die künstlerischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts erwiesen haben. Als vielseitiger Künstler setzt sich Munch in seiner Kunst nicht nur mit den klassischen Feldern der Malerei, Zeichnung, Skulptur und Graphik auseinander, deren Grenzen er auslotet und gleichsam neu verortet, sondern er experimentiert mit den neusten Technologien der Fotografie und des Films.

Während sein Œuvre in den vergangenen Jahrzehnten intensiv in der Wissenschaft und Literatur behandelt worden ist, findet eines seiner Werke nur marginal Erwähnung und das, obwohl es hinsichtlich seiner persönlichen und künstlerischen Entwicklung als eine seiner bedeutendsten Arbeiten aufgefasst werden kann. Denn während seines Aufenthaltes in einer Nervenklinik 1908/09 erschafft der Künstler einen lithographischen Zyklus, den er Alpha und Omega nennt – eine Arbeit, die als Abschluss seiner ersten künstlerischen Schaffensphase auch seine erste Lebensphase beendet und zugleich die zweite Schaffensphase in Folge eines neuen Lebensabschnittes einläutet.

Trotz der Signifikanz des Lithographiezyklus für Munchs künstlerische und private Entwicklung erfährt dieser in der Kunstwelt bis heute kaum Erwähnung. Eine erste Ausstellung der Lithographien erfolgte 1910, doch sind die Ausstellungskataloge nicht mehr verfügbar. 1973 schreibt Evangeline Zogaris in ihrer Arbeit explizit über diese Serie im Kontext zu Munchs Lebensfries.1 1982 entsteht im Zuge norwegischer und deutscher Ausstellungen des Alpha und Omega-Zyklus ein Ausstellungskatalog von Arne Eggum und Sissel Bjørnstad explizit zu dieser Serie. Zwei Jahre später erscheint anlässlich einer New Yorker Ausstellung der Katalog Edvard Munch. Alpha and Omega. Its Gestation and Resolution von Richard A. Epstein. Erst 2009 erfolgt eine weitere Erwähnung im Ausstellungskatalog Edvard Munch and Denmark von Dieter Buchhart; 2013 erscheint Edvard Munch. Alpha und Omega des Museum Kunst der Westküste.

Die vorliegende Publikation basiert auf der Masterarbeit Edvard Munch. Alpha & Omega. Genese und Symbolik eines Lithographie-Zyklus, welche 2013 an der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel im Fach Kunstgeschichte eingereicht wurde. Seitdem hat sich hinsichtlich einer deutenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den lithographischen Arbeiten wenig getan: Eine Ausnahme bildet Elin Kittelsens Artikel Myth of 1910. Reading Edvard Munch’s Alpha and Omega von 2017.2 Geändert haben sich in den vergangenen acht Jahren allerdings einige Titel der Werke sowie die Datierungen einzelner Zeichnungen und Lithographien, die zu den Vorzeichnungen des Zyklus gerechnet werden können – es hat demnach im Munch Museum in Oslo, welches auf eigenen Wunsch im Folgenden MUNCH genannt wird, durchaus eine Auseinandersetzung mit Munchs graphischen Werken stattgefunden.

Der Versuch einer detaillierten Auseinandersetzung mit der graphischen Mappe impliziert die relevante Entstehungsgeschichte des Werkes unter Berücksichtigung eventueller Vorläufer wie Munchs Zeichnungen Die ersten Menschen sowie inhaltliche Merkmale. Unter diesem besonderen Aspekt ist auch die Persönlichkeit des Künstlers essentieller Bestandteil, da seine Erfahrungen, Gefühle und Seelenzustände in die Umsetzung der Arbeiten einfliessen. Ebenfalls stellt die Relation von Text und Bild einen wesentlichen Aspekt der Auseinandersetzung sowie die inhärente Symbolik des Zyklus dar: Die Insel als utopischer Ort oder Paradies, zwei einsame Menschen wie Adam und Eva, die Vermischung einer ausgeprägten satirischen Groteske, die in Gestalt etwaiger Mischwesen Einzug findet. Auch die mystische, rätselhafte Darstellung der Frau sowie Munchs eigenes Frauenbild spielen eine wichtige Rolle in der Betrachtung der künstlerischen Ausführung sowie deren mögliche Interpretationsweise.

Die vorgestellten Arbeiten werden sowohl mit deutschen als auch norwegischen Titeln und entsprechenden Werkverzeichnisnummern angegeben. Sie beziehen sich auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung von Gerd Woll und Gustav Schiefler, die sich intensiv mit der Zusammenstellung der graphischen und malerischen Arbeiten beschäftigt haben und deren Werkverzeichnisnummern wie folgt gekennzeichnet sind:

• Gustav Schiefler, Edvard Munch, Das graphische Werk 1906– 1926, Berlin 1928. Schiefler nr: XXX

• Gerd Woll, Edvard Munch. Werkverzeichnis der Graphik, München 2001. Woll G XXX

• Gerd Woll, Edvard Munch. Complete Paintings, Catalogue Raisonné, London 2009. Woll M XXX

Die Bildtitel haben sich im Laufe der Jahre mehrfach geändert – bereits zu Munchs Lebzeiten wurden dieselben Werke unter verschiedenen Bezeichnungen ausgestellt. Die hier genannten Titel beziehen sich auf die Werkverzeichnisse bzw. auf die Angaben des MUNCH. Sofern Texte und Notizen Munchs einsehbar waren, sind diese nach den entsprechenden Zitaten durch Endnoten gekennzeichnet – die jeweiligen Übersetzungsquellen werden in den Fussnoten angegeben, die frei übersetzten Texte stammen von der Autorin. Die Schriften Munchs sind sowohl im digitalen Archiv des MUNCH unter www.emunch.no als auch in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek unter https://www.sub.uni-hamburg.de einsehbar. Ferner bietet das MUNCH die sammlungseigenen Werke als Bilddateien an und fördert damit die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Munchs Werken.

1Erster Teil – Edvard Munch

1.1«Meine Bilder sind mein Tagebuch»3 – das private Leben eines Künstlers

Die psychische Verfassung eines Künstlers nimmt (in)direkten Einfluss auf die Ausführung seiner Werke. Offensiv setzt sich Edvard Munch (1863–1944) mit dieser bedeutenden Korrelation auseinander und schöpft aus seinem eigenen Leben als Quelle seiner Kunst. Seine Bilder fungieren als Schlüssel und ermöglichen einen spannenden Blick hinter den Lebensvorhang des Künstlers. Seine Werke zeichnen sich durch einen ausgeprägten biografischen Charakter aus und thematisieren wiederholt die Motive der Liebe, der Angst und des Todes. Seit seiner frühesten Kindheit wird Munch familiär mit Krankheit, Verzweiflung, Tod und Vergänglichkeit konfrontiert; er verliert mit fünf Jahren seine Mutter Laura Catherine Bjølstad und wird sich bis an sein Lebensende mit diesem Schicksalsschlag auseinandersetzen. «Krankheit, Wahnsinn und Tod hielten wie schwarze Engel Wache an meiner Wiege», schreibt Munch an seinen Verwandten Ludvig Ravensberg (1871–1958).4 Munchs erstes Lebenstrauma – der Tod seiner Mutter – entwickelt sich zu einem Hauptmotiv seiner Kunst und wird von ihm in dem Versuch, es zu verstehen, repetitiv aufgegriffen und neu bearbeitet. Mit 13 Jahren erkrankt er schwer, wenige Monate später stirbt seine Schwester Sophie an Tuberkulose. Die krankheitsbedingten Probleme seiner Familie werden ihn bis zu seinem eigenen Tod begleiten. Seine Schwester Laura verbringt viele Jahre in einer Nervenheilanstalt; sein Vater Christian stirbt an einem Schlaganfall, sein Bruder Andreas an einer Lungenentzündung. Nur zwei Personen bilden eine besondere Konstante in seinem Leben: Seine Tante Karen Bjølstad (1839–1931), die nach dem Tod der Mutter den Haushalt übernimmt, sowie seine Schwester Inger Munch (1868–1952).

In Munchs Tagebuch zeigt der 8. November 1880 einen zukunftsweisenden Eintrag des damals 17-Jährigen: «Ich bin nun wieder aus der Technischen Schule abgemeldet. Ich habe mich entschieden Maler zu werden.»5 An der Königlichen Schule für Kunst und Gestaltung in Kristiania lernt er unter Julius Middelthun (1820–1886) und mietet sich 1881 zusammen mit anderen jungen Malern ein Atelier im Neubau «Pultosten» in der Karl Johans Gate, in welchem auch die norwegischen, dem Naturalismus verbundenen Maler Frits Thaulow (1847–1906) und Christian Krohg (1852–1925) arbeiten, wobei letzterer die Mentorenposition einnimmt und Munch Privatunterricht erteilt. Erstmals öffentlich präsentiert Munch seine Werke 1883 auf «Den Nordiske Industri-, Landbrugs- og Kunstudstilling» (Die Nordische Industrie-, Landwirtschafts- und Kunstausstellung) sowie in der Herbstausstellung Kristianias; ab Herbst 1884 arbeitet er in Thaulows Freiluftakademie in Modum, der ihm im darauffolgenden Jahr ein Stipendium für einen Aufenthalt in Frankreich ermöglicht, um die dortige Herbstausstellung zu besuchen. Können Munchs anfängliche Werke einer naturalistischen Auffassung zugeordnet werden, treten nach diesem Paris-Aufenthalt erste Veränderungen auf. In der Folge entstehen sowohl impressionistische Genre-Darstellungen und Landschaftsszenerien als auch bedeutende autobiographische Schriften wie das 1889 verfasste St. Cloud-Manifest. Munch verharrt nicht in diesem künstlerischen Moment; vielmehr befindet er sich schon in dieser Zeit – in seinem Bestreben, jeden ersten Eindruck angemessen umzusetzen – auf jener Suche, die ihn sein Leben lang begleiten, fordern und bestärken wird: «Es war in der Zeit des Realismus und Impressionismus – Da befand ich mich entweder in einer kranken aufgeriebenen Sinnesstimmung oder in einer frohen Stimmung, fand eine Landschaft die ich gerne malen möchte – Ich holte die Staffelei – Stellte sie auf und malte das Bild nach der Natur – Es wurde ein gutes Bild – … aber es wurde nicht was ich malen wollte – Ich habe es nicht geschafft es genauso zu malen wie ich es in der kranken Stimmung oder der frohen Stimmung sah – So passierte es oft – Ich begann dann in einem ähnlichen Zufall das auszukratzen was ich gemalt hatte – Ich suchte in meiner Erinnerung das erste Bild – Den ersten Eindruck – Und ich suchte und versuchte ihn zurück zu bekommen.»6 Diese einschneidenden Veränderungen zeigen sich in zwei der ersten, biographischen Gemälde. 1885/86 entsteht Das kranke Kind,7 1889 folgt Frühling8 – Motive, die Munch in seinem künstlerischen Schaffen wiederholt aufgreifen und variieren wird. 1929 berichtet er rückblickend: «Mit Frühling – das kranke Mädchen und die Mutter am offenen Fenster, im hereinströmenden Sonnenschein – nahm ich Abschied vom Impressionismus und Realismus. Mit Das kranke Kind bahnte ich mir neue Wege – es wurde zu einem Durchbruch in meiner Kunst. Die meisten meiner späteren Werke verdanken diesem Bild ihre Entstehung.»9 Dieser Abschied von Impressionismus und Naturalismus offenbart sich auch in Munchs Aussage, dass «keine Interieurs» mehr gemalt werden sollen, «keine Menschen, die lesen, keine Frauen, die stricken. Es müßten lebende Menschen sein, die atmen und fühlen, leiden und lieben.»10 Diese lebendigen und emotional aufgeladenen Figuren läuten die Hinwendung zu Munchs Symbolismus ein.

Er widmet sich der Thematik des Meeres und integriert eine förmlich spürbare Sehnsucht in seine Motivwelten. Das Meer als Spiegel der Seele wird zur Bühne einsamer Menschen, positioniert am verlassenen Ufersaum – Munch wird mit diesen Darstellungen die Grenzen der bekannten Kunst überschreiten und ausdrucksstarke Stimmungsbilder mit expressiven Farben und Formen schaffen. Seine innovative und auf die Kunstwelt ungewöhnlich erscheinende Ausdrucksweise findet in seinem Heimatland jedoch keinen Erfolg – seine Arbeiten werden vielmehr mit Verachtung und Kritik geahndet. In der Hoffnung, ein aufgeschlosseneres Publikum zu erreichen, wendet er sich 1892 Deutschland zu, doch seine Ausstellung in Berlin wird unmittelbar nach der Eröffnung wieder geschlossen. Das Unverständnis der Kritiker und der daraus resultierende Druck gegenüber der «neuen» Kunstform sind zu ausgeprägt. Doch aus den negativen Schlagzeilen, die wochenlang in den Zeitungen aufgegriffen werden, entwickelt sich eine ungeahnte Popularität Munchs und führt in der Folge zu einem entscheidenden Ereignis in der deutschen Kunstszene: der Gründung der Berliner Sezession.11

1.2Die Kristiania-Bohème

Bereits vor seiner ersten Reise nach Paris begegnet Munch einer Gruppe junger Künstler, die sich in der Hauptstadt Norwegens um den norwegischen Dichter Hans Jæger (1854–1910) versammeln und als Kristiania-Bohème bezeichnen. Jung und antibürgerlich eingestellt, distanziert sich die Gruppierung von den konservativen Richtlinien der Stadt, um «eine bessere, gerechtere Gesellschaftsordnung»12 einzuführen. Zentrale Leitpunkte der Satzung sind «freie Liebe», «Alkoholkonsum», «Gleichheit der Geschlechter» und die damit verbundene «Befreiung der Frau» aus konservativen, vorgeschriebenen Rollenbildern. Neben diesen Leitlinien stellt die Bohème neun Gebote13 auf:

Du sollst dein Leben schreiben

Du sollst die Wurzeln deiner Familie zerschneiden

Man kann seine Eltern nicht schlecht genug behandeln

Du sollst deinen Nächsten nie für weniger Geld als für

5 Kronen schlagen

Du sollst alle Bauern wie Björnstjerne Björnsson hassen

und verachten

Du sollst nie Zelluloidmanschetten tragen

Vergiß nie, im Kristiania-Theater Skandal zu machen

Du sollst nie etwas bereuen

Du sollst dir das Leben nehmen

Trotz der schwierigen familiären Situation nimmt die Familie für Edvard Munch einen hohen Stellenwert ein; weder ist es ihm möglich, seine Wurzeln zu verleugnen, noch, sich von seiner Familie loszusagen. Er versucht weiterhin, sein Leben in seinen Werken umzusetzen und nutzt dazu diverse Medien wie literarische Texte oder Arbeiten malerischer oder graphischer Form. Insbesondere der neunte Punkt, der von vielen Mitgliedern der Bohème eingehalten wird, findet bei Munch keinerlei Zuspruch. Trotz seiner häufigen Krankheitsepisoden zeigt er sich dem Leben eng verbunden – freiwillig zu sterben ist für ihn keine Option. Aus konservativem Elternhaus stammend, wird vor allem das Ideal der freien Liebe problematisch für den jungen Munch – er kann sich mit der Ideologie der Bohème nie völlig identifizieren. Doch die dortigen Bekanntschaften werden sein weiteres Leben sowohl positiv als auch negativ prägen, inspirieren und beeinflussen. So verfasst er 1904/05 das Gedicht Die Stadt der freien Liebe, in welchem er sich mit Sarkasmus und Humor der Bohème und ihren Mitgliedern entgegenstellt.14

Im Kreis der Bohème begegnet Munch der Liebe – 1885 lernt er die verheiratete Milly Thaulow (1860–1937), die Schwägerin von Frits Thaulow, kennen, die in seinen Aufzeichnungen die Anonymisierung «Frau Heiberg» trägt. Mit ihr wird er eine langjährige Beziehung eingehen, die zu den ersten, gegenüber der Frau Distanz signalisierenden Gedanken führt. Munch formuliert als Resümee: «Wie tief ist das Merkmal, das sie in mein Gehirn eingraviert hat, so daß kein anderes Bild ihres je vertreiben kann … Eines Tages hob sie die Schalen mir von den Augen ab, und ich sah das Haupt der Medusa. Danach habe ich alle Hoffnung, lieben zu können, aufgegeben.»15 Sich von der Liebe betrogen fühlend, wird Munch Frauen fortan mit Misstrauen begegnen. Mit dem Ende der Beziehung geht auch die Loslösung von der Bohème einher und Munch beginnt ein neues Lebenskapitel.

1.3Die Entdeckung der Graphik

Munchs Œuvre bildet eine äußerst komplexe, sich wechselseitig beeinflussende und miteinander interagierende Einheit, so dass eine Differenzierung graphischer und malerischer Werke wenig sinnvoll erscheint. Bereits Mitte der 1890er Jahre beschäftigt sich der Künstler mit diversen Herstellungsverfahren und beginnt mit der Anfertigung von Druckgraphiken. In Paris dürfte er durch den französischen Maler Paul Gauguin (1848–1903) mit der graphischen Technik der Radierung in Kontakt gekommen und von den dort weit verbreiteten japanischen Farbholzschnitten inspiriert worden sein. Zu dieser Zeit ist Munch nur einer von vielen Künstlern, die sich mit dieser neuen Ausdrucksmöglichkeit auseinandersetzen, darunter auch die Deutsche Käthe Kollwitz (1867–1945) und der Franzose Henri Toulouse-Lautrec (1864–1901). Letzterer entwirft 1891 das Aufsehen erregende Moulin Rouge-Plakat16 mit innovativen verschiedenfarbigen Druckbereichen. Das Verfahren der Kaltnadeltechnik eignet sich Munch um 1894 in Berlin an, woraufhin erste graphische Werke entstehen. Die intensive Auseinandersetzung setzt sich ab 1895 bei dem nächsten Paris-Aufenthalt fort, wo er die Methode der Ätzung und die Hochdrucktechnik der Lithographie erlernt.17 Munch arbeitet an Farblithographien, die er bei Toulouse-Lautrecs Drucker Auguste Clot (1858–1936) herstellen lässt. Bei diesen frühen graphischen Werken handelt es sich vorwiegend um Reproduktionen vorangehender Gemälde – die Lithographie wird in diesem Fall als Möglichkeit begriffen, diese kostengünstig und mit weniger Aufwand in hoher Auflage herstellen zu können. Dennoch sind diese aufgrund der zahlreichen detaillierten Variationen innerhalb der Motive nicht als reine Kopien aufzufassen.

1.4Der Lebensfries

Der Lebensfries gilt als eines der Hauptwerke Munchs; er selbst schreibt 1918: «An diesem Fries habe ich mit großen Unterbrechungen etwa 30 Jahre lang gearbeitet. Die ersten skizzenhaften Entwürfe stammen aus den Jahren 1888–1889 … Der Fries ist als eine Reihe dekorativer Bilder gedacht, die, gesammelt, ein Bild des Lebens geben sollen. Durch diese Bilder verläuft die gebogene Strandlinie: außerhalb liegt das immer bewegte Meer, und unter den Baumwipfeln wird das vielfältige Leben mit seinen Freuden und Leiden dargestellt. Der Fries ist eine Dichtung über Leben, Liebe und Tod.»18 Den umfassendsten Bereich des Frieses nimmt die Thematik der Liebe ein und es entstehen in den 1890er Jahren auf Basis des Adam-und-Eva-Motivs weitere Werke wie Zwei Menschen. Die Einsamen (1894) (Abb. 1) und Auge in Auge (1899–1900) (Abb. 2) – emotional eindringlich aufgeladene Arbeiten, die den Besucher fesseln und deren Themen von Munch mehrfach aufgegriffen und bearbeitet werden. Die unlösbar miteinander verwobenen Motive des Lebens, der Liebe, der Angst und des Todes werden von ihm bereits vor den Darstellungen des Lebensfrieses thematisiert und nachfolgend repetitiv aufgegriffen. Die lithographische Serie Alpha und Omega setzt sich ebenfalls mit dieser Thematik auseinander und zitiert somit einen Motivkomplex, der bereits Jahre vorher angelegt wurde. Jede Arbeit Munchs ist der Anfang einer jahrelangen Auseinandersetzung, die nicht unbedingt durch Fertigstellung des entsprechenden Werkes abgeschlossen ist. Nicht nur aufgrund derselben Thematik kann der Lebensfries somit als ein Vorläufer des Alpha und Omega-Zyklus gelten, auch die Konzeption des Frieses als Serie taucht – mit Ausnahme der 1894 in einer schwedischen Ausstellung präsentierten Serie Liebe – erstmalig in Munchs Werkumfang auf.19 Motivisch findet zu diesem Zeitpunkt die Entdeckung der Strandlinie statt, die oftmals abendlich inszeniert zur Bühne von Munchs emotional aufgeladenen Darstellungen wird. Das 1894 gemalte Werk Die Frau. Sphinx (Abb. 3), dessen Motiv auch unter den Titeln Die Frau in drei Stadien (1894)20 oder Das Weib (1895)21 bekannt ist, befindet sich auf ebendieser Bühne, gefangen zwischen einem mysteriösen düsteren Wald und dem kontrastierenden hellen Meeresstrand. Die Frauenfigur zeigt die drei Stadien der Vergänglichkeit auf und kann gemeinsam mit der Variante des Motives Der Tanz des Lebens ab 1899 (Abb. 4) als ausschlaggebendes Werk in Bezug auf die Konnotation der Alpha und Omega-Mappe berücksichtigt werden.22

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1.5Zum Schwarzen Ferkel

«Eines Tages – das ‹Ferkel› war gerade begründet worden – tauchte dort ein junger Norweger auf, in hellem Pelerinenmantel, Zylinder auf dem Kopf und mit verträumten Augen im müden, verdrossenen, aber energisch geschnittenen Gesicht. Es war Munch.»23

(Der schwedische Schriftsteller Adolf Paul (1863–1943), 1892)

In den Jahren vor 1900 verbringt Munch viel Zeit in Berlin und schließt sich dem dortigen, vor allem aus skandinavischen Künstlern bestehenden Kreis an, von denen einige bereits Mitglieder der Kristiania-Bohème waren. Bedeutsame Mitglieder sind der norwegische Dramatiker und Journalist Gunnar Heiberg (1857–1929), der dänische Maler und Dichter Holger Drachmann (1846–1908), der norwegische Bildhauer Gustav Vigeland (1869–1943), der norwegische Maler Christian Krohg sowie der deutsche Journalist und Schriftsteller Otto Julius Bierbaum (1865–1910), der deutsche Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe (1867–1935), der deutsche Schriftsteller Max Halbe (1865–1944) und der polnische Schriftsteller Stanislaw Przybyszewski (1868–1927). Die Künstlergruppe trifft sich in dem von dem schwedischen Schriftsteller und Künstler August Strindberg (1849–1912) umbenannten Bierlokal Zum Schwarzen Ferkel und setzt sich insbesondere mit spirituellen Themen sowie den Inhalten der Kristiania-Bohème in Bezug auf Rolle und Position der Frau auseinander.24 Auch die norwegische Schriftstellerin Dagny Juel (1867–1901) ist Teil dieser Gruppierung und geht nach diversen Affären eine Beziehung mit Stanislaw Przybyszewski ein. Munch und Strindberg sind vermutlich beide an Juel interessiert und häufig bei dem Paar zu Gast – 1895 entsteht Munchs Gemälde Eifersucht.25 Doch wer ist der Eifersüchtige?26 Handelt es sich um Przybyszewski, Strindberg oder doch um Munch selbst? Im Zuge dieses Vierergespanns und der vermuteten Affären untereinander schlägt die Freundschaft zwischen Strindberg und Munch ins Gegenteil um. In späteren Jahren wird Munch durch übermässigen Alkoholkonsum eine ausgeprägte Paranoia entwickeln, im festen Glauben, Strindberg wolle ihn töten.

1.6«Durch meine Kunst habe ich probiert, mir das Leben und seine Bedeutung zu erklären»27 – Munch in Dr. Jacobsons Klinik

Munchs intensive, ausschweifende und daher höchst problematische Alkoholsucht findet ihren Höhepunkt in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts, nach dem dramatischen Ende seiner Beziehung zu Mathilde, genannt Tulla, Larsen (1869–1942). Mit ihr verbringt er zahlreiche Sommer in seinem Haus in Åsgårdstrand. Er fühlt sich durch Larsens Annäherungsversuche allerdings bedrängt und lehnt eine eheliche Verbindung ab. Während eines eskalierenden Streits löst sich ein Pistolenschuß, wodurch Munch ein Fingerglied der linken Hand verliert. Es sind Gunnar Heiberg und der Theaterkritiker Sigurd Bødtker (1866–1928), die Larsen zu einem Beziehungsende raten. Munch selbst fühlt sich hintergangen. In einem Brief an seinen engen Freund, den norwegischen Schriftsteller und Kunstkritiker Jappe Nilssen (1870–1931), der ebenfalls zeitweise in den Kreisen der Bohème verkehrte, schreibt der zutiefst verletzte Künstler: «Aber mich hat ja ihre Niederträchtigkeit fürs Leben ruiniert – meinen Körper und meine Seele beschmutzt, mich aus dem Land und aus dem Reich gejagt – und mich zum Geächteten in der ganzen Welt gemacht – Schuld daran war die Geilheit einer Frühlingsnacht. – Nur noch eine Frage. Kannst Du Dir vorstellen, was eine mißgestaltete Hand bedeutet – Ständiger Schmerz von morgens bis abends – eine Hand, ein Wunderwerk Gottes – ist durch gemeine Rohheit zerstört … Das kann man nicht vergessen – Liebesschmerz kann man vergessen, aber nicht körperliche Gebrechen.»28 Nach der Trennung ist Munch psychisch erschöpft und erlebt einen Höhepunkt seines paranoiden Verfolgungswahns. Nicht nur sieht er Larsen als Verräterin, auch in seinen ehemaligen Freunden aus der Bohème vermutet er Feinde, darunter allen voran Gunnar Heiberg, Sigurd Bødtker sowie seinen ehemaliger Mentor Christian Krohg.

Munchs ohnehin schon ausgeprägte Angststörung und die wiederkehrenden Halluzinationen werden durch den übermäßigen Alkoholkonsum gesteigert, so dass er unter einem erheblichen Verfolgungswahn leidet: «Sitze und trinke einen Whisky nach dem anderen – der Alkohol reizt nun nicht mehr – … Die feinsten Nerven sind betroffen … und der allerfeinste ist angegriffen – ich fühle es, es ist der Lebensnerv – er verbrennt – ich lasse ihn verbrennen – aus damit! der Schmerz soll enden – die Angst soll enden – Whisky auf Whisky verbrennen den Schmerz, die Angst – alles – und dann ist es aus.»29 Der Alkohol ermöglicht Munch jedoch nur eine kurze Flucht von seinen Problemen und den Erinnerungen an die Vergangenheit – die familiären Todesfälle, die Intrigen innerhalb der Kristiania-Bohème sowie seine gescheiterten Liebesbeziehungen. Seelisch und körperlich wird er durch die Sucht in eine lebensgefährliche Situation getrieben, so dass er schließlich seinen Freund, den dänischen Autor Emanuel Goldstein (1862–1921) bittet, ihn in die Kopenhagener Nervenklinik von Dr. Daniel Jacobson (1863–1939) zu bringen, wo er sieben bis acht Monate bleiben wird.30 Es ist nicht das erste Mal, dass Munch sich zu einer Behandlung entschließt – einige Monate vor diesem Aufenthalt schreibt er einem Freund, er wolle nach Dänemark reisen, um «vielleicht ein Gefängnis für die gehobene Klasse krimineller Aristokraten auszuprobieren, oder wie man eine Nervenheilanstalt nennen mag».31 Er kontaktiert Dr. Einar Brünniche (1866–1932), einen dänischen Arzt in Hornbæk, erscheint jedoch nicht zu dem vereinbarten Termin.32