Ein altes Haus am Hudson River - Edith Wharton - E-Book

Ein altes Haus am Hudson River E-Book

Edith Wharton

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Beschreibung

Einfühlsamer Entwicklungsroman über das Heranwachsen eines jungen Mannes zum Schriftsteller

Wie hoch darf der Preis für einen Lebenstraum sein? Und wie bleibt man sich auf dem Weg dorthin treu? In kraftvollen Bildern erzählt Edith Wharton vom schmerzhaften Prozess künstlerischen Reifens. Pünktlich zum 150. Geburtstag der vielfach ausgezeichneten amerikanischen Klassikerin liegt dieser bewegende Entwicklungsroman nun erstmals in deutscher Sprache vor.

Für den jungen Vance Weston, den Sohn eines Immobilienspekulanten, hält die Zukunft ein komfortables Leben in der amerikanischen Provinz bereit. Doch der zarte 19-Jährige mit der lebhaften Fantasie hat eigene Pläne. Sein Herz führt ihn ins New York der Roaring Twenties – in die ersehnte Metropole des Geistes und der Literatur, aber auch der Macht und des Geldes. Auf den kometenhaften Aufstieg zum Liebling der Society folgt allzu rasch die große Ernüchterung. Vances einziger Lichtblick: die umsichtige Heloise Spear. In einem verlassenen Haus hoch über dem Hudson River hatte sie ihm einst die Augen für die Schönheit der Literatur geöffnet.

  • Deutsche Erstübersetzung zum 150. Geburtstag der Autorin am 24. Januar 2012

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Seitenzahl: 865

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Edith Wharton

Ein altes Hausam Hudson River

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch übersetztvon Andrea Ott

Nachwort von Rüdiger Görner

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Titel der amerikanischen Ausgabe: «Hudson River Bracketed»(1929)

Übersetzerin und Verlag danken dem Freistaat Bayern und dem Deutschen Übersetzerfonds e. V. für die Förderung dieser Übersetzung.

Copyright © 2011 by Manesse Verlag, Zürich in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Ebook-Umsetzung: Greiner & Reichel

ISBN 978-3-641-10661-4V002

www.manesse.ch

Für A.J.H.S.1

Alles macht mich froh und traurig zugleich.

Charles Auchester2

Inhalt

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Zweiter Teil

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Dritter Teil

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Vierter Teil

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Fünfter Teil

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Sechster Teil

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Siebter Teil

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Anmerkungen

Nachwort

Editorische Notiz

Newsletter-Anmeldung

Orientierungsmarken

Widmung

Motto

Hauptteil

Anmerkungen

Nachwort

Editorische Notiz

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

1

Als Vance Weston neunzehn war, hatte er in Euphoria, Illinois, wo seine Eltern damals lebten, das College abgeschlossen, hatte eine Woche in Chicago verbracht, eine neue Religion ersonnen und ein paar Monate lang eine Collegezeitung namens «Ins Ziel!» herausgegeben, zu der er selbst mehrere Liebesgedichte und eine Reihe bilderstürmerischer Aufsätze beigesteuert hatte. Auch war er eine ganze Woche mit dem Anlass der Gedichte verlobt gewesen, einem um einige Jahre älteren Mädchen namens Floss Delaney, der doch recht übel beleumundeten Tochter eines erfolglosen Immobilienmaklers aus einem tristen Randbezirk der Stadt.

Nachdem der junge Weston sich in diese Höhen emporgeschwungen und diese Abgründe ausgelotet hatte, stand er nun vor der Frage, wie sich seine verschiedenen Begabungen und Erfahrungen am vorteilhaftesten einsetzen ließen.

Von allem, was ihm bisher widerfahren war, schien Vance Weston nichts so schwerwiegend wie seine Erfindung einer neuen Religion. Er war in eine Welt hineingeboren, in der alles reformiert worden war oder gerade reformiert wurde, und er hielt es für regelwidrig, dass sämtliche Religionen, von denen er je gehört hatte, schon existierten, seit er denken konnte, also seit mindestens sechzehn Jahren. Das war umso seltsamer, als Religion in dieser oder jener Form im Leben der meisten ihm bekannten Menschen eine beachtliche, wenn auch etwas unstete oder sporadische Rolle spielte und als er seit dem ersten Bewusstseinsdämmern mitbekam, wie jeder jeden beschwor, sich nur ja nicht in ausgefahrenen Gleisen zu bewegen, sondern mit der Zeit zu gehen, wie es sich für einen guten Amerikaner gehört.

Der Aufstieg seiner Familie hatte sich überwiegend so abgespielt wie der aller Familien, die er kannte. Seit Mrs Westons Heirat, seitdem seine Großmutter in Pruneville, Nebraska, als Lehrerin die ganze Familie ernährt hatte, bis jetzt, da sie und Großvater es sich in einem Vorort von Euphoria in einem Acht-Zimmer-Häuschen aus der Kolonialzeit gut gehen ließen und Kunden bis aus Chicago anreisten, um Mr Weston wegen Immobilien um Rat zu fragen, war es für die Familie immer steil bergauf gegangen. Lorin Weston, der nach Pruneville gezogen war, um dort vielleicht eine Stelle beim Lokalblättchen zu ergattern, hatte das Immobilienpotenzial dieser erbärmlichen Gemeinde sofort erkannt, seinen letzten Penny in ein Fleckchen Sumpfland in der Nähe des künftigen Bahnhofs gesteckt, es dann, als die Eisenbahn kam, mit großem Gewinn wieder abgestoßen und erneut sein gesamtes Geld in ein Grundstück investiert, in dessen Nähe die neue Highschool gebaut werden sollte, wie seine Schwiegermutter herausgefunden hatte. Danach war die Entwicklung von Pruneville ins Stocken geraten, und Mr Weston war mit seiner Frau und der jungen Familie nach Halleluja, Missouri, gezogen, wo er das Experiment mit wachsendem Erfolg wiederholte. In dieser Zeit tauchte eines Tages ein Immobilienmakler aus Advance auf, um sich ein wenig umzusehen; er erzählte Weston von Advance und weckte seine Neugier. Also ging die ganze Familie nach Advance und wurde dafür, dass sie Halleluja verließ, mit einem größeren und besseren Haus entschädigt. In Advance wurde den Westons der Sohn und Erbe geboren und nach seinem Geburtsort benannt, der sich für Mr Weston als so nützlich erwiesen hatte, dass er, sobald Vance neun oder zehn war, nach Euphoria umsiedeln konnte, dort fast das gesamte Viertel um die Pig Lane aufkaufte, es in den Vorort Mapledale verwandelte und sich selbst ein Haus mit Rasen, Garage, Schlafbalkon und Wintergarten baute, das für Architekturzeitschriften fotografiert wurde und Mrs Weston den Neid des Kirchennähkreises von der Alsop Avenue einbrachte. Selbst Großmama Scrimser, die nie großes Geschick im Umgang mit Geld gezeigt hatte und die der Pfarrer von der Alsop-Avenue-Kirche als «idealistisch» bezeichnete, stellte die Bedeutung materiellen Wohlstands oder den Wert von Mr Westons geschäftlicher «Klugheit» nicht infrage und hatte irgendwo im geräumigen Hinterstübchen ihres Gehirns ein Plätzchen gefunden, wo Jenseitsglaube und Gewitztheit in gutem Einvernehmen beieinander wohnten.

Angesichts dessen und der Tatsache, dass Wörter wie «altmodisch», «erledigt», «vorbei» und dergleichen in Hörweite des jungen Vance nur in ihrer negativen Bedeutung gebraucht wurden, fragte er sich, wieso die aufgeklärten Millionen, für die es ein Zeichen von Gewitztheit und Wohlstand war, wenn man Immobilien, Warenbestände, Autos und Ehefrauen bzw. -männer beinahe jährlich erneuerte, sich Jahr für Jahr mit derselben Religion zufriedengaben – oder vielmehr denselben Religionen, denn fast jeder ihm bekannte Mensch glaubte an etwas anderes.

In der Tat konnte Vance Weston Stabilität nicht von Stagnation unterscheiden, in der Religion ebenso wenig wie im Berufsleben. Jeder, von dem es hieß, er hätte sich nicht im rechten Augenblick in Bewegung gesetzt, in welche Richtung auch immer, war erledigt. Selbst die weltfremdesten Geistlichen ließen dies gelten und betonten, von allen bekannten Wegen zum Erfolg sei die Religion der großartigste. (Wer in ihre Sonntagabendschule für junge Männer ging und den «Lichtstrahl auf Zion» abonnierte, erfuhr Näheres.) Trotzdem hatte es zu Vance Westons Lebzeiten niemand fertiggebracht, eine neue Religion zu entwickeln; alle versuchten sie immer noch, eine neue Generation mit den alten Ködern zu fangen.

Sich Gedanken über Religion zu machen lag in der Familie – zumindest mütterlicherseits. Großmama Scrimser war dies stets wichtiger gewesen als alles andere. Mit fünfundsechzig sah sie noch immer großartig aus, fast wie eine deutsche Primadonna in der Rolle einer Walküre, hatte zerzauste schwarze Brauen, kurzes, gelblich-weißes Haar ( Jahre bevor sich die jungen Frauen einen Bubikopf schneiden ließen) und einen üppigen, ausladenden Körperbau, der Vance, nachdem er Einblick in die moderne Kunst erlangt hatte, vorkam wie das Bild eines Künstlers mit Genie, aber ohne zeichnerisches Talent.

Es hieß, als Mädchen sei Großmama wunderschön gewesen, und Vance glaubte das gern. Sie selbst machte kein Geheimnis daraus – warum auch, da sie es doch nur als lästige Nebensächlichkeit ansah, als peinliche Eigenheit und (so soll sie in vertraulichen Momenten gestanden haben) als Hindernis auf Großpapa Scrimsers Weg zur Vollkommenheit. Der Vollkommenheit galt Großmamas Leidenschaft – und die von Großpapa galt den Damen. Solange seine Frau jung war, hätte sie mit Hilfe ihrer Schönheit seine Gelüste im Zaum halten können, wenn sie sich nur dazu entschlossen hätte, davon Gebrauch zu machen. Doch der Gedanke, die Gabe der Schönheit zu gebrauchen, zu verstärken, geltend zu machen und einzusetzen, war für sie nicht so sehr unmoralisch wie einfach unvorstellbar. Sie meinte, mit ihrer griechischen Nase, den üppigen bernsteinfarbenen Locken und dem dunkel schimmernden Teint geschlagen zu sein wie andere Frauen mit dem Kreuz eines Muttermals oder einem Buckel. Sie verstand nicht, «was die Leute darin sahen» oder was sie sich von den Genüssen versprachen, zu denen dieses goldene Tor führte. Sie begegnete diesen Genüssen mit Verachtung und Unglauben. Sie wollte einzig die Welt verbessern, und Schönheit und Leidenschaft hinderten sie nur daran. Sie wollte alles reformieren  – was, war dabei eher nebensächlich: Kochen, Ehe, Religion (Religion ganz gewiss), Zahnmedizin, Salons, Korsetts – sogar Großpapa. Großpapa pflegte zu klagen, beim Kochen sei sie auf dem Weg zur Vollendung nicht gerade weit gekommen – nur weit genug, um ihm Verdauungsstörungen zu bescheren. Aber da sie auf seine ehelichen Zärtlichkeiten nicht übermäßig willig einging, war er dankbar, dass ihr Streben nach Vervollkommnung ihr zu wenig Zeit ließ, seinen privaten Machenschaften nachzuspüren. Und so galt die Ehe im Großen und Ganzen als glücklich, und die vier daraus hervorgegangenen Kinder wurden dazu angehalten, beide Eltern zu ehren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Großmama wurde natürlich verehrt, weil sie eine «Mutter in Israel»3 war, und Großvater, weil er einstens ein erfolgreiches Immobiliengeschäft getätigt hatte und am 4. Juli4 die besten Reden in ganz Drake County hielt. Außerdem gaben sie ein prächtiges Paar ab, und als landesweit die Old Home Weeks eingeführt wurden, waren Mr und Mrs Scrimser äußerst gefragt, wenn es darum ging, die gute alte Zeit in lebenden Bildern darzustellen: Mrs Scrimser beim Spinnen am heimischen Herd und Großpapa (ohne das neue Gebiss, um seine Ähnlichkeit mit George Washington hervorzuheben) gestützt auf einen Krückstock mit Silberknauf, das Nussknackerkinn auf einen makellosen steifen Kragen gebettet. Lieber spielte Großmama allerdings die Pioniersfrau in der Holzhütte, Großpapa (jetzt wieder mit dem neuen Gebiss) zielte dabei in Cowboymontur mit der Flinte durch eine Ritze im Fensterladen, und hinter den Kulissen stießen die Kinder Indianergeheul aus. «Ich hätte niemals lange genug stillsitzen können, um all den Flachs für die Bettwäsche zu spinnen, wie die Frau auf diesem Bild von Lady Washington5, aber ich hätte bestimmt eine richtig gute Pioniersfrau abgegeben», erklärte sie nicht ohne Stolz.

«Du hast den Haushalt immer so geführt, als wärst du eine», pflegte Großpapa zu brummen, während er den lauwarmen Kaffee und schrumpeligen Speck beiseiteschob, und Mrs Scrimser antwortete dann immer: «Tut mir leid, dass dir dein Frühstück heute nicht ganz zusagt, Vater, aber es wird dich wohl auf dem Weg zur ewigen Seligkeit nicht allzu weit zurückwerfen. Ich musste das Dienstmädchen gestern Abend zur Zeltmission gehen lassen, und von diesen Zusammenkünften kommen sie immer schlapp wie nasse Waschlappen heim, deshalb musste sie mir den Speck braten, bevor sie wegging.»

«Jesus Maria!», stieß Großpapa hervor, und seine Tochter, Mrs Lorin Weston, schüttelte streng den Kopf in Richtung des kleinen Vance, als wollte sie sagen, er solle nicht zuhören, wenn Großpapa so daherrede, oder Großpapa habe in Wirklichkeit nicht das gesagt, was der kleine Vance zu hören geglaubt habe.

Großmama Scrimser war natürlich mehr als alle andern an Vance’ neuer Religion interessiert. Erstens war sie mit ihm einer Meinung, dass man eine neue brauche, obwohl sie immer noch fand, dass der «Fels der Zeit»6 den denkbar besten Untergrund für eine Religion darstelle, und hoffte, Vance werde niemanden davon abbringen wollen, die alten Choräle zu singen. Es dauerte ein Weilchen, bis sie begriff, dass es womöglich überhaupt keine Choräle oder geregelten Gottesdienste mehr geben würde, sondern nur noch eine mystische Vereinigung von Seelen7, denen dieselbe Offenbarung zuteilgeworden war. «Pass nur auf mit deiner Mystik, Vance», schalt sie, «zigmal habe ich erlebt, dass das mit einem Kind endet.» Doch als Vance seine Theorie entwickelte, hatte er das Gefühl, dass sie nicht verstand, wovon er sprach. Sie war nicht gebildet genug, um ihm über die schlichte Stufe frommer Stoßseufzer und Zerknirschung hinaus zu folgen.

Vance’ Eltern ließ das transzendentale Sehnen der alten Mrs Scrimser völlig ungerührt. Wenn Großpapa Scrimsers Verdauung versagte oder er eine Luftveränderung brauchte, packte er seine Reisetasche und zog aus der Vorstadt, wo er und Großmama jetzt wohnten, für eine Woche zu den Westons. Seine andere Tochter, die die nachlässige Schönheit ihrer Mutter, aber auch deren Verachtung allen Komforts und ihren Reformeifer geerbt hatte, schleppte im Namen von Abstinenz und edler Denkungsart von einem Podium zum nächsten einen Ehemann mit Verdauungsstörungen hinter sich her, welcher infolge fortwährender Ernährung mit Natronkeksen8 und Konserven langsam vor sich hin starb. Mrs Lorin Weston hingegen, eine kleine, pausbäckige Frau mit einem resoluten Mundwerk, war immer zu Hause geblieben, kümmerte sich um die Kinder, bekochte ihren Ehemann gut und kaufte, wenn er «Umsatz» gemacht hatte, stets ein Bild oder ein Klavierdeckchen, um ihre jeweilige Behausung zu verschönern. Sie zeigte ein gesundes Interesse für Kleidung, ließ sich, seit sie nach Euphoria gezogen waren, einmal in der Woche maniküren und hatte, als sie an der Mapledale Avenue zu bauen begannen, genug gespart, um sich einen Wintergarten mit Palmen und rosa Grammophon leisten zu können, womit sie den Neid der Nachbarn erregte.

Was Lorin Weston anbetraf, einen sachlichen, eher kleinen Mann, nicht größer als seine Frau, so glich dieser den zerknitterten japanischen Papierblumen, die plötzlich aufblühen, wenn man sie in Wasser legt. Beim Kaufen und Verkaufen von Immobilien war Mr Weston in seinem Element, und er begriff nicht, wie ein normales menschliches Wesen ohne das existieren oder überhaupt von etwas anderem reden konnte. Auf kritische Nachfrage hin hätte er wahrscheinlich eingeräumt, dass eine geordnete Gesellschaft auch Polizisten, Professoren, Anwälte, Richter, Zahnärzte und sogar Geistliche benötige. (Letztere, damit die Frauen etwas zu tun hatten. Er persönlich hatte Ingersoll gelesen und neigte eher zu Voltaires Ansichten.9) Aber obwohl er dies theoretisch eingestanden hätte, begriff er nicht, wie ein gesunder Mensch in der Praxis etwas anderes tun konnte als mit Grundstücken handeln. Gleich allen Genies ging ihm die Ausübung seiner Begabung derart selbstverständlich von der Hand, dass er sich ebenso wenig vorstellen konnte, sein Geld auf andere Weise zu verdienen wie unter Wasser zu leben. Er interessierte sich auch für den Hausbau, gewiss, denn Menschen, die Häuser bauen wollen, müssen zuerst Land kaufen, und überdies konnte man, wenn man den Mut hatte, ein vielversprechendes Häuschen auf einem nicht sehr vielversprechenden Fleckchen Land hochzuziehen, Haus und Grund zusammen für eine beträchtlich größere Summe verkaufen, als sie einen gekostet hatten, und sogar einen Grundstücksboom auslösen, wo es bisher nichts dergleichen gegeben hatte. Beflügelt von solchen Überlegungen, entwickelte er einen feinen Sinn für vorstädtische Architektur und wurde oft von Bauunternehmern oder Innenausstattern um Rat gefragt, wenn Diele oder Schlafbalkon eine besondere Note bekommen sollten, während Mrs Westons Rat in Küche und Wäschekammer von unschätzbarem Wert war. Beide übten ihren Beruf aus wie eine Religion; Mrs Weston legte in den ihren den Seelenrettungseifer ihrer Mutter, und Mr Weston lockte seine Kunden in die Vorstädte wie seine Schwiegermutter die ihren zu Jesus.

Die Vorstadt Mapledale, durch und durch eine Schöpfung von Mr Weston, war Euphorias ganzer Stolz und wurde Ehrengästen immer gleich nach dem Alsop Building, der Zahntechnikerschule und dem Cedarcrest-Friedhof gezeigt; und da Erfolg das einzige Schönheitskriterium war, das der junge Vance kannte, fand er es selbstverständlich, dass alles, was sein Vater schön fand, auch schön sein musste. Trotzdem gab es Augenblicke, in denen er das Bedürfnis verspürte, der Perfektion des Hauses in Mapledale zu entfliehen und hinaus nach Crampton zu laufen, wo sich Großpapa und Großmama Scrimser in einem Haus niedergelassen hatten, das ihr Schwiegersohn ihnen mietfrei überließ, in der Hoffnung, sie würden ihm helfen, Crampton zu «erschließen». Bisher hatte sich diese Hoffnung nicht erfüllt, und Crampton war noch immer ein Kaff im Sumpf, nur unzureichend angebunden an das expandierende Euphoria; aber Lorin Weston konnte es sich leisten zu warten und freute sich, dass er seinen Schwiegereltern einen Gefallen tun konnte.

Mrs Weston fuhr nicht oft nach Crampton; vor allem mied sie es, wenn ihre Schwester Saidie Toler dort war. Die Straße nach Crampton war so schlecht, dass es den Chevrolet schier in seine Bestandteile zerlegte, und außerdem konnte sie nicht mit ansehen, wie ein schönes Haus mit acht Zimmern, das so behaglich hätte sein können, verrottete, nur weil Großmama ihre Hausangestellten nach religiöser Überzeugung und Reizlosigkeit auswählte (sie traute Großpapa nicht) und mit Saidie ständig auf fromme Versammlungen lief und zu Vorträgen über Hygiene (hätte sie sich nur um ihre eigenen Abflussrohre gekümmert!), über Ernährung (und das bei Großmamas Fraß!) oder über den jeweils letzten religiösen, moralischen oder medizinischen Schrei. Meist befand sich auch ein langhaariger Fanatiker im Haus, der sich ebenso beredt über das «Allerneueste» auf dem Gebiet der Religion oder Moral verbreitete, wie Mrs Weston über Kühlschränke und Elektroherde predigte. Diese Propheten gingen Mrs Weston auf die Nerven, genau wie Saidie mit ihrer verschlampten blonden Schönheit, die schon etwas angeschmutzt wirkte, als hätte sie sie über Nacht im Freien stehen lassen, so wie sorglose Leute ihr Auto. Mrs Weston verehrte ihre Mutter und erkannte, wenn auch etwas unwillig, die Überlegenheit ihrer starken Persönlichkeit an. Aber sie hasste das Durcheinander, in dem Großmama lebte, und so lud sie Saidie und die Scrimsers lieber sonntags zum Essen in die Mapledale Avenue ein, wo sie das Gefühl hatte, dass ihr ordentlicher Haushalt und Mr Westons sachkundige Äußerungen die Gäste beeindruckten.

Vance Weston mochte die Wohnung und das Essen seiner Großmutter nicht besonders; verglichen mit seinem eigenen Zuhause war es dort rückständig und unbequem. Doch er hatte eine unerklärliche Vorliebe für die ausgefahrenen Straßen von Crampton, die umgekippten Zäune und die ahornüberschattete Wiese am Fluss. Ihm gefiel, wie die Bäume über den Hof der Scrimsers hingen, ihm gefielen die wuchernden Fliederbüsche und die ungepflegte weiße Rose über der Veranda. Großmama

2

Nach wie vor dümpelte Crampton unfertig, muffig und nichtssagend unterhalb der Gewinnzone vor sich hin. Inzwischen fuhr die Straßenbahn hinaus, aber nur wenige Ansiedler waren ihr gefolgt. Lorin Weston, nach allgemeiner Ansicht der hellsichtigste Immobilienmakler in Drake County, glaubte freilich noch immer an Crampton und hielt die Hoffnungen der dorthin gelockten Investoren weiterhin am Köcheln. Weil er so sehr daran glaubte, sprossen an der Straße nach Euphoria eine Reihe billiger Häuschen empor, und das Maklerauge erblickte in der Ferne bereits Garagen und Rasenmäher.

Eines warmen Frühlingstages marschierte Vance Weston zwischen den Wagenspuren dahin, vorbei an den Feldern einer schwedischen Gärtnerei und an grünen Weideflächen, die auf den Bauboom warteten. An solchen Tagen gefiel ihm das erwartungsvolle Hoffen von Crampton besser als die Perfektion von Euphoria – an den Tagen des urplötzlichen Präriefrühlings, wenn der Flieder im Vorgarten seiner Großmutter aufbrach und die Ahornbäume am Fluss sich mit rosigen Fransen schmückten, wenn die Erde pochte vor Erneuerung und die schweren weißen Wolken wie Herden trächtiger Mutterschafe über den Himmel zogen. In einer Baumgruppe am Wegesrand versuchte sich ein Vogel wieder und wieder an einem leisen Lied, und in den Straßengräben übersäte ein für Vance namenloses Unkraut den Schlamm mit glänzenden Blättern und goldenen Kelchen. Er spürte ein leidenschaftliches Verlangen, die erwachende Erde und alles, was sich darin regte und schwoll, zu umarmen. Es ärgerte ihn, dass er nicht wusste, wie der Vogel oder die gelben Blumen hießen. «Ich würde gern allem seinen richtigen Namen geben und wissen wollen, warum dieser Name der richtige ist», dachte er. Den Namen hatte er immer als wesentlichen und geheimnisvollen Bestandteil eines jeden Dings empfunden, so wesentlich wie für ihn seine Haut oder seine Wimpern. Was nützte alles, was er in der Schule gelernt hatte, wenn die einfachsten Gegenstände auf dieser vertrauten Erde so fern und unerklärlich waren? Es gab botanische Leitfäden und wissenschaftliche Bücher über die Form und Bewegung von Wolken, aber was er zu erreichen suchte, das ging tiefer, das war etwas, was zu den Blumen und Wolken gehört haben musste, bevor Menschen geboren waren, die sie zergliederten. Außerdem war er nicht in der Stimmung für Bücher, wenn ihn diese Frühlingsluft streichelte …

In einer Seitenstraße zu seiner Rechten stand nach wenigen Metern das baufällige Haus, in dem Harrison Delaney lebte, Floss’ Vater. Harrison Delaney war zwar wie Mr Weston im Immobiliengeschäft tätig, doch unterschied sich seine Karriere in jeder Hinsicht von der seines Gegenspielers, und Mr Weston soll einmal gereizt gesagt haben, dass Delaney in Crampton lebe, genüge schon, um den Boom hinauszuzögern. Harrison Delaney war in der Tat eines jener abschreckenden Beispiele, die dazu dienen, das fade gesellschaftliche Leben in Hunderten von Städten wie Euphoria zu würzen. Es gab keinen einzigen gewitzten Geschäftsmann vor Ort, der nicht die genauen Gründe für sein Versagen hätte nennen können. Es komme alles davon, dass er nie zur Stelle sei, dass er Grundstücksverkäufe, günstige Angebote und Geschäfte aller Art nicht mitbekomme – dass er sozusagen immer verschlafe, wenn er wegen etwas Besonderem hätte aufstehen müssen.

Fast jede Familie in Vance Westons gesellschaftlichem Umkreis konnte ein abschreckendes Beispiel dieser Art benennen, aber nur wenige waren für diesen Zweck so außergewöhnlich gut geeignet wie der fünfzigjährige Harrison Delaney. Vom ersten Moment an hatte man den Eindruck, dass ihm nie mehr etwas Nennenswertes widerfahren werde. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen, so wie man ein schlecht gehendes Geschäft schließt, und saß nur da mit dem erwartungslosen Blick eines Börsenmaklers in der Sommerfrische, unerreichbar für den Fernschreiber. Genau – das war der richtige Ausdruck! Harrison Delaney sah aus, als wäre er für den Fernschreiber nicht erreichbar. Allerdings bereitete ihm das weder Sorgen noch Verdruss, wie den meisten anderen Männer in einem solchen Fall – es war ihm nur gleichgültig. Ganz egal, was geschah, es war ihm gleichgültig. Er fand, wenn er viel Wirbel darum mache, ändere das die Sache auch nicht – habe sie nie geändert. Als alle Welt darüber sprach, dass Floss mit diesem verheirateten Vertreter aus Chicago ging, der im Laufe des Jahres immer mal wieder in Euphoria auftauchte, einen Wagen mietete und mit ihr zusammen lange Ausflüge machte – da verhielt sich ihr Vater, als habe er nichts gemerkt; und als ihn der Baptistenpfarrer besuchte und Andeutungen machte, sagte Harrison Delaney, hier melde sich eben die Natur zu Wort und er habe nicht das Format, sich mit der Natur anzulegen; außerdem werde sich der Vertreter vielleicht eines Tages scheiden lassen und Floss heiraten – was er natürlich nie tat.

Vance hatte Floss Delaney kennengelernt, als er unterwegs zu seinen Großeltern war. Damals fuhr noch keine Straßenbahn. Normalerweise sausten sie mit ihren Fahrrädern auf der ausgefahrenen Straße aneinander vorbei, doch eines Tages fand er Floss mit geplatztem Reifen und verstauchtem Knöchel im Schlamm liegen und half ihr nach Hause. Anfangs interessierte ihn nicht das Mädchen, sondern der Vater. Vance wusste alles über Delaney, das Gespött von Euphoria, aber irgendetwas am ungezwungenen, gleichgültigen Verhalten des Mannes, seine Art, den Besucher mit «Kommen Sie doch rein, Weston» zu begrüßen statt mit einem bloßen «Vance», seine wenigen Worte des Dankes für die Hilfe, die er seiner Tochter hatte zukommen lassen, der Klang seiner Stimme, schon sein Tonfall – all das unterschied ihn von dem schlauen Geschäftsmann, zu dem er es sichtlich nicht gebracht hatte, und gab Vance das Gefühl, dass auch Scheitern seinen Reiz haben konnte. Auch Euphoria spürte das, wenngleich nur undeutlich, wie er erkannte; die Stadt musste zugeben, dass er die Umgangsformen und Manieren eines Mannes hatte, der dazu geschaffen war, sich einen Namen zu machen. Selbst als er am Ende gänzlich ruiniert war, steckte man ihn noch in die Abordnungen zum Empfang vornehmer Besucher. Irgendwer lieh ihm einen schwarzen Anzug und ein anderer einen neuen Hut, denn man hatte das unbestimmte, allerdings auch unausgesprochene Gefühl, dass er sich bei solchen Anlässen ungezwungener benahm als selbst die erfolgreichsten Männer, einschließlich des Schuldirektors und des Pfarrers von der Alsop-Avenue-Kirche. Doch all dies änderte nichts daran, dass er ein Versager war und der aufstrebenden Gemeinde Euphoria nicht mehr nützte als die Heloten10 der Jugend von Sparta. Ein Mann sollte sich in Fragen der Gesellschaft und Etikette auskennen und wissen, wie man sich bei einem Bankett benimmt, welchen Kragen man tragen und welchen Geheimbünden man angehören muss; aber das Wichtigste im Leben waren der Fortschritt und das Oben-Ankommen, und «oben» hieß immer und ausschließlich: wo das Geld war.

So lauteten die allgemein anerkannten Grundsätze, nach denen Vance erzogen worden war; als er nach Floss’ Unfall von Zeit zu Zeit vorbeischaute, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, fand er es jedoch merkwürdig reizvoll, Harrison Delaneys leiser, ein wenig schleppender Rede zu lauschen und auf die von ihm verwendeten Wörter zu achten – immer gute englische Wörter, inhaltsreich und ausdrucksstark, fast ohne Zugeständnis an den örtlichen Dialekt oder einen kurzlebigen, seuchenartig um sich greifenden Slang.

Erst als Floss wieder auf den Beinen war, begann sie ihn zu verzaubern. Als Vance eines Tages vorbeikam, traf er sie allein an, und von da an lief er Harrison Delaney nicht mehr hinterher, sondern ging ihm aus dem Weg, und das Paar traf sich außerhalb des Hauses … Bei der Erinnerung daran glühten ihm noch immer Körper und Seele. Aber es hatte keinen Sinn, jetzt daran zu denken. Sie war die ganze Zeit mit einem anderen Burschen herumgezogen, das wusste er … Wie sie ihn angelogen hatte! Er war ein Dummkopf gewesen, und zum Glück war alles vorbei. Dennoch mied er den Anblick des Hauses am Ende der Straße, vor dem er noch wenige kurze Monate zuvor nach Einbruch der Dunkelheit herumgelungert hatte, bis sie herauskam. An Sommerabenden waren sie zu den Ahornbäumen am Fluss hinuntergegangen, dort gab es ein Gebüsch, in dem man versteckt liegen konnte, Brust an Brust, und zuschauen, wie der Mond und die weißen Wolkenschatten vorbeisegelten und die Sternbilder auf ihren unsichtbaren Brücken über den Himmel wanderten …

Das Haus der Scrimsers besaß eine Veranda im Kolonialstil mit Blick auf den Fluss und einen offenen Kamin in der Halle. Der Vorgarten war immer etwas ungepflegt. Mrs Scrimser hatte zwar Pläne für die Bepflanzung und gedachte sie eines Tages auch zu verwirklichen. Aber zuvor hätte sie eine Menge halb toter Büsche absägen lassen müssen, und dazu schien niemand bereit. Teils lag das an Großpapas Ischias, teils daran, dass der Lohngärtner so unregelmäßig kam und Großmama immer alle Hände voll damit zu tun hatte, die Vorgärten anderer Leute in Ordnung zu bringen, materiell wie moralisch.

Als Vance die Veranda betrat, saß sie dort in ihrem Schaukelstuhl, das zerzauste Haar aus der breiten, gelblichen Stirn gestrichen, und ihre Brillengläser musterten wohlwollend die Gartenanlagen. Ein Rasenmäher stand quer auf dem Weg, und sie rief ihrem Enkel zu: «Heute hätte eigentlich der Gärtner kommen müssen, aber er ist zu einer großen Zeltmission nach Swedenville gegangen, deshalb hat Großvater angefangen zu mähen, damit alles hübsch aussieht, wenn deine Eltern uns am Sonntag besuchen; doch dann ist ihm eingefallen, dass er in Mandels Laden eine Verabredung hat, ich weiß also nicht, wie das fertig werden soll.»

«Na ja, vielleicht kann ja ich mähen, wenn ich mich ein bisschen abgekühlt habe», sagte Vance und setzte sich.

Sie alle kannten Großpapas Verabredungen. Kaum hatte man ihn gebeten, in Haus oder Garten Hand anzulegen, bekam er Ischiasschmerzen, oder es fiel ihm ein, dass er versprochen hatte, sich in Mandels Gemischtwarenladen oder im «Elkington»-Hotel in Euphoria mit jemandem zu treffen.

Mrs Scrimser richtete ihre ausdrucksvollen grauen Augen auf ihren Enkel. «Hast du an einem solchen Tag nicht auch das Gefühl, als könntest du durch dieses Blau da oben direkt zu Gott gelangen?», fragte sie und wies mit einer großen, knotigen Hand himmelwärts. Den herrenlosen Rasenmäher und ihr Bedürfnis aufzuräumen hatte sie schon vergessen. Immer wenn sie ihren Enkel sah, erwachte all das Suchen und Sehnen in ihrem unzufriedenen Innern und brach sich in bangen Worten Bahn. Aber Vance wollte nichts von ihrem Gott hören. Der war, ohne den Deckmantel von Mrs Scrimsers biblischem Wortschwall, doch nur der oberste Tugendrichter einer berühmten pädagogischen Anstalt, in der sie eine wichtige Stelle innehatte.

«Nein, ich habe nicht das Gefühl, als würde mich etwas nahe zu Gott führen. Und ich will auch gar nicht in seine Nähe, ich will mich von ihm freimachen, will dorthin, wo er nur noch wie ein Pünktchen aussieht und der Gott in mir ihn gewissermaßen umgehen kann.»

Mrs Scrimser glühte vor Entgegenkommen, alles Kühne entzückte sie. «Oh, ich verstehe, was du meinst, Vanny», rief sie. Ihr Leben lang war sie immer überzeugt gewesen, dass sie erfasste, was die anderen meinten, und diese Überzeugung hatte sie siegestrunken von einem Gipfel der Leichtgläubigkeit zum nächsten getragen.

Doch ihr Enkel zerlächelte ihre Begeisterung. «Nein, du verstehst nicht, meinen Gott verstehst du überhaupt nicht, ich meine, den Gott in mir.»

Seine Großmutter errötete vor Enttäuschung. «Warum nicht, Vanny? Ich weiß genau Bescheid über die Immanenz Gottes», widersprach sie fast ärgerlich.

Vance schüttelte den Kopf. Es machte keinen großen Spaß, mit der Großmutter über Gott zu diskutieren, aber das war immer noch besser als die ständigen Reden seiner Mutter über neue Staubsauger, von Mr Weston über Immobilien oder von seiner Schwester Pearl über die neuen Regelungen für Schulnoten. Vance hatte Respekt vor Tüchtigkeit und bewunderte sie sogar; aber in letzter Zeit hatte er das Gefühl, dass sie für die Verköstigung der Seele einen zu geringen Nährwert besaß. Er wunderte sich, dass Mrs Weston, eine Autorität in Ernährungsfragen, nie auf den Gedanken gekommen war, ihrer aller Leben in Mapledale einer Art von moralischem Vitamintest zu unterziehen. Ihm war, als würden sie hier alle verhungern, ohne es zu merken. Die alte Mrs Scrimser wusste wenigstens, dass sie Hunger hatte, und um einiges nachsichtiger wanderten seine Gedanken zu dem zurück, was sie gesagt hatte.

«Das Problem ist», begann er und tastete suchend seinen begrenzten Wortschatz ab, «dass ich den Gott anderer Leute offenbar nicht haben will. Ich möchte nur dem meinen freien Lauf lassen.» In diesem Augenblick vergaß er die Anwesenheit seiner Großmutter und seine früheren Erfahrungen mit ihrer Begriffsstutzigkeit und spann seinen Traum für sich selbst aus. «Ich will nicht einmal wissen, was er ist – nicht, indem ich ihm denkend auf den Grund gehe. Die Menschen mussten auch nichts über Sauerstoff und das Funktionieren der Lungen lernen, bevor sie zu atmen begannen, oder? Und so geht es mir mit dem, was ich meinen Gott nenne – dieses Etwas in mir, das schon da war, bevor ich darüber nachgedacht habe, und das sich streckt und streckt und die Sterne und Ewigkeit umfasst und wahrscheinlich selbst nicht weiß, warum oder wie. Ich möchte herausfinden, wie ich diesen Gott befreien, ihn wie einen Drachen ins Unendliche fliegen lassen kann, weit über Glaubensbekenntnisse und fromme Floskeln hinaus, wie ich ihn mit allem anderen verbinden kann … den anderen Strömungen, die uns an einem Tag wie diesem zu umkreisen scheinen, sodass man selbst hinaufgezogen und über Zeit und Raum, über Gut und Böse hinausgetragen wird, dorthin, wo die ganze verdammte Geschichte überkocht. Ach, hol’s der Teufel, ich weiß auch nicht!», stöhnte er und warf verzweifelt den Kopf zurück.

Mrs Scrimser lauschte strahlend, die Arme wie segnend ausgestreckt. «O Vanny, wenn du so sprichst, spüre ich deutlich deine Berufung! Diese Gabe zum Reden hast du sicher von deinem Großvater geerbt. Du könntest auf der Stelle die Alsop-Avenue-Kirche bis auf den letzten Platz unter der Empore füllen. ‹Der predigende Jüngling› … So einer dringt oft bis tief in die Seelen, wo ein Älterer kein Gehör mehr findet. Meinst du nicht, Liebes, dass du dich bei einer solchen Begabung geradewegs für Jesus entscheiden solltest?» Sie hob die gefalteten Hände mit einer Nunc-dimittis-Geste11 geläuterter Frömmigkeit. «Wenn ich dich nur einmal auf der Kanzel hören könnte, würde ich in Frieden entschlafen», murmelte sie.

Vance’ Traum fiel krachend auf den Boden der Veranda und blieb dort liegen wie ein zersplitterter Regenbogen. Die Alsop-Avenue-Kirche! Die Kanzel! Ein geistliches Amt! Diese vertrauliche Art, über Jesus zu reden, als sei das einer, der um die Ecke in Mandels Laden auf einen Anruf warte – und diese Frau, die sich seit vierzig Jahren das hohle Getöne und scheinheilige Geheuchel ihres Mannes anhören musste und immer noch an die Macht der biblischen Worte und magischen Zeichen glaubte! Wenn Vance ihr zuhörte, wurde ihm die Bibel fast zuwider, obwohl ihre eindringlichen Worte und Rhythmen zu seinen kostbarsten geistigen Schätzen zählten … Warum hatte er sich nur wieder gehen lassen und versucht, sie mit sich in die schwindelnden Höhen philosophischer Betrachtungen zu erheben  – als würde sich ein winziges geflügeltes Insekt abmühen, den Rasenmäher da vorne auf dem Weg hochzustemmen! Vance blickte verdrossen in die weitläufige, verwahrloste Ferne, von der sie allen Zauber gefegt hatte, sodass er dort, wo er Blumen erblickt und Vögel gehört hatte, jetzt nur noch einen verkümmerten Horizont sah, gefangen hinter krummen Telegrafenstangen und zum Teil verdeckt von Mandels Laden.

«Vance – ich habe dich doch nicht beleidigt?», fragte seine Großmutter und legte ihre große Hand auf die seine.

Er schüttelte den Kopf. «Nein. Du verstehst nur nicht.»

Sie nahm ihre angelaufene Brille ab und wischte darüber. «Vermutlich hat Gott die Frauen erschaffen, damit die Männer jemanden haben, zu dem sie das sagen können», bemerkte sie mit einem abgeklärten Lächeln.

Ihr Enkel lächelte ebenfalls. Er wusste ihren Humor durchaus zu schätzen; aber heute bebte er innerlich von dem vergeblichen Versuch, sich auszudrücken, und weil sie ihn missverstanden hatte, und so antwortete er nicht.

«Dann werd ich mal wieder gehen», sagte er und stand auf.

Mrs Scrimser stritt nie mit ihrer Familie, und so spazierte sie schweigend mit ihm den Pfad hinunter und blieb vor dem Rasenmäher stehen, der ihnen den Weg versperrte. Von hier aus konnten sie über mehrere unbebaute Grundstücke sehen und seitlich an Mandels Laden vorbei die Augen im flüssigen Gold des Sonnenuntergangs jenseits des Flusses baden.

«An Sommerabenden hab ich immer gedacht, dort ist der Himmel», brach es aus dem Jungen heraus, und er zeigte auf die knospenden Ahornbäume am Fluss. In seinen Ohren klangen diese Worte hämisch, unvorstellbar gestrig und verbittert, doch in der Seele seiner Großmutter rief die Erwähnung des Himmels niemals solche Gefühle wach.

«Ich glaube, der Himmel ist überall da, wo wir die Natur und unsere Mitgeschöpfe genug lieben», sagte sie und legte ihm den Arm um die Schulter. Keinem von beiden kam es in den Sinn, den Rasenmäher beiseitezuschieben, und sie verabschiedeten sich, das Gerät vor sich, zwanglos, aber liebevoll, wie es in den Familien in Euphoria üblich war. Vance überstieg das Hindernis mit einem großen Schritt, und seine Großmutter blieb davor stehen und blickte ihm nach. «Denk daran, Vanny – die Liebe ist überall!», rief sie ihm hinterher. Stattlich und das Herz voller Segenswünsche stand sie zwischen den Fliederbüschen und winkte zum Abschied.

Vance wanderte dahin in einem Nebel aus unbestimmtem Sehnen, ausgelöst von seinen eigenen Worten, so wie diese von der Frühlingsluft und den gelben Blüten im Straßengraben ausgelöst worden waren. Die Dämmerung senkte sich herab und mit ihr der alte Zauber von Crampton. An der Straße zum Haus von Harrison Delaney ging er vorüber, doch als er zu dem Feldweg kam, der zum Fluss hinunterführte, blieb er stehen, gefangen von seinem früheren Traum. Alles, was ihn an diesen Ort gebunden hatte, war vorbei und überstanden – er hatte seine Lehrjahre des Herzens hinter sich und den Preis bezahlt. Dennoch war es schwer, das mit neunzehn Jahren an einem Frühlingsabend zu erkennen und sich für immer aus der Schar der Jungen und Glücklichen ausgeschlossen zu fühlen. Wohl hatten auch andere so etwas erlebt und überlebt – so stand es in den Büchern. Aber an diesem Abend glich seine Seele einer Wüste.

Seit Floss hatte er nie mehr ein Mädchen angesehen – und wollte auch nie mehr eins ansehen. Hatte sich stattdessen am Gedichteschreiben abgearbeitet. Manchmal, für ein paar Augenblicke, vermochte das Dichten ihm ihre Zärtlichkeiten fast zu ersetzen, schien sie ihm so nahezubringen, als seien Worte warm und greifbar wie Fleisch. Dann verwehte die Illusion, und er war wieder in der Wüste … Hin und wieder zwickte er sich versuchsweise in Gedanken dorthin, wo der Schmerz gesessen hatte, nur um sicherzugehen, dass er nichts mehr fühlte – buchstäblich nichts. Doch als die Bäume am Fluss Knospen trugen und die Knospen schwarz vor einem gelben Himmel standen, kam der Schmerz jählings zurück und packte ihn am Herzen, so wie einem plötzlich ein Hexenschuss zwischen die Schultern fährt. Lange stand er da, starrte über das Feld und dachte daran, wie er immer hinuntergegangen war, sich am Fluss versteckt und durch die Büsche nach Floss Ausschau gehalten hatte. Öfter noch war sie zuerst da gewesen, und ihre starken jungen Arme hatten ihn zu sich hinuntergezogen … Inzwischen war es ungefährlich, sich daran zu erinnern. Floss hatte Euphoria verlassen; es hieß, sie habe in einem Kaufhaus in Dakin hinter Chicago eine Stelle gefunden. Das hatte wohl sein Vater eingefädelt … Der Schauplatz ihrer kurzen Leidenschaft lag verlassen da, und für ihn würde es immer so bleiben. So war eben das Leben. Seine Bitterkeit verging allmählich; er dachte an ihre Küsse und verzieh ihr. An den Zaun gelehnt, zog er eine Zigarette heraus und hing tiefschürfenden männlichen Gedanken nach, über sie und die Frau an sich.

«Du wirst doch wohl nicht erwartet haben, Vance Weston», unterbrach er sich plötzlich, «dass du der Einzige bist, der sich dort unter den Büschen mit einem Mädchen trifft?» Ausgelöst wurde diese Bemerkung vom Anblick eines Mannes, der über leere Grundstücke zum Rand des Ahornwäldchens schlenderte. Selbst auf diese Entfernung machte er den Eindruck von jemandem, der nicht gesehen werden möchte, aber tut, was er kann, um dies nicht zu verraten. Angesichts dieses Schauspiels änderte sich Vance’ Laune augenblicklich; er blieb an den Zaun gelehnt stehen, paffte spöttisch seine Zigarette und pfiff eine Melodie aus einem Vaudeville12. Das Licht wurde schwächer, der Mann war noch zu weit weg, als dass er ihn hätte erkennen können, doch als er sich näherte, sah Vance eine große, hagere Gestalt, die sich mit der Munterkeit eines älteren Mannes bewegte, der versucht, jung zu wirken, aber bei jedem Schritt von seinen steifen Gelenken daran gehindert wird. Diesen Gang kannte er gut, ebenso den Gehrock, der über einer zerknitterten Weste offen stand, und die breite Krempe des Filzhutes. Nun nahm der Mann den Hut ab und wischte sich über die Stirn; der letzte schräge Strahl der untergehenden Sonne beleuchtete sein dunkles Gesicht, die markante Nase, den weichen, schönen Mund und die schwarz-weiße, zurückgekämmte Mähne. Amüsiert und von einer unbestimmten Neugier erfasst, stand Vance da und starrte auf seinen Großvater wie auf eine Erscheinung.

Bei Großpapa konnte man nie sicher sein – das wusste die ganze Familie und fand sich damit ab wie mit dem Wetter. Trotzdem, hier auf ihn zu stoßen, wie er da am Wäldchen entlangschlich und sich die Stirn wischte, als wäre er gerade hinter der Straßenbahn hergerannt – das war schon komisch. Etwas Verwegenes und gleichzeitig Verstohlenes an seinem Benehmen rief Vance eine Begebenheit in Erinnerung: Er war noch ein kleiner Junge und hatte mit seiner Mutter Weihnachtseinkäufe erledigt, als sie plötzlich Großvater erblickten, der sich genau auf diese Weise die Stirn wischte und aus einer Straße auf sie zugelaufen kam, in der Vance und seine Schulkameraden nicht spielen durften. Der kleine Junge witterte sofort, dass etwas nicht stimmte, denn seine Mutter rief nicht etwa: «Da ist ja Großvater!», sondern erinnerte sich plötzlich, dass sie – meine Güte! – noch gar nicht die Hefe in Sprouls Bäckerei bestellt hatte, und riss Vance herum, scheinbar ohne Mr Scrimser bemerkt zu haben. Solche Ausflüchte sind Meilensteine auf dem Weg zur Erkenntnis.

Vance schmunzelte spöttisch in Erinnerung an diesen Vorfall und bei dem Gedanken, wie weit seine arglose Kindheit hinter ihm lag. Einen Augenblick lang fühlte er sich versucht, seinem Großvater zuzuwinken, dann bewog ihn etwas an der Haltung und den Bewegungen des alten Mannes, sich abzuwenden. «Es wird wohl Zeit, die Hefe bei Sprouls zu holen», sagte er sich lachend; doch als er den Blick abwandte, wurde seine Aufmerksamkeit von einer anderen sich nähernden Gestalt gefesselt. Das Licht wurde rasch schwächer, und Vance stand gut hundert Yard13

3

Die Familie saß beim Abendessen. Das Esszimmer war blitzsauber. Das litauische Hausmädchen schob die heißen Gerichte durch die Durchreiche und stellte sie lautlos auf den Tisch. Großpapa sagte immer, seine jüngere Tochter könne noch einem Eskimo das Servieren beibringen. Die Gesichter unter der Hängelampe spiegelten Behagen und Zufriedenheit. Pearl hatte gerade einen Gehaltsvorschuss bekommen, und Mr Weston hatte ein altes Geschäftshaus zu einem selbst für ihn unverhofft hohen Preis verkauft.

«Ich glaube, wir machen diesmal den Urlaub an den Großen Seen, von dem die Mädchen dauernd reden», sagte er und blickte beifallheischend in die Tischrunde.

Doch Mrs Weston verzog den Mund (sie runzelte den Mund wie andere Leute die Stirn) und fragte, ob sie dieses Jahr die Seen nicht lieber sein lassen und das neue elektrische Kühlraumgerät einbauen sollten, dessentwegen vorgestern der Vertreter hier gewesen sei und ausgemessen habe? Sie bekämen es deutlich reduziert, wenn sie jetzt bestellten und ein Drittel der Summe anzahlten, sobald er wiederkäme.

Pearl, die ältere Tochter, klein, lebhaft und mit einem Mund wie ihre Mutter, antwortete, ihr sei es egal, sie würde nur bald wissen wollen, wozu man sich entschieden habe, denn wenn sie nicht zu den Seen führen, würde sie mit einer Freundin von der School of Hope in Sebaska gern zelten gehen. Mae, die Jüngere der beiden, die größer und weniger rundlich war und einmal hübsch zu werden versprach, murmelte, die Familien der anderen Mädchen führen im August alle zu den Seen, warum nicht auch ihre Familie, ohne das ganze Theater.

«Also Theater haben wir mit dir und Vance schon genug», erwiderte Mrs Weston. «Jetzt seid ihr siebzehn und neunzehn und wisst noch immer nicht, womit ihr euren Lebensunterhalt verdienen und wann ihr damit anfangen wollt.»

Mae antwortete gereizt, sie wisse sehr wohl, was sie werden wolle, sie wolle nach Chicago gehen und Kunst studieren wie Leila Duxberry.

«Ach, Chicago! Hier bei uns gibt es ab dem nächsten Jahr auch eine Kunstschule, angeschlossen an das College, genauso gut und bei Weitem nicht so teuer», sagte Mrs Weston, die alle Anzeichen von Unabhängigkeit bei ihren Schäflein eifersüchtig beäugte.

Mae zuckte die Achseln und verdrehte die Augen, als wolle sie andeuten, Gespräche auf derart niederem Niveau interessierten sie nicht.

Mr Weston trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und nahm sich ein zweites Mal von den Pickles. «Und was ist mit Herrn Advance G. Weston? Hast du irgendeine Vorstellung, worauf du dich zu spezialisieren gedenkst, Söhnchen?»

Vance öffnete den Mund, um zu antworten. Seit jeher wünschte sein Vater, dass er Immobilienmakler würde, und wünschte es nicht nur, sondern hatte ihn dazu bestimmt, ja er konnte sich gar keinen anderen Beruf für ihn vorstellen – was die Frauen auch einwandten oder der Junge selbst für Absichten haben mochte –, so wenig wie sich ein König auf einem sicheren Thron für seinen Erben etwas anderes als das Königtum ausmalen konnte. «Das offene Wort» hatte Mr Weston einmal in einer Schlagzeile als Immobilienkönig von Drake County bezeichnet, und Mr Weston hatte diesen Titel bescheiden, aber würdevoll akzeptiert. Das alles wusste Vance, und doch war die Zeit des Hinhaltens vorüber. Hier und jetzt gedachte er seinem Vater zu antworten: «Ich glaube, ich gehe lieber zu einer Zeitung.» Denn er hatte beschlossen, Schriftsteller zu werden, wenn möglich Dichter, und er kannte keinen anderen Weg zum Parnass als den durch die Spalten einer Tageszeitung, entlang an der Berichterstattung über Baseballspiele und der Aufdeckung von Geschäftsskandalen. Doch als er sprechen wollte, quoll in seinem Hals etwas Heißes, Erstickendes hoch, und der helle, scharf konturierte Tisch mit den langweiligen, scharf konturierten Gesichtern darüber löste sich plötzlich in Nebel auf.

Unsicher schob er seinen Stuhl zurück. «Ich habe Kopfweh, ich gehe lieber nach oben», murmelte er in den kreiselnden Raum. Er sah das Staunen in ihren Gesichtern und gewahrte verschwommen, wie Pearl sich aus dem Nebel löste und auf ihn zukam, besorgt und neugierig. Er stieß sie zurück, keuchte: «Alles in Ordnung … nur keine Aufregung … ach, lasst mich einfach in Ruhe, alle miteinander!», gelangte irgendwie hinaus, lief nach oben in sein Zimmer und fiel dort aufs Bett, geschüttelt von einem Sturm trockener, tränenloser Schluchzer.

Zwei Ärzte befanden, schuld sei eine Malaria-Mikrobe; wahrscheinlich sei er auf den sumpfigen Wiesen draußen in Crampton oder unten am Fluss von einer Anopheles-Mücke gestochen worden. Der dritte Arzt, ein Bakteriologe aus dem Labor des College, diagnostizierte Typhus ambulatorius, und den habe er sich höchstwahrscheinlich geholt, weil er Flusswasser getrunken habe. Er gehe ja wohl öfter nach Crampton … Verwandte dort? Soso … Das Wasser in Crampton sei das reine Gift, sie hätten jeden Frühling und Sommer zahlreiche solche Fälle. Dieser Arzt wurde nicht mehr zurate gezogen, und der Familie fiel auf, dass Lorin Weston plötzlich wieder Schritte unternahm, um das Trinkwasser aus Euphoria hinaus nach Crampton zu leiten. Das war immer ein leidiges Thema gewesen; es zu erwähnen bedeutete, in ein wahres Hornissennest aus kommunalen und staatspolitischen Problemen zu stechen, Problemen von der Sorte «Keine schlafenden Hunde wecken», und Mrs Weston war erleichtert gewesen, als ihr Mann voriges Jahr erzählte, er habe «Das offene Wort», die führende Tageszeitung von Euphoria, gebeten, die Nachforschungen zur Trinkwasserversorgung in Crampton einzustellen. «Das offene Wort» hatte sich daran gehalten; eine Woche später kaufte Mr Weston einen neuen Buick und sagte beim Essen, er kenne keine schlimmere Zeitverschwendung als Skandaljournalismus. Nun wurde die Frage erneut aufgegriffen, und Mrs Weston wusste, dass es mit dem zusammenhing, was der andere Arzt gesagt hatte, derjenige, der kein zweites Mal geholt wurde. Aber sie behielt ihre Meinung für sich, wie bei allem, was Geschäft oder Politik betraf, pflegte ihren Sohn und sagte zu ihrem Mann, er solle nicht so nervös sein, davon gehe es dem Jungen nur schlechter.

Zu Vance drang von alledem nur ein wirres Echo durch den Nebel jener verschwommenen Wochen – Wochen, in denen sich sein Leib unaufhörlich in Krämpfen wand und sein Geist unaufhörlich haltsuchend um sich tastete. Die Ärzte sagten, wenn es sich nicht um Mrs Weston handelte, hätten sie ihn sofort in die Infektionsstation des Krankenhauses eingeliefert, aber Mrs Weston erledige sicher alles genauso gewissenhaft wie das Krankenhaus, sie werde aufs Desinfizieren achten, die Fieberkurve exakt aufzeichnen und niemandem erlauben, ihn zu stören … Also verlegten sie ihn in das grabesdüstere Gästezimmer, Mrs Westons ganzer Stolz, weil niemand es jemals bewohnt hatte und auch niemals bewohnen würde und weil es jenes ehrfurchtgebietende Allerheiligste ihrer Jugend ersetzte, die nie benutzte «gute Stube».

Es dauerte einen Monat, bis Vance so gekräftigt war, dass man ihn wieder in sein eigenes Zimmer legen konnte. Es kam ihm fremd vor. Seit einigen Tagen hatte er «Normaltemperatur», und heute Morgen hatten die Ärzte zu Mrs Weston gesagt, sie dürfe die Fieberkarte vom Fußende des Bettes abnehmen und Vance ein wenig Hähnchenfleisch geben. Er aß es hungrig, dann legte er sich mit der unsagbaren Erschöpfung des Genesenden wieder hin.

Allmählich durfte die Familie ihn besuchen. Als Erster kam sein Vater, unbeholfen und um Worte verlegen in seiner heiligen Scheu vor dem Unheil, dem sie mit knapper Not entronnen waren; dann Pearl, kurz und taktvoll, und Mae, wie immer mit sich selbst beschäftigt, sodass die Mutter sie fortziehen musste, weil sie zu lange blieb und zu viel redete. Großmama lag mit Rheumatismus im Bett, schickte aber frische Eier und ließ ausrichten, sie stehe in ständiger Verbindung mit einem ihrer Hauspropheten, der in der Nachbarstadt Swedenborg einen Wohltätigkeitszirkel leite, und seine Jünger schlössen Vance täglich in ihre Gebete ein.

Vance lauschte diesen Worten, als sei er schon tot und das Familiengeplapper dringe durch den Erdhügel auf dem Friedhof von Cedarcrest zu ihm durch. Er hatte nicht gewusst, dass das Gehirn nach der körperlichen Genesung noch so lange in dem luftlosen Raum zwischen Leben und Tod verharrt.

Er döste vor sich hin, als sich die Tür öffnete und er die dröhnende Stimme seines Großvaters hörte: «So, alter Junge, mittlerweile hast du sicher genug von den betenden Frauen an deinem Bett, oder? Es wird dich ein bisschen aufmuntern, wenn du mit einem gleichaltrigen Mann ein paar Geschichten austauschen kannst.»

Da stand er im Zimmer, ganz nah am Bett, kraftvoll, drohend, die schwarz-weiße Mähne verwegen aus der dunklen Stirn geworfen, die weißen Zähne durch den widerspenstigen Vorhang des gefärbten Schnurrbarts blitzend, und roch am ganzen Leib nach Tabak und Eau de Cologne, selbst aus den Falten seiner schief sitzenden Kleidung, von der Spitze des Einstecktuchs in der Brusttasche und an den langen dunklen Händen, die der Junge plötzlich über sich ausgebreitet sah, als sich Mr Scrimser väterlich über das Bett beugte.

«O Großvater, nein – ich sage Nein!» Vance stützte sich auf die Kissen, am ganzen schwachen Körper brach ihm der Schweiß aus, und er hob abwehrend die Arme. «Nein, nein! Geh weg – geh weg!», wiederholte er, kläglich weinend wie ein Kind, und bedeckte die Augen mit den Händen.

Er hörte, wie Mr Scrimser zurückfuhr und bestürzt etwas stammelte. Gleich würden Mrs Weston oder die Mädchen gerufen, und dann wäre er wieder unter Fieberkurven, Thermometern und Eiskompressen begraben. Er ließ die Hände sinken, setzte sich auf und sah seinen Großvater, der seinem Blick auswich, unverwandt an.

«Du – du verdammter alter Wüstling, du!», sagte er mit leiser, aber vollkommen fester Stimme. Mr Scrimser starrte ihn an, und er starrte zurück. Ganz langsam senkte der Großvater den scheckigen Schopf und trat seinen Rückzug durch das enge, kleine Zimmer Richtung Tür an.

«Du bist – du bist noch immer krank, Vanny. Natürlich bleibe ich nicht, wenn du es nicht möchtest», stotterte er. Als er sich umwandte, dachte Vance: «Er weiß Bescheid; er wird mich nicht mehr belästigen.» Sein Kopf fiel auf die Kissen zurück.

Ein paar Tage lang ging es ihm weniger gut. Der Arzt sagte, er habe zu viel Besuch gehabt, und Mrs Weston verschaffte ihren Nerven Erleichterung, indem sie ihrem Mann und Mae eine Standpauke wegen ihrer Gedankenlosigkeit hielt; sie hätten den Jungen erschöpft. Niemandem kam es in den Sinn, Mr Scrimser zu beschuldigen, der nur kurz den Kopf hereingesteckt und eines seiner Scherzchen gemacht hatte. Mrs Weston hätte bezeugen können, dass ihr Vater höchstens zwei Minuten im Zimmer gewesen war. Mr Scrimser war in ganz Euphoria als geübter Gemütsaufheller bekannt. Er benahm sich im Krankenzimmer stets taktvoll und war sehr gesucht, wenn es darum ging, in den langen Stunden der Genesung Heiterkeit zu verbreiten. Als er das Haus verließ, sagte seine Tochter: «Du musst morgen wiederkommen und Vance ein Lachen entlocken», und Mr Scrimser entgegnete mit seiner dröhnenden Stimme: «Du kannst auf mich zählen, Marcia – wenn er nicht zu beschäftigt ist, um Besuch zu empfangen.» Aber er kam kein zweites Mal, und Mrs Scrimser ließ ausrichten, er habe wieder Ischiasschmerzen; mal sehen, ob die Gebete des Wohltätigkeitszirkels etwas hülfen.

Drei Tage nach dem Besuch des Großvaters bat Vance, der jetzt in einem Sessel saß, die Mutter um Papier und Füllfederhalter. Mrs Weston, für die sämtliche schriftstellerischen Tätigkeiten, und sei es das Verfassen von Briefen, unsägliche Mühsal bedeuteten, protestierte. «Was musst du denn jetzt schreiben? Davon bekommst du nur Kopfweh.» Aber Vance erwiderte, er wolle nur etwas notieren, und sie gab ihm das Gewünschte. Als sie fort war, nahm er den Füller und schrieb quer übers Papier: «Hol ihn der Teufel – ich hasse ihn – ich hasse – hasse – hasse …» Es folgte eine lange Zeile mit obszönen, blasphemischen Drohungen.

Seine Handschrift war noch zittrig, aber er malte die Buchstaben langsam und sorgfältig, mit einer Art von morbider Befriedigung. Er glaubte, wenn er sie niederschriebe, würde sich auf geheimnisvolle Weise das furchtbare Gefühl des Verlassenseins auflösen, das erneut von ihm Besitz ergriffen hatte, seit er ins Leben zurückgekehrt war. Aber nach dem ersten Wutausbruch empfand er keine Erleichterung, und er versank wieder in der Einsamkeit, die ihn seit jenem Nachmittag, als er am Zaun gelehnt und über das Ahornwäldchen zum Fluss geblickt hatte, von seinesgleichen absonderte. Doch er musste sich Erleichterung verschaffen, und zwar sofort, andernfalls konnte er diese abscheuliche Angelegenheit namens Leben gleich hinschmeißen. Er schloss die Augen und versuchte sich auszumalen, dass er wieder gesund war und den gewohnten Verrichtungen und Vergnügungen nachging, und zutiefst angewidert wandte er sich von dieser Vorstellung ab. Das edle Antlitz der Welt war besudelt; er empfand zum ersten Mal den qualvollen Schmerz der Jugend über eine solche Entweihung.

Seine Not war unerträglich. Er fühlte sich wie ein Gefangener, eingemauert in eine dunkle, luftlose Zelle, und die Wände dieser Zelle waren die Wirklichkeit, waren das Leben, zu dem er in Zukunft verurteilt war. Der Drang, das alles hier und jetzt zu beenden, ergriff Besitz von ihm. Er hatte die Angelegenheit geprüft und für mangelhaft befunden; er hatte eine Runde gedreht und war vom Ekel gewürgt zurückgekommen. Das Nichts des Todes war besser, tausendmal besser. Er stand auf und ging schwankend durchs Zimmer zur Tür. Er wusste, wo der Revolver seines Vaters lag. Mrs Weston hatte einen einzigen wunden Punkt, sie fürchtete sich vor Einbrechern, und so hatte ihr Mann in der Nachttischschublade zwischen den Betten immer einen Revolver liegen. Vance mühte sich den Flur entlang und stützte sich dabei an der Wand ab. Das Haus war still und leer. Seine Mutter und die Mädchen waren ausgegangen, und die Litauerin arbeitete sicher unten in der Küche. Er kam zum Schlafzimmer seiner Eltern, wankte zu dem Tischchen zwischen den Betten und zog die Schublade auf. Der Revolver war nicht da.

Vance schwindelte es. Er hätte woanders nachschauen, ihn suchen können … aber ihn überkam eine plötzliche Schwäche, und er setzte sich auf den nächsten Stuhl. War das die Schwäche des Rekonvaleszenten oder der heimliche Widerwille, die Suche fortzusetzen, die uneingestandene Angst, er könne finden, was er suchte? Das fragte er sich und bekam keine Antwort. Doch als er so dasaß, wurde ihm bewusst, dass er sogar auf der stockend zurückgelegten Strecke von seinem Zimmer bis zu der Stelle, wo, wie er glaubte, der Tod auf ihn wartete – dass er selbst auf diesem Weg, der räumlich so kurz und zeitlich so lang war, gespürt hatte, wie das Leben, die Urmutter, die Arme nach ihm ausstreckte, ihn umschlang und wieder fest an den mächtigen, unbekümmerten Busen drückte. Er war froh – jetzt war er froh –, dass er die Waffe nicht gefunden hatte.

Er kroch zurück in sein Zimmer und zu seinem Sessel, zog sich die Decke über die Knie und blieb dort sitzen, schwach und verängstigt. Sein Herz pochte noch immer krampfhaft. Es war unglaublich, was für einen Feigling die Krankheit aus ihm gemacht hatte. Aber er war entschlossen, sich nicht geschlagen zu geben, keinen faulen Kompromiss zwischen seiner Furcht vor dem Leben und seiner noch ärgeren Furcht vor dem Tod zu akzeptieren. Wenn es galt zu leben – gut, dann würde er leben!

Das Schreibpapier lag auf dem Tisch neben ihm. Er drehte das Blatt um, auf das er seine besinnungslosen Flüche gekritzelt hatte, und saß mit dem Füller vor dem weißen Papier. Dann schrieb er langsam und sorgfältig oben auf die Seite: «Ein Tag». Ja – das war der richtige Titel für die Geschichte, die er erzählen wollte. Ein Tag hatte genügt, um sein Leben zu zerschmettern.

4

Als Mrs Weston beim Frühjahrsputz, der sich durch Vance’ Krankheit beklagenswert lang hinausgezögert hatte, alte Weihnachtskarten durchblätterte, stieß sie auf ein Bild, das Eisboote auf dem zugefrorenen Hudson zeigte, und sagte: «Lucilla Tracy … ach, auf diese Karte hat sicher niemand geantwortet …»

Die Ärzte empfahlen Vance wegen der Hitze eine Luftveränderung; er solle sich an einen Ort verziehen, der ihn auf andere Gedanken bringe. Neunzehn sei ein schlimmes Alter für eine derartige Erschütterung, es brauche Zeit, bis ein heranwachsender Körper nach einem solchen Aufruhr wieder ins Lot komme. Bis zum Herbst solle die Familie lieber nicht verlangen, dass sich der Junge nach einer Arbeit umsehe – sie solle ihn in den heißen Monaten einfach in Ruhe lassen, wenn möglich irgendwo am Meer.

Das Meer kam der Familie Weston sehr weit weg vor, besonders Mrs Weston, die sowieso nie begriff, wie jemand, dessen Wohnzimmerfenster auf die Mapledale Avenue in Euphoria ging, jemals den Wunsch verspüren konnte, woanders hinzureisen, und sei es nach Chicago. Aber sie hatte sich um den Jungen geängstigt, und ihr Mann ängstigte sich, wie sie wusste, immer noch. Die beiden berieten sich und beschlossen, Vance selbst entscheiden zu lassen, wo er hinwollte. Der Vater stellte ihm die Frage, und Vance antwortete sofort: «New York.»

Eine niederschmetternde Mitteilung. New York war fast so weit weg wie Europa, zehnmal so teuer und im Sommer so heiß wie Chicago; dort ging man hin, wenn man ein Vermögen gemacht hatte, dort ließ man es sich mit seiner Familie eine Woche gut gehen, wenn man ein glänzendes Geschäft abgeschlossen hatte. In solchen Kategorien dachte Mr Weston. Seine Frau bemerkte mit nervös gerunzelten Lippen, eine so lange Reise würde Vance ermüden und schon im Voraus allen Nutzen der verordneten Ruhepause zunichtemachen. Und wenn das Meer zu weit weg sei, warum dann nicht die Großen Seen? Dort sei die Luft gewiss ebenso erholsam. Und dort würde sich die Familie um ihn kümmern. Wenn Vance zu den Seen wollte, würde Vater sie wahrscheinlich alle dorthin mitnehmen. Sie warf ihrem Mann einen Blick zu, der ihn auf der Stelle zustimmen ließ.

Aber Vance antwortete bleich und halsstarrig wie stets seit seiner Krankheit: «Ich möchte nach New York. Von dort aus gelangt man ziemlich leicht ans Meer.»

Mr Weston lachte. «Ja, aber es ist verdammt schwer, erst mal dorthin zu gelangen.» Vance schwieg, und die Familie tauschte ratlose Blicke. In diesem Augenblick kam Mrs Scrimser hereingehumpelt, von ihrem Rheumatismus geheilt (dank der Gebete des Wohltätigkeitszirkels, die bei ihrem Mann leider keinen Erfolg gezeitigt hatten), aber den großen, üppigen Körper wie immer schwerfällig auf ihren Stock gestützt. Sie setzte sich zu den anderen auf den Schlafbalkon, wo Vance inzwischen seine tägliche Liegekur absolvierte, lauschte den verständnislosen Berichten der Familie und sagte mit ihrem träumerischen, prophetischen Lächeln: «Der Mensch wünscht sich nur einmal im Leben etwas so dringend, dass nichts auf der Welt es ersetzen kann. Ich würde mich nicht wundern, wenn wir dem Glück niemals mehr so nahekommen wie mit einem solchen Wunsch.» Sie ließ ihren sanften, humorvollen Blick zu ihrem Enkel wandern. «Ich würde sagen, Vanny muss nach Osten reisen.»