Ein Arzt für jede Welle - Reinhard Friedl - E-Book

Ein Arzt für jede Welle E-Book

Reinhard Friedl

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Beschreibung

Geschichten aus dem schwimmenden Krankenhaus

Ein Kreuzfahrtschiff ist eine eigene kleine Welt – mit Restaurants, Theatern, Maschinenräumen und natürlich auch einem Krankenhaus. Hier arbeitet Schiffsarzt Priv. Doz. Dr. med. Reinhard Friedl und erlebt Tag für Tag, was Medizin auf hoher See bedeutet: Nicht nur Schnupfen, sondern auch Notfälle, rätselhafte Krankheitsverläufe und überraschende Diagnosen. Immer wieder ist detektivischer Spürsinn gefragt. Ist es wirklich ein Herzinfarkt – oder steckt etwas ganz anderes dahinter?

Mit Witz, Tiefgang und viel Einfühlungsvermögen erzählt Dr. Friedl aus dem Alltag auf See. Ein faszinierender Blick hinter die Kulissen eines Berufs, in dem Menschlichkeit und Mitgefühl an erster Stelle stehen – selbst mitten auf dem Ozean.

Eine Reise um die Welt, eine Philosophie des Lebens. Da sind alle großen Lebensthemen zwischen Liebe und Tod mit im Boot.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Priv. Doz. Dr. med. Reinhard Friedl verwirklicht sich einen lang gehegten Traum: Er tauscht den sterilen OP-Saal gegen die Weite des Ozeans und wird Schiffsarzt auf der Mein Schiff-Flotte. Doch schnell erkennt er: Hinter der Kreuzfahrtkulisse verbirgt sich ein hochkomplexes, präzise abgestimmtes System – und er ist nun mittendrin.

Das Bordhospital beinhaltet eine Hausarztpraxis, Notaufnahme, Intensivstation und OP. Ob Seekrankheit oder Knochenbruch, Verbrennung oder lebensbedrohlicher Notfall – gemeinsam mit seinem Team versorgt Dr. Friedl täglich Gäste und Crewmitglieder aus aller Welt und erlebt medizinische Grenzsituationen ebenso wie bewegende Menschlichkeit.

Mit Herz, Humor und einem feinen Gespür für seine Patienten erzählt er von dramatischen Momenten und wertvollen Erkenntnissen. Und ganz nebenbei gibt er viele wertvolle Tipps für die Gesundheit an Bord.

Autor*in

Priv. Doz. Dr. med. Reinhard Friedl ist Herzchirurg mit langjähriger Erfahrung – vom Operieren frühgeborener Babys bis hin zur Implantation von Kunstherzsystemen. Heute verfolgt er einen integrativen Ansatz, der moderne Herzmedizin mit Bewusstseinsforschung und komplementären Heilmethoden verbindet.

Mit seiner Praxis Herzzeit und mehreren erfolgreichen Buchveröffentlichungen widmet sich Dr. Friedl heute ganzheitlichen Fragen rund um Gesundheit und Heilung. Ein besonderes Herzensprojekt führt ihn regelmäßig aufs Meer: Als Schiffsarzt der Mein Schiff-Flotte reist er um die Welt. In seiner Funktion als Fleet Senior Doctor trägt er zudem medizinische Verantwortung für alle Schiffe der Flotte und steht TUI Cruises als zentraler Ansprechpartner in Gesundheitsfragen zur Seite.

Shirley Michaela Seul hat als freie Autorin und Co-Autorin zahlreiche Bücher veröffentlicht.

Außerdem von Dr. Reinhard Friedl im Programm

Der Takt des Lebens

Blut – Der Fluss des Lebens

auch als E-Book erhältlich

DR. REINHARD FRIEDL

mit Shirley Michaela Seul

EIN ARZT FÜR JEDE WELLE

Kreuzfahrt zwischen Lebensgefahr und Liebeskummer, vom Nordkap bis New York

Ein Schiffsarzt erzählt

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Juli 2025

Copyright © 2025: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Eckard Schuster

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®; München, Autorenfoto: Reinhard Friedl

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

IJ ∙ CF

ISBN 978-3-641-32340-0V003

www.goldmann-verlag.de

Viel zu spät begreifen vieledie versäumten Lebensziele.Freude, Schönheit der Natur,Gesundheit, Reisen und Kultur.Darum, Mensch, sei zeitig weise!Höchste Zeit ist’s! Reise, reise!

Wilhelm Busch zugeschrieben

Die in diesem Buch beschriebenen Patientenschicksale basieren auf wahren Begebenheiten. Angaben zu Personen wie Geschlecht, Alter, Lebensumstände sowie Dialoge und Orte der Handlung wurden verändert. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Dies ist auch kein medizinisches Lehrbuch. Das Stellen einer Diagnose und das Durchführen einer Therapie können ausschließlich durch einen Arzt erfolgen.

Für Daniela, deren blaues Herz nach jedem Sturm wieder Segel setzt

Inhalt

Prolog: Klar zur Wende

Auf neuem Kurs

In den Eingeweiden des Schiffs

Das Bordhospital

Patientenflut

Das Traumschiff in echt

Die Weltenwanderung

Wetten, dass …?

Auf in den Kampf

Deck 13

Weniger ist Meer

Die große Freiheit

Der mysteriöse Abschiedsbrief

Die Wellen der Lust

Mutterliebe

Die Stürme des Lebens

Dunkle Wolken

Big Banana

Next Port Airport

Schiffbruch

Sonnenschein um Mitternacht

Alarmstufe Rot

Blinde Passagiere

Heimathafen

Fernweh

Ich war noch niemals in New York

Volldampf

Aspirin-Express

Die letzte Reise

Flottenarzt

Ganz große Oper

Die Göttin Hygieia

Der Klang des Herzens

Der große Spuck

Kein Waldspaziergang

Das Meer im Blut

Mau Mau

Alltag im Bordhospital

Harte Nüsse und magische Pilze

Noch mal zwanzig

Außer Kontrolle

Der Wanderzirkus

Das blaue Wunder

1001 Nacht

Eine schöne Bescherung

Die Geister der vergangenen Weihnacht

Der Medicus

Anatomie eines Schiffs

Heavy Metal

Oh, wie schön ist Panama

Kleine Fische

Wilde Herzen

Hühnersuppe

Adiós Adi

Wir sehen uns auf der nächsten Welle

Das Wunder von Civitavecchia

Die Reise des Lebens

Dank

Prolog: Klar zur Wende

Alle Menschen haben einen Traum vom Leben. In unserer Kindheit ist er noch ganz groß, und wir möchten Fußballer werden, Popstar, Rennfahrerin, Zirkusclown, Fußballprofi oder Lokomotivführerin. Die meisten vergessen ihre Träume unterwegs, das Leben hatte andere Pläne. So war es auch bei mir.

Bis an einem Nachmittag vor einigen Jahren wie aus einer tiefen Narkose ein alter Traum in mir erwachte. Nach einem langen und kräftezehrenden Eingriff am Herzen eines Mannes in meinem Alter vibrierte mein Handy, just in dem Moment, als ich mich in der Umkleide aus der grünen OP-Kluft schälte. Eine befreundete Herzchirurgin schickte mir per SMS eine Annonce, die an ihrer Klinik an die OP-Tür gepinnt war:

Suche Job für Freitagnachmittag und Samstagvormittag. Pro Tag 50 Euro. Mache alles – außer operieren.

Ein Scherz gewiss, der mich lachen ließ und doch zum Weinen war, weil er eine schmerzhafte Wahrheit enthält. Wenn man jahrzehntelang Herzen operiert hat, fühlt man sich irgendwann selbst wie ausgeblutet. Das liegt nicht an der Herzchirurgie an sich, die auch nach vielen Jahren äußerst erfüllend für mich war. Aber immer mehr Bürokratie und immer weniger Zeit für die Patienten, die wie Maschinen mit einem Pumpendefekt behandelt werden, verleideten mir meinen geliebten Beruf. Ich litt unter den angeblichen Sachzwängen, weil Kostendruck und Personalmangel menschlichem Miteinander und Mitgefühl die Luft abdrehten. So hatte ich mir das vor dreißig Jahren nicht vorgestellt, als ich die Kunst erlernte, Herzen zu heilen.

Doch dann frischte der Wind in meinem Leben auf. Viele Überstunden und ein Jahresurlaub ermöglichten es mir, einen lang gehegten Lebenstraum zu erfüllen: über den Atlantik zu segeln.

Während der wochenlangen Überfahrt auf einer 15-Meter-Jacht hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, und immer mal wieder kreuzten wir das Kielwasser von Kreuzfahrtschiffen. Wie das wohl wäre, auf so einem Schiff, auf dem Meer zu arbeiten? Das blaue Meer gegen den blau gestrichenen, fensterlosen OP-Raum zu tauschen? Das Rauschen der Klimaanlage gegen Wellenrauschen? Aber wie und wo? Und was würde aus meiner Reputation als Herzchirurg werden, wozu die jahrelange, extrem harte Ausbildung? Und außerdem, für mich als typischen Jachtsegler war Kreuzfahrt keine richtige Seefahrt, sondern Massentourismus. Ich hatte keine Ahnung davon, wie spannend und entspannend so eine Seereise sein kann, und erst recht keinen blassen Schimmer vom Alltag eines Schiffsarztes. Doch in dem Sommer, als mein Vater starb, wurde mir sehr klar, dass es ein Leben vor dem Tod gibt und dass es auch einmal zu spät sein kann.

Der Kopf denkt, aber das Herz weiß. Und das wollte Seemann werden. Meine Animositäten, was Kreuzfahrten betraf, warf ich über Bord. Vorurteile vernebeln nur die klare Sicht. Menschen brauchen überall einen Arzt. Auch auf hoher See. So absolvierte ich alle nötigen Zusatzausbildungen und schipperte den Herzchirurgen etappenweise in den Hafen des Schiffsarztes. Und auf jeder Etappe spürte ich: Ja, das ist es. Mein Herz wollte nicht blaumachen, sondern arbeiten, um zu leben.

Ich heuerte bei der Kreuzfahrtgesellschaft TUI Cruises an – die große weite Welt winkte. Mein Leben war klar zur Wende! Sie begann im Frühling 2017 in Civitavecchia, wo ich an Bord der Mein Schiff 1 auf neuen Kurs gehen würde.

Auf neuem Kurs

Der Flug zu meinem ersten Einsatz landete mit zwei Stunden Verspätung. Am Flughafen in Rom erwartete mich am Ausgang des Terminals ein Fahrer mit schwarzem Anzug und Sonnenbrille. Das Schild mit meinem Namen hielt er am schlaff hängenden Arm. So stand er kopf. Wie mein Leben.

»Dr. Friedl?«, fragte er.

Mein freundliches Nicken erwiderte er mit einem genervten »Madonna Misericordia!« – Barmherzige Maria! –, drehte sich um, rief mir über die Schulter »Come!« zu, komm, und eilte voraus in die Tiefgarage.

Im Weiteren schwieg er, was mir gerade recht war, so konnte ich während der rasanten Fahrt in einem Kleinbus im Ferrari-Modus durch die Hügel der sonnigen italienischen Provinz meinen Gedanken nachhängen und der großen Frage: Was würde mich erwarten?

Hinter einer Bergkuppe erschien das Mittelmeer wie ein weit ausgebreiteter blauer Mantel, auf dessen Oberfläche schimmernde Wellen leichte Falten warfen, in die eine strahlende Sonne leuchtende Glitzersteine hineinwob. Ich empfand eine tiefe Freude ob dieses Wiedersehens, und es war genauso wie beim ersten Mal. Damals fuhr ich, gerade achtzehn Jahre alt und frisch verliebt, mit meiner Freundin in einem klapprigen Ford Fiesta nach Kroatien. Das Meer und ich … es war Liebe auf den ersten Blick, eine Beziehung, die bis heute anhält, und sie ist auch meine längste.

Einen groben Kontrast zu seiner blauen Erhabenheit und Schönheit bildete Civitavecchia, auf Deutsch »alte Stadt«, der wir uns nun näherten. Von alt war nichts zu sehen. Wie mir schien, hatte sie sich in der Neuzeit zu einer außerordentlich hässlichen Industrie- und Hafenstadt entwickelt. Dass ich hier eines Tages mein ganz persönliches Wunder erleben sollte, davon ahnte ich nichts. In einem zähen Strom aus Lastwagen und Bussen quälten wir uns vorbei an gewaltigen Gas- und Erdöltanks und schoben uns schließlich im Schritttempo über eine gigantische Betonpier von mehreren Kilometern Länge. Ein absurd hässliches Bollwerk aus Stahl und Zement, das den Hafen gegen das Tyrrhenische Meer abschirmt und dessen Mauer so hoch ist, dass sein blauer Glanz überhaupt nicht mehr zu sehen war. Im Inneren des Hafenbeckens festgemacht, lagen hintereinander acht »Raumschiffe« aus Stahl und Glas, so erschienen mir diese futuristischen schwimmenden Giganten. Wie Satelliten des Raumschiffs Erde, startklar aufgereiht in einem Weltraumbahnhof. Am Bug eines ozeanblauen Schiffs, das sich vergleichsweise zierlich im Vergleich zu den anderen Megapötten ausnahm und fast ein bisschen old fashioned erschien, stand in geschwungener Schrift: Mein Schiff 1. Eine elegante Lady alter Schule, weniger protzig, elegante Decks und ästhetische Linien, gekleidet Ton in Ton mit der Farbe des Meeres an diesem Tag. Ich fand sie auf Anhieb … schön! Während andere Schiffe lediglich den Schiffsnamen auf der Außenhaut trugen, zierten sie etliche Tattoos in Schreibschrift, von denen ich im Vorbeifahren einige erhaschte: Meerblick, Erlebnisse, Horizonte, Neuland, Erlebnisse … und Gelassenheit. Sie klangen wie ein Versprechen.

Mein schweigsamer Fahrer wendete scharf, stoppte, stieg aus, wuchtete meine Reisetasche aus dem Kofferraum, knallte sie auf die Pier, wies mit dem Kopf diffus Richtung Schiff und sagte »Go«. Dann brauste er davon. Wie bestellt und nicht abgeholt, stand ich auf dem Kai. Ich hatte Menschenmassen erwartet, doch alles, was sich vor der Mein Schiff 1 tummelte, war ein einsames Partyzelt. Darunter zwei Beine. Beim Näherkommen erkannte ich, dass sie zu einem Wachmann gehörten, der im Schatten hinter einem Pult döste. Ich fühlte mich wie in einem Italowestern. Es war früher Nachmittag und bestialisch heiß, die Luft flimmerte auf dem trostlosen Betonfundament. Hätte dieser Sheriff einen Cowboyhut aufgehabt und auf einer Mundharmonika die einsame Melodie des Liedes vom Tod gespielt, es hätte mich kein bisschen gewundert. War es meine überbordende Fantasie, die diesen alten Kinohit auf die Leinwand in meinem Gehirn zauberte, oder begann ich aufgrund von Wassermangel zu halluzinieren? Viel getrunken hatte ich noch nicht heute, die Zunge klebte mir am Gaumen.

Zögernd betrat ich das Partyzelt, langsam öffnete der Sheriff ein Auge. Ich wusste nicht, dass ich seine heilige Mittagsruhe störte, dass es auf dem Schiff eine inoffizielle Offiziersruhe gibt, in deren Schatten sich auch Nichtoffiziere gern entspannen. Die Arbeitstage beginnen für viele Crewmitglieder früh und dauern oft bis weit nach Mitternacht. Da braucht es eine anständige Mittagspause.

»Passport!«, forderte der Sheriff. Ich kramte ihn aus dem Handgepäck, er suchte meinen Namen in einer Liste. Anstelle eines Colts zog er mit der linken Hand einen Scanner aus seinem Gürtel und checkte mich ein. Mit der schnellen Rechten zückte er von der anderen Gürtelseite sein Handy, »jetzt doppelt bewaffnet«, plapperten meine trockenen Gehirnzellen, und sagte mit heiserer Stimme zu irgendwem: »The new Doc arrived«, der neue Doc ist da. Mich wies er an: »Wait«, warte.

Der Schweiß rann mir vom Nacken den Rücken hinab. Ich war völlig falsch gekleidet mit weißem Hemd und blauem Anzug und fühlte mich wie abgestandenes Kompott, das in der Hitze langsam zu gären anfing. Der Wachmann hatte sich wieder gesetzt, ließ mich nun allerdings trotz gesenkter Lider nicht mehr aus den Augen. Lag es daran, dass ich seiner Wasserflasche begehrliche Blicke zuwarf?

»Wo sind die Gäste?«, fragte ich ihn linkisch, um unser Kennenlernen ein bisschen aufzulockern. Er wies mit dem rechten Arm in eine unbestimmte Richtung hinter sich: »Roma«, das verstand ich. Das nachgeschobene »Aeroporto« bestand fast nur aus einem grollend gerollten R.

Unsere zarte Unterhaltung war damit wohl beendet. Da ich selbst kein Freund von großen Worten bin und chirurgisch-knappe Kommunikation bevorzuge, war mir das gerade recht, und ich nutzte die Gelegenheit, mich auf der Pier umzusehen.

In den Eingeweiden des Schiffs

Etwas weiter vorne hievte ein Kranwagen von fünf aufgereihten Sattelschleppern Stahlcontainer herunter, aus denen wiederum Gabelstapler emsig aufgetürmte Paletten herausholten und sie flink umeinander kurvend in der faszinierenden Choreografie eines Ameisenhaufens in die seitlichen Öffnungen der Mein Schiff 1 bugsierten. Ob da wohl was zu essen drin war? Allmählich meldete sich auch mein Magen, und ich fühlte mich nicht nur overdressed und ausgetrocknet, sondern auch unterzuckert.

Nach etwa zwanzig Minuten, in denen ich stehend saunierend dieses Spektakel beobachtete, kam eine junge Frau in Uniform mit zwei silbernen Streifen auf den Schultern zu mir. Crew Admin stand auf ihrem Namensschild in Brusthöhe. Ich reimte mir zusammen, dass sie der Personalabteilung des Schiffs angehörte.

»Hallo, du bist der neue Doc, richtig?«

Ich nickte.

»Ich bin Barbara, komm mit«, war ihre knappe Ansage, dann drehte sie sich ruckartig um 180 Grad und hastete über die Gangway aus Edelstahl zurück aufs Schiff. Ich versuchte, ihr zu folgen, was bei ihrem Tempo und mit der schweren Reisetasche, die ich hinter mir herschleppte, eine Herausforderung war. Ein freundliches Willkommen stellte ich mir anders vor, und zarte Zweifel beschlichen mich, ob meine Entscheidung, hier anzuheuern, richtig gewesen war. Würde die Mein Schiff 1 mein Schiff werden, oder war das Unternehmen Schiffsarzt dem Untergang geweiht?

Bevor ich endgültig das Schiff betrat, blieb ich für einen Moment stehen, sah an der steil über mir aufragenden Bordwand hoch und überlegte, ob ich umdrehen und gehen sollte. Vermutlich würde mir der Wachmann nicht in den Rücken schießen. Bei diesem Gedanken musste ich lächeln, ich fand das irgendwie witzig, und es half. Humor hilft fast immer.

Mit einem beherzten Schritt betrat ich das Schiff und landete in einer Art Vorraum. Barbara wartete nervös trippelnd, umwölkt von den ähnlich genervten Auren des Taxifahrers und des Wachmanns, und wuchtete dann energisch und mit vollem Körpereinsatz eine schwere Stahltür auf. Ich stand am Beginn eines endlos langen Korridors aus Stahl. Eine heftige Welle intensiver Gerüche brandete an meine Nasennerven, ein Gemisch aus Essen, chemischer Reinigung, den Völkern der Welt und Wagenschmiere. Türkisblaues Wasser und Tropenparadies duften anders. Hier dominierte olfaktorisch der Geruch harter Arbeit.

Im Schlingerkurs umschiffte ich Menschen vielerlei Hautfarben und Ethnien, die mir in turbulentem Gegenverkehr entgegenschwappten, während ich Barbara stromaufwärts folgte. Sprachen vieler Damen und Herren Länder vereinten sich zu einem kakofonen Grundrauschen und hallten vielfach von den Stahlwänden wider. Mir schien, ich hatte die große Weltenstraße betreten, bevölkert von Arbeitern im ölverschmierten Overall, Akrobaten und Artisten in Paradiesgewändern, Servicekräften in adretten Uniformen, dazwischen vereinzelt Offiziere in makellosen Hemden, deren Schultern mit Gold- und Silberstreifen dekoriert waren. Im Strom der vielen Eiligen flockten kleine Gruppen in Freizeitkleidung und Flipflops an den Füßen aus, die im Schlendergang langsam groovend in seitlichen Fluren verschwanden, die Namen trugen wie Orchid Road oder Millerntor und die ethnische und sprachliche Diversität auf diesem Schiff widerspiegelten. Am liebsten wäre ich selbst geflipflopt und hätte mir alles ganz genau angeschaut. Mit staunenden Kinderaugen drehte ich den Kopf in alle Richtungen und rannte frontal in Barbaras Rücken, die stehen geblieben war. Prüfend sah sie mich an, dann lächelte sie das erste Mal, als ahnte sie, was in mir vorging.

»Dein erster Vertrag?«, fragte sie.

Ich nickte.

»Na, sag das doch gleich! Und sorry, dass ich es so eilig habe, aber ich bin seit vier Uhr morgens auf den Beinen. Heute haben wir großen Wechseltag. Fünfzig Crewmitglieder haben das Schiff verlassen, und ebenso viele sind neu aufgestiegen. Also, zur Orientierung: Wir befinden uns auf der I 95, benannt nach dem gleichnamigen Highway Interstate 95, der sich entlang der Ostküste von Florida bis Kanada erstreckt, über die gesamte Länge der USA. Und so ist es hier auch, hier geht es einmal ohne Unterbrechung vom Bug bis zum Heck. Aber weil es ein deutsches Schiff ist, nennen wir die Strecke auch ›Autobahn‹, hier ist immer Rushhour, immer was los, das Schiff schläft nie. Am Anfang ist es ein bisschen unübersichtlich, aber du wirst dich schon zurechtfinden.«

»Bestimmt«, antwortete ich, ohne es zu glauben.

Barbara fuhr fort: »Da hinten ist die Provision, da lagern tonnenweise Würste, Käse, Eier und Gemüse. Im Kühlhaus werden Fleischpakete mit einer Bandsäge zerteilt. Da kommt es gelegentlich zu Arbeitsunfällen. Das ist dann dein Job. Heute hatten wir Loading, fast 200 Tonnen Lebensmittel, Klopapier, Bier, eben alles, was man zu einem Urlaub braucht. Wir befinden uns jetzt im Bauch des Schiffs, da drüben wird der Müll verarbeitet, da ist die Wäscherei, weiter vorne sind Werkstätten und unter uns«, sie stapfte mit dem Fuß auf den Boden, »die Engine, der Maschinenraum.«

Ich fand das alles hoch spannend. Bis dato hatte ich keine Ahnung von Gastronomie und Tourismus, verstand aber intuitiv, dass ich mich hinter der Bühne eines Theaters befand, auf der ein Stück mit Namen Rundum sorglos auf Kreuzfahrt, alles inklusive aufgeführt wurde. Die Gäste sehen nur die Kulisse, eine traumhafte Inszenierung, die spannend, unterhaltsam, harmonisch und perfekt dargeboten wird. Dahinter wird in einer überaus komplexen Orchestrierung gearbeitet und gelebt. Wie in jedem Theater, in jeder Oper. Mir kam es vor, als sei dieser Stahlkorridor mit Namen »Autobahn« die große Körperschlagader des Schiffs, hier strömte menschliche Energie, pulsierte das Innerste eines Organismus mit dem Namen Mein Schiff 1.

»Wie viele …«, ich suchte nach dem richtigen Wort, »Matrosen sind hier an Bord?«

Barbara lächelte nachsichtig. »Unsere Bordsprache ist Englisch, wir sagen Sailor, also Seemann, oder einfach Crew. Im Augenblick sind wir 900 Crewmitglieder, die für das Wohl von rund 2000 Paxen sorgen.«

»Paxe?«

»Jeder Gast ist ja ein Passagier, als solcher wird er in den Unterlagen englisch mit Pax für Passenger, also Gast, abgekürzt. Wie auch auf jedem Flugticket. An Wechseltagen müssen wir jedoch mit deutlich weniger Crew klarkommen, weil viele schon in der Nacht und frühmorgens das Schiff verlassen, um ihre Langstreckenflüge nach Hause zu erreichen, und die Neuen, so wie du zum Beispiel, noch nicht einsatzklar sind. Da müssen wir alle zusammenhelfen. Jomar von der Security, du hast ihn eben kennengelernt, sitzt auch schon eine halbe Ewigkeit da draußen vor dem Schiff in der Hitze.«

Das erklärte, wieso er mir nicht gleich vor Freude um den Hals gefallen war. Ich schämte mich still und heimlich ein bisschen und nahm mir vor, zukünftig nicht so schnell zu urteilen, etwas toleranter zu sein, und vor allem musste ich die Abläufe auf dem Schiff verstehen.

»Du bist einer der letzten Neuen, und ich habe noch unendlich viel Papierkram zu erledigen«, fuhr Barbara fort, und damit betraten wir ein kleines, stickiges und fensterloses Büro, in dem sie mir ein zehnseitiges Formular reichte. »Bitte durchlesen, ausfüllen und unterschreiben.«

Ich hatte auf etwas zu trinken gehofft, wollte der Kollegin aber keine Umstände machen und füllte mit sandigem Mund die kleinen Kästchen in den Formularen aus. Wie viel Bargeld ich dabeihatte, dass mir bewusst war, dass ich nie zu spät kommen durfte, dass ich im Gästebereich nicht rauchen und nicht in Zivilkleidung herumgehen durfte, außer im Crewbereich und so weiter.

Dann machte Barbara ein Foto von mir für meine Crewkarte, die sie mir abschließend in die Hand drückte. »Diese Karte ist dein Schlüssel, damit ist alles erledigt, nun bist du Crew, einer von uns.«

Sie lachte. »Und ach ja, hier in der Ecke die Wasserflaschen, von denen kannst du dir zwei nehmen, die erhält jedes an Bord kommende Crewmitglied direkt.«

Was für eine Wohltat – endlich Wasser! Und weitere Rettung war in Sicht – in Gestalt eines älteren Herren in Uniform, diesmal mit goldenen Streifen, der plötzlich in der Tür stand. Hatte Barbara ihn angefunkt? New Doctor on board? Mit einem herzlichen Lächeln reichte er mir die Hand »Willkommen Reinhard, ich bin Herbert, der Senior Doctor. Wir haben dich schon erwartet, schön, dass du es noch geschafft hast.«

Auch ihn hatte mein Erscheinen aus der Offiziersruhe geholt, doch er ließ es mich nicht spüren. Mit Herbert ging die Sonne auf, und in seinem freundlichen Gesicht voller Lachfalten und kluger Lebenserfahrung ging sie nie unter. Heute noch denke ich an ihn als ein Vorbild, wenn ich Kollegen im Erstvertrag willkommen heiße, mittlerweile als Fleet Senior Doctor, der leitende Arzt für die gesamte Mein Schiff-Flotte. Viele Wellen habe ich seither erlebt … und bin dem Meer treu geblieben. Die Mein Schiff 1 jedoch ist 2018 in Rente gegangen und wurde durch eine gleichnamige Nachfolgerin würdig ersetzt.

»Du willst bestimmt erst mal deinen Koffer loswerden?«, fragte Herbert.

»Ja gern«, sagte ich und dachte: Und was essen.

»Dann komm mal mit.«

Ich folgte ihm, der gemütlich ausschritt über die Autobahn, dann bogen wir ab in den Sunset Boulevard und blieben vor einer Tür stehen mit der Nummer 2051. Zum ersten Mal öffnete ich mein neues Zuhause. Das Zimmer war winzig und seemännisch, und ich fühlte mich sofort wohl. Vor allem das Bullauge über der Koje gefiel mir. Sogleich kniete ich aufs Bett und blickte hinaus, das Meer sah nun noch ein bisschen blauer aus. Genauso hatte ich es mir vorgestellt. Tag und Nacht das Meer sehen, auf dem Meer sein.

»Wow«, sagte ich, »Zimmer mit Aussicht.«

»Kabine«, verbesserte mich Herbert, »auf einem Kreuzfahrtschiff sprechen wir von Kabinen. Es sind auch keine Stockwerke, sondern Decks.«

Da hatte er natürlich recht, und dass eine Kabine mit Aussicht nicht selbstverständlich war, erfuhr ich später auch. Außenkabinen, also Kabinen mit Fenster, sind nur wenigen Offiziersdienstgraden vorbehalten. Die meisten Crewmitglieder wohnen in Innenkabinen, die sie sich oft zu zweit teilen. Oder zwei Einzelkabinen teilen sich ein Bad, das ist dann schon ein bisschen luxuriöser. Nur sehr wenige Dienstgrade genießen das Privileg, Gästekabinen mit Panoramafenster zu bewohnen. Zum Beispiel der Senior Doctor. Und natürlich der Kapitän, ihm steht sogar eine Kabine mit Balkon zu.

Während ich das heute, acht Jahre später, schreibe, sehe ich Bilder einer beliebten aktuellen Schiffsarztserie vor meinem inneren Auge. Da zieht der frisch eingeschiffte Schiffsarzt direkt in eine Gästekabine, in der ihn ein prächtiger Blumenstrauß mit handgeschriebener Karte der attraktiven Kapitänin begrüßt, die sich riesigst freut, ihn baldigst persönlich kennenzulernen. Nun, das hier war keine Serie, sondern das wahre Leben – und heute weiß ich, dass die wirklich spannenden Geschichten hier geschrieben werden; sie liegen nämlich nicht nur auf der Straße, sondern schwimmen auch im Meer. Was mich betraf, so war ich vollständig zufrieden mit meinem kleinen Bullauge, so geräumig wie diese hier war die Kabine auf meinem eigenen kleinen Segelboot nicht. Wer Meer hat, braucht weniger.

Das Bordhospital

»Willst du dich ein wenig ausruhen, oder soll ich dir gleich das Hospital zeigen?«, fragte Herbert rücksichtsvoll. Ich war echt hungrig, brannte aber noch mehr darauf, das Hospital zu sehen, meine neue Wirkungsstätte, und musste nicht lange nachdenken.

»Hospital natürlich«, erwiderte ich und folgte ihm durch verwinkelte Flure und Treppenhäuser.

»Das ist ja ein Labyrinth«, murmelte ich.

Herbert hatte mich gehört. »Eigentlich eher das Gegenteil«, beruhigte er mich. »Ein Labyrinth hat viele blind endende Gänge, die so verschachtelt sind, dass man den Ausgang möglichst nicht findet. Das Schiff ist extra so gebaut, dass im Notfall jede Person immer einen Ausgang findet, kein Flur endet blind, sondern mündet in den nächstgrößeren. Entlang aller Wege leuchten im Notfall kleine Pfeile, die dir immer den Weg nach draußen weisen.«

Ich war beeindruckt, wie viel Hirnschmalz für die Sicherheit der Menschen an Bord verwendet wurde.

»Wir sind jetzt auf Deck 3«, erklärte Herbert und öffnete die Tür zum Bordhospital, dessen professionelle Ausstattung mich überraschte. Das war keine Räumlichkeit mit Verbandskasten und Liege, sondern eine voll ausgestattete Notaufnahme mit zwei ärztlichen Behandlungszimmern, Operationsaal, Intensivstation, Sauerstofflager, Beatmungsgerät, EKG, Röntgenanlage, Sonografie und einem Labor.

Herbert war sichtlich stolz auf das Hospital. »Wir haben die wichtigsten Bestandteile noch einmal als Notfallhospital in Koffern verpackt, das ist aber an einem anderen Ort untergebracht.«

Fragend schaute ich ihn an, und er erklärte: »Es könnte zu einer Katastrophe kommen, ein Feuer könnte ausbrechen, eine Sauerstofflasche explodieren, Wasser eindringen, ein Terrorangriff oder was auch immer könnte passieren. Wenn dieses Hospital mit davon betroffen wäre, könnten wir nicht mehr arbeiten. Deshalb sind wir vorbereitet, jederzeit an einem anderen Ort ein Notfallhospital aufzubauen, um auch einen Massenanfall von Verletzten behandeln zu können.«

Massenanfall von Verletzten, wiederholte ich innerlich. In diesem Moment verstand ich eindrücklich, dass ein Schiff ein vulnerabler Körper ist. Auf sich allein gestellt, fährt dieses Schiff über die Weltmeere. Wenn eine Katastrophe geschieht, sind nicht innerhalb von fünf Minuten die Feuerwehr, der Katastrophenschutz, das Technische Hilfswerk und das Rote Kreuz vor Ort. Nein, wir – zum ersten Mal dachte ich es – sind auf uns allein gestellt. Das Hospitalteam ist Notarztwagen, Notaufnahme, Intensivstation, Operationssaal und Hausarztpraxis in einem. In diesem Wissen war alles an Bord ausgelegt, und deshalb hatte ich in den letzten Wochen vor meiner Einschiffung bereits einen einwöchigen Kurs an einem maritimen Ausbildungszentrum absolviert, in dem von den Grundlagen der Brandbekämpfung bis zum Überleben im Wasser alles geübt wurde, was an Bord Leben retten kann. Wir mussten mit Atemschutzgeräten durch brennende Käfige kriechen, Feuer löschen und in Überlebensanzügen steckend in den winterlichen Warnow-Fluss springen. Damals stöhnte ich innerlich, doch nun wurden mir Grund und Relevanz dieser Ausbildung bewusst.

»Also nicht, dass wir aktiv damit rechnen«, beschwichtigte Herbert. »Ein Kreuzfahrtschiff ist statistisch gesehen das sicherste Verkehrsmittel der Welt. Aber man muss auf jede Situation vorbereitet sein. Du wirst das alles noch kennenlernen und in den nächsten Wochen viele Pflichtfortbildungen an Bord absolvieren. Zudem werden solche Schadenslagen wöchentlich von der gesamten Besatzung gemeinsam geübt.«

»Natürlich«, nickte ich. Katastrophen sind leider nicht vorhersehbar, und manchmal ganz anders, als man denkt. In naher Zukunft sollte schon eine grässliche Pandemie mit Millionen Opfern die Welt erschüttern, die auch die medizinischen Teams der Bordhospitäler vor gewaltige neue Herausforderungen stellen würde. Doch davon ahnten wir in diesem Moment noch nichts. Corona war für uns beide einer von Tausenden Viren, ohne herausragende Bedeutung. Als Herzchirurg verband ich damit zudem eher die Herzkranzgefäße, die auch als Koronargefäße bezeichnet werden.

Für den Chirurgen, Intensivmediziner, Notarzt und Tauchmediziner in mir war dieses Hospital eine herausfordernde Wirkstätte mit erstklassiger Ausstattung. Für lediglich zwei Ärzte und zwei Krankenpfleger, die das Hospital »bespielen«, eine ziemlich große Klaviatur medizinischer Möglichkeiten. Um all diese Instrumente und Apparate sicher zu beherrschen, braucht es viel Erfahrung und Übung. Besonders imposant war die Abteilung Husten, Schnupfen und Halsweh, also Infekte der oberen Atemwege. Sie nahm in der bordeigenen Apotheke mehrere Meter ein: Hustenblocker, Hustenlöser, Schleimlöser, Grippemittel in Form von Tabletten, Säften und Pulver, Nasensprays unterschiedlichster Zusammensetzung, auf pflanzlicher Basis und »mit Chemie«. Das sind ja mehr Medikamente, als es Viren gibt, dachte ich mir. Meine Domäne war bislang die medizinische Großwildjagd mit Operationen, Intensivmedizin und Tauchunfällen, nun würde ich mich auch vermehrt mit den winzigsten Organismen dieser Erde auseinandersetzen müssen.

Nun fragen Sie sich vielleicht: Ist die Luft auf den Ozeanen und Meeren dieser Welt so virenverseucht, dass man gleich einen grippalen Infekt bekommt? Mitnichten! Trotzdem sind Erkältungen auf Kreuzfahrtschiffen keine Seltenheit und können vielerlei Ursachen haben: Tritt man in südlichen Gewässern verschwitzt und aufgeheizt vom heißen Pooldeck ins klimatisierte Innere des Schiffs, kann man sich, im wahrsten Sinne des Wortes, schnell verkühlen. In polaren Gewässern sowieso. Die kühlen Temperaturen sind ein physikalischer Reiz, der uns frösteln lässt: Blutgefäße ziehen sich zusammen, die Schleimhäute der Nase und des Mundes werden weniger durchblutet. Wo kein Blut, da auch kein Immunsystem, und Viren, die überall auf dieser Welt sind, auch auf der Haut jedes Menschen, können sich ausbreiten und haben in den oberen Atemwegen leichtes Spiel. Besonders schnell geht das, wenn sie von außen Verstärkung erhalten und in der Überzahl sind, zum Beispiel in einem geschlossenen Raum (Flugzeug, Bus oder Restaurant), in dem alle husten und schniefen. Auch Langstreckenflüge, bei denen die Nasenschleimhaut austrocknet, und der anschließende Zeitzonenkater, Jetlag genannt, strapazieren das Immunsystem, genauso wie hartes Arbeiten bis zum letzten Tag vor dem Urlaub.

Am Ende der Führung durch das Bordhospital schaute Herbert auf seine Uhr und stellte dann fest: »So spät schon! Dann aber mal schnell! Reinhard, du solltest jetzt sofort zur Sicherheitseinweisung, die jedes Crewmitglied vor dem Ablegen absolvieren muss.« Auch jeder Gast muss an einer kleinen Einweisung teilnehmen, ehe das Schiff ausläuft. Dazu müssen sie sich an einer Sammelstelle einfinden, die sogenannte Musterstation, an welcher sie anhand ihrer Bordkarte identifiziert und gezählt werden. Erst wenn alle Passagiere auf der Liste ihrer Musterstation abgehakt sind, darf die Kreuzfahrt beginnen.

Patientenflut

Die nächsten Tage verbrachte ich fast ausschließlich im Bordhospital, denn ich wollte alles sehen, alles lernen, alles machen. An meinen Senior Doctor Herbert heftete ich mich wie eine Schlingpflanze, er nahm es gutmütig hin und teilte sein großes Wissen kollegial mit mir. Unsere Ärzte an Bord gehören einer der folgenden Fachrichtungen an: Allgemeinmedizin, Anästhesie, Chirurgie oder Innere Medizin. Sie müssen die Befähigung haben zu röntgen, Erfahrung mit Ultraschalluntersuchungen wird ebenso erwartet wie Zusatzqualifikationen für Kindernotfälle, die präklinische Versorgung komplexer Traumata und Notfälle des Herz- und Kreislaufsystems. Insgesamt verfügt die Mein Schiff-Flotte über 200 Schiffsärzte und Pflegekräfte.

Herbert war Allgemeinmediziner mit eigener Hausarztpraxis. Wie die meisten Kollegen verbrachte er ein- bis zweimal im Jahr sechs bis acht Wochen auf dem Schiff und genoss diese Zeit trotz der hohen Verantwortung und vielfältigen Herausforderungen. »So lerne ich die Welt kennen«, sagte er augenzwinkernd. »Letztes Jahr war ich über Weihnachten in der Karibik. Ein Traum!«

»Ja, von so was träume ich auch. Also später mal, wenn ich genauso viel Erfahrung haben werde wie du«, seufzte ich.

»So schwer ist das alles hier nicht, du wirst dich schnell zurechtfinden. Wir haben hier auch jede Menge kleiner Helfer, bei den Medikamenten zum Beispiel die Taste F5 am PC. Schau mal, nur einmal drücken, und schon siehst du Indikationen und Nebenwirkungen der Medikamente für alle möglichen Symptome, zum Beispiel die Grippe.« Er schmunzelte: »Influenza war ja früher eine Erkrankung, heute ist es ein Beruf, den meine Enkelin anstrebt.« Herbert zuckte mit den Schultern und wurde wieder ernst. »Du weißt ja selbst, dass sich viele Patienten von Dr. Google oder eben von Influencern in sozialen Medien beraten lassen. Sie wissen, wie es geht, aber sie können es nicht. Todsichere Geheimtipps haben sie für jedes Leiden auf Lager. Leider kommen dann manche Patienten erst ins Hospital, wenn aus dem grippalen Infekt eine Lungenentzündung geworden ist.«

Ich nickte und schrieb F5 in mein Notizheft. Diese Taste würde mir die Arbeit gewiss erleichtern. Sie bestand aus jeweils 24 Stunden Dienst und dann ebenso langer Freizeit. Die beiden Ärzte an Bord wechseln sich im Einsatz ab. Unterstützt werden sie von zwei bis drei Krankenpflegern oder Notfallsanitätern. An Bord nennen wir sie Nurse. Hierbei wird die Senior Nurse dem Junior Doc zugeteilt und die Junior Nurse dem Senior Doc, sodass immer eine erfahrene Kraft mit einer nicht so erfahrenen zusammenarbeitet. Alle zusammen bilden wir ein Team, in dem jeder Verantwortung übernimmt und den anderen nach seinen Fähigkeiten unterstützt. Sprechstunden im Bordhospital sind von 08:00 bis 11:00 und von 17:00 bis 20:00 Uhr, wobei die jeweils erste Stunde für die Crew reserviert ist. Für sie ist die ärztliche Behandlung im Gegensatz zu den Gästen kostenfrei. Im Augenblick bestand die Crew aus fast Tausend potenziellen Patienten aus 42 Nationen und unterschiedlichsten Kulturkreisen. Und diese haben sehr unterschiedliche Arten, Symptome zu beschreiben. Das lehrte mich gleich zu Beginn eine junge Frau von den Philippinen.

Judy arbeitete als Kosmetikerin im Wellnessbereich und war eine meiner ersten Patientinnen. Die Zwanzigjährige klagte in etwas holprigem, aber melodisch klingendem Englisch über Herzschmerzen. Ich untersuchte Judy gründlich, machte ein EKG, sah mir ihr Herz im Herzultraschall an, und Blut nahmen wir auch ab. Erfreulicherweise war alles unauffällig. Aber was hatte sie? Also befragte ich sie noch einmal von vorne. Nach langem Hin und Her fand ich heraus, dass Judys Herz wegen Heimweh blutete. Meine Patientin hatte ihr zweijähriges Kind in der Obhut ihrer Schwiegermutter zurückgelassen. Und nun tat ihr das Herz weh, sie konnte sogar ganz genau auf die Stelle zeigen. Rechts vom Brustbein, anatomisch in Höhe der Trikuspidalklappe. Diese Herzklappe ist nicht zuständig für Heimweh, aber das war Judys Art, ihren Kummer auszudrücken. Was ich verstehen konnte, schließlich ist das Herz quer durch alle Kulturen Sinnbild für Gefühle. Es kann vor Freude hüpfen und vor Schmerz schier zerspringen. Doch diese blumige Sprache, die beinahe poetische Paraphrasierung des Problems, noch dazu in einer anderen Sprache, war ich damals nicht gewohnt.

Überhaupt bedeutete der Schiffsarztalltag anfangs eine große Umstellung für mich. Als Herzchirurg operierte ich ein bis zwei Patienten pro Tag und reparierte deren Herzklappen, implantierte ihnen Bypässe oder eine neue Körperschlagader. Gewiss konnte eine Operation einmal acht, ja auch zwölf oder sogar sechzehn Stunden dauern, doch die Patienten warteten nicht ungeduldig im Wartezimmer, sondern waren vom Anästhesieteam in tiefen Schlaf versetzt worden. Manchmal hatte ich vor der Operation gar nicht mit ihnen sprechen können, weil sie als Notfälle kamen wie zum Beispiel Hamid, von dem ich in meinem letzten Buch Blut, der Fluss des Lebens erzählt habe. In seiner Brust stak ein Fischmesser.

So augenscheinlich sind die Diagnosen in einer hausärztlichen Schiffsarztsprechstunde leider nicht immer zu stellen. An Bord gehörte es zu meinem Arbeitsauftrag, den Schaden nicht nur zu beheben, sondern ihn erst mal zu finden. »Ich habe Kopfweh« – klingt einfach, doch über die möglichen Ursachen und Therapien allein dieses Symptoms wurden und werden Bücher geschrieben. Ist es ein Sonnenstich oder eine Hirnhautentzündung, eine Hirnblutung oder ein Kater? Paracetamol oder MRT? Hubschrauber oder kalte Kompressen? Ich wollte nichts falsch machen, ich wollte nichts übersehen, aber Gründlichkeit dauert, und ich brauchte während der ersten Sprechzeiten viel zu lange für jeden Patienten. Im Wartezimmer gab es längst keine freien Sitzplätze mehr, die Patienten standen bis in den Flur.

Ohne den hilfsbereiten Herbert, der in den ersten Wochen immer mal wieder reinschaute, wäre ich vor Topp und Takel* untergegangen. Das ist aber auch das Spannende bei der Arbeit als Schiffsarzt. Verschiedene Fachrichtungen arbeiten zusammen, ergänzen sich und lernen voneinander. Herberts Unterstützung war wie ein Crashkurs in Allgemeinmedizin, und bald schon konnte ich schneller herausfinden, wo das Problem liegt. Das war wichtig, denn nicht selten suchen vierzig bis fünfzig Patienten pro Tag Hilfe im Hospital, und man braucht auch noch Zeit für die größeren Notfälle: Stürze mit Knochenbrüchen, Koliken im Bauch, Verletzungen mit Blutungen, Herzinfarkte und Gefäßverschlüsse, Bandscheibenvorfälle, verätzte Augen, Harnverhalt, Atemnot, Schlaganfälle und Verbrennungen. Alles, was man im Medizinstudium jemals gehört hat, kommt früher oder später durch die Türe des Hospitals herein. Weil die Anforderungen und die Verantwortung so hoch und komplex sind, gibt es seit Kurzem auch einen Kurs der Bundesärztekammer, Curriculum Maritime Medizin für Schiffsärzte, das der enormen Verantwortung, die ein Schiffsarzt auf einem modernen Kreuzfahrtschiff hat, diesen vielfältigen Ansprüchen an die ärztliche Kunst, Rechnung trägt.

*vor Topp und Takel: ohne gesetzte Segel

Das Traumschiff in echt

Eine Kunst ist es auch, so ein riesiges Schiff zu führen. Ein Kapitän – es gibt bisher nur sehr wenige Kapitäninnen – durchläuft eine lange Ausbildung und muss sich langsam hocharbeiten. Während des Studiums der Nautik an der Seefahrtschule sammelt er als Kadett erste Erfahrungen und startet dann eine Offizierslaufbahn, die speziell auf Kreuzfahrtschiffen viele Stationen hat: über Decksoffizier, Navigationsoffizier, Sicherheitsoffizier zum Stellvertreter des Kapitäns, dem sogenannten Staff Captain. Das ist entfernt vergleichbar mit einer Ausbildung in der Medizin, wo man mit der bestandenen ärztlichen Prüfung in der Tasche noch keine Herzen operieren darf, sondern die eigentliche Ausbildung erst beginnt, die abermals acht Jahre und länger dauert.

Als Herbert mir nach ein paar Tagen mitteilte, »Heute stelle ich dich dem Kapitän vor«, war ich ein kleines bisschen aufgeregt und folgte ihm auf die Brücke. An Bord gilt eine opendoor policy, man ist willkommen, wenn die Tür offen ist, und weil sie das war, traten wir ein. Der Kapitän – keine Ähnlichkeit mit Sascha Hehn, Siegfried Rauch oder Florian Silbereisen, eher ein bisschen Käpt’n Iglo mit weißem Bart und Lachfalten – sprach in seinem Büro mit dem, wie ich schon wusste, zweitwichtigsten Mann an Bord, dem Chief Engineer, dem Herrn über die Motoren. Abwartend stand ich neben Herbert im Raum und ließ meinen Blick durch das Office schweifen. Neben den großen Monitoren mit digitalen Seekarten und Navigationsinstrumenten hing an der Wand ein Zitat des Schriftstellers und Seemanns Gorch Fock:

Gottes sind Wogen und Wind,

Segel aber und Steuer,

daß ihr den Hafen gewinnt,

sind euer.