Ehrensache - Michael Connelly - E-Book
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Ehrensache E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Eine Ikone der modernen Kriminalliteratur: Der 20. Fall für Detective Harry Bosch - von Amerikas Top-Thriller-Autor Michael Connelly Detective Harry Bosch ist in Rente gegangen und nicht mehr beim Los Angeles Police Department (LAPD), aber sein Halbbruder, der Anwalt Mickey Haller, braucht die Hilfe des erfahrenen Ermittlers. Eine Frau ist im Schlafzimmer ihres Hauses brutal ermordet worden, und alle Indizien deuten auf einen von Hallers Klienten, einen früheren Gangster, mittlerweile bürgerlicher Familienvater. Obwohl die Mordanklage wasserdicht scheint, hält Mickey sie für vorgeschoben. Offenbar soll seinem unschuldigen Klienten etwas angehängt werden. Zuerst will Bosch damit nichts zu tun haben, aber dann nimmt er sich der Sache an und betreibt mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit Nachforschungen, um den Fall aufzuklären. Doch je näher er der Wahrheit kommt, umso mehr gerät er in das Visier des Täters … »Der amtierende Herrscher des Polizei-Thrillers.« Kirkus Reviews über Michael Connelly

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Seitenzahl: 503

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Michael Connelly

Ehrensache

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb

Knaur e-books

Über dieses Buch

Detective Harry Bosch ist in Rente gegangen und nicht mehr beim Los Angeles Police Department (LAPD), aber sein Halbbruder, der Anwalt Mickey Haller, braucht die Hilfe des erfahrenen Ermittlers. Eine Frau ist im Schlafzimmer ihres Hauses brutal ermordet worden, und alle Indizien deuten auf einen von Hallers Klienten, einen früheren Gangster, mittlerweile bürgerlicher Familienvater. Obwohl die Mordanklage wasserdicht scheint, hält Mickey sie für vorgeschoben. Offenbar soll seinem unschuldigen Klienten etwas angehängt werden. Zuerst will Bosch damit nichts zu tun haben, aber dann nimmt er sich der Sache an und betreibt mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit Nachforschungen, um den Fall aufzuklären. Doch je näher er der Wahrheit kommt, umso mehr gerät er in das Visier des Täters …

Inhaltsübersicht

Widmung1. April1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. KapitelDanke
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Zur Erinnerung an Simon Christenson

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1. April

Ellis und Long waren vier Wagenlängen hinter dem Motorrad auf dem Ventura Boulevard. Sie fuhren Richtung Osten und näherten sich der langen Kurve, in der sich die Straße nach Süden krümmt und über den Pass nach Hollywood hinunterführt.

Am Steuer saß Ellis. Das war ihm lieber, obwohl als dienstälterer Partner er bestimmen konnte, wer fuhr und wer auf dem Beifahrersitz saß. Long schaute auf den Video-Feed auf dem Display seines Handys und verfolgte, was ihre »Investitionen« machten.

Zu fahren war ein gutes Gefühl. Der Wagen fühlte sich stark an. Die Lenkung hatte kaum Spiel. Ellis hatte den Eindruck, alles im Griff zu haben. Als sich auf der rechten Spur eine Lücke auftat, stieg er aufs Gas. Der Wagen schoss nach vorn.

Long schaute auf.

»Was machst du da?«

»Ein Problem beseitigen.«

»Häh?«

»Bevor es ein Problem wird.«

Er hatte das Motorrad eingeholt und fuhr jetzt neben ihm. Er schaute zu ihm hinüber und sah die schwarzen Stiefel des Fahrers und die orangefarbenen Flammen auf dem Tank. Die Flammen hatten den gleichen Farbton wie der Camaro.

Er setzte sich knapp vor das Motorrad, und als sich die Straße nach rechts krümmte, ließ er den Wagen den Gesetzen der Fliehkraft folgen, um auf die linke Spur zu driften.

Der Motorradfahrer brüllte. Er trat gegen die Seite des Camaro, und dann gab er Gas, um vor ihn zu kommen. Das war sein Fehler. Er hätte nachgeben und abbremsen sollen, aber er ergriff die Flucht nach vorn. Darauf war Ellis vorbereitet. Er trat aufs Gas. Der Camaro schoss auf die linke Spur und schnitt dem Motorrad vollends den Weg ab.

Ellis hörte Bremsenquietschen und das lang anhaltende Hupen eines Autos, als das Motorrad auf die Gegenfahrbahn geriet. Dann ertönten das durchdringende Knirschen von Blech und der unvermeidliche Zusammenprall von Metall und Metall.

Ellis grinste und fuhr weiter.

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1

Es war ein Freitagmorgen, und die Cleveren waren bereits ins Wochenende aufgebrochen. Deshalb herrschte auf dem Weg nach Downtown kaum Verkehr, und Harry Bosch traf früh im Gericht ein. Statt wie verabredet auf der Eingangstreppe auf Mickey Haller zu warten, beschloss er, seinen Anwalt im Innern des riesigen Baus zu suchen, der mit seinen neunzehn Stockwerken einen halben Häuserblock einnahm. Die Suche nach Haller war jedoch nicht so schwer, wie die Größe des Gebäudes vermuten ließ. Nachdem Bosch den Metalldetektor im Foyer passiert hatte – eine neue Erfahrung für ihn –, fuhr er mit dem Lift in den vierzehnten Stock. Und nachdem er dort in alle Gerichtssäle geschaut hatte, arbeitete er sich über das Treppenhaus Etage für Etage nach unten vor. Die meisten Gerichtssäle, in denen Strafsachen verhandelt wurden, befanden sich in den Stockwerken acht bis vierzehn. Das wusste Bosch wegen der vielen Stunden, die er in den letzten dreißig Jahren in diesen Gerichtssälen verbracht hatte.

Er fand Haller in Saal 120 im zwölften Stock. An der Verhandlung, die dort stattfand, nahmen keine Geschworenen teil. Haller hatte Bosch gesagt, er hätte einen Termin bei Gericht, der bis zu ihrer Verabredung zum Mittagessen zu Ende wäre. Bosch rutschte auf eine Bank im hinteren Teil der Zuschauergalerie und verfolgte, wie Haller einen uniformierten LAPD-Officer im Zeugenstand befragte. Das Vorgeplänkel hatte Bosch verpasst, aber nicht die entscheidende Phase der Befragung des Polizisten.

»Officer Sanchez«, sagte Haller, »ich möchte Sie jetzt bitten, noch einmal Schritt für Schritt mit mir durchzugehen, wie es dazu gekommen ist, dass Sie am 11. Dezember vergangenen Jahres Mr. Hennegan festgenommen haben. Fangen wir doch am besten damit an, wie an besagtem Tag Ihr dienstlicher Auftrag lautete.«

Sanchez brauchte eine Weile, um sich eine Antwort auf diese scheinbar harmlose Frage zurechtzulegen. Er hatte drei Streifen an seinem Ärmel, von denen jeder für fünf Jahre Polizeidienst stand. Fünfzehn Jahre bedeuteten einiges an Erfahrung, und daraus schloss Bosch, dass Sanchez nicht nur auf der Hut vor Haller war, sondern sich auch gut darauf verstand, ihm Antworten zu geben, die mehr der Anklage halfen als der Verteidigung.

»Mein Partner und ich hatten Patrouillendienst im Seventy-Seventh-Street-Revier«, antwortete Sanchez schließlich. »Als es zu dem Vorfall kam, fuhren wir gerade auf der Florence Avenue in Richtung Westen.«

»Und Mr. Hennegan war ebenfalls auf der Florence Avenue unterwegs?«

»Ja, das ist richtig.«

»In welche Richtung fuhr er?«

»Er fuhr ebenfalls nach Westen. Sein Auto war direkt vor unserem.«

»Gut, und was ist dann passiert?«

»Die Ampel an der Normandie Avenue war rot. Mr. Hennegan hielt an, und wir hielten hinter ihm an. Dann betätigte Mr. Hennegan den rechten Fahrtrichtungsanzeiger und bog nach rechts in die Normandie, um in nördlicher Richtung weiterzufahren.«

»Beging er eine Verkehrswidrigkeit, als er an der roten Ampel rechts abbog?«

»Nein. Er brachte das Fahrzeug vollständig zum Stillstand, und als die Straße frei war, bog er rechts ab.«

Haller nickte und hakte etwas auf seinem Block ab. Sein Mandant saß in einem blauen County-Jail-Overall neben ihm – ein sicheres Zeichen dafür, dass es in der Verhandlung um eine schwere Straftat ging. Bosch tippte auf ein Drogenvergehen, und vermutlich wollte Haller verhindern, dass irgendetwas von dem, was im Auto seines Mandanten gefunden worden war, beim Prozess als Beweismittel zugelassen wurde, indem er geltend machte, er sei unrechtmäßig angehalten und durchsucht worden.

Haller befragte den Zeugen von seinem Platz am Tisch der Verteidigung. Wenn keine Geschworenen anwesend waren, entband der Richter die Anwälte davon, einen Zeugen im Stehen anzusprechen.

»Und Sie sind ebenfalls abgebogen und Mr. Hennegans Wagen gefolgt, richtig?«, fragte er.

»Das ist richtig«, antwortete Sanchez.

»Wann genau haben Sie beschlossen, Mr. Hennegans Fahrzeug anzuhalten?«

»Sofort. Wir haben ihn angeblinkt, und er ist rechts rangefahren.«

»Und was ist dann passiert?«

»Er hat angehalten, und im selben Moment ist die Beifahrertür aufgeflogen, und der Beifahrer ist geflüchtet.«

»Er ist weggelaufen?«

»Ja, Sir.«

»Wohin ist er gelaufen?«

»Es gibt dort ein Einkaufszentrum mit einer Durchfahrt dahinter. Und auf dieser Durchfahrt ist er in östlicher Richtung weggelaufen.«

»Haben Sie oder Ihr Partner seine Verfolgung aufgenommen?«

»Nein, Sir. Es wäre zu gefährlich und gegen die Vorschriften gewesen, uns zu trennen. Mein Partner hat über Funk Verstärkung und ein Luftschiff angefordert. Außerdem hat er eine Beschreibung des fliehenden Mannes durchgegeben.«

»Ein Luftschiff?«

»Einen Polizeihubschrauber.«

»Verstehe. Was haben Sie gemacht, Officer Sanchez, während Ihr Partner das alles über Funk durchgegeben hat?«

»Ich stieg aus dem Streifenwagen und ging an die Fahrerseite des Fahrzeugs und forderte den Fahrer auf, seine Hände aus dem Fenster zu strecken, damit ich sie sehen konnte.«

»Hatten Sie dabei Ihre Waffe gezogen?«

»Ja, hatte ich.«

»Was ist dann passiert?«

»Ich forderte den Fahrer – Mr. Hennegan – auf, aus dem Fahrzeug zu steigen und sich auf den Boden zu legen. Dem kam er nach, woraufhin ich ihm Handschellen anlegte.«

»Haben Sie ihm erklärt, weshalb er festgenommen wurde?«

»Zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht festgenommen.«

»Er lag in Handschellen mit dem Gesicht nach unten auf der Straße, und Sie sagen, er war nicht verhaftet?«

»Wir wussten noch nicht, worum es ging, und meine Sorge galt zunächst nur meiner Sicherheit und der meines Partners. Wir hatten es mit einem Beifahrer zu tun, der die Flucht ergriffen hatte. Deshalb hielten wir es für angeraten, vorsichtig zu sein.«

»Es war also der Mann, der weggerannt ist, der alles in Gang gesetzt hat?«

»Ja, Sir.«

Haller blätterte in seinem Block ein paar Seiten weiter, um seine Notizen zu Rate zu ziehen, dann sah er etwas in seinem Laptop nach, der offen auf dem Tisch der Verteidigung stand. Der Kopf seines Mandanten war weit nach vorn geneigt, und von hinten sah es aus, als schliefe er.

Der Richter war so tief in seinen Sitz gesunken, dass Bosch nur den oberen Teil seines grauhaarigen Kopfs sehen konnte. Jetzt räusperte er sich und beugte sich vor, so dass er für die Anwesenden sichtbar wurde. Ein Schild an der Richterbank wies ihn als Honorable Steve Yerrid aus. Bosch kannte ihn weder persönlich noch namentlich, aber das hatte nicht viel zu besagen, denn in diesem Gebäude gab es mehr als fünfzig Gerichtssäle und Richter.

»Ist das alles, Mr. Haller?«, fragte Yerrid.

»Entschuldigen Sie bitte, Euer Ehren«, sagte Haller. »Ich muss nur kurz etwas nachsehen.«

»Aber beeilen Sie sich bitte.«

»Ja, Euer Ehren.«

Anscheinend fand Haller in seinen Notizen, was er suchte, und fuhr fort:

»Wie lang haben Sie Mr. Hennegan in Handschellen auf der Straße liegen lassen, Officer Sanchez?«

»Ich habe in seinem Auto nachgesehen, und sobald ich mich vergewissert hatte, dass dort sonst niemand war, ging ich zu Mr. Hennegan zurück und tastete ihn nach Waffen ab. Dann half ich ihm auf und setzte ihn zu seiner und unserer Sicherheit auf den Rücksitz des Streifenwagens.«

»Warum stand seine Sicherheit zur Debatte?«

»Wie bereits gesagt, wussten wir nicht, womit wir es zu tun hatten. Ein Mann läuft weg, der andere verhält sich nervös. Da war es das Beste, die Person erst einmal zu sichern und dann festzustellen, worum es bei der Sache ging.«

»Wann ist Ihnen zum ersten Mal aufgefallen, dass sich Mr. Hennegan, wie Sie es nennen, nervös verhielt?«

»Sofort. Als ich ihn aufforderte, die Hände aus dem Fenster zu strecken.«

»Sie hatten Ihre Dienstwaffe auf ihn gerichtet, als Sie diese Anweisung erteilten, ist das richtig?«

»Ja.«

»Gut, Mr. Hennegan sitzt jetzt also auf dem Rücksitz Ihres Streifenwagens. Haben Sie ihn gefragt, ob Sie sein Auto durchsuchen dürfen?«

»Das habe ich, und er hat es abgelehnt.«

»Was haben Sie getan, nachdem er es abgelehnt hat?«

»Ich habe über Funk einen Drogenhund angefordert.«

»Und was macht ein Drogenhund?«

»Er ist darauf abgerichtet, Laut zu geben, wenn er Drogen riecht.«

»Gut, und wie lang hat es gedauert, den Hund an die Kreuzung Florence und Normandie zu bringen?«

»Ungefähr eine Stunde. Er musste von der Academy geholt werden, wo gerade zu Ausbildungszwecken eine Vorführung stattfand.«

»Mein Mandant war also eine Stunde auf dem Rücksitz Ihres Autos eingesperrt, während Sie auf den Hund gewartet haben.«

»Richtig.«

»Zu seiner Sicherheit und Ihrer.«

»Richtig.«

»Wie oft sind Sie zu Ihrem Wagen gegangen, haben die Tür geöffnet und ihn erneut gefragt, ob Sie sein Auto durchsuchen dürfen?«

»Zwei- oder dreimal.«

»Und wie hat er darauf reagiert?«

»Er hat es weiter abgelehnt.«

»Haben Sie oder andere Polizisten den Beifahrer, der weggelaufen ist, jemals gefunden?«

»Meines Wissens nicht. Am Tag danach wurde die Angelegenheit der South Bureau Narcotics Unit übergeben.«

»Und was geschah, als der Drogenhund endlich eintraf?«

»Der K-9 Officer hat ihn um das Fahrzeug des Angeklagten geführt, und am Kofferraum hat der Hund Laut gegeben.«

»Wie hieß der Hund?«

»Cosmo, glaube ich.«

»Was für ein Fahrzeug fuhr Mr. Hennegan?«

»Einen alten Toyota Camry.«

»Und Cosmo hat Ihnen angezeigt, dass Drogen im Kofferraum waren?«

»Ja, Sir.«

»Deshalb haben Sie den Kofferraum geöffnet.«

»Wir haben das Bellen des Hundes als berechtigten Grund für die Durchsuchung des Kofferraums angesehen.«

»Haben Sie Drogen gefunden, Officer Sanchez?«

»Wir haben einen Beutel mit einer Substanz gefunden, bei der es sich um Crystal Meth zu handeln schien, außerdem eine Tüte mit Geld.«

»Wie viel Crystal Meth?«

»Eins Komma eins Kilo, wie sich später herausgestellt hat.«

»Und wie viel Geld?«

»Achtundsechzigtausend Dollar.«

»In bar?«

»Lauter Scheine.«

»Daraufhin haben Sie Mr. Hennegan wegen Drogenbesitz mit der Absicht des Verkaufs festgenommen, richtig?«

»Ja, das war der Punkt, an dem wir ihn festnahmen, ihm seine Rechte vorlasen und ihn zur Einlieferung ins South Bureau brachten.«

Haller nickte. Und schaute wieder auf seinen Notizblock. Bosch wusste, dass er noch etwas in petto haben musste. Das bestätigte sich, als der Richter Haller aufforderte fortzufahren.

»Lassen Sie uns noch mal zu dem Punkt zurückgehen, als Sie das Fahrzeug angehalten haben, Officer. Sie haben vorhin zu Protokoll gegeben, dass Mr. Hennegan an einer roten Ampel rechts abgebogen ist, nachdem er vorher angehalten und gewartet hat, bis die Straße frei war und er gefahrlos abbiegen konnte. Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja, das ist richtig.«

»Und daran war rechtlich nichts auszusetzen, richtig?«

»Ja.«

»Wenn er also alles richtig gemacht hat, warum haben Sie dann die Lichter Ihres Streifenwagens eingeschaltet und ihn aufgefordert anzuhalten?«

Sanchez warf einen kurzen Blick zum Staatsanwalt, der an dem Tisch saß, der Haller gegenüberstand. Bisher hatte er nichts gesagt, aber Bosch war nicht entgangen, dass er sich während der Aussage des Polizisten Notizen gemacht hatte.

Dieser Blick verriet Bosch, dass das die Schwachstelle des Falls sein musste, die sich Haller zunutze zu machen versuchte.

»Euer Ehren, können Sie bitte den Zeugen ersuchen, die Frage zu beantworten, statt beim Ankläger Hilfe zu suchen?«, sagte Haller.

Richter Yerrid beugte sich wieder vor und forderte Sanchez auf zu antworten. Sanchez bat Haller, die Frage zu wiederholen, und Haller kam seiner Bitte nach.

»Es war kurz vor Weihnachten«, sagte Sanchez. »Um diese Zeit verteilen wir immer Putengutscheine, und ich habe die beiden angehalten, um ihnen Putengutscheine zu geben.«

»Truthahngutscheine?«, fragte Haller. »Was ist denn ein Truthahngutschein?«

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2

Bosch hatte seinen Spaß an der Lincoln-Lawyer-Show. Geschickt hatte Haller alle Einzelheiten der Festnahme zu Protokoll nehmen lassen, war dann auf die Achillesferse des Falls zurückgekommen und war jetzt im Begriff, sie für seine Zwecke auszuschlachten. Bosch ahnte bereits, warum der Staatsanwalt die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte. An den Fakten des Falls gab es für ihn nichts zu rütteln. Es kam einzig und allein darauf an, wie er sie später dem Richter verkaufte.

»Was sind Truthahngutscheine, Officer Sanchez?«, fragte Haller ein zweites Mal.

»Na ja, in South L. A. gibt es die Supermarktkette Little John’s, und in der Zeit zwischen Thanksgiving und Weihnachten geben sie uns jedes Jahr Geschenkgutscheine für Truthähne. Und die verteilen wir an die Leute.«

»Als Geschenk sozusagen?«, fragte Haller.

»Ja, als Geschenk«, sagte Sanchez.

»Nach welchen Kriterien verteilen Sie diese Truthahngutscheine?«

»Wir geben sie Leuten, die sich korrekt verhalten. Leuten, die tun, was sie tun sollten.«

»Also zum Beispiel Autofahrern, die sich an die Verkehrsregeln halten?«

»Genau.«

»In diesem Fall haben Sie also Mr. Hennegan angehalten, weil er sich an der roten Ampel korrekt verhalten hat?«

»Ja.«

»Anders ausgedrückt, Sie haben Mr. Hennegan angehalten, weil er sich an die Gesetze gehalten hat, richtig?«

Sanchez schaute wieder Hilfe suchend zum Staatsanwalt. Er bekam jedoch keine und musste die Frage allein parieren.

»Dass er etwas Gesetzwidriges getan hatte, wurde uns erst klar, als sein Partner die Flucht ergriff und wir die Drogen und das Geld fanden.«

Selbst Bosch sah, wie kläglich dieses Argument war. Und Haller ließ es nicht durchgehen.

»Officer Sanchez«, sagte er. »Ich möchte diesen Punkt jetzt ganz unmissverständlich klarstellen: In dem Moment, als Sie die Lichter und die Sirene Ihres Streifenwagens eingeschaltet haben, um Mr. Hennegan zum Anhalten aufzufordern, haben Sie Mr. Hennegan nichts tun sehen, was Sie für falsch oder gesetzwidrig gehalten haben. Ist das richtig?«

»Ja«, murmelte Sanchez.

»Bitte geben Sie Ihre Antwort laut und deutlich, damit sie zu Protokoll genommen werden kann«, sagte Haller.

»Ja, das ist richtig«, sagte Sanchez in lautem, verärgertem Ton.

»Ich habe keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«

Der Richter fragte den Ankläger, den er mit Mr. Wright ansprach, ob er den Zeugen ins Kreuzverhör nehmen wolle, und Wright verzichtete darauf. Die Fakten waren unumstößlich, und keine Frage, die er stellte, würde etwas daran ändern. Der Richter entließ Officer Sanchez aus dem Zeugenstand und richtete sich an die Anwälte.

»Es ist Ihr Antrag, Mr. Haller«, sagte er. »Sind Sie bereit für die Plädoyers?«

Darauf folgte eine kurze Diskussion, da Haller die Sache weiter mündlich verhandeln wollte, während Wright vorschlug, Schriftsätze einzureichen. Richter Yerrid entschied sich zu Hallers Gunsten und erklärte, er wolle die Argumente mündlich vorgetragen hören, um dann zu entscheiden, ob es nötig sei, sie auch in schriftlicher Form vorzulegen.

Haller stand auf und trat an das Pult zwischen den Tischen von Anklage und Verteidigung.

»Ich werde mich kurz fassen, Euer Ehren, denn ich finde, die Faktenlage ist eindeutig. Unter Berücksichtigung der gegebenen Umstände ist der berechtigte Grund für diese Verkehrskontrolle nicht nur nicht zureichend, sondern nicht einmal vorhanden. Mr. Hennegan hat sich an alle Verkehrsregeln gehalten und in keiner Weise auffällig verhalten, als Officer Sanchez und sein Partner ihre Lichter und die Sirene eingeschaltet haben und ihn dadurch gezwungen haben, am Straßenrand anzuhalten.«

Haller hatte einen dicken Gesetzestext ans Pult mitgenommen. Jetzt blickte er auf eine angestrichene Textstelle hinab und fuhr fort.

»Euer Ehren, laut Viertem Amendment ist für eine Durchsuchung und Festsetzung eine durch einen berechtigten Grund gestützte Ermächtigung erforderlich. Allerdings gibt es unter Terry Ausnahmen von der Erfordernis einer Ermächtigung, von denen eine ist, dass ein Fahrzeug angehalten werden darf, wenn berechtigter Grund zu der Annahme besteht, dass ein Verstoß begangen wurde, oder ein hinreichender Verdacht besteht, dass die Insassen des Fahrzeugs an einer Straftat beteiligt waren. Im vorliegenden Fall ist jedoch keine der Erfordernisse für eine Terry-Kontrolle erfüllt. Das Vierte Amendment erlegt dem Staat bei der Ausübung seiner Machtbefugnisse strenge Beschränkungen auf. Truthahngutscheine zu verteilen ist keine zulässige Ausübung verfassungsmäßiger Machtbefugnisse. Mr. Hennegan hat gegen keine Verkehrsregel verstoßen. Im Gegenteil, laut Aussage des die Festnahme vornehmenden Officers war sein Verkehrsverhalten sogar vollkommen korrekt und rechtskonform, als er dazu aufgefordert wurde, am Straßenrand anzuhalten. Was später im Kofferraum des Fahrzeugs gefunden wurde, spielt keine Rolle. Der Staat hat gröblich gegen das Recht auf Schutz vor unrechtmäßiger Durchsuchung und Festsetzung verstoßen.«

Haller machte eine Pause. Er schien zu überlegen, ob er dem noch etwas hinzufügen sollte.

»Hinzu kommt«, fuhr er schließlich fort, »dass die Stunde, in der Mr. Hennegan auf dem Rücksitz von Officer Sanchez’ Streifenwagen festgehalten wurde, eine Festnahme ohne entsprechenden Beschluss oder berechtigten Grund darstellt und somit eine weitere Verletzung seines Schutzes vor unrechtmäßiger Durchsuchung und Festsetzung ist. Früchte des vergifteten Baums, Euer Ehren. Die Kontrolle war unzulässig. Alles, was daraus hervorgeht, ist deshalb vor Gericht nicht verwertbar. Ich danke Ihnen.«

Haller ging zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. Seinem Mandanten war nicht anzusehen, ob er das Plädoyer verfolgt oder verstanden hatte.

»Mr. Wright?«, sagte der Richter.

Der Staatsanwalt stand auf und trat zögernd ans Pult. Bosch hatte nicht Jura studiert, kannte sich aber mit praktischen Belangen der Rechtsprechung aus. Er wusste, dass die Anklage gegen Hennegan auf wackligen Beinen stand.

»Euer Ehren«, begann Wright. »Tag für Tag haben Polizeibeamte sogenannte Bürgerbegegnungen, von denen manche zu einer Festnahme führen. Wie der Oberste Gerichtshof in Terry sagt, ›führt nicht jede persönliche Begegnung von Polizeibeamten und Bürgern zur Festnahme von Personen‹. In diesem Fall handelt es sich um eine solche Bürgerbegegnung – hinter der die Absicht stand, korrektes Verhalten zu belohnen. Was der Sache einen gänzlich anderen Charakter verlieh und einen berechtigten Grund für das Vorgehen der Officer lieferte, war der Umstand, dass der Beifahrer des angehaltenen Fahrzeugs sofort die Flucht ergriff. Das hat die Situation von Grund auf verändert.«

Wright überflog die Notizen auf dem Block, den er ans Pult mitgebracht hatte. Er fand den roten Faden und fuhr fort.

»Der Angeklagte ist Drogendealer. Die ursprünglich guten Absichten der beiden Streifenpolizisten sollten der Weiterverfolgung des Falls nicht entgegenstehen. Das Gericht hat diesbezüglich großen Ermessensspielraum, und Officer Sanchez und sein Partner sollten nicht dafür bestraft werden, dass sie vollumfänglich ihrer Pflicht nachgekommen sind.«

Wright setzte sich. Bosch wusste, dass sich der Ankläger mit seinem Plädoyer der Gnade des Gerichts ausgeliefert hatte. Haller stand auf, um seine Entgegnung vorzubringen.

»Euer Ehren, wenn ich dazu noch etwas sagen dürfte. Mr. Wright ist in diesem Fall leider Mr. Wrong. Er zitiert Terry, erwähnt dabei aber nicht, dass eine Festsetzung stattfindet, wenn ein Polizist einen Bürger mittels physischen Zwangs oder eines Hinweises auf seine amtliche Befugnis festhält. Er versucht hier, den Zeitpunkt der Festsetzung willkürlich in unmittelbare Nähe eines berechtigten Grunds zu schieben. Er sagt, eine Festsetzung erfolgte erst, als der Beifahrer aus Mr. Hennegans Auto sprang und damit einen berechtigten Grund lieferte. Diese Logik geht aber nicht auf, Euer Ehren. Officer Sanchez hat Mr. Hennegan mit der Sirene und den Lichtern seines Streifenwagens dazu veranlasst, am Straßenrand anzuhalten. Und für diese Maßnahme musste ein berechtigter Grund vorliegen, damit es anschließend zu einer Festnahme gleich welcher Art kommen konnte. Es steht den Bürgern dieses Landes zu, sich frei und ungehindert zu bewegen. Einen Bürger anzuhalten, um sich nett mit ihm zu unterhalten, ist eine Festsetzung und ein Verstoß gegen das Recht, ungehindert seinen rechtmäßigen Unternehmungen nachzugehen. Anders ausgedrückt: Ein Truthahngutschein ist kein berechtigter Grund. Und damit erübrigt sich dieses Verfahren von selbst, Euer Ehren. Ich danke Ihnen.«

Haller kehrte an seinen Platz zurück, und Wright stand nicht noch einmal auf, um das letzte Wort zu behalten. Er hatte seine Argumente, soweit man sie als solche bezeichnen konnte, bereits vorgebracht.

Richter Yerrid beugte sich wieder vor und räusperte sich in das auf der Bank angebrachte Mikrofon, worauf ein lautes Rasseln durch den Saal ging. Hennegan setzte sich abrupt auf und verriet damit, dass er in der Verhandlung, in der über seine Freiheit entschieden wurde, tatsächlich geschlafen hatte.

»Entschuldigung«, sagte Yerrid, nachdem das Geräusch verklungen war. »Nachdem das Gericht die Aussagen und die Plädoyers gehört hat, gibt es dem Antrag auf Nichtzulassung statt. Das Beweismaterial, das im Kofferraum …«

»Euer Ehren!«, rief Wright und sprang von seinem Sitz auf. »Präzisierung.«

Er breitete die Arme aus, als überraschte ihn der Entscheid, mit dem er zweifellos gerechnet hatte.

»Euer Ehren, ohne das Beweismaterial aus dem Kofferraum dieses Fahrzeugs ist der Anklage jede Grundlage für ein Verfahren entzogen. Sagen Sie damit, die Drogen und das Geld sind als Beweise nicht zugelassen?«

»Genau das sage ich damit, Mr. Wright. Es bestand kein berechtigter Grund, das Auto des Angeklagten anzuhalten. Wie Mr. Haller ganz richtig bemerkt hat: Früchte des vergifteten Baums.«

Wright deutete auf Hennegan.

»Euer Ehren, dieser Mann ist ein Drogendealer. Er ist Teil der Plage, die unsere Stadt und unsere Gesellschaft heimsucht. Sie lassen ihn wieder auf die Menschheit …«

»Mr. Wright«, bellte der Richter ins Mikrofon. »Machen Sie nicht das Gericht für die Mängel Ihrer Falldarstellung verantwortlich.«

»Die Anklage wird innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden Berufung einlegen.«

»Das steht der Anklage jederzeit frei. Ich würde allerdings gern sehen, wie Sie dabei das Vierte Amendment zum Verschwinden bringen wollen.«

Wright ließ sein Kinn auf die Brust sinken. Diese Gelegenheit ergriff Haller, um aufzustehen und weiter Salz in die Wunden des Staatsanwalts zu streuen.

»Euer Ehren, ich möchte den Antrag stellen, die Anklagepunkte gegen meinen Mandanten abzuweisen. Es gibt keine Beweise, die die Anklage stützen.«

Yerrid nickte. Er wusste, dass es so kommen würde. Er beschloss, Wright ein Quentchen Gnade zu gewähren.

»Ich werde darüber nachdenken, Mr. Haller, und abwarten, ob die Anklage tatsächlich Berufung einlegt. Sonst noch etwas vonseiten der Anwälte?«

»Nein, Euer Ehren«, sagte Wright.

»Ja, Euer Ehren«, sagte Haller. »Mein Mandant befindet sich gegenwärtig in Haft, weil er die vom Gericht festgesetzte Kaution in Höhe von einer halben Million Dollar nicht zu stellen imstande ist. Ich beantrage, ihn angesichts der anhängigen Berufung oder Einstellung des Verfahrens aus der Haft zu entlassen.«

»Die Anklage erhebt Einspruch«, sagte Wright. »Der Partner dieses Manns ist geflohen. Nichts deutet darauf hin, dass Hennegan nicht dasselbe tun wird. Wie bereits gesagt, werden wir diese Entscheidung anfechten und den Fall weiterverfolgen.«

»Das sagen Sie«, entgegnete der Richter. »Ich werde über die Möglichkeit einer Kaution nachdenken. Warten wir ab, was die Anklage unternimmt, wenn sie sich weiter mit dem Fall befasst hat. Mr. Haller, Sie können jederzeit eine Neuverhandlung Ihrer Anträge verlangen, falls sich die Staatsanwaltschaft zu viel Zeit lässt.«

Damit gab der Richter Wright zu verstehen, dass er einschreiten würde, wenn er die Sache auszusitzen versuchte.

»So«, erklärte der Richter. »Und wenn es sonst nichts mehr gibt, vertagen wir uns jetzt.«

Er wartete kurz, um zu sehen, ob noch etwas von den Anwälten kam, dann stand er auf und verließ die Bank. Er verschwand durch die Tür hinter dem Schreibtisch des Protokollführers.

Bosch beobachtete, wie Haller seinem Mandanten auf die Schulter klopfte und sich zu ihm hinabbeugte, um ihm zu erklären, was für einen großen Sieg er gerade errungen hatte. Bosch wusste, die Entscheidung des Richters hieß nicht, dass Hennegan auf der Stelle als freier Mann aus dem Gerichtssaal oder dem Bezirksgefängnis marschieren konnte. Nicht annähernd. Jetzt ging es erst richtig los. Zweifellos war der Fall ein Rohrkrepierer. Aber solange Hennegan im Gefängnis saß, verfügte der Staatsanwalt über ein Druckmittel, wenn über die Einstellung des Verfahrens verhandelt werden sollte. Wright konnte ihm als Gegenleistung für ein Schuldgeständnis eine Anklage wegen eines geringfügigeren Vergehens anbieten. Dann kam Hennegan am Ende mit ein paar Monaten statt Jahren davon, und die Staatsanwaltschaft konnte wenigstens eine Verurteilung verbuchen.

So lief das, wusste Bosch. Das Gesetz ließ sich biegen. Wenn Anwälte beteiligt waren, ließ sich immer eine Einigung erzielen. Das wusste auch der Richter. Er war mit einer unhaltbaren Situation konfrontiert worden. Jeder im Saal wusste, dass Hennegan ein Drogendealer war. Aber seine Festnahme war unberechtigt gewesen, und deshalb war das dabei gewonnene Beweismaterial nicht verwertbar. Indem der Richter Hennegan nicht aus der Haft entließ, ermöglichte er den Anwälten, sich auf eine Lösung zu einigen, die verhinderte, dass ein Drogendealer ungestraft davonkam. Wright packte rasch seine Sachen zusammen und wandte sich zum Gehen. Als er auf die Schranke zusteuerte, schaute er kurz zu Haller und sagte, er werde sich bei ihm melden.

Haller nickte zur Antwort, und in diesem Moment erst bemerkte er Bosch. Er beendete die Unterredung mit seinem Mandanten rasch, als der Gerichtsdeputy auf sie zukam, um Hennegan in seine Zelle zurückzubringen.

Wenig später kam Haller durch die Schranke in die Zuschauergalerie, wo Bosch auf ihn wartete.

»Wie viel hast du mitbekommen?«, fragte er.

»Genug«, sagte Bosch. »Und vor allem ›Mr. Wright ist Mr. Wrong‹.«

Hallers Grinsen wurde noch breiter.

»Ich warte schon seit Jahren darauf, endlich mal bei einer Verhandlung auf Wright zu treffen, um diesen Spruch anbringen zu können.«

»Wahrscheinlich sollte ich dir gratulieren.«

Haller nickte.

»Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber oft kommt so etwas nicht vor. Wahrscheinlich kann ich an meinen zwei Händen abzählen, wie oft ich einen Antrag auf Nichtzulassung durchbekommen habe.«

»Hast du das auch deinem Mandanten erzählt?«

»Mit den Feinheiten des Rechts hat er’s eher nicht so. Ihn interessiert nur, wann er freikommt.«

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3

Sie aßen im Traxx in der Union Station. Es war ein nettes Lokal, das in der Nähe des Gerichts lag und mittags bei Richtern und Anwälten sehr beliebt war. Die Bedienung kannte Haller und brachte ihm erst gar keine Speisekarte. Er bestellte das Übliche. Bosch entschied sich nach einem kurzen Blick auf die Karte für einen Hamburger mit Pommes, was Haller zu enttäuschen schien.

Auf dem Weg ins Traxx hatten sie über Familienangelegenheiten gesprochen. Bosch und Haller waren Halbbrüder und hatten Töchter im gleichen Alter. Die Mädchen hatten sogar vor, sich ein Zimmer zu teilen, wenn sie im September an der Chapman University in Orange County zu studieren begannen. Jede von ihnen hatte sich ohne das Wissen der anderen für die Universität beworben und erst davon erfahren, als sie die Benachrichtigung über ihre Zulassung am selben Tag auf Facebook feierten. Daraufhin hatten sie rasch beschlossen zusammenzuwohnen. Den Vätern kam das sehr gelegen, weil sie so gemeinsam im Auge behalten konnten, wie sich die Mädchen beim Studium zurechtfanden.

Doch als sie jetzt an ihrem Fenstertisch saßen, von dem man in den höhlenartigen Wartesaal des Bahnhofs hinausblickte, wurde es Zeit, zum eigentlichen Grund ihres Treffens zu kommen. Bosch rechnete damit, dass Haller ihn über die neuesten Entwicklungen in dem Rechtsstreit, in dem er ihn vertrat, informieren würde. Bosch war im vergangenen Jahr wegen eines künstlich aufgebauschten Problems vom LAPD suspendiert worden, weil er sich mit einem Dietrich Zutritt zum Büro eines Captains verschafft hatte, um dort einen Blick in alte Polizeiakten zu werfen, die mit Mordermittlungen in Zusammenhang standen, an denen er gerade gearbeitet hatte. Es war an einem Sonntag gewesen, und Bosch hatte nicht warten wollen, bis der Captain am nächsten Tag zum Dienst kam. Der Verstoß war nicht der Rede wert, hätte aber der erste Schritt zu seiner Entlassung werden können.

Noch schwerer wog für Bosch, dass es eine unbezahlte Suspendierung war, infolge deren auch die Einzahlungen in seinen Deferred Retirement Option Plan ausgesetzt wurden. Das hieß, dass er kein Gehalt bekam und auch keinen Zugriff auf seinen DROP-Pensionsfonds hatte, während er die Suspendierung anfocht und vor einen Rechtsausschuss brachte – ein Verfahren, das mindestens sechs Monate dauerte und über den Zeitpunkt seiner endgültigen Pensionierung hinausreichte. In Ermangelung anderer Einkünfte, mit denen er für seinen Lebensunterhalt und das bevorstehende Studium seiner Tochter aufkommen konnte, hatte sich Bosch pensionieren lassen müssen, um Zugriff auf seine Rente und seinen DROP-Fonds zu erhalten. Anschließend hatte er Haller damit beauftragt, eine Zivilklage gegen die Stadt einzureichen und geltend zu machen, das LAPD habe zu gesetzwidrigen Maßnahmen gegriffen, um ihn zur Kündigung zu zwingen.

Da ihn Haller um ein persönliches Treffen gebeten hatte, rechnete Bosch damit, dass er keine guten Nachrichten für ihn hatte. Bisher hatte ihn Haller nämlich immer telefonisch über die jüngsten Entwicklungen informiert. Bosch wusste, es war etwas im Busch.

Er beschloss, das Gespräch über seine Zivilklage hinauszuschieben und noch einmal auf die eben zu Ende gegangene Verhandlung zu sprechen zu kommen.

»Du bist wahrscheinlich mächtig stolz, diesen Dealer rausgehauen zu haben«, sagte er.

»Du weißt genauso gut wie ich, dass er nicht weit kommen wird«, antwortete Haller. »Der Richter hatte gar keine andere Wahl. Jetzt wird mir der Staatsanwalt einen Deal vorschlagen, bei dem mein Mandant zwar besser wegkommt, aber einsitzen wird er trotzdem.«

Bosch nickte.

»Aber das Geld aus dem Kofferraum, das bekommt er doch sicher wieder, oder? Und wie viel davon erhältst du, wenn diese Frage gestattet ist?«

»Fünfzigtausend, und dazu noch das Auto«, sagte Haller. »Das wird er im Gefängnis nicht brauchen. Ich habe jemanden, der sich um das alles kümmert. Ein Insolvenzverwalter. Für das Auto bekomme ich dann noch mal zweitausend.«

»Nicht schlecht.«

»Aber nur, wenn ich das Geld auch tatsächlich bekomme. Ich habe schließlich auch meine Kosten. Hennegan hat mich angeheuert, weil er meinen Namen auf einer Bank an einer Bushaltestelle Ecke Florence und Normandie gesehen hat. Er hat die Werbung vom Rücksitz des Streifenwagens aus gesehen, in den sie ihn gesetzt haben, und sich die Telefonnummer gemerkt. Es gibt im ganzen Stadtgebiet sechzig solcher Bänke mit meiner Annonce drauf. Das kostet alles Geld, Harry. Da muss ich sehen, dass auch was reinkommt.«

Bosch hatte darauf bestanden, Haller für die Arbeit an seiner Zivilklage zu bezahlen, aber das war nicht annähernd so viel wie das potenzielle Hennegan-Honorar. Haller hatte die Kosten für den Rechtsstreit senken können, indem er den größten Teil der außerhalb des Gerichtssaals anfallenden Arbeit einer Mitarbeiterin überlassen hatte. Das nannte er seinen Polizistenrabatt.

»Apropos Geld«, fragte Haller. »Ist dir eigentlich klar, wie viel uns die Uni kosten wird?«

Bosch nickte.

»Ganz ordentlich. Auf jeden Fall mehr, als ich in meinen ersten zehn Jahren als Cop verdient habe. Aber Maddie bekommt zwei Stipendien. Wie sieht es da bei Hayley aus?«

»Auch nicht schlecht. Das macht es natürlich etwas leichter.«

Bosch nickte, und es sah so aus, als hätten sie jetzt bis auf den eigentlichen Grund ihres Treffens alles abgehakt.

»Dann wird es jetzt wohl Zeit für deine schlechte Nachricht«, sagte Bosch. »Bevor das Essen kommt.«

»Was für eine schlechte Nachricht?«, fragte Haller.

»Na ja, das ist das erste Mal, dass du mich persönlich treffen willst, um mir von den neuesten Entwicklungen in unserem Rechtsstreit zu erzählen. Deshalb nehme ich an, es sieht nicht gut aus.«

Haller schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, ich will doch nicht über diese LAPD-Geschichte mit dir reden. Das Verfahren dümpelt so vor sich hin, aber wir sind weiter am Drücker. Ich will über etwas ganz anderes mit dir reden, Harry. Ich möchte, dass du für mich arbeitest.«

»Ich für dich arbeiten? Als was?«

»Du weißt doch, ich habe den Lexi-Parks-Fall übernommen. Ich verteidige Da’Quan Foster.«

Die unerwartete Wendung des Gesprächs hatte Bosch aus dem Konzept gebracht.

»Ach ja, stimmt, du vertrittst Foster. Aber was soll ich dabei …«

»Die Sache ist die, Harry. In sechs Wochen soll der Prozess beginnen, und ich habe noch absolut nichts für seine Verteidigung. Er ist es nicht gewesen, Harry, aber er ist auf dem besten Weg, von unserer großartigen Justiz komplett verheizt zu werden. Wenn ich nichts dagegen unternehme, wird er für den Mord an ihr verurteilt. Ich möchte dich engagieren, damit du für mich die Nachforschungen übernimmst.«

Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, beugte sich Haller über den Tisch. Bosch wich unwillkürlich vor ihm zurück. Er kam sich so vor, als wäre er der Einzige im ganzen Restaurant, der nicht wusste, worum es eigentlich ging. Seit seiner Pensionierung hielt er sich kaum mehr auf dem Laufenden, was in der Stadt passierte. Er hatte die Namen Lexi Parks und Da’Quan Foster nur am Rand mitbekommen. Er wusste, dass es ein Strafverfahren war, und er wusste, dass es für einiges Aufsehen sorgte. Aber in den vergangenen sechs Monaten hatte er versucht, alle Pressemeldungen und Fernsehberichte auszublenden, die ihn an die Mission erinnerten, die er fast dreißig Jahre lang verfolgt hatte – Mörder zu fassen. Das war sogar so weit gegangen, dass er sich an das lang geplante, aber nie umgesetzte Vorhaben gewagt hatte, eine alte Harley-Davidson zu restaurieren, die seit fast zwanzig Jahren in seinem Carport vor sich hin gammelte.

»Aber du hast doch bereits einen Ermittler«, sagte er. »Diesen Kleiderschrank aus der Muckibude. Den Biker.«

»Ja, Cisco.« Haller nickte. »Aber zum einen fällt Cisco im Moment aus, und zum anderen wäre dieser Fall eine Nummer zu groß für ihn. Einen Mordfall bekomme ich nur alle paar Jahre mal rein, und diesen habe ich nur übernommen, weil Foster ein alter Mandant von mir ist. Dafür brauche ich dich, Harry.«

»Dein Ermittler fällt aus? Wieso, was ist mit ihm?«

Haller schüttelte gequält den Kopf.

»Cisco ist tagtäglich mit seiner Harley unterwegs, wechselt ständig die Spur, wie es ihm gerade passt, und trägt einen dieser neuartigen Helme, die du komplett vergessen kannst, wenn du deinen Nacken schützen willst. Ich habe ihm immer wieder gesagt, es ist nur eine Frage der Zeit, bis es ihn erwischt. Ich habe ihn auch schon gefragt, ob ich mir seine Leber reservieren lassen kann. Nicht ohne Grund spricht man neuerdings von Spenderrädern. Und egal, was für ein guter Fahrer man ist, schuld ist immer der andere.«

»Und was ist jetzt genau passiert?«

»Es ist schon eine Weile her. Er war abends auf dem Ventura Boulevard unterwegs, und dann schneidet ihn so ein Trottel und drängt ihn auf die Gegenfahrbahn. Dem ersten Auto kann er noch ausweichen, aber dann zerlegt es ihn – es ist eine alte Maschine, eine ohne Vorderbremsen – und er rutscht auf der Hüfte über die ganze Fahrbahn. Zum Glück hatte er seine Ledermontur an, so dass die Aufschürfungen nicht so schlimm waren. Aber er hat sich das Kreuzband gerissen. Ziemlich üble Sache. Sie überlegen, ob sie ihm ein künstliches Kniegelenk einsetzen sollen. Aber das ist nicht der Punkt. Was ich damit sagen will, ist: Cisco ist zwar ein super Ermittler und hat sich auch schon ein bisschen mit der Sache befasst, aber was ich brauche, ist ein erfahrener Mordermittler, Harry. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn mein Mann dafür verurteilt wird. Unschuldige Mandanten hinterlassen Narben, wenn du weißt, was ich meine.«

Bosch sah Haller eine Weile ausdruckslos an.

»Ich habe bereits ein Projekt«, sagte er schließlich.

»Ein Projekt? Meinst du, einen Fall?«, fragte Haller.

»Nein, ein Motorrad. Ich will es restaurieren.«

»Sag bloß. Du auch?«

»Es ist eine Harley, Baujahr fünfzig, wie Lee Marvin in Der Wilde eine gefahren hat. Ich hab sie von einem Typen geerbt, den ich vom Militär kannte. Er hat mir vor zwanzig Jahren in seinem Testament das Motorrad vermacht und ist dann oben in Oregon von einer Klippe gesprungen. Seitdem habe ich die Maschine bei mir eingelagert.«

Haller machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Wenn sie schon so lang gewartet hat, dann kann sie auch noch etwas länger warten. Hier geht es um einen Unschuldigen, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin vollkommen ratlos. Niemand hört auf mich, und …«

»Es würde alles zunichtemachen.«

»Was?«

»Wenn ich für dich arbeite – nicht für dich speziell, für irgendeinen Strafverteidiger –, dann entwertet das alles, was ich mit der Dienstmarke getan habe.«

Haller sah ihn verständnislos an.

»Jetzt hör aber mal. Das ist ein Fall. Es ist kein …«

»Wirklich alles. Weißt du, wie sie jemanden nennen, der bei Mordermittlungen die Seiten wechselt? Sie nennen ihn eine Jane Fonda, weil sie damals für die Nordvietnamesen war. Verstehst du? Es heißt, dass man zur Gegenseite überläuft.«

Haller schaute aus dem Fenster in den Wartesaal. Dort wimmelte es von Menschen, die von den Metrolink-Bahnsteigen auf dem Dach herunterkamen.

Bevor Haller etwas erwidern konnte, brachte die Bedienung das Essen. Er sah Bosch die ganze Zeit an, während die Kellnerin die Teller auf den Tisch stellte und ihnen Eistee nachschenkte. Als sie sich entfernte, begann Bosch als Erster zu sprechen.

»Nimm das bitte nicht persönlich – wenn ich so etwas für jemanden machen würde, dann wahrscheinlich am ehesten für dich.«

Haller glaubte ihm; sie waren die Söhne eines bekannten Strafverteidigers aus L. A., aber aufgewachsen waren sie Meilen und Generationen voneinander getrennt. Sie hatten sich erst vor wenigen Jahren kennengelernt. Ungeachtet der Tatsache, dass Haller sozusagen für die Gegenseite arbeitete, mochte und schätzte ihn Bosch.

»Du musst das verstehen«, fuhr Bosch fort, »aber so ist es nun mal. Nicht dass du glaubst, darüber hätte ich nicht schon nachgedacht. Aber es gibt da eine Grenze, die möchte ich einfach nicht überschreiten. Und du bist nicht der Erste, der mich um so etwas bittet.«

Haller nickte.

»Schon klar. Aber was ich dir hier anbiete, ist was anderes. In diesem Fall vertrete ich einen Typen, dem ein Mord angehängt worden ist, davon bin ich felsenfest überzeugt. Und es gibt DNA-Spuren, die ich nicht entkräften kann. Das heißt, er wird garantiert verknackt, wenn ich nicht jemanden wie dich dazu bewegen kann, mir zu helfen …«

»Jetzt mach dich doch nicht lächerlich, Haller. Es vergeht kein Tag, an dem nicht jeder Strafverteidiger in jedem Gericht genau den gleichen Spruch runterbetet. Jeder Mandant ist unschuldig. Jeder Mandant ist hereingelegt worden, jedem wird was angehängt. Das höre ich jetzt schon dreißig Jahre lang jedes Mal, wenn ich in einem Gerichtssaal sitze. Aber soll ich dir mal was sagen? Ich habe noch wegen keinem, den ich hinter Gitter gebracht habe, nachträglich ein schlechtes Gewissen gehabt. Und an irgendeinem Punkt hat jeder von denen behauptet, dass er’s nicht war.«

Haller erwiderte nichts, und Bosch ergriff die Gelegenheit, den ersten Bissen von seinem Essen zu nehmen. Es schmeckte gut, aber das Gesprächsthema hatte ihm den Appetit verdorben. Haller stocherte mit der Gabel in seinem Salat herum, aß aber nichts.

»Ich sage ja nur, wirf mal einen Blick in die Sache rein, mach dir selbst ein Bild. Rede mit ihm, und du wirst sehen, dass ich recht habe.«

»Ich werde mit niemandem reden.«

Bosch wischte sich mit der Serviette den Mund ab und legte sie neben seinen Teller.

»Möchtest du noch über was anderes reden, Mick? Oder soll ich mir das Essen einpacken lassen?«

Haller antwortete nicht. Er blickte auf seinen eigenen unangetasteten Teller hinab. Bosch konnte die Angst in seinen Augen sehen. Angst, zu versagen, Angst, mit etwas Schlimmem leben zu müssen.

Haller legte seine Gabel auf den Tisch.

»Was hältst du hiervon, Harry: Du ermittelst in dem Fall, und wenn du Beweise gegen meinen Mann findest, gehst du damit zur Staatsanwaltschaft. Wir teilen alles, was du findest, mit der Anklage, egal, in welche Richtung es zeigt. Wir gewähren ihnen uneingeschränkte Akteneinsicht – in alles, was nicht direkt der anwaltlichen Schweigepflicht unterliegt.«

»Alles schön und gut, aber was wird dein Mandant dazu sagen?«

»Er wird einverstanden sein, weil er unschuldig ist.«

»Ach ja, richtig.«

»Denk einfach mal darüber nach. Und dann gibst du mir Bescheid.«

Bosch schob seinen Teller von sich. Er hatte nur einen Bissen genommen, aber für ihn war das Mittagessen beendet. Er wischte sich die Hände an der Stoffserviette ab.

»Darüber muss ich nicht nachdenken«, sagte er. »Und Bescheid geben kann ich dir jetzt schon. Ich kann dir nicht helfen.«

Bosch stand auf und ließ die Serviette auf sein Essen fallen. Er fasste in seine Hosentasche, zählte genügend Scheine ab, um für die gesamte Rechnung aufzukommen, und legte das Geld unter den Salzstreuer. Haller schaute währenddessen die ganze Zeit in den Wartesaal hinaus.

»Also dann«, sagte Bosch. »Ich gehe jetzt.«

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4

Es gelang Bosch, fast das ganze Wochenende nicht an Hallers Angebot zu denken. Am Samstag fuhr er mit seiner Tochter nach Orange County, damit sie sich schon einmal einen Eindruck von ihrer künftigen Universität und der Stadt, in der sie lag, verschaffen konnte. Nach einem späten Mittagessen in einem Restaurant am Rand des Campus, in dem es alles auf Waffeln gab, sahen sie sich im nahen Anaheim ein Spiel der Angels an.

Den Sonntag hielt er sich für die Arbeit an seinem Motorrad frei. Die anstehende Aufgabe war einer der wichtigsten Schritte seines Vorhabens. Am Vormittag baute er den Vergaser der Harley auseinander, reinigte die einzelnen Teile und legte sie zum Trocknen auf ein paar alten Zeitungen auf dem Esszimmertisch aus. Er hatte sich bei Glendale Harley bereits einen Reparatursatz besorgt und verfügte über alle nötigen Dichtungen und O-Ringe. In der Clymer-Reparaturanleitung wurde davor gewarnt, dass die ganze Mühe umsonst wäre, wenn er eine Dichtung falsch einsetzte, die Hauptdüse nicht gründlich säuberte oder ein Dutzend anderer Dinge beim Wiederzusammenbau nicht beachtete.

Nach dem Mittagessen auf der Terrasse legte er eine Jazz-CD ein und kehrte mit einem Phillips-Schraubendreher an den Tisch zurück. Er studierte noch einmal gründlich das Clymer-Handbuch, bevor er mit dem Zusammenbau begann, bei dem er in umgekehrter Reihenfolge vorging wie beim Zerlegen des Vergasers. Dazu lief »Naima« vom John Handy Quintet, Handys Hommage an John Coltrane. Bosch hielt die Aufnahme von 1967 für eine der besten Saxophonnummern, die jemals live aufgezeichnet worden waren.

Bosch folgte der Anleitung Schritt für Schritt, und der Vergaser begann rasch, Gestalt anzunehmen. Als er nach der Hauptdüse griff, bemerkte er, dass sie auf einem Zeitungsfoto lag, auf dem der ehemalige Gouverneur Kaliforniens mit einer Zigarre zwischen den Zähnen und einem breiten Grinsen im Gesicht den Arm um die Schulter eines Mannes gelegt hatte, in dem Bosch einen ehemaligen Abgeordneten der California-State-Assembly aus East L.A. erkannte.

Eigentlich hatte Bosch die alte Ausgabe der Times aufheben wollen, weil er den Artikel symptomatisch fand. Ein paar Jahre zuvor hatte der Gouverneur in seinen letzten Stunden im Amt von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch gemacht und das Strafmaß eines wegen Mord verurteilten Mannes herabgesetzt. Zufällig hatte es sich dabei um den Sohn seines Abgeordnetenfreundes gehandelt. Dieser war zusammen mit anderen an einer Schlägerei und Messerstecherei mit tödlichem Ausgang beteiligt gewesen und hatte sich mit der Staatsanwaltschaft auf einen Deal verständigt und schuldig bekannt. Als ihm der Richter daraufhin trotzdem noch fünfzehn bis dreißig Jahre Haft in einem Staatsgefängnis aufbrummte, war er darüber nicht gerade glücklich gewesen. Doch dann hatte der Gouverneur am Ende seiner Amtszeit, praktisch schon auf dem Weg zur Tür hinaus, das Strafmaß auf sieben Jahre heruntergesetzt.

Falls der Gouverneur damals geglaubt haben sollte, niemand habe von seiner letzten Amtshandlung Notiz genommen, täuschte er sich. Es wurden heftige Vorwürfe wegen Klüngelei, Vetternwirtschaft und übelster politischer Mauschelei gegen ihn erhoben. In der Times erschien ein umfangreicher Bericht über die leidige Affäre. Bosch war die Meldung beim Lesen so sauer aufgestoßen, dass er die Zeitung aufgehoben hatte, um sie immer wieder zu lesen und sich an die unselige Verflechtung von Politik und Justiz erinnern zu lassen. Bevor er für das Gouverneursamt kandidiert hatte, war der Gouverneur ein Filmstar gewesen, der mit Vorliebe überlebensgroße Heldenfiguren verkörperte – Männer, die im Kampf für das Gute alles zu opfern bereit waren. Jetzt war er nach Hollywood zurückgekehrt und versuchte, wieder ein Filmstar zu werden. Bosch war jedoch fest entschlossen, sich nie wieder einen seiner Filme anzusehen – nicht einmal im Free-TV.

Die von dem Zeitungsartikel angestoßenen Gedanken über die Ungerechtigkeit der Welt lenkten Boschs Aufmerksamkeit vom Zusammenbau des Vergasers ab. Er stand auf und wischte sich an dem Lappen, den er mit dem Werkzeug aufbewahrte, die Hände ab. Als er ihn auf den Tisch zurückwarf, wurde ihm bewusst, dass er dort sonst Mordbücher ausgebreitet hatte und keine Motorradteile. Er ging ins Wohnzimmer, schob die Glastür auf und trat auf die Terrasse hinaus, um auf die Stadt hinabzuschauen. Sein Haus stand am steilen Westhang des Cahuenga Pass, und man konnte von dort über den Freeway 101 bis nach Hollywood Heights und Universal City sehen.

Auf dem Freeway 101 herrschte in beiden Richtungen dichter Verkehr. Sogar an einem Sonntagnachmittag. Bosch war froh, dass ihn das alles seit seiner Pensionierung nicht mehr tangierte: der Verkehr, der Arbeitsalltag, der Stress und die ganze Verantwortung.

Richtig genießen konnte er diese neue Freiheit allerdings nicht. So stressig es auch sein mochte, sich in diesem trägen Strom aus Blech und Lichtern dort unten zu befinden, war ihm dennoch klar, dass dort sein Platz war. Dass er in gewisser Weise dort unten gebraucht wurde.

Bei ihrem gemeinsamen Mittagessen am Freitag hatte Mickey Haller an ihn appelliert, indem er darauf beharrte, dass sein Mandant unschuldig sei, was es selbstverständlich erst noch zu beweisen galt. Dabei hatte Haller jedoch noch gar nicht einen zweiten, nicht minder wichtigen Aspekt ins Feld geführt. Wenn sein Mandant wirklich unschuldig war, hieß das, dass sich der wahre Mörder noch immer auf freiem Fuß befand und niemand nach ihm suchte. Trotz aller Einwände, die Bosch bei ihrer Unterredung vorgebracht hatte, ließ ihm dieser Punkt keine Ruhe. Er ging ihm schon das ganze Wochenende durch den Kopf. Das war etwas, was er nicht so ohne weiteres von sich fernhalten konnte.

Er nahm das Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer seiner Favoritenliste. Nach dem fünften Läuten meldete sich eine gestresst klingende Virginia Skinner.

»Harry, ich habe gerade eine extrem knappe Abgabefrist, was gibt’s?«

»Am Sonntagabend? Worum geht …«

»Ich wurde in die Redaktion gerufen.«

»Was gibt’s?«

»Sandy Milton war gestern Abend in eine Fahrerflucht in Woodland Hills verwickelt.«

Milton war ein konservativer Stadtrat. Skinner war Reporterin im politischen Ressort der Times. Jetzt verstand Bosch, warum sie an einem Sonntag in die Redaktion gerufen worden war. Nicht verstand er dagegen, warum sie ihn nicht angerufen hatte, um ihm davon zu erzählen und ihn vielleicht zu fragen, wen sie beim LAPD anrufen sollte, um Näheres über die Sache zu erfahren. Es verdeutlichte ihm, wie gut – beziehungsweise schlecht – es seit etwa einem Monat um ihre Beziehung bestellt war.

»Ich muss jetzt Schluss machen, Harry.«

»Klar, entschuldige. Ich melde mich später noch mal.«

»Nein, ich rufe dich an.«

»Okay. Bleibt es bei unserem Abendessen?«

»Klar, natürlich, aber jetzt muss ich wirklich Schluss machen.«

Sie legte auf. Bosch ging ins Haus zurück, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen und nach seinen Beständen zu sehen. Er gelangte zu der Einsicht, dass er nichts hatte, womit er Virginia zu sich auf den Berg locken konnte. Außerdem kam seine Tochter gegen acht von ihrem Police-Explorer-Einsatz zurück, und das konnte peinlich werden, wenn Virginia zu Besuch war. Sie und Maddie befanden sich noch im Anfangsstadium des mühsamen Prozesses, sich gegenseitig abzutasten.

Er beschloss, Virginia vorzuschlagen, sich irgendwo in Downtown zum Abendessen zu treffen, wenn sie zurückrief.

Er hatte sich gerade eine Flasche aufgemacht und eine im Blue Note Tokyo aufgenommene Import-CD von Ron Carter eingelegt, als sein Handy zu summen begann.

»Hey, das ging aber schnell.«

»Ich habe die Meldung gerade abgegeben. Es ist nur ein Begleitartikel über die politischen Konsequenzen für Milton. Richie Bed-wetter ruft mich in zehn, fünfzehn Minuten an, um den redigierten Text noch mal mit mir durchzugehen. Reicht das, um zu reden?«

Richie Bed-wetter war ihr Redakteur Richard Ledbetter. Sie nannte ihn so, weil er unerfahren und mehr als zwanzig Jahre jünger als sie war, ihr aber ständig dreinredete, wie sie ihr Ressort handhaben und ihre Artikel und die einmal pro Woche erscheinende lokalpolitische Kolumne, die er lieber ein Blog nennen wollte, abfassen sollte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr Konflikt offen zum Ausbruch käme, und Bosch fürchtete, dass Virginia dabei den Kürzeren ziehen würde: Weil sie wegen ihrer langen Berufserfahrung ein höheres Gehalt bekam, gab sie für die Geschäftsleitung ein lohnenderes Ziel ab.

»Wo würdest du gern essen gehen?«, fragte sie. »Irgendwo in Downtown?«

»Meinetwegen auch bei dir in der Nähe. Das überlasse ich dir. Bloß nicht indisch.«

»Klar, auf keinen Fall indisch. Ich werde mir was einfallen lassen. Ruf mich einfach noch mal an, bevor du nach Echo Park kommst.«

»Okay. Aber hör zu, könntest du mir einen Gefallen tun und ein paar Artikel über einen Fall raussuchen?«

»Welchen?«

»Ein Typ, der wegen Mord verhaftet wurde. Ein LAPD-Fall, glaube ich. Er heißt Da’Quan Foster. Ich möchte wissen …«

»Klar, Da’Quan Foster. Der Typ, der Lexi Parks umgebracht hat.«

»Genau.«

»Harry, das ist eine richtig große Sache.«

»Wie groß?«

»Dafür brauche ich dir keine Meldungen rauszusuchen. Geh einfach auf die Seite der Zeitung und gib ihren Namen ein. Weil sie relativ bekannt war und der Täter erst einen Monat nach der Tat verhaftet worden ist, gibt es jede Menge Berichte über sie. Und die Ermittlungen hat übrigens nicht das LAPD geführt, sondern das Sheriff’s Department. Es ist in West Hollywood passiert. Aber jetzt muss ich Schluss machen. Richie hat mir gerade ein Zeichen gemacht.«

»Okay, ich werde …«

Sie hatte bereits aufgelegt. Bosch steckte das Handy ein und ging zum Esszimmertisch zurück. Er nahm die Zeitung mit dem Vergaser darauf vorsichtig an zwei Ecken und zog sie zur Seite. Dann nahm er seinen Laptop aus dem Regal und schaltete ihn ein. Während er wartete, dass er hochfuhr, betrachtete er den Vergaser auf der Zeitung. Ihm wurde klar, dass es eine Illusion war zu glauben, die Instandsetzung des alten Motorrads könnte ihm irgendetwas ersetzen.

Auf der Stereoanlage lief gerade »Bags’ Groove«, eine Milt-Jackson-Nummer, die Ron Carter mit zwei Gitarristen spielte. Das warf in Bosch die Frage auf, wie es um seinen eigenen Groove bestellt war und was ihm fehlte.

Als der Laptop betriebsbereit war, rief er die Homepage der Times auf und startete eine Suche nach dem Namen Lexi Parks. Es gab 333 Meldungen, in denen Lexi Parks erwähnt wurde. Sie reichten sechs Jahre zurück, lange vor dem Mord an ihr. Bosch engte die Suche auf das laufende Jahr ein und fand 26 nach Datum und Überschrift aufgelistete Einträge. Der erste war vom 10. Februar 2015: Beliebte West-Hollywood-Verwaltungsdirektorin ermordet im Bett aufgefunden.

Bosch überflog die Einträge, bis er zu einer Schlagzeile vom 19. März 2015 kam: Gangmitglied wegen Parks-Mord verhaftet.

Bosch ging an den Anfang zurück und klickte den ersten Eintrag an. Er hoffte, zumindest die erste Meldung über den Mord und die erste über die Festnahme lesen zu können, bevor er losmusste.

Weil das Sheriff’s Department kaum Einzelheiten über den Mord an Lexi Parks herausgerückt hatte, ging es im ersten Zeitungsbericht mehr um das Opfer als um die Tat. Im Grund genommen ließen sich die in dem Artikel enthaltenen konkreten Angaben in einem Satz zusammenfassen: Parks war in ihrem Bett erschlagen und dort von ihrem Mann, einem Sheriff’s Deputy, aufgefunden worden, als dieser nach der Spätschicht nach Hause kam.

Bosch stieß einen lauten Fluch aus, als er las, dass der Ehemann des Opfers ein Deputy war. Das machte es in Polizeikreisen zu einem noch größeren Affront, wenn Bosch in diesem Strafverfahren der Verteidigung zuarbeitete – ein Punkt, den ihm Haller wohlweislich verschwiegen hatte, als er ihn dazu gedrängt hatte, sich einfach einmal einen Eindruck von dem Fall zu verschaffen.

Trotzdem las Bosch weiter und erfuhr, dass Lexi Parks eine von vier Ressortleiterinnen der Stadtverwaltung von West Hollywood war. Sie war zuständig für die Abteilungen Öffentliche Sicherheit, Verbraucherschutz und Medienarbeit. Ihrer Stellung als Sprecherin der Stadtverwaltung und Ansprechpartnerin der Medien war es geschuldet, dass sie in der Schlagzeile als »beliebt« bezeichnet wurde. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie achtunddreißig Jahre alt gewesen und hatte zwölf Jahre für die Stadt gearbeitet, zunächst als Code Inspector, dann jedoch im Zug rascher Beförderungen in ständig höheren Positionen.

Als Parks ihren Mann, Deputy Vincent Harrick, kennenlernte, standen beide in den Diensten der Stadtverwaltung von West Hollywood, für die sämtliche polizeilichen Aufgaben das Sheriff’s Department übernahm. Um einen Interessenkonflikt erst gar nicht aufkommen zu lassen, bat Harrick, der in der Wache im San Vicente Boulevard stationiert war, nach seiner Verlobung mit der ebenfalls bei der Stadt angestellten Parks um eine Versetzung in ein Revier außerhalb West Hollywoods. Daraufhin wurde er zunächst in die Lynwood Station im South County und schließlich nach Malibu versetzt.

Bosch öffnete den nächsten Zeitungsbericht in der digitalen Warteschlange und hoffte, darin mehr über den Fall zu erfahren. Das versprach bereits die Schlagzeile: Mord an Lexi Parks ein Sexualverbrechen. In der dazugehörigen Meldung, die einen Tag nach der ersten erschienen war, hieß es, die Ermittler des Sheriff’s Department gingen davon aus, dass der Mörder in Parks’ Haus eingedrungen war, sie dort im Schlaf überrascht, vergewaltigt und anschließend mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen hatte. Aus der Meldung ging nicht hervor, was für ein Gegenstand das gewesen war, ob er gefunden worden war oder ob am Tatort sonst irgendwelche Spuren entdeckt worden waren. Nach diesen spärlichen Enthüllungen über den Stand der Ermittlungen befasste sich der Artikel mit den Reaktionen derer, die Parks und ihren Mann gekannt hatten, sowie mit der tiefen Bestürzung, die diese brutale Tat in West Hollywood hervorgerufen hatte. Außerdem fand darin Erwähnung, dass sich Vincent Harrick vom Dienst hatte freistellen lassen, um über den Tod seiner Frau hinwegzukommen.

Nachdem Bosch die zweite Meldung gelesen hatte, wandte er sich wieder der Liste der Zeitungsberichte zu und überflog die Schlagzeilen. Das nächste Dutzend versprach wenig neue Erkenntnisse. Zunächst wurde über den Fall täglich, dann nur noch wöchentlich berichtet, aber die Überschriften blieben weiter von negativen Formulierungen geprägt. Keine Verdächtigen im Parks-Mord, Ermittler tappen im Fall Parks im Dunkeln, West Hollywood setzt im Parks-Fall 100000 Dollar Belohnung aus. Eine Belohnung auszusetzen, wusste Bosch, war im Grund gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass man keine konkreten Anhaltspunkte hatte und nach jedem Strohhalm griff.

Doch dann hatten die Ermittler Glück. In der fünfzehnten Meldung – achtunddreißig Tage nach dem Mord erschienen – hieß es, dass der einundvierzigjährige Da’Quan Foster wegen des Mordes an Lexi Parks festgenommen worden war. Bosch öffnete den Zeitungsbericht und erfuhr, dass sich die Verbindung zu Foster anscheinend vollkommen unerwartet ergeben hatte und infolge eines DNA-Abgleichs am Tatort gefundener Spuren hergestellt worden war. Daraufhin war Foster mit Unterstützung eines LAPD-Teams in den Künstlerateliers im Leimert Park verhaftet worden, wo er gerade einer Gruppe von Kindern in der Nachmittagsbetreuung Malunterricht erteilt hatte.

Letzteres Detail ließ Bosch stutzen. Es passte nicht zu seiner Vorstellung von einem Bandenmitglied. Oder war Foster in einem Gerichtsverfahren zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden? Bosch las weiter. Dem Zeitungsbericht zufolge war die am Tatort des Parks-Mordes gefundene DNA in eine Datenbank eingegeben worden, und dabei hatte sich eine Übereinstimmung mit einer Probe ergeben, die Foster 2004 nach einer Festnahme wegen Vergewaltigungsverdachts abgenommen worden war. Auch wenn in dieser Sache anschließend keine Anklage gegen ihn erhoben wurde, blieb seine DNA in der Datenbank des kalifornischen Justizministeriums gespeichert.

Bosch hätte gern noch die restlichen Zeitungsberichte gelesen, aber wenn er sich mit Virginia Skinner treffen wollte, reichte die Zeit dafür nicht mehr. Sein Blick fiel auf eine Schlagzeile, die einen Tag nach Fosters Festnahme erschienen war: Parks-Verdächtiger hatte neues Leben begonnen. Er öffnete den dazu gehörigen Beitrag und überflog ihn rasch. Es war eine User-generated-content-Meldung, derzufolge Da’Quan Foster ein ehemaliges Mitglied der Rollin’ 40s Crips war, der auf den rechten Weg zurückgefunden hatte und der Allgemeinheit etwas zurückzugeben versuchte. Er hatte mit Erfolg zu malen begonnen, und einige seiner Bilder hingen in einem Museum in Washington DC. In seinem Atelier im Degnan Boulevard hielt er für Kinder aus dem Viertel an den Wochenenden und nach der Schule Malkurse ab. Er war verheiratet und hatte selbst zwei kleine Kinder. Daneben berichtete die Times aber auch, dass er in den neunziger Jahren mehrmals wegen Drogenvergehen verhaftet worden war und eine vierjährige Haftstrafe verbüßt hatte. 2001 kam er auf Bewährung frei, und seitdem war er mit Ausnahme eines Vergewaltigungsfalls, in dem nie Anklage gegen ihn erhoben worden war, mehr als zehn Jahre lang nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

Die Meldung enthielt zahlreiche Aussagen von Bewohnern des Viertels, die entweder die gegen Foster erhobenen Vorwürfe nicht glauben konnten oder sogar den Verdacht äußerten, der Mord sei Foster angehängt worden. Keine der in dem Artikel zitierten Stimmen konnte sich vorstellen, dass er Lexi Parks ermordet hatte oder in der fraglichen Nacht in West Hollywood gewesen war.

Aus den Zeitungsmeldungen ging für Bosch weder hervor, ob Foster das Opfer überhaupt gekannt hatte, noch, weshalb er es umgebracht haben sollte.

Bosch klappte den Laptop zu. Die restlichen Meldungen würde er später lesen. Er wollte Virginia Skinner auf keinen Fall warten lassen – egal, wo sie sich mit ihm treffen wollte. Sie mussten miteinander reden. In ihrer Beziehung hatte es in letzter Zeit etwas geknirscht, hauptsächlich, weil sie viel zu tun gehabt hatte und Bosch mit nichts anderem beschäftigt gewesen war als mit der Restaurierung eines Motorrads, das genauso alt war wie er selbst.

Er stand vom Tisch auf und ging ins Schlafzimmer, um ein frisches Hemd und schönere Socken anzuziehen. Zehn Minuten später fuhr er den Berg hinunter zum Freeway. Sobald er sich der Blechlawine angeschlossen und den Pass hinter sich gelassen hatte, holte er das Handy heraus und steckte sich den Ohrstöpsel rein. Als er noch mit einer Dienstmarke unterwegs gewesen war, hatte er es damit nicht so genau genommen, aber jetzt schnallte er sich immer brav an und verwendete eine Freisprechanlage.

Den Hintergrundgeräuschen nach zu schließen, hatte er Haller auf dem Rücksitz seines Lincoln erreicht. Sie waren beide im Auto unterwegs.

»Ich habe ein paar Fragen zu Foster«, sagte Bosch.

»Schieß los«, sagte Haller.

»Woher stammt die DNA – Blut, Speichel, Sperma?«

»Sperma. Eine Ablagerung am Opfer.«

»Am oder im?«

»Beides. In der Vagina. Auf der Haut, am rechten Oberschenkel. Auch auf dem Bettzeug.«

Eine Weile fuhr Bosch schweigend weiter. Er war inzwischen in Hollywood, wo der Freeway als Hochstraße verlief, und kam gerade am Capitol Records Building vorbei, das einem Stapel Schallplatten nachempfunden war. Aber das waren andere Zeiten gewesen. Heute hörte kaum mehr jemand Platten.

»Sonst noch was?«, fragte Haller. »Freut mich, dass du dich mit dem Fall beschäftigst.«

»Wie lang kennst du diesen Typen schon?«, fragte Bosch.

»Fast zwanzig Jahre. Er war ein Mandant von mir. Er war kein Engel, aber er hatte immer schon was Sympathisches. Er war kein Killer. Dafür war er entweder zu clever oder zu soft. Vielleicht beides. Jedenfalls hat er die Kurve gekriegt und ist ausgestiegen. Deshalb bin ich mir ganz sicher.«

»Was weißt du ganz sicher?«

»Dass er es nicht war.«