Ehrenamt verstehen - Bettina Hollstein - E-Book

Ehrenamt verstehen E-Book

Bettina Hollstein

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Beschreibung

Wer das Ehrenamt fördern will, muss es verstehen. Dieses Buch liefert eine fundierte Analyse des Ehrenamts, der Motive, die ehrenamtliches Handeln antreiben, und der Situationen, in denen es entsteht. Dabei werden gängige Vorurteile über das Ehrenamt aufgedeckt und anhand von empirischen und theoretischen Argumenten entkräftet. Mithilfe der neopragmatistischen Handlungstheorie von Hans Joas zeigt die Autorin die Kontingenz, die Körperlichkeit und die Sozialität des Handelns im Ehrenamt auf. Schließlich entwickelt sie Vorschläge zur Förderung des Ehrenamts für Staat, Wirtschaft und Non- Profit-Organisationen auf der Basis eines wirtschafts- und sozialethischen Konzepts.

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Bettina Hollstein

Ehrenamt verstehen

Eine handlungstheoretische Analyse

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Wer das Ehrenamt fördern will, muss es verstehen. Dieses Buch liefert eine fundierte Analyse des Ehrenamts, der Motive, die ehrenamtliches Handeln antreiben, und der Situationen, in denen es entsteht. Dabei werden gängige Vorurteile über das Ehrenamt aufgedeckt und anhand von empirischen und theoretischen Argumenten entkräftet. Mithilfe der neopragmatistischen Handlungstheorie von Hans Joas zeigt die Autorin die Kontingenz, die Körperlichkeit und die Sozialität des Handelns im Ehrenamt auf. Schließlich entwickelt sie Vorschläge zur Förderung des Ehrenamts für Staat, Wirtschaft und Non- Profit-Organisationen auf der Basis eines wirtschafts- und sozialethischen Konzepts.

Vita

Bettina Hollstein ist seit 1998 wissenschaftliche Kollegreferentin am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt.

Meiner Familie

Inhalt

Vorwort

1.Das Phänomen Ehrenamt

1.1Fragestellung

1.2Begrifflichkeiten

1.3Ehrenamt in Zahlen

1.4Motive ehrenamtlichen Handelns

2.Ehrenamt als nutzenorientiertes Handeln

2.1Eine Beispielstudie (Marcel Erlinghagen)

2.2Der Nutzenbegriff

2.3Ökonomische Modelle des Ehrenamts

2.3.1Ehrenamt im Nutzenkalkül

2.3.1.1Das Nutzenkalkül des Individuums

2.3.1.2Das Nutzenkalkül des Haushalts

2.3.2Ehrenamt als Humankapitalinvestition

2.3.3Ehrenamt und Markt

2.3.3.1Arbeitsmarktmodell und Ehrenamt

2.3.3.2Verdrängungseffekte am Ehrenamtsmarkt

2.4Kritische Würdigung des ökonomischen Handlungsmodells

2.4.1Ehrenamtsmarkt und Neue Institutionenökonomik

2.4.2Grundlegende Annahmen ökonomischer Ansätze und experimentelle sowie evolutorische Ökonomik

2.4.3Wertbezug und Normativität aus »heterodoxer« ökonomischer Perspektive

2.4.3.1Die Sozio-Ökonomik von Amitai Etzioni

2.4.3.2Wirtschaftsethische Ansätze

3.Normativ orientierte Theorien des Ehrenamts

3.1Eine Beispielstudie (Gisela Jakob)

3.2Die Begriffe »Normen«, »Werte» und »Gemeinsinn«

3.3Integrative Wirtschaftsethik, Identität, republikanischer Bürgersinn – Elemente normativ orientierter Theorien

3.3.1Die Integrative Wirtschaftsethik von Peter Ulrich

3.3.2Ergänzung und Kontrastfolie: Strukturanthropologische Grundlagen normativ orientierten Handelns und moderne Moralquellen bei Charles Taylor

3.3.3Republikanischer Bürgersinn und Gemeinschaften

3.4Kritische Würdigung der normativ orientierten Handlungstheorien

3.4.1Normatives Aufklärungsprojekt und Expressivität

3.4.2Bürgersinn und Gemeinschaften in historischer Perspektive

3.4.3Normatives Zivilgesellschaftsprojekt und Sozialstaatskrise – Lösung durch Bürgerarbeit?

4.Integrationsversuch von nutzenorientierten und normativ orientierten Theorien: Kapitaltheoretische Ansätze

4.1Eine Beispielstudie (Ludgera Vogt)

4.2Der Begriff des Sozialkapitals

4.3Kapitaltheoretische Theorien des Ehrenamts

4.3.1Sozialkapital als Ressource für das ehrenamtlich engagierte Individuum

4.3.2Sozialkapital als Ressource für die Gesellschaft

4.4Kritische Würdigung des kapitaltheoretischen Handlungsmodells

4.4.1Tugenden, Nutzen, Modernisierung

4.4.2Verborgener Utilitarismus

4.4.3Partikularismus und Funktionalismus

5.Integrationsversuch durch eine Theorie der Kreativität des Handelns: Der neopragmatistische Ansatz von Hans Joas

5.1Pragmatistische Grundbegriffe

5.2Die Kreativität des Handelns

5.2.1Kritik am Rationalmodell

5.2.2Kritik an fehlender Körperlichkeit

5.2.3Kritik an fehlender Sozialität des Handelns

5.3Bürgerschaftliches Engagement als kreatives Handeln

5.3.1Sinndimension, Funktion, Kreativität

5.3.2Ehrenamt als verkörperter Selbstausdruck

5.3.3Sozialität, Gabe, Ehrenamt

5.4Kritische Würdigung der neopragmatistischen Handlungstheorie

5.4.1Vergleich mit nutzenorientierten, zweckrationalen Modellen

5.4.2Vergleich mit normativ orientierten Modellen

5.4.3Vergleich mit kapitaltheoretischen Modellen

6.Folgerungen für die Förderung von bürgerschaftlichem Engagement in sozial- und wirtschaftsethischer Perspektive

6.1Handlungstheorie, Anthropologie, Ethik

6.2Aspekte einer handlungstheoretisch fundierten Sozial- und Wirtschaftsethik im Ehrenamt

6.3Förderung von Engagement in ethischer Perspektive

6.3.1Förderung des freiwilligen Engagements durch den Staat

6.3.2Förderung des freiwilligen Engagements durch die Wirtschaft

6.3.3Förderung des freiwilligen Engagements durch Organisationen des Dritten Sektors

7Fazit

Tabellen- und Grafikenverzeichnis

Tabellen

Grafiken

Literatur

Vorwort

Dieses Buch verdankt sich einem langen Entstehungsprozess. Vor über 15 Jahren skizzierte ich – von Hause aus Ökonomin – ein paar Fragen in Bezug auf den ökonomischen Arbeitsbegriff, der mir angesichts des Phänomens Ehrenamt problematisch erschien. Meine eigenen Erfahrungen mit Ehrenamt ließen sich in traditionelle ökonomische Handlungsmodelle nur sehr schlecht integrieren und kaum sinnvoll rekonstruieren. Aus diesen ersten Fragen entwickelte sich eine Skizze für ein Habilitationsprojekt am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt, das gerade als erste Institution der Universität Erfurt gegründet wurde. In der Aufbauzeit der Universität geriet das Projekt in den Hintergrund – neue Aufgaben im Bereich der Geschäftsführung des Kollegs ließen es zum Privatvergnügen nach Feierabend werden. Drei Kinder sorgten für Verzögerungen im Bereich Forschungstätigkeiten und doch entwickelte sich auch dieses »Baby« ganz langsam weiter. Einen Wachstumsschub erfasste es im Zuge der Zusammenarbeit mit Hans Joas, dessen Handlungstheorie »Die Kreativität des Handelns« mir einen Schlüssel bot, um meine Überlegungen systematisch weiter zu entwickeln. Im Herbst 2013 wurden die Ergebnisse als Habilitationsschrift eingereicht und werden hiermit – nur geringfügig überarbeitet – einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ein wesentliches Anliegen ist dabei nicht nur eine theoretische Fundierung für das Verständnis von Ehrenamt zu liefern, sondern zugleich auch Anregungen für eine konkrete Umsetzung wirtschafts- und sozialethischer Überlegungen zur Förderung des Ehrenamts. Das Ziel ist somit nicht nur ein Fachpublikum, sondern auch eine am Ehrenamt interessierte Öffentlichkeit zu erreichen.

Vielen bin ich zu großem Dank verpflichtet für kontinuierliche Unterstützung und Begleitung, allen voran meinen jeweiligen »Chefs«, die Dekane bzw. Direktoren des Max-Weber-Kollegs: Wolfgang Schluchter, der mich an das Max-Weber-Kolleg geholt hat und der ersten unbeholfenen Skizze meines Vorhabens Interesse entgegen brachte, Hans Joas, dessen Werk mir die größte Inspirationsquelle war und der mich in aller Freundschaft immer wieder mit kritischen Kommentaren zu meinen Entwürfen zu weiteren Verbesserungen anspornte, Wolfgang Spickermann, der mich in schwierigen Zeiten unterstützt und einen Forschungsaufenthalt zum Fertigstellen des Manuskripts ermöglicht hat, und schließlich Hartmut Rosa und Jörg Rüpke, die den Abschluss des Prüfungsverfahrens begleitet und mich insbesondere in der Phase der Veröffentlichung beraten und unterstützt haben.

Viele wichtige Gedanken und Impulse, Kommentare und Anregungen sowie Kritik und Verbesserungsvorschläge verdanke ich den Kolloquien und Diskussionen am Max-Weber-Kolleg mit unterschiedlichsten Fellows, Gastwissenschaftlerinnen, Kollegiaten sowie den Gesprächspartnern bei Vorträgen und Tagungen, wo ich immer wieder Teilergebnisse meiner Arbeit vorstellen und diskutieren durfte. In Seminaren des Studium Fundamentale habe ich – insbesondere in der Zusammenarbeit mit Annette Barkhaus – mit Studierenden ökonomische und philosophische Zugänge diskutiert und auf diese Weise meine Argumentation schärfen können. Mein sechswöchiger Aufenthalt am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Study) hat dazu beigetragen, dass ich mein Manuskript abschließen konnte. Ich danke den damaligen Leitern der School of History, Ulrich Herbert und Jörn Leonhard, für die Einladung und Wolfgang und Gudrun Reinhard dafür, dass sie mich in dieser Zeit bei sich aufgenommen und mit ihrer wunderbaren Gastfreundschaft für die allerbesten Arbeits- und Lebensbedingungen gesorgt haben.

Besondere Verdienste haben sich auch alle die erworben, die ganze Kapitel oder einzelne Textteile gelesen und kritisch kommentiert haben, u. a. Matthias Jung, Wolfgang Knöbl, Andrea Esser, Wolfgang Reinhard und viele andere. Den Gutachtern meiner Arbeit, Thomas Beschorner, Dietmar Mieth und Hans G. Nutzinger danke ich für wohlwollende Kritik. Christian Scherer hat mit großer Akribie formale Fehler bereinigt. Die Mitarbeiterinnen am Max-Weber-Kolleg, Ilona Bode, Ursula Birtel-Koltes, Diana Blanke, die auch mit großer Sorgfalt Literaturangaben in meine Endnote-Datenbank eingegeben hat, Doreen Hochberg und Diana Püschel, haben mich durch ihre selbständige Arbeitsweise und ihre große Leistungsbereitschaft im Alltagsgeschäft hervorragend unterstützt und entlastet. Allen genannten und vielen nicht genannten gebührt großer Dank.

Meine Eltern haben nie daran gezweifelt, dass ich dieses lang andauernde Projekt irgendwann auch abschließen würde; weitere Familienmitglieder, Freunde und Bekannte haben mit wohlwollendem Interesse mein Vorhaben begleitet und viele Erfahrungen im Bereich des Ehrenamts mit mir geteilt; meine Kinder und mein Mann haben es ertragen, dass ich viel Zeit – auch an Abenden, Wochenenden und im Urlaub – in dieses Vorhaben gesteckt habe, die für andere Aktivitäten nicht mehr zur Verfügung stand, mich auch über Durststrecken hinweg getragen und die Gefahr eines Tunnelblicks gebannt. Meiner Familie widme ich daher dieses Buch.

Erfurt, im Juni 2015

Bettina Hollstein

1.Das Phänomen Ehrenamt

Noch ein Buch zum »Ehrenamt«! Wer braucht das? Es gibt doch bereits eine große Menge an Literatur zu diesem Thema – angefangen von politischen Verlautbarungen, die das Ehrenamt loben und seine weitere Stärkung fordern, bis hin zu wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Anzahl der Artikel, Tagungen, Expertengespräche und wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Phänomen hat seit den 1980er Jahren deutlich zugenommen und ist so umfangreich geworden, dass man nicht mehr behaupten kann, dass Ehrenamt ein vernachlässigtes Thema sei.1

Hinzu kommt, dass viele Menschen entweder selbst schon einmal ehrenamtlich tätig waren oder jemanden kennen, der sich ehrenamtlich engagiert. Somit fühlen sich die meisten aufgrund ihrer Lebenserfahrung selbst als Experten für dieses Thema. Ein Bedarf an einer weiteren wissenschaftlichen Untersuchung eines so allgemein bekannten Phänomens drängt sich daher nicht unmittelbar auf.

Trotzdem wird hiermit ein weiteres Buch zum Ehrenamt vorgelegt. Es erhebt nicht den Anspruch, eine neue empirische Untersuchung zu einer bestimmten Gruppe von Ehrenamtlichen oder zu einer speziellen Organisation vorzulegen.2 Es zeichnet sich auch nicht durch einen neuen methodischen Zugang zur Analyse des Phänomens aus, etwa die Untersuchung von Beziehungen unter Ehrenamtlichen mit Hilfe von Langzeitbeobachtungen oder die vergleichende Analyse verschiedener Ehrenamtsorganisationen in unterschiedlichen Milieus, Ländern oder sonstigen Kontexten. All dies sind interessante Aspekte, denen aber hier nicht nachgegangen werden soll.

Vielmehr soll versucht werden, anhand einer spezifischen Fragestellung die Fülle von Literatur und Materialien zum Ehrenamt zu sortieren und einzuordnen, um dieses Phänomen besser verstehen zu können. Worin diese Fragestellung besteht, entwickle ich im folgenden Abschnitt (1.1). Dabei möchte ich zeigen, dass die vorhandenen Untersuchungen häufig Blindstellen haben, die zu systematischen Problemen führen. Diese führen gegebenenfalls auch zu Fehleinschätzungen in Bezug auf die Möglichkeiten, ehrenamtliches Engagement zu fördern.

Die Förderung des Ehrenamts ist ein relativ unumstrittenes Ziel. »Mehr davon, denn Ehrenamt ist wichtig!« So könnte man die vielen Stellungnahmen zu diesem Thema, die in anderen Punkten durchaus divergieren, zusammenfassen. »Lediglich hinsichtlich der Meinung, dass bürgerschaftliches Engagement eine wichtige Funktion in der Gesellschaft hat und dass es zu fördern sei, besteht ein großer Konsens.« (Tschersich 2008: 1)

Auf breiter Front ist dieser Ruf nach mehr institutioneller Förderung des Ehrenamts zu vernehmen – sei es auf globaler oder EU-Ebene,3 auf Bundesebene oder lokaler Ebene.4 Das Jahr 2001 wurde von der UNO sogar zum Internationalen Jahr der Freiwilligen ausgerufen, was eine Fülle von Aktivitäten auf nationaler5 und regionaler Ebene nach sich zog.6

Bereits im Jahr 1999 hatte der Deutsche Bundestag zu diesem Thema eine Enquete-Kommission einberufen, die 2002 ihren umfangreichen Bericht zur Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements vorlegte (Deutscher Bundestag 2001). Die Politik hat versucht, auf die vielfältigen Forderungen und Empfehlungen in Bezug auf ehrenamtliches Engagement zu reagieren.7 Bürgerschaftliches Engagement wird inzwischen »als ein eigenständig zu entwickelndes Politikfeld« betrachtet, also als ein Bereich, welcher der Gesellschaft besonders wichtig ist und »der Regulierung, der Förderung und des Schutzes bedarf« (Bundesministerium 2009: 15). Das Familienministerium lässt nunmehr die Lage und Perspektiven der bürgerschaftlich Engagierten regelmäßig untersuchen (Bundesministerium 2009) und zu diesem Zweck quantitative Daten zum Ehrenamt aller Art erheben und auswerten. Dabei ist ein wesentlicher Aspekt die Engagementpolitik, also die Frage, wie und auf welchen Ebenen (Staat, zivilgesellschaftliche Organisationen und Unternehmen) das Engagement am besten gefördert werden kann (Bundesministerium 2009: 145ff.). Das Bundesministerium des Inneren hat 2013 eine Broschüre veröffentlicht: Die kleine Helferfibel. So stärkt die Bundesregierung das Ehrenamt, die konkrete Hinweise zu Fördermöglichkeiten ehrenamtlichen Engagements gibt.

Man könnte meinen, dass angesichts dieser vielfältigen Aktivitäten zum Thema Ehrenamt und Ehrenamtsförderung bereits alles gesagt sei. Doch die bloße Feststellung, dass Ehrenamt wichtig sei und eine wichtige Funktion für die Gesellschaft erfülle, hilft nicht weiter, wenn man etwas über die Motive des Engagements erfahren möchte, und sagt noch nichts darüber aus, wie man es fördern könnte. Und selbst wenn man über die Mechanismen der Entstehung von Ehrenamt Klarheit hätte, erfordert die Beurteilung, welche Engagementpolitik »die beste« sei, Kriterien, die nicht einfach objektiv gegeben sind, sondern normativ reflektiert werden müssen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher nicht nur, das Phänomen Ehrenamt besser zu verstehen und so die Mängel vorhandener Untersuchungen zu umgehen, sondern auch über angemessene Kriterien zur Beurteilung von Engagementpolitik nachzudenken, also ethische Überlegungen anzustellen.

Doch diese ethischen Reflexionen können erst am Ende eines Gedankengangs stehen, der sich entlang der zentralen Fragestellung dieser Arbeit entwickelt.8 Doch was ist diese Fragestellung?

1.1Fragestellung

Es geht hier darum, ehrenamtliches Engagement als Handeln zu verstehen. Das klingt zunächst wenig spektakulär. Dass Ehrenamtliche handeln, scheint eine Binsenweisheit zu sein. Doch schaut man genauer hin, so zeigt sich, dass die Frage, welche Vorstellungen man vom Handeln hat, sehr entscheidend ist, wenn es darum geht, beispielsweise die Motive der Ehrenamtlichen zu verstehen. Welche Bedeutung hat das Engagement für den Einzelnen, welche Gründe für das Engagement werden genannt, was motiviert ihn, warum engagiert er sich für bestimmte Dinge und nicht für andere? All diese Fragen stellen sich, wenn man nach den Motiven oder Handlungsgründen fragt,9 und ihre Beantwortung ist von besonderer Bedeutung, wenn man ehrenamtliches Handeln fördern möchte.10

Mit einer solchen handlungstheoretischen Perspektive rückt man außerdem die Ehrenamtlichen als Akteure in das Zentrum der Untersuchung. Sie sind es, die agieren und gesellschaftliche Entwicklungen bewusst oder unbewusst in Gang bringen. Damit grenzt sich diese Untersuchung gegen eine weit verbreitete, aber vor dem Hintergrund handlungstheoretischer Überlegungen nicht unproblematische These ab, der zufolge wir es hier vor allem mit einem von den Handlungsmotiven der Einzelnen weitgehend unabhängigen gesellschaftlichen Prozess zu tun hätten, nämlich mit dem sogenannten Strukturwandel des Ehrenamts.11

Diese These besagt, dass ein Wandel von einem gemeinwohlorientierten, langfristigen Ehrenamt altruistisch gesonnener Ehrenamtlicher in Traditionsverbänden zu einem projektbezogenen, kurzfristigen, bürgerschaftlichen Engagement eigennutzorientierter Individuen in Non-Profit-Organisationen stattfindet (Beher et al. 2000). Diese Entwicklung, die von einigen Autoren bedauert,12 von anderen begrüßt wird, wird in der Regel als quasi notwendige Folge von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen dargestellt. Modernisierung der Gesellschaft besteht in dieser Perspektive in der Verknüpfung von Prozessen der zunehmenden Individualisierung, Säkularisierung und Ökonomisierung. Verdeutlicht wird dieser Wandel durch die Veränderung der Begriffe, mit denen dieses Phänomen beschrieben wird. Die altruistischen, normen- bzw. wertorientierten Ehrenamtlichen werden zu eigennutzorientierten aktiv Engagierten.13

Dieser angebliche Wandel lässt sich anhand von zwei Beispielen,14 die diese Typen des traditionellen Ehrenamtlichen und des modernen aktiv Engagierten illustrieren sollen, verdeutlichen: Vor einiger Zeit erhielt Frau K. für ihr langjähriges ehrenamtliches Engagement speziell im kirchlichen Bereich das Bundesverdienstkreuz – die höchste Auszeichnung für Verdienste um das Gemeinwohl. Auf die Frage einer Journalistin, die sie angesichts dieser Auszeichnung für die Lokalzeitung interviewte, was denn Ehrenamt sei, antwortete sie: »Das innere Bedürfnis, mich einzubringen – und die Freude, die ich daraus beziehe.« Als immer wiederkehrendes Motiv in ihrem durch das katholische Elternhaus geprägten Werdegang zieht sich die »Bereitschaft zu helfen, etwas aufzubauen und zu gestalten«, da »Nächstenliebe nicht gepredigt, sondern gelebt« werden sollte (Steinke 2007: 3). Für das Foto in der Lokalzeitung hat sie sich vor die Kirche ihrer Gemeinde, in der sie sich engagierte, gestellt, Jesus am Kreuz unauffällig an ihrer Seite. Bei ihren unterschiedlichen Tätigkeiten im Kinder- und Jugendhilfeausschuss, im Stadtrat, im Pfarrgemeinderat, in der Kinderseelsorge oder der katholischen Ehevermittlung waren ihr Familie, Gemeinde und das Gebet Quelle von Kraft. Besonders engagiert hat sie sich nach eigener Auskunft dabei für die, die im Abseits stehen und durch die Zuwendung im Kontext der ehrenamtlichen Arbeit ein Stück Geborgenheit erfahren konnten.

Frau K. scheint beispielhaft für das sogenannte »alte Ehrenamt« zu stehen. In einer religiös geprägten Tradition verwurzelt, von altruistischen Motiven bewegt, hat sie sich viele Jahre ehrenamtlich im Rahmen des katholischen Milieus engagiert. Sie stellt für die Verfechter der These vom Strukturwandel des Ehrenamts ein Auslaufmodell dar.

Das zweite Beispiel ist der Übungsleiter Herr S., der Woche für Woche beim Kinderturnen mit einem lauten »Sport frei!« begrüßt wird, bevor nach dem »Aufwärmrennen« sich die etwas mehr als ein Dutzend Vorschulkinder an Staffelspielen, Hindernisläufen, Fußball, Hockey, Hochsprung und sonstigen sportlichen Betätigungen versuchen. Als ausgebildeter Sportlehrer, der derzeit als Verwaltungsangestellter tätig ist, hat er hier die Möglichkeit, seiner ursprünglichen Qualifikation entsprechend tätig zu sein und diese Qualifikation aktuell zu halten. Vielleicht eröffnen sich für ihn auf diese Weise durch nützliche Kontakte im Vereinsbereich auch neue berufliche Perspektiven.

Engagement in dieser Weise als eine Investition in das eigene Human- bzw. Sozialkapital15 zu betrachten ist typisch für die sogenannte »neue Freiwilligenarbeit« von Personen, die sich eigennützig und eher auf Projektbasis aktiv engagieren. Damit scheinen diese beiden Personen typische Beispiele für den Strukturwandel des Ehrenamts vom traditionellen altruistischen Ehrenamt zum modernen eigennutzorientierten Engagement zu liefern.

Doch schaut man genauer auf die Handlungsmotive unserer beiden Akteure, so ergeben sich Ungereimtheiten. Die Tätigkeit von Frau K. ist keine rein altruistisch motivierte Sozialarbeit im Dienste der Gesellschaft, denn schließlich zieht sie aus diesem Engagement nach eigenem Bekenntnis auch Freude und kann durch ihre Ehrenämter eigene Bedürfnissen befriedigen. Auch wenn man die genannten wertbezogenen Motive würdigen, also Ehrenamt als Ausdruck tiefer Wertbindungen verstehen will und diese Motive nicht einfach als Rhetorik der Nächstenliebe abtun möchte, sollten diese eigennützigen Motive des altruistischen ehrenamtlichen Handelns ebenfalls ernst genommen werden.

Aber auch das Handeln als Übungsleiter als eine rein eigennutzorientierte Investition zu deuten scheint der komplexen Motivationsstruktur von Herrn S. nicht gerecht zu werden. Reicht das Interesse an der Aktualisierung der eigenen Qualifikation, um einen Übungsleiter zu motivieren, sich jede Woche neue Aktivitäten auszudenken, den ohrenbetäubenden Lärm über sich ergehen zu lassen und mit einer undisziplinierten Bande kleiner Kinder eine Stunde zu verbringen? Die Deutung von Herrn S. als nutzenorientierter Engagierter übersieht auch sein Wissen um die große Bedeutung sportlicher Betätigung für die gesunde körperliche und geistige Entwicklung von Kindern in einer Zeit, in der immer mehr Kinder schon in jungen Jahren an Bewegungsmangel aufgrund hohen Fernseh- und Computerspielkonsums leiden. Ihm ist die Förderung wichtiger Eigenschaften wie Teamgeist und Gemeinschaftsgefühl durch gemeinsame sportliche Betätigung wichtig – auch ein Grund, warum er sich für das Sportstudium entschieden hatte. Herr S. genießt offensichtlich auch die öffentliche Anerkennung beim jährlichen Sportfest des Vereins und das Gefühl, einer persönlich befriedigenden und objektiv anerkannten Tätigkeit nachzugehen sowie einfach die Freude an der gemeinsamen Betätigung mit den Kindern. All dies lässt sich nicht unter die Rubrik »eigennutzorientierte Investition« fassen.

Das ehrenamtliche Handeln scheint also zu facettenreich zu sein, um in den genannten Alternativen rein altruistischen oder rein nutzenorientierten Handelns aufzugehen. In dieser Arbeit soll es also darum gehen, ehrenamtliches Handeln unter Berücksichtigung der unterschiedlichen und miteinander verschränkten Motive der Akteure zu erklären, ohne von vornherein einen Trend vom altruistischen traditionellen Ehrenamt zum eigennutzorientierten modernen Engagement zu postulieren. Doch wie kann man das ehrenamtliche Handeln dann angemessen auf den Begriff bringen?

An dieser Stelle kommen die handlungstheoretischen Grundlagen ehrenamtlichen Handelns ins Spiel. Dabei hat die hier vorzulegende Analyse des Ehrenamts über die Erklärung des ehrenamtlichen Engagements hinaus einen zweiten Zweck, nämlich die unterschiedlichen Theorieangebote, die ehrenamtliches Handeln erklären wollen, auf ihre Erklärungskraft hin zu prüfen und zu bewerten. Am Beispiel des ehrenamtlichen Handelns kann dann auch erörtert werden, wie man Handeln überhaupt theoretisch fassen kann, wie sich die Handlungsmotive untereinander verschränken und wie sich Handlungsfähigkeit im gesellschaftlichen Kontext gestaltet. Die in der Forschungsliteratur dominierenden Theorien16 werden im Folgenden anhand empirischer Studien vorgestellt, die jeweils bestimmte Aspekte ehrenamtlichen Handelns exemplarisch in den Blick nehmen und andere mehr oder minder zwangsläufig ausblenden. Die große Anzahl empirischer Studien zum Ehrenamt17 kann hier natürlich nicht vollständig herangezogen werden, doch soll durch die Vorstellung typischer Studien und ihrer handlungstheoretischen Grundlagen die Einordnung in ein Raster von alternativen Theorieangeboten erleichtert werden.

Die These vom Strukturwandel des Ehrenamts geht von einer Ökonomisierung des Ehrenamts und einer zunehmenden Eigennutzorientierung der Engagierten aus. Es liegt daher nahe, sich zunächst die Erklärungsversuche für Engagement anzusehen, die ökonomische Eigennutzkalküle als handlungsleitend unterstellen. Mit Hilfe von Rational-Choice-Modellen wird hier Engagement auf der Mikroebene der Individuen erklärt, was dann auch zu bestimmten Folgerungen auf der gesellschaftlichen Ebene des »Ehrenamtsmarktes« führt. Eine Erklärung von Ehrenamt in dieser ökonomischen oder nutzenorientierten Perspektive und die damit einhergehenden Modelle werden in Kapitel 2 vorgestellt und kritisch untersucht.

Das Gegenmodell zum ökonomischen Modell bilden sogenannte normativ orientierte Handlungstheorien. Hier spielen Werte und Normen als Motive der Ehrenamtlichen eine zentrale Rolle. Diese individuellen Werte und Normen sind mit der Identität der Ehrenamtlichen verbunden. Ehrenamt eröffnet in dieser Perspektive für die einzelnen Engagierten Sinndimensionen und ist Teil ihrer Vorstellung eines guten Lebens. Auf der gesellschaftlichen Ebene wird die Bedeutung von Werten, die sich im Engagement manifestieren, für den Erhalt von Demokratie und gesellschaftlichem Zusammenhalt thematisiert. Erklärungsversuche, die auf normativ orientierten Theorien beruhen, werden in Kapitel 3 behandelt und gewürdigt.

Als einen Versuch, diese beiden Theorieangebote zu verbinden, können kapitaltheoretische Ansätze bürgerschaftlichen Engagements gelten. Hierbei geht es um die Einbeziehung von verschiedenen Kapitalarten, wie etwa dem Sozialkapital, in die handlungstheoretische Erklärung ehrenamtlichen Engagements. Ehrenamt wird hier einerseits als individuelles Kapital und andererseits als gesellschaftliche Ressource verstanden. Eine beispielhafte Studie, die eine kapitaltheoretische Erklärung des Ehrenamts versucht, wird in Kapitel 4 vorgestellt und kritisch hinterfragt.

Schließlich sollen im fünften Kapitel die Potentiale eines alternativen Theorieangebots für ehrenamtliches Handeln ausgeleuchtet werden, nämlich diejenigen der neopragmatistischen Theorie der Kreativität des Handelns von Hans Joas (1996/1992). Es soll gezeigt werden, dass diese Theorie die Erklärungspotentiale der zuvor genannten Theorien integrieren kann und zugleich Lösungen für zentrale Probleme bietet, vor denen diese Theorien stehen. Hierzu zählen die Problematiken der Ziel-Mittel-Beziehung, der Körperlichkeit und der Sozialität des ehrenamtlichen Handelns.

Auf der Basis unterschiedlicher Handlungstheorien lassen sich unterschiedliche ethische Ansätze entwickeln. Daher soll diese handlungstheoretische Fundierung auch dazu genutzt werden, wirtschafts- und sozialethisch reflektierte Empfehlungen für die politisch gewünschte Förderung des Ehrenamts zu entwickeln. Im sechsten und letzten Kapitel werden daher auf der Basis der neopragmatistischen Handlungstheorie sozial- und wirtschaftsethische Schlussfolgerungen gezogen, die die Beurteilung von Vorschlägen zur Förderung des Ehrenamts ermöglichen sollen. Diese Vorschläge sind nach Adressaten (Staat, Unternehmen und Organisationen des Dritten Sektors) aufgefächert und berücksichtigen jeweils institutionelle, wertbezogene und auf die soziale Praxis bezogene Aspekte des Handelns.

Doch bevor wir uns den konkreten Studien und ihren zugrunde liegenden theoretischen Annahmen widmen können, sollte noch kurz auf der begrifflichen Ebene geklärt werden, worüber wir reden – und worüber nicht.

1.2Begrifflichkeiten

Engagementpolitik ist zum Teil auch Begriffspolitik, wie anhand der Unterscheidung von traditionellen Ehrenamtlichen versus modernen aktiv Engagierten beispielhaft angedeutet wurde. Eine völlig unschuldige Verwendung dieser Begriffe ist daher nicht möglich. Auch wenn man durch die Begriffswahl »freiwilliges oder bürgerschaftliches Engagement« oder »Freiwilligenarbeit« Nuancierungen oder eine neue Akzentuierung ausdrücken kann,18 werde ich der Unterscheidung zwischen »angestaubtem Ehrenamt« und »moderner Freiwilligenarbeit« vorerst nicht folgen,19 da damit eine vorschnelle Übernahme der These vom Strukturwandel des Ehrenamts impliziert würde.20 Vor diesem Hintergrund ist es dennoch hilfreich, sich zunächst die zentralen Begriffe vor Augen zu führen, die im Ehrenamtsdiskurs eine Rolle spielen.

Grafik 1: Selbstverständnis der freiwilligen Tätigkeiten im Zeitverlauf, zeitaufwendigste freiwillige Tätigkeiten (Angaben in %). Die Grafik wurde auf der Grundlage der Grafik B21 tns infratest im Freiwilligensurvey erstellt.

Quelle: Bundesministerium (2010: 112).

In diesem Diskurs tauchen so unterschiedliche Begriffe auf wie Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, bürgerschaftliches Engagement, Bürgerarbeit usw., die überwiegend synonym verwendet werden.21 Im Selbstverständnis der Engagierten sind vor allem die Begriffe Freiwilligenarbeit und Ehrenamt bedeutsam, wobei in den letzten Jahren die am weitesten verbreitete Selbstbezeichnung »Freiwilligenarbeit« etwas weniger häufig genannt wird, während die Charakterisierung der freiwilligen Tätigkeiten als »Ehrenamt« oder »bürgerschaftliches Engagement« zunahm (Bundesministerium 2010: 112), wie die Grafik 1 zeigt.

»Das Ehrenamt kann damit als kulturell robuste Idee eingeschätzt werden, die weiterhin in einem gewissen Umfang auch die jüngeren Menschen beeinflusst. Das ›Bürgerschaftliche‹ als Leitvorstellung des Engagements hat im betrachteten Zeitraum in allen Altersgruppen an Bedeutung gewonnen. Allerdings prägt es das Selbstverständnis des Engagements bei Weitem nicht so, wie der Begriff in Teilen der politischen Öffentlichkeit verwendet wird.« (ebd.: 113)

Der Begriff »Ehrenamt« bezieht sich historisch auf öffentliche Ämter, die hochgestellte »ehrenwerte« Bürger im 19. Jahrhundert in ihren Gemeinden unentgeltlich übernahmen. (Auf das damit verbundene Element der Anerkennung wird weiter unten einzugehen sein.) Öffentliche (Pflicht-)Ehrenämter werden im Folgenden nicht weiter berücksichtigt, da man hierzu verpflichtet werden kann, sie also nicht immer freiwillig sind.22 Hierzu gehören etwa die Ehrenämter des Schöffen oder des Wahlhelfers.

Im Ehrenamt scheint die Institutionalisierung des ehrenamtlichen Handelns im Rahmen eines Amts im Vordergrund zu stehen. Einige Autoren gehen daher davon aus, dass dieser Begriff in der wissenschaftlichen wie auch in der öffentlichen Diskussion nicht mehr so häufig verwandt wird (Ehrhardt 2011, mit Verweis auf Heinze und Olk 1999: 78), da Begriffe wie »bürgerschaftliches« oder »freiwilliges Engagement« moderne Aspekte der demokratischen Partizipation und der Individualisierung besser verdeutlichen würden. Dieser bereits oben erwähnte Diskurs, der altes Ehrenamt vom modernen bürgerschaftlichen Engagement oder von Bürgerarbeit unterscheidet, ist in der gegenwärtigen Forschung dominant und stellt die Grundlage für die Positionierung der meisten Ansätze dar.23 Er muss daher als Hintergrundfolie für das Verständnis der jeweiligen Studien berücksichtigt werden.

Je nachdem, welcher der Begriffe (Freiwilligenarbeit, Bürgerarbeit, bürgerschaftliches Engagement) bevorzugt wird, schwingen andere Begriffsfelder und theoretische Rahmungen mit. Kompliziert wird es, wenn sich diese Begriffe aus verschiedenen Teilbegriffen zusammensetzen, die unterschiedliche Konnotationen mit sich führen und somit verschiedene Aspekte betonen. Herausgreifen möchte ich für eine erste Annäherung die Teilbegriffe »Arbeit« und »Bürger«, die gewissermaßen zwei Pole des Ehrenamtsdiskurses bezeichnen.

Beim Begriff »Arbeit« werden sofort Assoziationen aus dem Bereich der Ökonomie geweckt. Ein Begriff wie »Freiwilligenarbeit« könnte also im Kontext der These vom Strukturwandel des Ehrenamts für das moderne Engagement stehen und daher mit ökonomischen Erklärungsmodellen in Verbindung stehen. Darüber hinaus hat Arbeit einen starken Handlungsbezug und bietet sich daher für eine handlungstheoretische Fragestellung an.

Der Begriff »Bürger« hingegen verweist auf republikanische Haltungen in der Zivilgesellschaft und damit auf normative Konzeptionen. Außerdem betont dieser Begriff die Akteure des Engagements, was für eine handlungstheoretische Perspektive ebenfalls bedeutsam ist. Die nun folgenden kurzen Überlegungen zu diesen beiden Begriffen sollen helfen, das diskursive Umfeld der Ehrenamtsdebatte ein wenig auszuleuchten.

Arbeit

Der Begriff »Arbeit« kommt in Freiwilligenarbeit, Bürgerarbeit, Initiativ- oder Projektarbeit vor und weist einen klaren Bezug zum Ökonomischen auf. Aber dieser Begriff ist innerhalb der ökonomischen Theorie durchaus nicht so eindeutig, wie es zunächst scheint.24 Dies zeigt sich an den Definitionen von Arbeit in Handwörterbüchern und Lehrbüchern der Wirtschaftswissenschaften. Folgende Zitate scheinen zunächst zu belegen, dass Arbeit in der ökonomischen Theorie nur als Erwerbsarbeit eine Rolle spielt, also immer gegen Entgelt geleistet wird:

»Arbeit ist […] vom Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt erwerbbare Ware […]« (Bracio und Metz 1993: 23f.)

»Arbeit ist auf die Bedarfsdeckung, d.h. auf Erzielung von Ertrag bzw. Einkommen gerichtete körperliche und geistige Tätigkeit des Menschen.« (Carell 1956: 229)

»[…] Arbeit [wird] meist in der eingeschränkten Bedeutung einer wirtschaftlichen Kategorie verstanden als jene Tätigkeit, durch die er [der Mensch] sich die Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse verschafft.« (Kerber 1975: 57)

»Unter dem Produktionsfaktor Arbeit fällt jede manuelle und geistige Tätigkeit mit dem Ziel der Erwirtschaftung von Einkommen.« (Mussel 2002: 14)

»Arbeit 1. in der Volkswirtschaftstheorie (Wirtschaftswissenschaft) jede körperliche und geistige Tätigkeit des Menschen zur Herstellung von Gütern, soweit diese von den Haushalten angeboten […] und von den Unternehmen […] nachgefragt wird. Ihr Preis auf dem Arbeitsmarkt ist der Lohn(satz); das gezahlte Entgelt Arbeitseinkommen. Die Tätigkeit der Hausfrau od. die Pflege eines kranken Verwandten ist in o.g. Sinn nicht Arbeit, da sie nicht über den Arbeitsmarkt angeboten bzw. nachgefragt werden.« (Vogl 2000)

All diese Definitionen begreifen Arbeit als Erwerbsarbeit, die am Arbeitsmarkt gegen Lohn gehandelt wird. Damit wäre Freiwilligenarbeit oder ehrenamtliche Arbeit ein Widerspruch in sich, da sie ja gerade ohne Entgelt verrichtet wird.25 Will man also im Rahmen ökonomischer Theorien Ehrenamt beschreiben, muss ein Arbeitsbegriff zugrunde gelegt werden, der auch die Nichterwerbsarbeit in die Definition von Arbeit integriert. Auch ein solcher breiter Arbeitsbegriff, der die Entlohnung der Arbeit nicht zum konstitutiven Kriterium von Arbeit macht und die Besonderheit des Produktionsfaktors Arbeit betont, findet sich in volkswirtschaftlichen Lehrbüchern. Als Beleg sollen die folgenden Zitate dienen:

»Arbeit stellt einen wichtigen Produktionsfaktor dar, aber im Gegensatz zu vielen anderen Gütern ›kauft‹ man keine Arbeiter, sondern deren Leistungen, die jedoch untrennbar mit den Menschen verbunden sind. Es ist daher nicht nur ein ökonomisches Kalkül, beispielsweise einen Arbeiter zu entlassen, sondern dies ist möglicherweise mit einem tiefgreifenden Einschnitt in die Psyche des Betroffenen und mit sozialen Problemen verbunden, wie die Protestdemonstrationen bei Entlassungen größeren Umfangs belegen. Das Arbeitsangebot ist eben für viele Menschen nicht auf den ökonomischen Vorgang des Tausches von Arbeit gegen Geld beschränkt, sondern bildet einen Teil des Lebensinhaltes.« (Franz 1994: 11)

Allerdings heißt es beim gleichen Autor: »Die Analogie zum ›Sachkapital‹ ist ziemlich weitgehend, wenn auch nicht perfekt« (Franz 1994: 87).

Während die obige Definition aus einem Lehrbuch zur Arbeitsökonomik die Besonderheit des menschengebundenen Produktionsfaktors Arbeit in den Blick nimmt, entkoppeln die folgenden Definitionen Arbeit vom Entgelt.

»In der Volkswirtschaft versteht man unter Arbeit ›jede menschliche Tätigkeit, die zur Befriedigung der Bedürfnisse anderer und in der Regel gegen Entgelt verrichtet wird.‹« (Bartling und Luzius 1991: 21)

Renate Neubäumer und Brigitte Hewel zitieren diese Definition zustimmend und präzisieren darüber hinaus:

»Damit zählen Beschäftigungen, die nur zur eigenen Bedürfnisbefriedigung dienen, wie die Tätigkeit im Haushalt oder der Bau einer Gartenlaube als Hobby, nicht als Arbeit.« (Neubäumer und Hewel 2001: 8)

Nicht-bezahlte Arbeit wäre laut dieser Definition zwar nicht die Regel, aber doch möglich, sofern sie der Befriedigung von Bedürfnissen anderer dient. Bezogen auf die Frage des Ehrenamts wäre somit laut dieser Definition ehrenamtliche Arbeit durchaus eine Kategorie, die innerhalb der ökonomischen Theorie untersucht werden könnte.

»Unter Arbeit versteht man die Summe aller ökonomischen Leistungen der Menschen einer Volkswirtschaft unterschieden nach Menge und Qualität, die in einer bestimmten Zeiteinheit (Stunden, Tage, Wochen, Jahre) erbracht werden.« (Wagenblaß 2008: 18, Hervorhebung im Original)

Diese an die physikalische Definition von Arbeit angelehnte Bestimmung des Begriffs benötigt eine genauere Definition dessen, was ökonomische Leistungen bzw. was Produzieren bedeutet. Dies bestimmt Horst Wagenblaß (2008: 16) in Anlehnung an Alfred Stobbe:

»Produzieren im ökonomischen Sinne heißt, bestimmte Sachgüter und Dienstleistungen, die Produktionsfaktoren, im Rahmen eines technischen Prozesses, des Produktionsprozesses, so einzusetzen, dass entweder vorhandene Güter verändert oder neue Güter hergestellt werden.« (Stobbe 1969: 1)

Aus dieser Präzisierung folgt, dass der Einsatz von Produktionsfaktoren, also auch von Arbeit, zur Veränderung oder Herstellung von Gütern, womit Sachgüter und Dienstleistungen gemeint sind, als Produktion zu verstehen ist. Ob für die veränderten oder entstandenen Güter ein Entgelt zu leisten ist, ist damit noch nicht gesagt. Somit könnten auch ehrenamtliche Tätigkeiten, durch die für die Gesellschaft nützliche Güter und Dienstleistungen produziert werden, unter diesen produktionsorientierten Arbeitsbegriff subsumiert werden.

Als Kriterium für die Produktivität von Tätigkeiten, bei denen eine Transformation von Gütern stattfindet, gilt in der Ökonomie das Dritt-Personen-Kriterium, das besagt, dass Tätigkeiten dann produktiv sind, wenn die Leistungen auch von Dritten gegen Bezahlung erbracht werden könnten (Hawrylyshyn 1977).26 Dies bedeutet, dass ehrenamtliches Handeln dann Arbeit ist, wenn diese Leistungen potentiell auch über einen Markt angeboten werden könnten.

»Arbeit ist menschliche Anstrengung oder Tätigkeit, die auf die Produktion von Gütern und Diensten gerichtet ist. In diesem allgemeinen Sinne ist jedes Mühen, ein Gut konsumreif zu machen, Arbeit, so auch die Tätigkeit der Hausfrau.« (Grüske und Recktenwald 1995: 32)

Diese Definition nimmt explizit nicht-bezahlte Tätigkeiten in den Arbeitsbegriff auf und besagt somit genau das Gegenteil der Definition von Gerald Vogl weiter oben.

Eine solche Ausweitung des Arbeitsbegriffs, der unbezahlte Arbeit wie das Ehrenamt integrieren kann, wurde besonders von heterodoxen Strömungen in den Wirtschaftswissenschaften verfolgt. Feministische Theoretikerinnen beispielsweise haben in den 1970er und 1980er Jahren versucht, den Arbeitsbegriff zu erweitern, mit dem Ziel, die überwiegend von Frauen geleistete Reproduktionsarbeit in den ökonomischen Arbeitsbegriff zu integrieren. Die marxistische Strategie für die Emanzipation der Frauen forderte ihre vollständige Teilnahme am Produktionsprozess, vergaß aber die im Gegenzug erforderliche Teilnahme der Männer an der Reproduktion und benachteiligte somit die Frauen erneut. Im Gegensatz dazu forderten beispielsweise Alison Jaggar und William L. McBride in Auseinandersetzung mit diesen Vorstellungen eine Verbreiterung des Arbeitsbegriffs, der die »reproduktiven Tätigkeiten von Frauen als entwickelte Formen der menschlichen Arbeit« berücksichtigt (Jaggar und McBride 1989: 156). In diesem erweiterten Begriff, den sie Produktion im weitesten Sinne nennen, sind alle Tätigkeiten berücksichtigt, die notwendig sind für das Überleben und die Verwirklichung der Gattung (Jaggar und McBride 1989: 159). Mit dieser Definition werden auch Fortpflanzung und Betreuung in den Produktionsbegriff einbezogen. Ehrenamtliches Handeln, das dem Überleben und der Verwirklichung von Menschen dient, wird auf diese Weise auch Teil der Arbeit in modernen Gesellschaften und Gegenstand ökonomischer Forschung.

Ein weiterer Versuch, die Nicht-Erwerbsarbeit in einen ökonomischen Arbeitsbegriff zu integrieren, stammt von dem Philosophen Friedrich Kambartel, der die Nicht-Erwerbsarbeit als informelle Arbeit bezeichnet (Kambartel 1993: 239). Er unterscheidet private von gesellschaftlicher Arbeit, wobei letztere von ihm wie folgt definiert wird:

»Gesellschaftliche Arbeit heißt eine Tätigkeit für andere, welche am ›allgemeinen‹ durch die Form der Gesellschaft bestimmten Leistungsaustausch zwischen ihren Mitgliedern teilnimmt.« (Kambartel 1993: 241)

Dieser Leistungsaustausch kann zum einen über den Markt erfolgen – dann handelt es sich um Erwerbsarbeit –, er kann aber auch durch rechtliche Regelung, Macht oder gesellschaftliche Gewohnheit etabliert sein. Dies gilt vor allem für die überwiegend von Frauen ausgeführten Tätigkeiten in Familie, Erziehung und Pflege (Kambartel 1993: 242). Das entscheidende Kriterium, ob eine Tätigkeit zur gesellschaftlichen Arbeit zählt oder nicht, liegt darin, ob bei Wegfall dieser Tätigkeit ein gesellschaftlicher Substitutionsbedarf entstünde, der von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden kann.

Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Wenn sich alle Mütter und Väter weigern würden, ihre Kinder zu erziehen, entstünde eine gesellschaftliche Notlage (Verwahrlosung aller Kinder), der die Gesellschaft durch die Einrichtung von Substituten (Krippen, Tagesmütter usw.) Rechnung tragen würde. Erziehung ist somit gesellschaftliche Arbeit. Eigenarbeit oder selbstzweckorientierte Freizeittätigkeiten hingegen sind in dieser Perspektive keine Arbeit. Beispielsweise ist es der Gesellschaft gleichgültig, ob meine Wohnung aufgeräumt ist bzw. ob ich meine Pullover selbst stricke oder nicht. Ehrenamt, das gesellschaftliche Arbeit darstellt, wäre damit auch ökonomische Arbeit.

Laut Kambartel enthält die gesellschaftliche Arbeit per se ein Element der Reziprozität, da sie per Definition am gesellschaftlichen Leistungsaustausch teilnimmt. Daraus ergeben sich zwei normative Folgerungen: erstens die Anerkennung dieser Arbeit, also das Recht auf eine gewisse Symmetrie von Leistung und Gegenleistung, welche gewährt werden kann durch Lohn, soziale bzw. moralische Anerkennung oder symbolische Anerkennung;27 zweitens das Recht auf gesellschaftliche Arbeit, das heißt das Recht, das eigene Leben nicht unverschuldet der Leistung anderer zu verdanken (Kambartel 1993: 245).28

Ehrenamtliche Arbeit ist somit nach der Definition von Kambartel gesellschaftliche Arbeit, sofern durch ihren Wegfall ein Substitutionsbedarf entstünde. Allerdings ist eine scharfe Trennung zwischen Tätigkeiten, die gesellschaftliche Arbeit darstellen, und solchen, die es nicht tun, mit dem Kambartelschen Arbeitsbegriff nicht immer möglich, da dies vom gesellschaftlichen und kulturellen Kontext abhängt. Nur dann, wenn eine Gesellschaft bestimmte Tätigkeiten als unabdingbar für ihr Funktionieren erachtet, entsteht bei ihrem Wegfall ein Substitutionsbedarf. Dies kann bei unterschiedlichen Gesellschaften ganz verschieden aussehen. Beispielsweise kann der Tierschutz in Wohlstandsgesellschaften eine so große Rolle spielen, dass man bei Wegfall von Tierschutzvereinen, in denen sich Ehrenamtliche engagieren, staatliche Institutionen einrichten würde, in denen sich staatlich finanzierte Personen um den Tierschutz kümmern würden. Andere Gesellschaften, die auf einem niedrigeren Wohlstandsniveau leben, würden möglicherweise keinen solchen Substitutionsbedarf sehen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Begriff Arbeit im Ehrenamtsdiskurs auf ökonomische Austauschprozesse verweist, bei denen gesellschaftlich gewünschte Güter hergestellt werden, ohne dass damit eine ökonomistische Reduktion auf rein monetäre Vorgänge impliziert werden muss. Wie wir im zweiten Kapitel sehen werden, gibt es eine Reihe von ökonomischen Modellen, die Ehrenamt erklären wollen und dabei ohne Geld auskommen.

Bürger

Der Begriffsteil »Bürger«, der in den Begriffen Bürgerarbeit und bürgerschaftliches Engagement auftaucht, verweist auf zivilgesellschaftliche Konzeptionen, die für den Ehrenamtsdiskurs von großer Bedeutung sind. Bürger ist man immer von einem bestimmten Gemeinwesen, das heißt es wird konstitutiv von einer Gemeinschaft ausgegangen, in die das einzelne Individuum eingebettet ist.29 Die Bürgersemantik ist meist an nationale Deutungskulturen gebunden und bündelt politische Handlungsmöglichkeiten von Akteuren in der »bürgerlichen Gesellschaft« (Hettling und Foljanty-Jost 2009: 17).30

Um die normativen Elemente des Bürgerbegriffs zu erfassen, ist die Untersuchung des Soziologen Thomas H. Marshall31 zu den Bürgerrechten hilfreich. Er hat diese in drei Gruppen zerlegt, die auch historischen Phasen zugeordnet werden. Auf diese Weise unterscheidet er die historische Entstehung einer zivilen, einer politischen und einer sozialen Komponente des Bürgerstatus (Wendt 1996: 32). Das zivile bzw. bürgerliche Element

»besteht aus jenen Rechten, die notwendig sind, die individuelle Freiheit zu sichern: Freiheit der Person, Redefreiheit, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums, die Freiheit, gültige Verträge abzuschließen, und das Recht auf ein Gerichtsverfahren. […] Mit dem politischen Element bezeichne ich das Recht auf die Teilnahme am Gebrauch politischer Macht, entweder als Mitglied einer mit politischer Autorität ausgestatteten Körperschaft, oder als Wähler der Mitglieder einer derartigen Körperschaft. […] Mit dem sozialen Element bezeichne ich eine ganze Reihe von Rechten, vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards.« (Marshall 1992: 40)

Ziviles, politisches und soziales Element scheinen auf die drei Sektoren Zivilgesellschaft (Dritter Sektor), Staat und Wirtschaft zu verweisen. Doch der Bürger agiert nicht nur im zivilgesellschaftlichen Dritten Sektor, sondern findet sich im Schnittpunkt all dieser Sektoren wieder. Sein bürgerschaftliches Engagement bringt er somit auch in alle drei Sektoren ein und nicht etwa nur im Dritten Sektor jenseits von Staat und Wirtschaft. Denn bürgerschaftliches Engagement umfasst nicht nur klassische und neue Formen32 des zivilgesellschaftlichen Engagements, sondern auch die freiwillige bzw. ehrenamtliche Wahrnehmung quasi-öffentlicher Aufgaben (z.B. durch Sozialdienste oder freiwillige Feuerwehren) sowie bürgerschaftliches Engagement von Unternehmen im Rahmen des Corporate Volunteering.33

Die in den drei Elementen von Marshall entwickelten Normen beziehen sich daher nicht auf einen Sektor, sondern auf das bürgerschaftliche Engagement insgesamt. Dieses muss demnach individuelle Freiheiten ermöglichen und somit zu allererst freiwillig ergriffen werden können, es muss partizipatorisch organisiert sein und eine »politische« Mitwirkung ermöglichen, und es richtet sich auf die soziale und ökonomische Teilhabe aller Bürger, was man auch als Gemeinwohlorientierung fassen kann. Trotz der Vielseitigkeit, die das ehrenamtliche Engagement kennzeichnet, verweist der Bürgerbegriff also auf gemeinsame normative Bezugspunkte, nämlich darauf, dass bürgerschaftliches Engagement mit Normen wie Freiheit, Partizipation und Gemeinwohlorientierung verknüpft ist und auf diese Weise zu den demokratischen Qualitäten der Gesellschaft beitragen soll (Klein 2001: 260). Deshalb stellt es ein wichtiges Thema für demokratische Institutionen dar. Es ist also nicht verwunderlich, dass sich der Deutsche Bundestag mit diesem Thema beschäftigt hat und dazu eine Enquete-Kommission einrichtete.

Der erste Band der Schriftenreihe der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements« befasst sich folgerichtig mit dem Begriff der Zivilgesellschaft.34 Jürgen Kocka unterscheidet in seinem Einleitungsartikel zwei Bedeutungen der Zivilgesellschaft:

Zivilgesellschaft als Begriff für ein normatives Projekt oder einen Entwurf, synonym mit »Bürgergesellschaft«, der im 17. und 18. Jahrhundert einen utopischen Entwurf einer zivilen Gesellschaft meinte, »in der die Menschen als mündige Bürger friedlich zusammenleben würden: selbständig und frei, in Assoziationen (Vereinen) kooperierend und im öffentlichen Diskurs das Nötige entscheidend, unter der Herrschaft des Rechts und der Verfassung, aber ohne Gängelung durch den Obrigkeitsstaat, mit Toleranz für Vielfalt und Sinn für individuelle Leistung, aber ohne allzu große soziale Ungleichheit« (Kocka 2002: 16).

Zivilgesellschaft als deskriptiv-analytischer Begriff der heutigen Sozialwissenschaften, der einen spezifischen Raum jenseits von Staat, Ökonomie und Privatheit meint, der durch Vereine, Verbände, Projektgruppen, Nichtregierungsorganisationen usw. geprägt ist und in dem bürgerschaftliches Engagement vor allem stattfindet (Kocka 2002: 16f.).

Dieser Unterscheidung von Kocka folgend, soll im Folgenden für das normative Projekt der Begriff »Zivilgesellschaft«35 und für die empirisch-deskriptive Seite der Zivilgesellschaft der Begriff »Dritter Sektor«36 verwendet werden.37

»Zwar bildet der Nachweis analytischer Unschärfe und idealisierender Annahmen einen häufig erhobenen Einwand gegenüber Konzepten der Zivilgesellschaft seitens der Fachwissenschaften. Doch regt die Konzeptdebatte ihrerseits auch neue Forschungen an. Die Attraktivität der Zivilgesellschaft […] ist auch in der normativ gesteuerten Bezugnahme auf Probleme in Politik und Gesellschaft begründet. Zwar dürfte der normative Fragenhorizont der Zivilgesellschaft seitens eines szientifischen Wissensverständnisses als Irritation begriffen werden, doch diese produktiv zu wenden erscheint als eine lohnenswerte Aufgabe: Handelt es sich bei den im Diskurs der Zivilgesellschaft aufgeworfenen Fragen doch um die Zukunftsfragen der liberalen Demokratie schlechthin.« (Klein 2001: 378)

Tatsächlich sind aber normative und empirisch-deskriptive Aspekte nicht immer klar voneinander zu trennen, und in den Veröffentlichungen zu diesem Thema wird häufig die Zivilgesellschaft mit dem Dritten Sektor identifiziert.38 Das normative Projekt der Zivilgesellschaft ist aber nicht auf den Dritten Sektor beschränkt, sondern zielt, wie oben dargelegt, auf die Gesellschaft als Ganze. Es geht also in diesem Themenfeld von Zivilgesellschaft, Bürgerengagement und Ehrenamt auch um die Frage, wie durch eine dritte Kraft die beiden dominierenden Mechanismen moderner Vergesellschaftung, nämlich Markt und Staat, relativiert und modifiziert werden können, es geht um die Erkenntnis, dass »wir nicht vor der Alternative stehen, entweder die Folgen unregulierten Marktgeschehens einfach passiv hinzunehmen oder umgekehrt zu ihrer Bewältigung ausschließlich auf staatliche Interventionen zu setzen mit der Gefahr einer erstickenden Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens« (Joas 2001: 15).

Auch wenn sich das normative Projekt der Zivilgesellschaft nicht auf den empirisch fassbaren Dritten Sektor beschränkt, so bieten die Netzwerke und Organisationen in diesem Sektor den Raum, in dem das normative Projekt Zivilgesellschaft artikuliert werden kann.

»In den zivilgesellschaftlichen Räumen entsteht eine Praxis des Engagements jenseits privater Interessen und Bindungen, die auf das Gemeinwesen bezogen ist und diesen in sozialen Netzwerken immer wieder neu belebt. In der aktiven Nutzung der Bürgerrechte und in der sozialen Teilhabe entfalten sich gemeinwohlbezogene Motive und Werthaltungen und damit eine politische Kultur, auf die die Demokratie angewiesen ist.« (Klein 2001: 261)

Dabei sind die Fähigkeiten und Handlungsdispositionen oder Tugenden, die durch Engagement in Organisationen des Dritten Sektors eingeübt werden, breit gefächert:

»Fähigkeiten und Dispositionen wie Initiative, Aufmerksamkeit, Vertrauen, Organisationsfähigkeit, egalitäre Einstellungen und Toleranz gegenüber Fremden, die im Vereinsleben erworben und verstärkt werden, verbreiten sich über ihre jeweiligen sozialen, thematischen und temporären Entstehungszusammenhänge hinaus und können einen wesentlichen Beitrag zur demokratischen politischen Kultur darstellen.« (Offe und Fuchs 2001: 429f.)

In den obigen Zitaten ist das normative Projekt39 einer demokratischen Zivilgesellschaft sehr positiv beschrieben. In diesem Zusammenhang muss aber auch auf die Ambivalenz des Begriffs Zivilgesellschaft hingewiesen werden, die Volker Heins durch die Analyse der Gegenbegriffe zu diesem Konzept sehr anschaulich herausgearbeitet hat. Das Projekt Zivilgesellschaft bewege sich zwischen den Polen Zivilisierung in Abgrenzung zu Barbarei und Phantasmen einerseits und befreienden Aspekten, die gegen eine ordnende Bürokratie und Regulierung bzw. gegen die Verzwecklichung in Produktionsprozessen aufbegehren, andererseits (Heins 2002: 11ff.).40

Trotz dieser Ambivalenzen soll hier Zivilgesellschaft als ein normativer Begriff verstanden werden, der Freiheit, Partizipation und Gemeinwohlorientierung41 impliziert. Bei den Debatten um Ehrenamt und Zivilgesellschaft ist daher zu berücksichtigen, dass diese normativen Aspekte immer als Hintergrundfolie präsent sind.

Der empirisch erfassbare Dritte Sektor, dem für die Entwicklung der normativ verstandenen Zivil- oder Bürgergesellschaft eine immer wichtiger werdende Rolle zugesprochen wird (Klein und Legrand 1992: 6),42 wird oft auch als Nonprofit-Sektor bezeichnet. Ich verwende den Begriff »Dritter Sektor« hier als beschreibende Kategorie, unabhängig von damit verbundenen normativen Projekten. Mit der Kategorie »Dritter Sektor« kann somit auch das Engagement etwa rechtsextremer Gruppen (Bundschuh 2012), die sich nicht mit dem normativen Projekt der Zivilgesellschaft verknüpfen lassen, erfasst werden.

Seit Ende der 1990er Jahre wurde der Dritte Sektor zum Gegenstand einer Vielzahl vergleichender Untersuchungen.43 Die gebräuchlichste Definition, die die beschreibbaren Organisationen des Dritten Sektors in das Zentrum stellt, stammt von Salamon und Anheier. Der Dritte Sektor setzt sich danach

»aus Institutionen zusammen, die

als Organisationen fassbar sind;

nicht Teil der Hoheitsverwaltung sind;

nicht erwerbswirtschaftlich motiviert sind;

ihre eigenen Entscheidungsorgane haben und somit institutionell autonom sind;

einen erkennbaren freiwilligen oder ehrenamtlichen Charakter haben.« (Salamon und Anheier 1998: 14)

Somit sind Institutionen, die keinen formalen Organisationskern und keine Entscheidungsorgane im Sinne einer Selbstverwaltung haben, nicht Teil des Dritten Sektors. Eine soziale Bewegung beispielsweise, die nicht als Verein, als Selbsthilfegruppen oder in einer anderen Form institutionalisiert wird, wäre somit nicht Teil des Dritten Sektors. Aufgrund dieser Abgrenzung wird die empirische Erfassung des Dritten Sektors vereinfacht, denn sein Volumen lässt sich dann beispielsweise an der Anzahl von einschlägigen Vereinen, Verbänden, Initiativgruppen usw. ermitteln.

Die Abgrenzung von der Hoheitsverwaltung, also vom Staat, bedeutet, dass die Institutionen des Dritten Sektors privater Natur sind (Salamon und Anheier 1998: 45) und über eigene, autonome Entscheidungsorgane verfügen müssen, die sich selbständig Ziele und Aufgaben stellen können und nicht Unterabteilungen der staatlichen Verwaltung darstellen. Die Abgrenzung vom Markt erfolgt über das Kriterium der nicht-erwerbswirtschaftlichen Motivation. Trotz der definitorischen Abgrenzung von Staat und Markt kann die Trennung zwischen den drei Sektoren in der Praxis nicht so scharf erfolgen. Vielmehr zeigen sich in der Realität sowohl Verflechtungen des Dritten Sektors mit dem Staat (z.B. über die Finanzierung) als auch mit dem Markt (z.B. über Konkurrenz- oder Kooperationsverhältnisse).

»Trotz der schwierigen Abgrenzung zu Staat und Markt ist der dritte Sektor am besten als Strukturbegriff der Zivilgesellschaft geeignet. Prinzipiell spricht nichts gegen eine gewisse Überlappung der Sektoren.« (Bundesministerium 2010: 51)

Das Kriterium der Freiwilligkeit bezieht sich auf das ehrenamtliche Engagement sowie auf freiwillige Spenden von Haushalten an die Organisationen des Dritten Sektors (Badelt 1997: 9). Dabei kann es Organisationen des Dritten Sektors geben, die sich stärker auf freiwillige Spenden stützen, zum Beispiel Stiftungen, oder mehr auf ehrenamtliches Engagement,44 zum Beispiel Selbsthilfegruppen, sowie Mischformen aus beiden, zum Beispiel Vereine mit aktiven und passiven Mitgliedern. In den beiden Kriterien »eigene Entscheidungsorgane« und »Freiwilligkeit« finden sich Anklänge an zwei der für den Begriff »Zivilgesellschaft« kennzeichnenden normativen Elemente, nämlich Partizipation und Freiheit.

Die Zivilgesellschaft als normatives Projekt im oben beschriebenen Sinne manifestiert sich in dem Beziehungs- und Interaktionsgeflecht nicht nur innerhalb des Dritten Sektors, sondern auch zwischen den drei Sektoren. Dennoch sind die Organisationen des Dritten Sektors, also Vereine, Verbände und sonstige Organisationen, zentrale Träger der Zivilgesellschaft, da sie gekennzeichnet sind durch spezifische Wert- und Normvorstellungen, die sie in Leitbildern dokumentieren und in die Gesellschaft transportieren. Diese Leitbilder reflektieren die unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen einerseits der Mitglieder (Mitgliedschaftslogik), andererseits der Politik bzw. der Verwaltung und der Wirtschaft (Einflusslogik). In diesem Zusammenhang wird gelegentlich kritisiert, dass bei den großen Wohlfahrtsverbänden die Einflusslogik, speziell die Orientierung an Politik und Verwaltung, die Mitglieder- und Klientenorientierung zu überlagern scheint, obwohl die Partnerschaft zwischen Politik, Verwaltung und Verbänden von den Akteuren selbst meist positiv beurteilt wird (Zimmer 1998: 116f.). Auf die Frage, inwiefern also bestimmte Organisationsformen des Dritten Sektors, zum Beispiel Großverbände, das zivilgesellschaftliche Projekt behindern oder befördern, wird bei der Untersuchung der Rahmenbedingungen zur Förderung des Ehrenamts zurückgekommen.45

Definition

Nach diesen begrifflichen Vorüberlegungen, die die Breite der Debatte und die unterschiedlichen Perspektiven auf Ehrenamt veranschaulichen sollten, soll nun eine Definition von Ehrenamt folgen, um bestimmte Tätigkeiten auszuschließen, die in dieser Arbeit keine Rolle spielen sollen, und zugleich den Gegenstand der Fragestellung etwas klarer zu umreißen.

Ehrenamt definiere ich für die vorliegende Untersuchung als (1) Tätigkeiten, die (2) freiwillig sind und nicht auf materiellen Gewinn gerichtet, die (3) gemeinwohlorientiert sind, (4) öffentlich bzw. im öffentlichen Raum stattfinden und (5) in der Regel gemeinschaftlich oder kooperativ ausgeübt werden. Diese Definition stimmt auch weitgehend mit der des Freiwilligensurveys überein (Bundesministerium 2004: 26).

Die Definition klingt eindeutiger, als sie in Wirklichkeit sein kann. Denn tatsächlich ist das Ehrenamt in einem Kontinuum zwischen jeweils zwei Polen einzelner Dimensionen anzusiedeln und kommt nur näher an den jeweils in der obigen Definition bezeichneten Pol heran. Die Darstellung der Dimensionen des Ehrenamts46 des Instituts für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit (ISEP) (Beher et al. 2002) weist dies anschaulich aus (Tabelle 1).

Tabelle 1: Die Dimensionen des Phänomens Ehrenamt.

Quelle: in Anlehnung an Beher et al. (2002: 106, Abb. 16).

Die fünf Elemente der Definition sind nicht ganz so trennscharf, wie man zunächst glauben könnte. Sie sollen hier kurz genauer charakterisiert werden:

Die Tatsache, dass es sich um Tätigkeiten handelt, ist wichtig, um tätiges Engagement von einer einfachen Mitgliedschaft oder von Spenden abzugrenzen. Die Dimension 6 (Aktivitätsgrad) unterscheidet passive, fördernde Mitgliedschaften von aktivem, zeitinvestierendem Engagement. Dabei soll hier die bloße (fördernde) Zugehörigkeit zu einer Organisation, zum Beispiel als Mitglied im Sportverein, nicht unter Ehrenamt subsumiert werden, sondern nur solche Tätigkeiten, die mit einem Zeitaufwand für die Organisationen oder andere verbunden sind, wie zum Beispiel die Übernahme der Aufgaben des Kassenwarts. Der Aktivitätsgrad spielt auch in der Definition des Freiwilligensurveys eine große Rolle. Dieser unterscheidet nämlich zwei Personengruppen: einerseits Personen, die sich über ihre privaten und beruflichen Verpflichtungen hinaus in Gruppen, Vereinen, Organisationen usw. aktiv beteiligen (freiwillig oder öffentlich Aktive) und andererseits Personen, die sich zusätzlich dazu aktiv für das Gemeinwohl engagieren (freiwillig Engagierte). In meiner Untersuchung geht es um die freiwillig engagierten Menschen, also um Menschen, die ihr Engagement handelnd realisieren.

Die Charakterisierung als freiwillig und nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtet – kurz Unentgeltlichkeit – verdeutlicht, dass diese Tätigkeiten nicht wie die Erwerbsarbeit über den Markt gehandelt werden, da sie nicht bezahlt werden. Die Dimension 1 (Bezahlung) unterstreicht aber auch, dass es umstritten ist, ob es Aufwandsentschädigungen, Versicherungsschutz, geldwerte Leistungen usw. geben kann oder sollte. Nach allgemeiner Auffassung sind Entschädigungen für angefallene Kosten, die im Rahmen der ehrenamtlichen Tätigkeit entstanden sind, mit ehrenamtlichem Engagement vereinbar. Strittig ist lediglich, ob eine bestimmte Obergrenze gelten sollte. Als entscheidend wird hier angesehen, dass die ehrenamtliche Tätigkeit an sich nicht entlohnt oder mit Geld oder geldwerten Leistungen honoriert wird. Als Obergrenze werden pragmatisch die Grenzen für Aufwandsentschädigungen des Einkommenssteuergesetzes übernommen.47 Die Dimension 5 (Freiwilligkeit) unterscheidet außerdem Ehrenämter, die zum Beispiel im 19. Jahrhundert honorigen Persönlichkeiten übertragen wurden, von ehrenamtlichen Tätigkeiten heute, die auf Freiwilligkeit beruhen.48 Freiwilligkeit ist somit konstitutiv für den Begriff Ehrenamt – unbeschadet der Tatsache, dass Entscheidungen generell nie vollständig das Produkt eines freien Willens sind. Pflichtehrenämter (z.B. Wahlhelfer, Schöffen usw.) werden daher, wie bereits erwähnt, in dieser Arbeit nicht weiter berücksichtigt.

Die Gemeinwohlorientierung bedeutet, dass es sich um gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten in sozialen Austauschprozessen handelt – in Abgrenzung von Hobby und Spiel (Kambartel 1993)49 –, die zugleich eine normative Dimension mit Bezug auf die Zivilgesellschaft aufweisen. Hier verdeutlicht die Dimension 2 (Nutznießer), dass Ehrenamt im Ergebnis auch einen Fremdnutzen – also Gemeinwohl – produzieren soll, ohne dass dies das primäre Ziel des Ehrenamtlichen sein muss. Ehrenamtliche, die sich in Selbsthilfegruppen engagieren, haben möglicherweise zunächst ihren Selbstnutzen im Blick und tragen dennoch zum Fremdnutzen bei. Dennoch soll das Ehrenamt von reiner Selbsthilfe oder Eigenarbeit, die nur dem Akteur zum Vorteil gereicht und keinen Fremdnutzen impliziert, abgegrenzt werden.

Das Charakteristikum öffentlich verdeutlicht, dass es sich nicht um Haus- und Familienarbeit handelt, die im privaten Haushalt erbracht wird, sondern um Tätigkeiten oder Arbeiten, die im öffentlichen Raum stattfinden.50 Auch wenn die Grenzen fließend sind, soll Ehrenamt in Bezug auf Dimension 3 (soziale Reichweite) von soziomoralischen Verpflichtungen gegenüber Familienmitgliedern oder Nachbarn, zum Beispiel im Rahmen der Familienarbeit oder Nachbarschaftshilfe,51 abgegrenzt werden.

Die Kennzeichnung als gemeinschaftlich oder kooperativ verweist auf die Einbettung in Institutionen oder Organisationen, innerhalb derer Ehrenamtlichkeit ausgeübt wird, die weder Unternehmen noch staatliche Behörden sind. Das Ehrenamt kann man nicht isoliert von dem Dritten Sektor betrachten, in dem es überwiegend erbracht wird, da die Strukturen, die diesen Sektor prägen, auch Rückwirkungen auf die ehrenamtliche Arbeit haben. Die Dimension 4 (organisationeller Rahmen) macht deutlich, dass die Organisationsformen, in denen Ehrenamt geleistet wird, höchst unterschiedlich sind, dennoch ist zumindest eine lose Organisationsform notwendig.

Somit präzisieren die ersten sechs Dimensionen die obige Definition und zeigen die Übergänge zu nicht ehrenamtlichen Tätigkeiten an (siehe graue Markierung in Tabelle 1). Die vier übrigen Dimensionen dienen der genauen Beschreibung und Binnendifferenzierung des Phänomens Ehrenamt.

Die Dimension 7 (zeitliche Intensität) kann sehr unterschiedlich ausfallen. Als ein hoher zeitlicher Aufwand gilt ein Engagement von 10 und mehr Stunden pro Woche. Dimension 8 (Qualifikation) zeigt an, dass es sowohl Ehrenämter gibt, die in Bezug auf ihr Anforderungsprofil bestimmte Qualifikationen voraussetzen (z.B. erfordert die Tätigkeit als Fußballtrainer einer Kindermannschaft auch einen Trainerschein), als auch solche, die eher als Laientätigkeiten zu betrachten sind und für die keinerlei Zugangsvoraussetzungen bestehen. (Hier kann eine Qualifizierung »on the job« erfolgen.) Die Dimension 9 (Objektbezug), also die Frage der Personen- oder Sachbezogenheit der Tätigkeit, ist für diese Untersuchung nicht relevant, sondern nur der Aspekt des Fremdnutzens, das heißt ob Ziele verfolgt werden, die anderen bzw. dem Gemeinwohl52 dienen. Die letzte Dimension 10 (formale Legitimation) muss wie die der Freiwilligkeit in historischer Perspektive betrachtet werden. Ein formaler und öffentlicher Beauftragungsakt war charakteristisch für die Übertragung ehrenamtlicher Funktionen im 19. Jahrhundert. Heute spielt dieses Kriterium keine Rolle mehr: Ehrenamtliche Tätigkeiten sind sowohl mit einem formalen Beauftragungsakt als auch ohne eine solche formale Legitimation möglich. Darüber hinaus stehen in dieser Arbeit nicht die institutionellen Aspekte des Amts im Vordergrund, sondern die Formen des ehrenamtlichen Handelns. Diese Dimension spielt daher für meine Untersuchung keine Rolle.

Trotz dieser mehr oder weniger klaren Definition, die mit kleineren Abweichungen in der Literatur überwiegend geteilt wird, erweist sich das Phänomen ehrenamtlicher Arbeit selbst als äußerst heterogenes, schwer zu fassendes Konstrukt, unter das ganz verschiedene Entwicklungen, Bereiche, Mitarbeitergruppen, Tätigkeiten und Motive subsumiert werden (Beher et al. 2002: 17). Dies spiegelt sich auch in den voneinander abweichenden Ergebnissen zum Umfang des ehrenamtlichen Engagements in unterschiedlichen empirischen Studien wider (siehe Tabelle 2).

Quantitative Untersuchungen zum Umfang des Ehrenamts kommen nämlich in Abhängigkeit von unterschiedlichen Grundgesamtheiten, Bezugsgrößen, enger oder weiter Definitionen des Ehrenamts, unterschiedlichen Erhebungsmethoden und Messungenauigkeiten zu teilweise sehr unterschiedlichen Zahlen (vgl. auch Stricker 2006: 21ff. und die dort aufgeführte Literatur). Unabhängig von der Tatsache, dass der genaue Umfang ehrenamtlichen Engagements je nach Studie sehr unterschiedlich eingeschätzt wird (siehe folgende Tabelle), besteht Einigkeit, dass es sich um ein für die Gesellschaft in Deutschland quantitativ bedeutsames Phänomen handelt.53

Tabelle 2: Umfang des ehrenamtlichen Engagements in Deutschland (in %) nach unterschiedlichen Erhebungen.

Quelle: Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, Abbildung 1.3–1 auf folgender Datenbasis: Freiwilligensurvey 2004; SOEP (Sozio-ökonomisches Panel) 24; ESS (European Social Survey) 2002/2003; Berechnungen des WZB unter Nutzung der dort angegebene Quellen: Eurobarometer (European Commission 2007); Zeitbudgetstudie (Bundesministerium / Statistisches Bundesamt 2003); Freizeit-Monitor (BAT Stiftung für Zukunftsfragen 2008); AWA (Institut für Demoskopie Allensbach 2008); Engagementatlas (Prognos/ Generali 2009) (Bundesministerium 2009: 23).

In der Regel wird davon ausgegangen, dass sich das ehrenamtliche Engagement in den letzten zwanzig Jahren erhöht hat, die Zahlen des sozio-ökonomischen Panels machen aber auch deutlich, dass das ehrenamtliche Engagement unabhängig von unterschiedlichen Messinstrumenten und Definitionen von Jahr zu Jahr erheblichen Schwankungen unterliegt (Ehrhardt 2011: 150, 153).

Trotz dieser Schwankungen und der unterschiedlichen Messergebnisse stellt sich der durchschnittliche Ehrenamtliche in den meisten Untersuchungen sehr ähnlich dar: Der typische Ehrenamtliche ist Vereinsmitglied, männlich, berufstätig als Beamter, Selbständiger oder Angestellter und gehört der mittleren Generation an. Er verfügt über eine gute Bildung und ein überdurchschnittliches Einkommen. Doch hinter diesem typischen Ehrenamtlichen verbirgt sich eine riesige Bandbreite sehr unterschiedlicher Akteure. Will man Erklärungen für ehrenamtliches Handeln und seine Förderung entwickeln, darf man daher nicht nur das Durchschnittsvereinsmitglied zum Maßstab nehmen, sondern muss sich dieser Vielfältigkeit bewusst sein. Auch wenn quantitative Untersuchungen immer aggregieren müssen, können bereits diese einen ersten Eindruck von den unterschiedlichen Facetten des Engagements liefern. Im Folgenden sollen daher einige Zahlen die für eine handlungstheoretische Fragestellung relevanten Aspekte des Ehrenamts (Akteure, Tätigkeiten, Organisationsformen) illustrieren.

1.3Ehrenamt in Zahlen

Die folgenden Zahlen zu einzelnen Aspekten des Ehrenamts basieren auf dem Freiwilligensurvey, der umfangreichen repräsentativen Umfrage, die 1999, 2004 und 2009 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch das Meinungsforschungsinstitut TNS Infratest Sozialforschung durchgeführt wurde (Bundesministerium 2010). Durch die drei Erhebungszeitpunkte sind gewisse Trendaussagen möglich, die sonst bei empirischen Studien häufig fehlen.54 Im Rahmen dieser Repräsentativerhebung zu »Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement« wurden in den Jahren 1999 und 2004 knapp 15.000 und im Jahr 2009 ca. 20.000 Männer und Frauen in Deutschland telefonisch zu ihrem freiwilligen Engagement befragt.55 Der Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009 wurde 2010 veröffentlicht (Bundesministerium 2010).56 Zu den methodischen Problemen dieser quantitativen Studie gibt der Methodenbericht zur repräsentativen Erhebung im Anhang des Freiwilligensurveys von 2010 Auskunft. Die neuesten Zahlen aus dem Freiwilligensurvey von 2010 geben für die Erhebung im Jahr 2009 einen Anteil an Personen, die sich in Deutschland ehrenamtlich engagieren, von 36% an.

Typische Akteure?

Auch wenn das typische Vereinsmitglied männlich ist, was an der großen Zahl der Sportvereine liegt, sind Frauen keine zu vernachlässigende Minderheit im Ehrenamt. In karitativen und kirchlichen Vereinen überwiegen sogar die weiblichen Vereinsmitglieder, die aber in der Regel in der Leitungsebene deutlich unterrepräsentiert sind. Insgesamt kann man sagen, dass sich die ehrenamtlichen Vereinstätigkeiten geschlechtsspezifisch aufteilen: Leitungs- und Vorstandsfunktionen bzw. Wahlämter werden in erster Linie von Männern wahrgenommen, die also mehrheitlich führen, verwalten und repräsentieren, also Tätigkeiten mit Berufsrelevanz und Prestige ausüben, während Frauen überwiegend helfende und betreuende Dienste am Menschen zum Beispiel im familienbezogenen und sozialen Engagement übernehmen (Bundesministerium 2004: 11).57

Die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die in Bezug auf Erwerbs- und Haus- bzw. Familienarbeit besteht, wird demnach auch im Ehrenamt reproduziert, wobei 2004 ein zunehmendes Engagement von Männern in den Bereichen Schule und Kindergarten sowie im sozialen Bereich zu verzeichnen ist – Bereiche, die traditionell eher von Frauen wahrgenommen werden (ebd.: 10). Dennoch bleiben die Bereiche Kindergarten und Schule sowie der soziale Bereich deutlich von Frauen dominiert (ebd.: 164).

»Der mehr oder weniger freiwilligen traditionellen Arbeitsteilung der Geschlechter im Privaten, in der Gesellschaft und im Beruf setzt auch die Zivilgesellschaft kein Alternativmodell entgegen. […] Frauen arbeiten mehr am Menschen und Männer mehr an der Sache. Diese Sacharbeit der Männer ist oft mit mehr Attraktivität und Prestige verbunden als die Menschenpflege der Frauen.« (ebd.: 167)

Im Ehrenamt gibt es somit starke geschlechtsspezifische Unterschiede. Mit 32% sind Frauen in etwas geringerem Maße freiwillig tätig als Männer, die zu 40% freiwillig engagiert sind (ebd.: 19), wobei diese Unterschiede mit Blick auf die Arbeitsteilung in der Familie zu sehen sind. Frauen reduzieren ihr ehrenamtliches Engagement sehr stark, wenn die jüngsten Kinder unter 3 Jahre alt sind. Männer hingegen beteiligen sich in dieser Lebensphase ihrer Kinder deutlich überproportional (ebd.: 100ff., 167f.). Auffällig ist das Zurückbleiben des weiblichen Engagements in der Gruppe der Frauen im Alter zwischen 20 und 34 Jahren. Dies wird mit Verweis auf die Zeitrestriktionen erklärt, denen Frauen in dieser Lebensphase aufgrund der Notwendigkeit, berufliche Qualifikation und Familiengründung zu vereinbaren, unterliegen (ebd.: 19).

Der typische Ehrenamtliche ist berufstätig und hat ein überdurchschnittliches Einkommen. Zwar könnte man glauben, dass ehrenamtliche Tätigkeiten besonders für Arbeitslose und Rentner attraktiv seien, da diese Personengruppen aufgrund der Tatsache, dass sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen, mehr Zeit für Ehrenamt hätten. Arbeitslose sind aber – dicht gefolgt von Rentnern und Pensionären – die Statusgruppe, die sich am wenigsten ehrenamtlich engagiert. Umso bemerkenswerter ist es, dass gerade bei diesen beiden Gruppen ein überproportionaler Anstieg der freiwillig Engagierten von 1999 bis 2004 erfolgt ist. Ein besonders auffälliger Trend ist die Zunahme des freiwilligen Engagements bei älteren Menschen (über 65-Jährige) bis 2009. Ihre Engagementquote stieg im Zeitraum von 1999 bis 2009 von 23% auf 28% (ebd.: 20). Die Gruppe der Arbeitslosen verbindet mit dem freiwilligen Engagement auch deutliche Interessen, die mit der Tätigkeit verfolgt werden. Dennoch bleibt die Aussage richtig, dass mit steigendem Einkommen auch die Beteiligung am Ehrenamt steigt.

Wie wichtig die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Engagement der Einzelnen sind, zeigt ein Blick auf die Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern.

»Neben den Nachwirkungen der DDR-Vergangenheit sind es besonders die Folgen des kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Umbruchs, die sich bis heute in manifesten sozioökonomischen Unterschieden niederschlagen und die Engagementbereitschaft beeinflussen.« (Bundesministerium 2009: 39, mit Verweis auf Priller und Winkler 2002 und Roth 2001)

Während 1999 die Unterschiede in Bezug auf freiwilliges Engagement zwischen den alten und neuen Ländern noch deutlich waren – der Anteil Engagierter betrug in den alten Ländern 36%, in den neuen nur 28% –, hat sich dies bis 2004 erheblich angenähert: Es gab nun 37% Engagierte in den alten Ländern und 31% in den neuen. Seitdem konnte der Anteil in den neuen Ländern allerdings nicht weiter wachsen, so dass weiterhin ein deutlicher Unterschied zwischen dem Engagement in den alten und den neuen Bundesländern besteht (Bundesministerium 2010: 25).

Typische Tätigkeiten?

Wie in der Definition in 1.2 dargelegt, sind Tätigkeiten im Dritten Sektor nur dann als Ehrenamt zu bezeichnen, wenn Personen sich nicht nur aktiv in Gruppen, Vereinen oder Organisationen beteiligen (freiwillig oder öffentlich Aktive), sondern wenn sie sich zusätzlich aktiv für das Gemeinwohl engagieren (freiwillig Engagierte). Laut Freiwilligensurvey engagierten sich im Jahr 2009 mehr als 23 Millionen Menschen in Deutschland, das heißt rund 36% aller in Deutschland Lebenden im Alter von über 14 Jahren, in ihrer Freizeit ehrenamtlich in Vereinen, Verbänden, Initiativen oder Projekten.58 Im Vergleich zum ersten Freiwilligensurvey von 1999 stieg die Zahl der freiwillig Engagierten bis 2004 um zwei Prozentpunkte; dieser Anteil von 36% blieb in 2009 konstant, wie man in Tabelle 3 sieht.

Tabelle 3: Freiwillig Engagierte, (unverbindlich) öffentlich Aktive und nicht Aktive im Zeitverlauf (1999, 2004, 2009); Bevölkerung ab 14 Jahren.

Quelle: Bundesministerium (2010: 6).

Freiwillig Aktive und Engagierte bestimmen die »Reichweite der Zivilgesellschaft« (Bundesministerium 2010: 5) und umfassen ca. zwei Drittel der Bevölkerung. Die freiwillig Aktiven, die noch nicht engagiert sind, stellen ein mögliches Reservoir für künftig freiwillig Engagierte dar und sind somit das bevorzugte Ziel von Aktivierungsmaßnahmen. Der Anteil der Personen, die angeben, bestimmt oder eventuell zu einem Engagement bereit zu sein, ist von 26% im Jahr 1999 auf 37% im Jahr 2009 gestiegen (ebd.: 8). Dieser Effekt kann aber darauf zurückzuführen sein, dass in Telefonumfragen die Befragten häufig versuchen, die Fragen entsprechend den Erwartungen der Interviewer zu beantworten. Vor dem Hintergrund der größeren öffentlichen Betonung des Ehrenamts kann daher die Zunahme der grundsätzlichen Bereitschaft auch eine Reaktion auf die allgemeine gesellschaftliche Debatte und eine umfragebedingte Verzerrung darstellen.