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Als Christian Schütz mit seinem chinesischen Geschäftspartner eine Firma gründete, ahnte er noch nicht, dass er damit die Tür zu einer ihm völlig neuen Welt aufstoßen würde. Durch die Geschäftsgründung – und später auch durch die Ehe mit seiner chinesischen Frau – erhielt er tiefe Einblicke in die Kultur und den Alltag Chinas. In seinem Buch erzählt er bildreich von den Höhen und Tiefen seiner geschäftlichen und privaten Kontakte mit Menschen aus dem chinesischen Kulturraum. Das chinesische Wort für Konflikt besteht aus zwei Zeichen: 危 机. Das erste Zeichen bedeutet Gefahr, das zweite Chance. Ein Konflikt wird in China sowohl als Gefahr als auch als Chance wahrgenommen. Der Autor leistet mit seinem Buch einen Beitrag zum besseren Verständnis der chinesischen Gesellschaft und beleuchtet dadurch die geopolitischen Spannungen zwischen Ost und West. Er hofft, dass wir Differenzen weniger als Gefahr betrachten, sondern unterschiedliche Meinungen, Kulturen und Religionen als Chance begreifen.
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Einleitung
Danksagung
K
APITEL
1
Die Vorgeschichte
K
APITEL
2
Der (unsichtbare) Plan
K
APITEL
3
Die Praxis im Betrieb
K
APITEL
4
Meine erste Reise nach China
K
APITEL
5
Die Kunst der Täuschung
K
APITEL
6
Wie mich meine chinesische Frau fand
K
APITEL
7
Die dunklen Wolken verziehen sich nicht
K
APITEL
8
Brücken zwischen Kulturen aufbauen … und Brücken niederreißen
K
APITEL
9
Die Kulturrevolution
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APITEL
10
Meine zweite und weitere Reisen nach China
K
APITEL
11
Das Scheitern einer Zusammenarbeit
K
APITEL
12
Was ich lernte von … Meine Erfahrungen mit Chines*innen
Interview mit Frau Prof. Hongwei Gu zum Thema „Gesundheitsvorsorge ist in der TCM ein wichtiger Pfeiler“
Nachwort
Anlage
Literaturverzeichnis
Als ich am 27. September 2009 mit meinem chinesischen Geschäftspartner die Gründungsurkunde der Firma unterzeichnete, mit der Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin aufgebaut und geführt werden sollten, wusste ich noch nicht, dass dadurch ein Fenster geöffnet wird, das mir Einblick in die unterschiedlichen Bereiche der chinesischen Gesellschaft geben wird. Auch wusste ich damals noch nicht, dass ich zwei Jahre später meine chinesische Frau kennenlernen würde, die mir einen noch viel tieferen und persönlichen Einblick in die chinesische Gesellschaft, Kultur und Geschichte vermitteln wird.
Durch die Firmengründung lernte ich die 36 Strategeme kennen, die im wirtschaftlichen Leben Chinas eine zentrale Stellung einnehmen. Will man mit Chinesen kooperieren, so tut man gut daran, die 36 Strategeme zu kennen. List und Täuschung sind in China nicht negativ, sondern Instrumente der Zielerreichung. Nicht auszusprechen, was man denkt, ist Teil des strategischen Handelns. Aber nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen Leben werden die 36 Strategeme gezielt eingesetzt. Ich weiß nicht, ob und in welchem Umfang westliche Politiker*innen davon Kenntnis haben.
Im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in China steht nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft. Diese Haltung steht im Konflikt zu einer liberalen Gesellschaft, wie wir sie bei uns kennen. Wird das Individuum zu stark, so wird die Gemeinschaft bedroht. Diese Meinung ist in China weit verbreitet. Aus diesem Grund tut man sich in China mit der Demokratie schwer. Man fürchtet, dass durch die Demokratie die Geschlossenheit der Gesellschaft verlorengeht und sich das Chaos ausbreiten wird. Das hängt auch mit den 36 Strategemen zusammen, gemäß denen lediglich eine Person Chef sein kann, alle anderen müssen ihm hörig sein. Die 36 Strategeme sollen einem helfen, am Ende nicht Sklave, sondern Chef zu sein, der befiehlt. Dieses Weltbild steht im Konflikt zur Demokratie, bei der sich alle stimmberechtigten Menschen gleichberechtigt einbringen können. Niemand hat das Recht, sich über andere zu stellen.
Demokratie ist eine große Herausforderung, die heute von totalitären Tendenzen bedroht wird. Wir alle müssen uns bewusst sein, was auf dem Spiel steht. Gelingt es uns nicht, die Demokratie zu erhalten, so wird das freiheitliche Handeln verlorengehen. Es ist meine Überzeugung, dass für die aktuellen Herausforderungen die Freiheit von zentraler Bedeutung ist. Die Probleme lassen sich nicht durch (totalitäre) Gesetze lösen, sondern es braucht Menschen, die als Individuum Verantwortung übernehmen, Kompetenzen besitzen, mit anderen Menschen zusammenarbeiten können, beharrlich, innovativ, aber auch selbstkritisch sind.
Mit den Reisen nach China wurde mir bewusst, dass China nicht auf die politische Führung zu reduzieren ist. In China findet man eine jahrtausendealte Kultur, geprägt durch unterschiedliche Denkschulen. Über mehrere Jahrhunderte wurde das Leben in China von Konfuzius beeinflusst, der bereits vor 2.500 Jahren den Menschen ins Zentrum seines Denkens stellte. Auch der Daoismus und der Buddhismus prägen China noch heute nachhaltig. Aus dem Daoismus ist die Traditionelle Chinesische Medizin entstanden. Er stellt nicht den Menschen ins Zentrum, sondern er betrachtet den Menschen als Teil des Ganzen, nicht nur der Natur, sondern des ganzen Kosmos. Reisen wir in China, so stoßen wir auf Zeugnisse der buddhistischen Religion, durch die China ebenfalls starke Impulse erhalten hat.
Wollen wir China verstehen, so müssen wir unseren Blick auf die unterschiedlichen Seiten richten, die oft im Widerspruch zueinander stehen. Am 1. Oktober 1949 gründete Mao Zedong das neue China, das damals politisch, wirtschaftlich und kulturell am Boden lag. In einem atemberaubenden Tempo entwickelte sich China zu einer Weltmacht, die heute auf Augenhöhe zur westlichen Welt steht. Durch die Zusammenarbeit mit Chines*innen wurde mir bewusst, dass sie sehr agil sind, wenn es darum geht, neue Entwicklungen zu erkennen und Dinge aus eigener Kraft umzusetzen. Heute steht China in vielen Bereichen bereits an vorderster Front der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung, die keineswegs linear verlief. Durch die Kulturrevolution wurde China in eine schwere Krise geführt. Meine chinesische Frau hat diese Zeit als Kind miterlebt. Der Traum, dass allein durch ein politisches System eine blühende Gesellschaft geschaffen werden kann, wurde zerschlagen.
Beim Aufbau und Betrieb der Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin konnte ich viel erfahren und lernen. Wir tun gut daran, uns China nicht zu verschließen, sondern von der Vitalität der jahrtausendealten Kultur zu lernen. Dazu gehört zweifelsohne die Traditionelle Chinesische Medizin, deren Wissen bereits vor mehr als 2.000 Jahren schriftlich festgehalten wurde. Durch archäologische Funde weiß man, dass ihre Wurzeln noch viel älter sind, wahrscheinlich sind sie mindestens 5.000 Jahre alt.
China wird uns in den nächsten Jahren wirtschaftlich und politisch herausfordern. Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meinem Buch jene Einblicke gewähren kann, durch die Sie die Prozesse, in denen wir mittendrin stehen, besser verstehen und Sie Ihren persönlichen Weg finden können, auf die Herausforderung China proaktiv zu reagieren.
Mit Ausnahme der Familienmitglieder sind sämtliche Personen in meinem Buch anonymisiert. Es ist nicht mein Ziel, einzelne Personen anzuklagen, sondern das Verständnis für jene Menschen zu stärken, die sich in einem Migrations- und Integrationsprozess befinden.
Mit meinem Buch will ich Probleme aufzeigen, die in einem solchen Prozess entstehen können, damit alle Beteiligten einen konstruktiven Beitrag für eine multikulturelle Gesellschaft leisten können. Es geht mir nicht darum, das Gute oder das Böse herauszustellen, sondern darum, das Sein bewusst zu machen. Um Bewusstsein.
An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, durch die ich die Möglichkeit hatte, Erfahrungen mit Chines*innen und ihrer Kultur zu machen. Angefangen bei meiner chinesischen Frau und ihrer Familie, die mir einen tiefen Einblick in ihre Kultur erlaubten. Danken möchte ich auch meinem chinesischen Geschäftspartner, durch den es für mich möglich wurde, eine neue berufliche Existenz aufzubauen, nachdem ich aus gesundheitlichen Gründen meinen Beruf als Primarlehrer aufgeben musste. Mein Dank geht an alle Mitarbeitenden unserer Praxen, die bereit waren, mit mir zusammenzuarbeiten und dazu beigetragen haben, dass die Patient*innen Vertrauen zur Traditionellen Chinesischen Medizin aufbauen konnten.
Auf meinem Weg, Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin zu führen, wurde ich immer wieder unterstützt: Angefangen beim Notar, der eine Lösung fand, dass mein Geschäftspartner bereit war, die Gründungsurkunde zu unterschreiben. Danken möchte ich auch den Vermietern, durch die wir geeignete Praxisräumlichkeiten gefunden haben. Mein Dank geht an die Treuhandfirma Arn & Partner, die mich durch die Jahre begleitet und immer dafür gesorgt hat, dass die Jahresrechnungen den behördlichen Erwartungen entsprachen. Das Gleiche gilt für die Rechtsanwälte, die bei juristischen Unstimmigkeiten an meiner Seite waren. Aber auch die Mitarbeitenden der Hausbank möchte ich nicht vergessen, die mich eng begleitet und dafür gesorgt haben, dass wir im Konflikt mit dem Geschäftspartner eine Lösung finden konnten. Nicht zuletzt möchte ich Frau Susanne Wiedl danken, die mich beim Schreiben des Buches begleitete. Sie verstand es, mich so zu coachen, dass ich nicht Orientierung und Motivation verlor und nach einem langen, intensiven Prozess das Ziel erreichten konnte.
Die Liste ist sicher nicht vollständig, doch mit ihr möchte ich bewusst machen, wie es die Zusammenarbeit verschiedener Personen braucht, damit das Leben ein Stückchen besser gemacht werden kann.
„Die beste Möglichkeit die Zukunft vorherzusagen, ist sie zu gestalten.“
Abraham Lincoln, 1809–1865
Die Vorgeschichte
Am 27. Juni 2009 saß ich mit meinem chinesischen Geschäftspartner Dr. Wu1 beim Notar, um die für eine Firmengründung notwendigen Dokumente zu unterzeichnen. Beinahe wäre die Gründung gescheitert, denn mein chinesischer Geschäftspartner wollte nicht, dass seine Teilhabe in irgendeiner Form sichtbar wurde. In diesem Fall hätte er jedoch auch kein Verwaltungsrat der Firma oder Teil der Geschäftsführung werden können. Beide Funktionen müssen transparent sein, sonst hat er bei strategischen und operativen Entscheidungen kein Mitspracherecht. Dies konnte Dr. Wu jedoch nicht verstehen. Seine Überzeugung war: Wer eine Firma besitzt, hat das Sagen.
Ich ging davon aus, dass unser Ziel die Gründung einer Firma war, die Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin plant, aufbaut und betreibt.
Wir hatten uns sieben Jahre zuvor kennengelernt. Die Arbeit als Lehrer belastete mich damals so stark, dass ich mit gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen hatte. Meine Verdauung war schlecht, eine Darmspiegelung ergab, dass ich an Reizdarm litt. Das kam wohl vom Stress, den ich in meinem Beruf hatte. Als ich den Hausarzt fragte, wie man einen Reizdarm heilen könne, sagte er mir, dass die Schulmedizin eigentlich nicht genau wisse, wie solche Beschwerden zu heilen seien. Aufgrund seiner Erfahrungswerte sei es vermutlich möglich, mir mit Traditioneller Chinesischer Medizin zu helfen.
Bis dahin war ich noch nie in Kontakt mit Traditioneller Chinesischer Medizin gekommen. Von ihr wusste ich praktisch nichts, nur dass Nadeln im Spiel sind. Diese Vorstellung hielt mich zunächst davon ab, umgehend einen Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) zu suchen. Bei der Recherche nach dem Begriff Traditionelle Chinesische Medizin stieß ich auf die Websites von drei Praxen in meiner Stadt. Ich entschied mich für jene, deren Internetauftritt mich am meisten überzeugte.
Bei meinem ersten Termin stellte sich heraus, dass der chinesische Arzt kaum Deutsch verstehen und sprechen konnte. So gut wie möglich versuchte ich ihm mit Händen und Füßen zu erklären, was ich ausdrücken wollte. Seine positive Körpersprache ließ mich zu dem Schluss kommen, dass er mitbekommen hatte, um was es für mich ging. Erst Jahre später sollte ich von demselben Arzt lernen, dass man sich besser nicht auf das stützt, was ein Chinese nach außen zeigt. Ein Chinese sagt nicht, was er denkt. Mit Chinese war auch ganz konkret Dr. Wu gemeint. Rückblickend weiß ich nicht, ob er damals meine Ausführungen zur Gänze verstanden hatte. Nachdem ich mit meinen Informationen fertig war, bat er mich, meine Hand auf ein weiches Kissen zu legen. Mit seinen Fingern fühlte er längere Zeit meinen Puls. Anschließend machte er ein Zeichen, dass ich meine Zunge herausstrecken solle. Er studierte sie und nickte zufrieden. Anscheinend wusste er nun alles, was für eine Behandlung notwendig war.
Ich legte mich mit dem Rücken auf die Behandlungsliege. Für meine Körpergröße von 1,96 Metern war die Liege zu kurz, die Füße ragten darüber hinaus. Zum Glück konnte ich nicht sehen, wie er für die Behandlung die Nadeln vorbereitete, sonst hätte dies bei mir möglicherweise Angstgefühle ausgelöst. Bevor er eine Nadel setzte, desinfizierte er den Einstichpunkt; der Schmerz dauerte nur kurz. Auf diese Weise steckte er ungefähr 10 bis 15 Nadeln nicht nur in meinen Bauch, sondern auch in meine Beine und Arme. Heute weiß ich, dass in der TCM die Nadeln nicht nur an jenen Stellen gestochen werden, an denen sich die Beschwerden befinden.
Die Basis der Traditionellen Chinesischen Medizin bilden 14 Meridiane, die durch den gesamten Körper gehen. Jeder Meridian wird in weitere Meridiane unterteilt, die mit den Sinnesorganen Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut sowie mit allen übrigen Organen verbunden sind. So erhält man Zugriff auf ein Organ an einer Stelle, die sich an einem ganz anderen Ort befindet.
Nach der letzten Nadel bedeckte mich der chinesische Arzt mit einem leichten Baumwolltuch, sodass ich nicht frieren musste. Dann verließ er das Behandlungszimmer und ließ mich allein. Zwischendurch fragte er immer mal wieder nach, ob es mir gut gehe. Nach ungefähr 50 Minuten erlöste er mich von den Nadeln. Schnell und ohne weitere Beschwerden. Ich vereinbarte weitere Termine, da mindestens zehn bis zwölf Sitzungen notwendig waren, damit sich eine Besserung einstellen konnte.
In der Praxis war noch ein anderer Arzt tätig, der schon länger in der Schweiz war. Bei meiner Anmeldung fragte mich die Praxisassistentin, bei welchem Arzt ich mich behandeln lassen möchte. Da ich keinen der beiden kannte, überließ ich ihr die Wahl. Schon an dieser Stelle wurden wohl Weichen gestellt, die ich damals nicht bewusst wahrgenommen hatte. Die Praxisassistentin sprach Deutsch. Sie konnte mir Auskunft über die Behandlungen geben, jedoch war sie nicht in der Lage, die sprachliche Barriere zwischen mir und dem Arzt zu überwinden.
Bei jeder Sitzung wurde die Kommunikation mit dem chinesischen Arzt besser. Ich fand heraus, dass er noch nicht lange in der Schweiz war, und seine Familie – seine Frau und ein Sohn – noch in China waren. Wie musste es für diesen chinesischen Arzt sein, in einem Land zu leben, dessen Sprache er nur ansatzweise verstehen und sprechen konnte? Nach einer Behandlung fragte ich ihn spontan, ob er Interesse habe, mit mir an einem Samstag einen Ausflug zu machen. Seine Reaktion war positiv.
Wir fuhren nach Leukerbad in die Therme und auf der Rückfahrt besuchten wir Schloss Chillon am Genfersee, zweifellos eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten in der Schweiz.
Im Auto erzählte er mir von Mao Zedong. Welche außerordentlichen Fähigkeiten er hatte, konnte er doch zwei verschiedene Dinge gleichzeitig machen: einen Brief schreiben und sich mit jemandem unterhalten. Durch die Art und Weise, wie Dr. Wu mir von Mao Zedong erzählte, kam ich zu dem Schluss, dass es ihm ein Anliegen ist, ein positives Bild von Mao Zedong abzugeben.
Der erste und der zweite Opiumkrieg im 19. Jahrhundert unter Führung Großbritanniens hinterließen beim chinesischen Volk tiefe Narben, nicht nur durch die militärischen Niederlagen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sich europäische Staaten schamlos an chinesischen Kulturgütern bedient haben, die heute in den großen Museen Europas ausgestellt sind. Durch die beiden japanischen Kriege wurde China erneut tief gedemütigt; so schwer, dass Chinesen noch heute Mühe haben, Beziehungen mit Japanern zu pflegen. Von Zeit zu Zeit wird dieser Graben in China aufgerissen. In diesen Momenten ist es dann von Vorteil, kein japanisches Auto zu besitzen, muss man doch in einer solchen Situation befürchten, dass aufgebrachte Chinesen ihren Hass auf Japan ausleben, indem sie japanische Autos beschädigen.
Am 1. Oktober 1949 ist Mao Zedong zweifellos etwas Außergewöhnliches gelungen: Mit der Gründung der Volksrepublik China wurde das Land nicht nur vereint, sondern erhielt seine eigene Identität zurück. Durch die aufgezwungenen Kriege lag China 1949 am Boden. Mao Zedong musste buchstäblich von Null beginnen. Der Vater einer Assistentin unserer heutigen Praxen stand am 1. Oktober 1949 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, als Mao Zedong die Volksrepublik China ausrief. Barfuß. Damals hätten wohl wenige gedacht, dass China lediglich 70 Jahre später derart erstarken könne, dass es sich zu einer Herausforderung der westlichen Welt entwickelt. Einer der wenigen, die das vorausgesehen haben, war mein Geographielehrer: Es muss 1964 gewesen sein, als er im Unterricht sagte, nicht Russland sei eine Bedrohung für Europa, sondern China. Er sprach von der gelben Gefahr. Das meiste aus meiner Schulzeit habe ich vergessen, doch diese Aussage ist mir bis heute im Kopf geblieben.
Tatsächlich begann am 1. Oktober 1949 der unglaubliche Aufstieg Chinas. Heute ist das Land kurz davor, die Weltführerschaft in Anspruch zu nehmen. Mao Zedong hat den Grundstein dafür gelegt. Dass später während der Kulturrevolution Millionen Menschen verhungern mussten, versucht man bis heute in China weitgehend auszublenden. Nichts sollte das einmalige Erbe Mao Zedongs beflecken. Auch dass Mao Zedong mehrere Frauen hatte, verzeiht man ihm, wenngleich dies per Gesetz verboten war. Schließlich war es früher immer auch das Privileg der chinesischen Kaiser, die nicht nur ein paar, sondern gleich hunderte Frauen in ihre Obhut nahmen. Meinem chinesischen Arzt war es offensichtlich ein Anliegen, dass ich die Bedeutung und Stellung Mao Zedongs, dem Begründer des heutigen selbstbewussten Chinas, kenne.
Wir machten in der Folge noch weitere Ausflüge in die Berge und vertieften dabei unsere Beziehung. Schon bald waren wir per Du.
Er lud mich zu sich nach Hause zum Essen ein. Es ist der Stolz eines chinesischen Gastgebers, dass es bei einem Essen nicht nur zwei, drei Gerichte gibt, sondern mindestens zehn. Er musste schon den ganzen Nachmittag gekocht haben, als ich bei ihm eintraf. Eine chinesische Mahlzeit ist weit mehr, als lediglich den Hunger zu stillen. Man lässt sich Zeit, diskutiert über China und die Welt. Unser Gesprächsthema beschränkte sich nicht nur auf China, sondern wie bei früheren Treffen sprachen wir auch über das politische Geschehen in der Schweiz, die sieben Bundesräte, durch die die Schweiz regiert wird. Für Chines*innen unvorstellbar, dass auf diese Weise ein Land regiert werden kann. Um ein Land zu führen, braucht es einen starken Machthaber, der unangefochten an der Spitze steht, so ist ihre klare Vorstellung. Das Gleiche gilt auch für eine Firma oder Institution: Es kann immer nur einen Chef geben, dem sich alle zu unterwerfen haben. Es war nicht so, dass mein chinesischer Arzt mir das so gesagt hat; das wurde mir erst viel später bewusst. Chines*innen sagen nicht, was sie denken. Aber die Tatsache, dass er mit mir über die sieben Bundesräte sprach, die gleichberechtigt die Regierung in der Schweiz bilden, war ein Zeichen, dass das für ihn ein Thema war. Wäre ich ein Chinese, so hätte ich damals seine persönliche Meinung zwischen den Zeilen verstehen müssen, nämlich dass er sich nicht vorstellen könne, dass ein Land oder eine Institution gleichzeitig von sieben Menschen gleichberechtigt regiert werden kann.
Dr. Wu sprach auch über das Essen. Er machte mich darauf aufmerksam, wie sich die Menschen in seiner Heimat, im Süden Chinas, eher vegetarisch ernähren. Im Norden Chinas sei das anders. Dort sei das Angebot für pflanzliche Nahrungsmittel zu klein, deshalb würde man sich dort vermehrt auch mit Fleisch ernähren. Würde man sich vegetarisch ernähren, so müsse man mengenmäßig mehr essen, damit genügend Energie aufgenommen wird. Studien in China hätten gezeigt, dass sich die Verdauungsorgane der Menschen, die im Süden leben, von den Verdauungsorganen der Menschen im Norden Chinas genetisch unterscheiden. Durch die Jahrhunderte hindurch haben sich der Magen und der Darm dem lokalen Nahrungsangebot angepasst.
Dr. Wu stellte in Frage, dass die Verdauung der Schweizer die Voraussetzung mitbringt, dass man sich vorwiegend vegetarisch ernähren kann. Im Süden Chinas gibt es praktisch keine Kühe, deshalb sei es für ihn sehr schwer, in der Schweiz Milchprodukte zu essen. Sein Magen war nicht daran gewöhnt. Damit ich mit dem Essen als Schweizer genügend Energie aufnehmen könne, beschränkte er sich nicht auf vegetarische Gerichte, sondern es gab auch Gerichte mit Schweine- und Hühnerfleisch.
Eine chinesische Mahlzeit besteht nicht aus verschiedenen Gängen, sondern alle Speisen kommen kurz nacheinander auf den Tisch. Eine Nachspeise gibt es nicht. Wenn man satt ist und viel getrunken hat (auf dieses Thema komme ich später zu sprechen), ist die Mahlzeit beendet. Als ich aufbrechen wollte, stellte mir Dr. Wu die Frage, ob wir gemeinsam eine Firma gründen wollen. Ein Unternehmen, das Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin plant, aufbaut und führt. Nun hatten wir wohl drei Stunden miteinander gegessen und gesprochen und kurz vor meinem Aufbruch kommt er zum eigentlichen Grund, weshalb er mich zum Essen einlud. Was sollte ich sagen? Mein Bauch war voll, Wein hatte ich auch getrunken, nicht gerade die beste Voraussetzung, um klar zu denken und Entscheidungen zu treffen. Vom Gefühl her war mir der Gedanke sympathisch, suchte ich doch in dieser Zeit eine neue berufliche Perspektive. An diesem Tag war ich jedoch nicht mehr in der Lage, klar zu überlegen und Fragen zu stellen. Eigentlich hätte man den ganzen Abend Zeit gehabt, sorgfältig über einen solchen Plan zu sprechen, sich ein genaueres Bild zu machen, wie eine solche Firma aussehen könnte. Stattdessen sprachen wir über das politische System in der Schweiz und über die unterschiedlichen Verdauungsorgane in China. Die Tatsache, dass Dr. Wu erst zum Schluss zum Thema kam, für das er mich zum Essen einlud, lag nicht an ihm, sondern es ist der übliche Weg, der in China gegangen wird: Man trifft sich zum Essen, um ganz am Ende das Geschäftliche zu beschließen.
Bevor die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron den Auftrag zum Bau des Vogelnestes, das Olympiastadion in Peking, erhielten, mussten sie nicht nur einmal, sondern mehrmals nach Peking zu einem Essen fliegen. Sie wussten, dass sie beim Essen nicht über das Projekt sprechen durften, sondern dass es darum geht, sich kennenzulernen und das Vertrauen zu gewinnen, bis am Ende eines Essens das Geschäftliche innerhalb kurzer Zeit geregelt wird.
Insofern hatte ich Glück: Bei mir reichte ein Essen aus, damit mich mein chinesischer Arzt über seine geschäftlichen Pläne informierte und sodann eine positive Antwort erwartete.
Stehen wir im Leben vor einer Weggabelung, so können wir noch nicht wissen, wohin welcher Weg führen wird. Damit wir der Zukunft gerecht werden, tun wir gut daran, uns von festen Vorstellungen zu verabschieden. Zukunft lässt sich nicht vorstellen, sondern gemäß dem Zitat von Abraham Lincoln gestalten. Zukunft ist in jedem Fall unwägbar.
1 Name geändert
„Wenn Sie nur Dinge machen, von denen Sie im Voraus wissen, wie sie laufen, wird Ihr Unternehmen untergehen.“
Jeff Bezos, 1964–heute
Der (unsichtbare) Plan
Am nächsten Tag wurde mir klar, dass wir uns möglichst rasch wieder treffen müssen, damit wir nicht nur über eine Idee, sondern über den eigentlichen Plan sprechen konnten. Diesmal war ich es, der die Initiative ergriff und meinem chinesischen Arzt, der über Nacht zu meinem potenziellen Geschäftspartner geworden war, klarmachte, dass wir über sein Vorhaben sprechen konnten und sollten.
Er erzählte mir von einem Studienfreund, der gern in die Schweiz kommen würde, um wie er als Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin zu arbeiten. Er bezeichnete ihn als seinen großen Bruder. Welche Bedeutung hinter der Bezeichnung steht und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, wurde mir erst später bewusst. Hätte ich von Anfang an das Ziel hinter seinem Plan gekannt, so hätte ich gespürt, dass die gemeinsame Basis für die Gründung einer TCM-Praxis nicht ausreichend groß war; das Risiko jedoch umso größer war, dass früher oder später Konflikte auftreten, die die Zusammenarbeit erschwerten.
Meinem chinesischen Arzt war dies wohl bewusst, deshalb legte er bei weiteren Treffen seine Karten nie ganz offen auf den Tisch. Chinesen wissen genau, dass es für das Erreichen eines Zieles hinderlich sein kann, offen und transparent zu handeln. In der westlichen Kultur bezeichnen wir ein derartiges Verhalten als eine Täuschung. Nicht so in China. Eine Täuschung ist ein durchaus legitimes Mittel, wenn es darum geht, ein Ziel zu erreichen. Die hohe Kunst besteht dabei darin, dass einem erst beim Erreichen des Zieles bewusst wird, welche eigentliche Intention hinter dem Plan stand. Dann kann es jedoch meist schon zu spät sein, um noch eine andere Richtung einzuschlagen.
Für mich war seine Begründung ausreichend, dass die Praxis für seinen Studienfreund eröffnet werden sollte. Die Herausforderung, diesen Plan umzusetzen, motivierte mich und so steckte ich über mehrere Wochen meine persönliche Energie in das Projekt. Natürlich verriet mir der chinesische Arzt auch erst später, weshalb er mich überhaupt gefragt hatte, mit ihm zusammen das Projekt umzusetzen. Es war ihm bewusst, dass er es aus eigener Kraft nicht geschafft hätte. Er brauchte einen Einheimischen, der in der Lage war, die unterschiedlichen Aufgaben und Probleme zu lösen. Im westlichen Kulturkreis hätte man wohl gesagt: „Ich habe diesen konkreten Plan, den ich allein nicht umsetzen kann. Aus diesem Grund brauche ich dich.“ In den Augen von Chines*innen wäre eine solche Aussage unangebracht, stellt man sich doch als schwach dar und macht gleichzeitig den Partner stark. Oberstes Prinzip von Chines*innen ist es, die eigene Schwäche niemals aufzudecken, es sei denn, man verdeckt mit dieser Haltung gleich eine Täuschung. Auf diese raffinierte Strategie gehe ich später noch ein.
Dr. Wu wollte vermeiden, dass ich der Stärkere war, er wollte die Nummer eins bleiben. Für mich sollte es eine Ehre sein, mit ihm zusammenzuarbeiten, ohne dass von Beginn an der Vorhang gelüftet wurde, hinter dem die eigentlichen Ziele des Plans sichtbar wurden.
Neben der Information, dass sein großer Bruder Arzt in unserer ersten Praxis werden sollte, informierte mich Dr. Wu – ich nannte ihn nun beim Vornamen Shiyan2 – darüber, welche Aufgaben gelöst werden müssen, damit das (vordergründige) Ziel erreicht werden konnte. Er hatte zuvor selbst Informationen eingeholt. Die schwierigste Hürde war zweifellos die Arbeitsbewilligung für den Arzt. Bei EU-Bürgern reicht ein Arbeitsvertrag aus, um in der Schweiz arbeiten zu können. Kommt man aus einem sogenannten Drittstaat, so wird es schwierig und kompliziert. Ich begann mich zu informieren, bei welchen Stellen welche Gesuche gestellt werden müssen. Insgesamt sind es vier staatliche Stellen, die für eine Arbeitsbewilligung von chinesischen Ärzten in der Schweiz zuständig sind. Ich fing an, im Internet zu recherchieren, und studierte sämtliche Informationen und Gesetzesparagrafen.
Neben den staatlichen Bewilligungen gilt es, den Arzt bei drei verschiedenen Stellen zu registrieren, damit die Behandlungen über eine private Zusatzversicherung für komplementäre Medizin abgerechnet werden können. Welche Voraussetzungen notwendig sind, weicht bei jeder staatlichen und privaten Stelle ab.
In einem Punkt hatte Dr. Wu bereits vorgearbeitet: Er wusste, dass in 30 Kilometern Entfernung Räumlichkeiten ausgeschrieben waren, die als Praxis in Frage kamen. Dort gab es noch keine Praxis für Traditionelle Chinesische Medizin. Umgehend nahm ich mit dem Vermieter Kontakt auf. Alles passte, doch ich konnte nicht gleich einen Mietvertrag unterzeichnen, da die Arbeitsbewilligung des chinesischen Arztes in weiter Ferne lag. Der Vermieter hatte mich als Interessenten vermerkt und wollte sich bei mir melden, falls noch weitere Personen an den Räumen Interesse hatten.
Da der große Bruder in China sicher kein Deutsch sprach, suchte ich eine Dolmetscherin, um die Kommunikation zwischen dem Arzt und den Patient*innen zu gewährleisten. Ihnen sollte es nicht so ergehen wie mir: Eine Kommunikation, von der man nicht sicher war, ob die Informationen beim Arzt angekommen sind oder nicht. Unterdessen hatte ich herausgefunden, dass es in anderen Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin Dolmetscherinnen gab. In der Stadt gab es seit 1983 einen Verein Freundschaft mit China. Mitglieder waren junge Student*innen, die bereits seit 1973 nach China reisten, um das kommunistische Gesellschaftsmodell kennenzulernen. Nicht wenige sahen in der Kulturrevolution Mao Zedongs eine verheißungsvolle Alternative zu unserem kapitalistischen System. Mit dem Verein wollte man die Beziehung zu China vertiefen. Waren es am Anfang gesellschaftspolitische Ziele, die man verfolgte, so wurde der Verein später zu einem Treffpunkt von Familien, die durch ihre Herkunft mit beiden Kulturen verbunden sind.
Von diesem Verein hat mir Dr. Wu nicht erzählt, was kein Zufall war, sondern Teil seiner Strategie: Niemand sollte wissen, dass er hinter dieser Firma steckt. Als ich ihm von diesem Verein erzählte, teilte er mir mit, dass niemand wissen dürfe, dass er Teil unseres Plans war. Für mich war es nicht einfach, dieses Konstrukt aufrechtzuerhalten. Sobald ich jemandem von meinem Plan erzählte, war die erste Frage meiner Gegenüber, wie ich als Schweizer auf die Idee käme, eine Praxis für Traditionelle Chinesische Medizin zu eröffnen. Die Unwahrheit zu sagen, hinterließ bei mir einerseits ein schlechtes Gewissen, andererseits konnte Unehrlichkeit später eine Zusammenarbeit behindern. Ich antwortete, dass ich von einem Chinesen angefragt worden sei, das Projekt mit ihm zu machen, dieser jedoch nach außen nicht in Erscheinung treten möchte.
Durch den Verein Freundschaft mit China fand ich tatsächlich Chinesinnen, die mit Schweizern verheiratet waren und ziemlich gut Deutsch sprachen. Ich konnte sogar zwischen mehreren Bewerbungen auswählen. Auch hier sollten sich die Probleme erst später zeigen.
Für mich war ein wichtiger Punkt, eine juristische Grundlage in Form einer Aktiengesellschaft oder GmbH zu schaffen. Die Aktiengesellschaft hielt ich für unseren Fall als geeignet. Mein Geschäftspartner teilte meine Meinung und schlug vor, dass beide zu 50 Prozent an der Firma beteiligt sein sollten. Damals waren am Horizont noch keine dunklen Wolken sichtbar, so machte ich mir keine Gedanken, dass wir uns einmal nicht mehr einig sein könnten und durch die Besitzverhältnisse eine Patt-Situation entstehen könnte.
Mein Rat an alle, die beabsichtigen, zusammen mit einem Geschäftspartner eine Firma zu gründen: Man sollte sich schon zu Beginn Gedanken darüber machen, was geschieht, wenn eine Zusammenarbeit aus irgendwelchen Gründen nicht mehr möglich ist. Haben beide Geschäftspartner einen Anteil von 50 Prozent an der Firma, so kann es schwierig werden. Wenn man nur noch über Rechtsanwälte kommunizieren kann, dann wird es nicht nur teuer, sondern auch mühsam und beängstigend, wenn kein Weg ersichtlich ist, wie das Problem zu lösen ist.
Verheiratete, die sich nicht mehr einig sind, können die Scheidung einreichen. Bei einer Firma geht das nicht. Gesellschafter können nicht gezwungen werden, ihren Anteil an der Firma abzugeben. Dieser Fakt sollte in unserem Fall später auch einen Knackpunkt darstellen.
Ich machte eine berufsbegleitende Ausbildung zum Führen eines Unternehmens. Das gab mir das Wissen zu den in Frage kommenden Gesellschaftsformen.
Der Verwaltungsrat der Aktiengesellschaft hat die Aufgabe, die Firma strategisch zu führen und Verantwortung für die Firma zu übernehmen. Er wird von den Aktionären gewählt. Sie sind es auch, die die Jahresrechnung genehmigen. Zu bestimmen, was die Firma zu tun hat, ist Aufgabe des Verwaltungsrates. Dabei kann er die operative Führung der Geschäftsführung übertragen. Jedes Land hat seine eigenen Gesetze, wie juristische Personen rechtlich organisiert werden müssen. Möchte man eine Firma gründen, so gilt es zu beachten, dass es zum Beispiel zwischen dem deutschen und dem schweizerischen Recht Unterschiede gibt. Diese werden größer, sobald man die Sprach- und Kulturgrenzen überschreitet.
In den Gesprächen mit Shiyan wurde deutlich, dass er die rechtlichen Grundlagen der Schweiz nicht verstehen konnte oder wollte. Sein Verstand sagte ihm: Wer Besitzer einer Firma ist, musste doch automatisch der Chef der Firma sein. Immer wieder versuchte ich, ihm die rechtlichen Grundlagen zu erklären, in der Hoffnung, dass er diese verstehen und akzeptieren konnte. Ich wollte verhindern, eine Art Strohmann von ihm zu werden, der mich zwingen konnte, nach seinen Vorstellungen zu agieren, ohne dass ich meinen Standpunkt einbringen konnte. Ich machte ihm deutlich, dass der Verwaltungsrat die Verantwortung für die Firma trage. Möchte er kein Mitglied des Verwaltungsrates sein, so trage er auch keine Verantwortung und somit auch kein Recht, strategische und operative Entscheidungen zu treffen.
Um den chinesischen Gesichtspunkt verstehen zu können, erzählte mir Shiyan eine Geschichte:
Demjenigen, der eine Quelle finde, dem gehöre das Wasser bis zu seinem Lebensende. Als Ideengeber unserer Firma verstand er sich als Entdecker der Quelle; als solcher bleibe er nicht nur die Nummer eins, sondern ihm stehe auch das Wasser zu, das aus der Quelle sprudelt.
Den Sinn und Zweck der Trennung zwischen Besitz und Führung einer Firma konnte er nicht nachvollziehen. So wurde deutlich, dass unser Plan an diesen unterschiedlichen Betrachtungsweisen scheitern musste. Ich war enttäuscht, hatte ich doch schon viel Energie in das Projekt gesteckt: Die Gesuche waren eingereicht, der Mietvertrag lag zur Unterschrift bereit, Dolmetscherinnen waren gefunden und die Website hatte ich mit Leidenschaft selbst erstellt. Dies war mir möglich, weil ich nicht nur eine betriebswirtschaftliche Ausbildung, sondern auch eine Ausbildung zum Webdesigner gemacht hatte. Innerlich gab ich das Projekt schon auf, für mich kam es weder in Frage, den Strohmann zu spielen, noch der Sklave von meinem Geschäftspartner zu werden. Dieser machte ein ums andere Mal deutlich, dass er stets die Nummer eins der Firma bleiben werde, wenngleich das nach außen nicht sichtbar gemacht werden sollte. Für mich würde das bedeuten, dass ich mich bis zu meinem Lebensende seinen Befehlen zu unterwerfen habe. Dem konnte ich niemals zustimmen.
Dieses Problem besprach ich mit meinem Notar, der mir die Möglichkeit aufzeigte, einen Aktionärsbindungsvertrag zu machen, in dem vereinbart werde, dass ich mit meinem Geschäftspartner sämtliche Fragen der Firma besprechen müsse. Weiter könne und dürfe man aus rechtlichen Gründen nicht gehen. Würde vereinbart, dass der Besitzer einer Firma die Marschrichtung vorgebe, ohne Mitglied des Verwaltungsrates zu sein, so verletze man das Gesetz. Schon der vorgeschlagene Aktionärsbindungsvertrag bewege sich in einer rechtlichen Grauzone.
Zu meiner Überraschung konnte ich Shiyan überzeugen, einen derartigen Vertrag zu unterzeichnen. Ich würde einziges Mitglied des Verwaltungsrates werden, müsste jedoch sämtliche anstehenden Fragen der Firma mit ihm besprechen. Dass der Vertrag von beiden Seiten innerhalb von drei Monaten gekündigt werden konnte, nahm er in Kauf. So kam es, dass wir uns am 27. Juni 2009 beim Notar trafen, um die Gründungsdokumente und den Aktionärsbindungsvertrag zu unterschreiben.
Nun warteten wir nur noch auf den positiven Entscheid, dass der große Bruder in der Schweiz arbeiten kann. Bevor wir das Gesuch einreichten, musste ich die Arbeitsstelle in der Schweiz, in der EU und im EFTA-Raum für einen Zeitraum von vier Monaten ausschreiben. Da an den europäischen Universitäten keine umfängliche Ausbildung für Traditionelle Chinesische Medizin angeboten wurde, gab es auch keine Bewerber, die eine ähnliche oder gar identische Qualifikation wie die chinesischen Ärzte vorweisen konnten. In China kann man die Ausbildung zum Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin nur an einer Universität oder Hochschule machen. Das Bachelorstudium dauert heute in der Regel fünf Jahre. Nach der Ausbildung arbeitet man zuerst als Assistenzarzt in einem Krankenhaus. Eine eigene Praxis kann und darf man nicht führen. Man geht davon aus, dass Ärzte erst nach ungefähr zehn Jahren Praxis als ausgewiesene Spezialisten für Traditionelle Chinesische Medizin gelten. In Europa gibt es diese Art der Ausbildung nicht und auch nicht die Möglichkeit, die praktische Erfahrung danach zu erwerben.
Die Enttäuschung war groß, als wir die Absage für die Arbeitsbewilligung erhielten. Für mich war das der absolute Tiefschlag. Ich hatte ein Detail übersehen: Gemäß einer Verordnung darf man erst dann mit einem chinesischen Arzt Kontakt aufnehmen, wenn man in der Schweiz und im EU- oder EFTA-Raum keine passende Person gefunden hat. Aus meinem Schreiben wurde deutlich, dass ich von Beginn an mit dem großen Bruder meines Geschäftspartners in Kontakt war.
Außerdem stufte die Behörde den Lohn, den ich gemäß den behördlichen Vorgaben im Arbeitsvertrag festhielt, als zu niedrig ein. In meinem Gesuch wies ich ausdrücklich darauf hin, dass der Arzt ein ausgewiesener Professor mit langjähriger Erfahrung sei. Dies wurde mir zum Verhängnis. Die Beamten kamen zu dem Schluss, dass einem Professor ein Lohn ausbezahlt werden müsse, der höher als der normal geforderte sei.
Meine Enttäuschung machte ich in mehreren Briefen deutlich, die ich an verschiedene leitende Stellen innerhalb der staatlichen Behörden schickte. Ich argumentierte damit, dass durch die Eröffnung der Praxis neue Arbeitsstellen geschaffen werden können. Meine Interventionen hatten zur Folge, dass ich eine zweite Chance bekam, das Gesuch zu stellen. In der gleichen Zeit berichtete Shiyan von einem weiteren Studienkollegen, der ebenfalls in die Schweiz kommen möchte. Die Herausforderung nahm ich an und arbeitete pausenlos an den erforderlichen Prozessen. Beide Stellen schrieb ich nochmals aus und suchte gleichzeitig einen zweiten Standort, an dem wir eine weitere Praxis eröffnen konnten.
Eine Frage gab es noch zu klären: Shiyan machte mir deutlich, dass beide Studienfreunde nicht wissen sollten, dass ihm ein Teil der Firma gehörte. Er versuchte, mir zu erklären, dass der große Bruder nicht für den kleinen Bruder arbeiten könne. Shiyan war in seinem Studienfach an der Universität der Jüngste, sein großer Bruder hatte ihn während der Ausbildung beschützt. Ich fragte mich, weshalb ein großer Bruder nicht für den kleinen Bruder arbeiten kann. Erst später wurde mir dies nach und nach bewusst: In China arbeitet man für den Chef. Der Chef ist da, um zu befehlen, nicht jedoch, um selbst zu arbeiten. Aus diesem Grunde ist es nicht denkbar, dass der große Bruder für den kleinen Bruder arbeitet, insbesondere deshalb, weil das erarbeitete Geld in erster Linie immer dem Chef zusteht und nicht denjenigen, die die Arbeit getan haben.
Nach und nach kam der eigentliche Plan an die Oberfläche: Es ging nicht nur darum, dem großen Bruder zu ermöglichen, in der Schweiz zu arbeiten, sondern der kleine Bruder wollte mit dem großen Bruder Geld verdienen. Dieses Ziel stand in Konflikt zur Tatsache, dass der große Bruder nicht für ihn arbeiten konnte.
Bei der Gründung der Firma war Shiyan noch für eine weitere Firma tätig. Auch aus diesem Grund sollte niemand Kenntnis davon bekommen, dass er eine eigene Firma gründet. Als wir den negativen Bescheid für die Arbeitsbewilligung erhielten, machte ich ihm den Vorschlag, in der vorgesehenen Praxis für die Firma zu arbeiten. Diesen Vorschlag lehnte er ab. Auch dahinter sollte eine bestimmte Strategie stehen.
So vereinbarten wir, dass den beiden Studienfreunden nicht gesagt werden soll, dass es einen zweiten Geschäftspartner gibt. Diesmal unterlief mir bei den Gesuchen kein Fehler. Die Freude war groß, als gleich beide Gesuche bewilligt wurden. Nun konnte ich die Mietverträge für die Praxisräumlichkeiten und die Arbeitsverträge mit Unterstützung der Dolmetscherinnen/Praxisassistentinnen unterzeichnen. Im Februar 2010 eröffneten wir die erste TCM-Praxis und im März die zweite.
Einen neuen Weg zu gehen, braucht Mut, gleichzeitig aber auch Achtsamkeit, damit wir nicht über die Steine stolpern, die auf dem Weg liegen. Das Leben ist eine Herausforderung, selten wird es unseren Erwartungen und Vorstellungen gerecht.
2 Vorname geändert
„Jede schwierige Situation, die du jetzt meisterst, bleibt dir in der Zukunft erspart.“
(Dalai Lama 1935–heute)
Die Praxis im Betrieb
Wie im Aktionärsbindungsvertrag vereinbart, trafen wir uns regelmäßig zu Besprechungen. Für meinen chinesischen Geschäftspartner hatte ich gute Neuigkeiten: Erfreulich viele Menschen vereinbarten bei uns einen Behandlungstermin. Das Interesse an Traditioneller Chinesischer Medizin war groß. Als wir für die Namenssuche unserer Firma eine Umfrage machten, stellte sich heraus, dass der Begriff China in der Schweiz positiv bewertet wurde. Mit dem großen Bruder, Prof. Xu3, hatten wir Glück: Obwohl er kein Deutsch sprach, gewann er mit seiner positiven Körpersprache die Herzen der Patient*innen. Daraus lernte ich, dass bei medizinischen Behandlungen nicht nur die Behandlung als solche, sondern auch die therapeutische Allianz, also die Beziehung zwischen dem Arzt und den Patient*innen, entscheidend ist. Die Tuina-Massagen von Prof. Xu fanden enormen Anklang und hatten einen großen gesundheitlichen Erfolg bei den Behandelten. In China war es seine Aufgabe, mit diesen Massagen Kaderleute aus der Stadtverwaltung auf Vordermann zu bringen. Auch ich ließ mich von ihm behandeln. Mit großem Erfolg. Er schaffte es, meine Rückenschmerzen zu beseitigen, die bis heute nicht mehr zurückgekommen sind.
Der kleine Bruder, Shiyan, war in den Praxen kaum präsent. Nach außen hin war er lediglich mein Freund, was bedeutete, dass ich in den Praxen die Verantwortung übernehmen musste. Als erfahrener Arzt für Traditionelle Chinesische Medizin wäre es sinnvoll gewesen, dass er mit seiner Expertise diese Aufgabe übernimmt. Das wollte er nicht, Prof. Xu sollte nicht mitbekommen, dass nicht ich, sondern Shiyan der Chef ist und an ihm verdient. So musste ich als Lehrling die operative Verantwortung übernehmen, was paradox war und nicht im Interesse einer qualitativen Arbeit in der Praxis stand. Die Praxisassistentinnen, die gleichzeitig Dolmetscherinnen waren, gaben mir allerdings zu verstehen, dass ich mich um den Praxisbetrieb nicht zu kümmern habe. Sie, die Praxisassistentinnen, würden mit ihrer Erfahrung dafür sorgen, dass in den Praxen alles gut laufen wird.
Mit den beiden Ärzten konnte ich nur mit Hilfe der Dolmetscherinnen kommunizieren. Regelmäßig fragte ich in den Praxen nach, ob alles in Ordnung sei. Ich wusste nicht, ob meine Gedanken und Worte richtig ins Chinesische transferiert wurden, erhielt jedoch stets positive Rückmeldung. Erst später sollte sich herausstellen, dass nicht alles optimal lief. Zunächst konnte dies vor mir verheimlicht werden. Dazu kam, dass ich nicht immer vor Ort sein konnte und auch nicht daran gedacht hatte, in den Praxen zur Überwachung Kameras aufzustellen, was damals schon nichts Ungewöhnliches war. Glaubt man Gerüchten, so gibt es in der Schweiz eine Firma mit mehreren Praxen für Traditionelle Chinesische Medizin, die von China aus über Kameras lückenlos überwacht werden.
Einige Wochen nach der Eröffnung der beiden Praxen rief mich Shiyan an, dass er seine Stelle gekündigt und eine eigene Praxis eröffnet habe. Ich war mehr als überrascht. Er hatte bis dahin nie auch nur eine