Ein eisiger Tod - Inspector Rebus 7 - Ian Rankin - E-Book

Ein eisiger Tod - Inspector Rebus 7 E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

Detective Inspector John Rebus ist zwei Jugendlichen auf der Spur, die die Tochter des reichen Lord Provost Kennedy entführt haben sollen. Vor seinen Augen stürzen sich die beiden verängstigten Jungen von einer Brücke in den Tod. Rebus, der sich für den schrecklichen Vorfall mitverantwortlich fühlt, stößt in der Wohnung der beiden auf Spuren, die auf eine Verschwörung in den höchsten Kreisen hindeuten. Von nun an werden seine Nachforschungen systematisch behindert, und auch sein eigenes Leben ist in Gefahr …

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Inhaltsverzeichnis
 
Buch
Autor
Lob
 
Eins - BRÜCKEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
 
Copyright
Buch
Detective Inspector John Rebus hat schlechte Laune: Es ist bitterkalt, ein eisiger Wind fegt durch die Straßen von Edinburgh, und statt gemütlich in einem Pub zu sitzen, jagt er zwei halbstarken Jugendlichen hinterher. Angeblich haben die beiden die Tochter von Lord Provost Kennedy, einem der einflussreichsten und mächtigsten Männer der Stadt, entführt und eine Lösegeldsumme gefordert. Als es Rebus schließlich gelingt, die zwei auf einer Brücke einzuholen und zu stellen, kommen ihm sofort Zweifel, ob diese verängstigten Jungen tatsächlich eine Entführung zu Stande bringen können. Doch seine Versuche, beruhigend auf sie einzureden und ihnen näher zu kommen, scheitern - und das Entsetzliche passiert: Hand in Hand springen die beiden Jungen von der Brücke in den Tod. Da Rebus sich für diesen schrecklichen Vorfall verantwortlich fühlt, setzt er alles daran, die Wahrheit über die beiden Jugendlichen herauszufinden, und stößt dabei schnell auf eine Verschwörung, die bis in die höchsten politischen Ämter Schottlands zu reichen scheint...
Autor
Ian Rankin gilt als der »führende Krimiautor Großbritanniens« (Times Literary Supplement). Er wurde 1960 im schottischen Fife geboren, lebte in Edinburgh und London, bevor er mit seiner Familie für sechs Jahre nach Südfrankreich zog. Der internationale Durchbruch gelang Ian Rankin schließlich mit seinem melancholischen Serienhelden John Rebus, der aus den britischen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken ist. Rankin wurde bereits mit dem begehrten Golden Dagger Award der Crime Writers Association of America ausgezeichnet, für den Edgar Allan Poe Award nominiert, zum Hawthornden Fellow gewählt und mit dem Chandler-Fulbright Award geehrt. Weitere John-Rebus-Romane sind als Manhattan-Hardcover wie auch als Goldmann-Taschenbuch in Vorbereitung. Der Autor lebt mit seiner
Frau und seinen beiden Söhnen heute wieder in Edinburgh.
Von Ian Rankin außerdem bei Goldmann lieferbar:
 
In chronologischer Reihenfolge:
Verborgene Muster. Roman (44607) · Das zweite Zeichen. Roman (44608) Wolfsmale. Roman (44609) · Ehrensache. Roman (45014) Verschlüsselte Wahrheit. Roman (45015) · Blutschuld. Roman (45016)
Sowie:
Der kalte Hauch der Nacht. Roman (45387) Puppenspiel. Roman (45636) Die Tore der Finsternis. Roman (Manhattan HC/54549)
Habgier, der Antrieb des Fleißes.
 
DAVID HUME, Of Civil Liberty
 
 
Die gebildeteren Leser wiederholten lediglich das italienische Sprichwort: »Wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden.«
 
MURIEL SPARK, The Public Image
 
 
Ohne Frauen ist das Leben eine Kneipe.
 
MARTIN AMIS, Money
Eins
BRÜCKEN
1
Eine Winternacht, die aus Edinburgh hinausschrie.
Das vordere Auto wurde von drei anderen verfolgt. In den verfolgenden Autos saßen Polizeibeamte. Schneeregen peitschte durch die Dunkelheit. Inspector John Rebus saß im zweiten Polizeiwagen und biss die Zähne zusammen. Mit einer Hand klammerte er sich am Türgriff fest, mit der anderen an der Vorderkante des Beifahrersitzes. Chief Inspector Lauderdale schien am Lenkrad rund dreißig Jahre abgeschüttelt zu haben. Er war wieder ein Halbwüchsiger, der das Machtgefühl des Schnellfahrens, Ein-bisschen-zuschnell-Fahrens auskostete. Er saß weit vornübergebeugt und spähte angestrengt durch die Windschutzscheibe.
»Wir kriegen die!«, schrie er zum x-ten Mal. »Wir kriegen die Scheißkerle!«
Rebus bekam die Zähne nicht lang genug auseinander, um eine Antwort zu artikulieren. Es lag nicht an Lauderdales dürftigen Fahrkünsten... Na ja, okay, es lag nicht nur an Lauderdales dürftigen Fahrkünsten; auch das Wetter machte Rebus Sorgen. Als sie in den zweiten Kreisel am Barton Interchange eingebogen waren, hatte Rebus gespürt, wie die Hinterräder des Wagens auf dem rutschigen Straßenbelag jegliche Bodenhaftung verloren. Zum einen waren die Reifen nicht mehr die Neuesten, und dazu wahrscheinlich ohnehin nur runderneuert. Dann lag die Lufttemperatur knapp über null, und der Schneeregen lauerte tückisch im Hinterhalt. Jetzt waren sie aus der Stadt, hatten Ampeln und Kreuzungen hinter sich gelassen. Eine Verfolgungsjagd hätte jetzt eigentlich weniger gefährlich sein müssen. Aber Rebus fühlte sich deswegen nicht sicherer.
Im Auto vor ihnen saßen zwei junge, eifrige Uniformierte, in dem dahinter ein Detective Sergeant und ein Detective Constable. Rebus warf einen Blick in den Außenspiegel und sah Scheinwerfer. Er schaute aus dem Seitenfenster und sah nichts. Verdammt, war das dunkel da draußen.
Rebus dachte: Ich will nicht im Dunkeln sterben.
 
Ein Telefongespräch am Vortag.
»Zehn Riesen, und wir lassen Ihre Tochter laufen.«
Der Vater leckte sich die Lippen. »Zehn? Das ist ein Haufen Geld.«
»Nicht für Sie.«
»Moment, lassen Sie mich nachdenken.« Der Vater sah auf den Notizblock, auf dem Rebus gerade etwas gekritzelt hatte. »So kurzfristig bekomm ich’s nicht zusammen«, sagte er zum Anrufer. Rebus hörte über Kopfhörer mit und starrte auf die sich lautlos drehenden Spulen des Tonbandgeräts.
»So’ne Einstellung könnt sich für die Kleine böse auswirken.«
»Nein... bitte.«
»Dann seh’n Sie zu, dass Sie die Knete beischaffen.«
»Werden Sie sie mitbringen?«
»Wir sind keine Betrüger, Mister.Wenn der Zaster da ist, wird sie auch da sein.«
»Wo?«
»Wir melden uns heute Abend mit den genauen Anweisungen. Und noch eins: keine Bullen, kapiert? Die kleinste Spur, auch nur’ne Sirene in weiter Ferne, und Sie seh’n sie im Leichen-Co-op wieder.«
»Wir kriegen sie!«, schrie Lauderdale.
Rebus spürte, wie sich seine Zähne voneinander lösten. »Schön, wir kriegen sie. Warum gehen wir’s dann nicht ein bisschen ruhiger an?«
Lauderdale warf ihm einen Blick zu und grinste. »Hosen voll, John?« Dann riss er das Lenkrad herum und scherte aus, um einen Lieferwagen zu überholen.
Der Anrufer hatte jung geklungen, Unterschicht. Aus seinem Mund hatte sich jedes »sie« wie s’ angehört. Er hatte vom Co-op gesprochen. Er hatte das Wort »Mister« verwendet. Ein Junge aus der Unterschicht, vielleicht ein bisschen naiv, Rebus war sich aber nicht sicher.
»Die Kollegen aus Fife warten doch auf der anderen Seite der Brücke, oder?«, beharrte er, gegen den heulenden Motor anbrüllend. Lauderdale schien vergessen zu haben, dass der Wagen auch einen vierten Gang besaß.
»Stimmt«, pflichtete ihm Lauderdale bei.
»Also wozu die Hetze?«
»Seien Sie kein Weichei, John. Die gehören uns.«
Rebus wusste, was sein Vorgesetzter meinte.Wenn es das Fluchtauto über die Forth Road Bridge schaffte, dann war es in Fife, und die Polizei von Fife erwartete es mit einer Straßensperre. Die Festnahme würde dann Fife auf ihrem Konto verbuchen.
Lauderdale hatte sich das Funkgerät gegriffen und redete mit dem Vorderwagen. Einhändig fuhr er kaum schlechter als zweihändig, und Rebus wurde gehörig durcheinander gerüttelt. Lauderdale legte das Funkgerät wieder weg.
»Was meinen Sie?«, fragte er. »Fahren die in Queensferry runter?«
»Ich weiß nicht«, sagte Rebus.
»Na, diese zwei Sonntagsfahrer vor uns meinen, wenn die beschließen sollten durchzufahren, erwischen wir sie an der Mautstelle.«
Und sie würden wahrscheinlich durchfahren, von Angst und Adrenalin getrieben. Diese Kombination pflegte dem Selbsterhaltungstrieb Scheuklappen anzulegen. Man rannte stur geradeaus, ohne nachzudenken oder nach links oder rechts zu schauen. Man dachte an nichts anderes als an Flucht.
»Sie könnten sich wenigstens anschnallen«, sagte Rebus.
»Könnte ich«, sagte Lauderdale. Tat’s aber nicht. Jugendliche Raser schnallten sich nicht an.
Allmählich kam die letzte Ausfahrt. Das Fluchtauto schoss daran vorbei. Jetzt blieb nur noch die Brücke. Die greller werdende Straßenbeleuchtung zeigte an, dass sie sich der Mautstelle näherten. Rebus kam plötzlich der irrwitzige Gedanke, dass die Flüchtigen anhalten könnten, um wie alle anderen auch die Maut zu zahlen. Das Fenster herunterkurbeln, nach passendem Kleingeld kramen …
»Sie werden langsamer.«
Die Straße fächerte sich auf, war plötzlich ein halbes Dutzend Spuren breit. Vor ihnen lag die Reihe der Mauthäuschen und dahinter die Brücke, die sich, von den Stahltrossen in der Schwebe gehalten, zu ihrer Mitte hin emporwölbte, sodass man von der Fahrbahn aus selbst an einem klaren, sonnigen Tag ihr jenseitiges Ende nicht sehen konnte.
»Sie werden eindeutig langsamer.«
Die vier Autos waren jetzt nur noch wenige Meter auseinander, und Rebus konnte zum ersten Mal seit einer ganzen Weile wieder das Heck des Fluchtautos erkennen. Es war ein 82er Ford Cortina. Im Licht der Straßenbeleuchtung sah er zwei Köpfe, Fahrer und Beifahrer, beide männlich.
»Vielleicht ist sie im Kofferraum«, meinte er zweifelnd.
»Vielleicht«, pflichtete ihm Lauderdale bei.
»Wenn sie nicht im Auto ist, können sie ihr auch nichts tun.«
Lauderdale nickte, ohne richtig zugehört zu haben, und griff dann wieder nach dem Funkgerät. Es rauschte ziemlich stark. »Wenn sie auf die Brücke fahren«, sagte er, »dann war’s das, Sackgasse. Die können nicht mehr entwischen, solang die Fifer es nicht verbocken.«
»Dann bleiben wir also hier?«, sagte Rebus hoffnungsvoll. Lauderdale lachte nur. »Dachte ich mir schon«, sagte Rebus.
Aber jetzt tat sich etwas. Das verdächtige Fahrzeug... rote Heckscheinwerfer. Bremsten sie? Nein, sie setzten zurück, und zwar schnell. Sie rammten den ersten Polizeiwagen, der daraufhin zurückrollte und gegen Lauderdales Auto knallte.
»Scheißkerle!«
Dann machte der Cortina wieder einen Satz nach vorn und scherte scharf nach rechts aus. Er hielt auf eine der geschlossenen Mautstellen zu, knallte gegen die Schranke, riss sie zwar nicht aus den Angeln, verbog sie aber so weit, dass er sich durchquetschen konnte. Das Geräusch von Metall, das Funken schlagend gegen Metall schrappte, und dann waren sie weg. Rebus traute seinen Augen nicht.
»Sie sind auf der falschen Fahrbahn!«
Das waren sie wirklich - ob versehentlich oder mit Absicht. Rasch beschleunigend, raste das Auto mit eingeschaltetem Fernlicht die Fahrbahn für den Südverkehr in nördlicher Richtung entlang. Nach kurzem Zögern nahm der erste Polizeiwagen die Verfolgung auf. Lauderdale schien es ihm gleichtun zu wollen, aber Rebus griff ihm ins Lenkrad und riss es mit aller Kraft herum, sodass sie wieder auf die richtige Fahrbahn kamen.
»Blöder Idiot!«, stieß Lauderdale hervor und trat das Gaspedal durch.
Zu dieser späten Nachtstunde war auf der Straße nicht viel los.Trotzdem ging der Fahrer des Fluchtautos ein ziemliches Risiko ein.
»Die werden doch wohl nur diese Fahrbahn gesperrt haben, oder?«, überlegte Rebus laut. »Wenn diese Irren es bis zur anderen Seite schaffen, könnten sie uns entwischen.«
Lauderdale sagte nichts. Er starrte über die Mittelabsperrung hinweg und ließ die zwei anderen Autos nicht aus den Augen. Als er die Hand nach dem Funkgerät ausstreckte, hätte er um ein Haar die Kontrolle über das Fahrzeug verloren. Der Wagen machte einen Schlenker nach rechts, dann einen ausgeprägteren nach links und knallte gegen die Leitplanken. Rebus mochte nicht an den Firth of Forth denken, der über hundert Meter tief unter ihnen lag. Aber er dachte trotzdem daran. Er hatte die Brücke schon ein paarmal zu Fuß überquert - außen an den Fahrbahnen verlief je ein Fußgängerweg. Das hatte ihm als Mutprobe durchaus gereicht, zumal man dabei riskierte, vom ständig heulenden Wind über die Brüstung geweht zu werden. Er verspürte ein elektrisches Kribbeln in den Zehen: Höhenangst.
Derweil zeichnete sich auf der anderen Fahrbahn bereits das Unvermeidliche ab. Ein Lkw-Fahrer, der nach dem mühsamen Aufstieg zur Brückenmitte seinem Sattelschlepper die Zügel schießen ließ, sah vor sich Scheinwerfer, wo keine hätten sein dürfen. Das Auto der Verdächtigen hatte sich bereits an zwei entgegenkommenden Fahrzeugen vorbeigemogelt und wäre auf die Außenspur ausgewichen, um am Laster vorbeizukommen, aber der Lkw-Fahrer verlor den Kopf. Er fuhr selbst auf die Außenspur, und seine Hände erstarrten am Lenkrad, der Fuß auf dem Gaspedal. Der Sattelschlepper knallte gegen Metall und hob ab. Er flog in die Luft und landete auf der Mittelbegrenzung aus straff gespannten Stahltrossen. Der Auflieger blieb auf der einen Seite hängen, während die Zugmaschine vornüber abknickte und, von ihrer Last befreit, auf die Gegenfahrbahn segelte, wo sie auf Funken und hochspritzendem Wasser weiterschlitterte - direkt auf das Auto zu, in dem Lauderdale und Rebus saßen.
Lauderdale bremste, so gut er konnte, aber er hatte keinerlei Ausweichmöglichkeiten. Die Zugmaschine schlitterte diagonal und nahm dabei beide Spuren ein. Kein Ausweg. Rebus hatte ein paar Sekunden Zeit, diese Tatsache zu verarbeiten. Er spürte, wie sein ganzes Ich sich zusammenkrampfte und sich in seinem Unterleib konzentrierte. Er riss die Knie hoch, stemmte Hände und Füße gegen das Armaturenbrett, presste das Gesicht an die Oberschenkel...
Rumms.
Da er die Augen zusammengekniffen hatte, konnte sich Rebus allein nach seinen akustischen und körperlichen Wahrnehmungen orientieren. Etwas schlug ihm gegen das Jochbein und war dann weg. Glasscherbenknirschen, wie berstendes Eis, und das Geräusch von gequältem Metall. Seine Eingeweide verrieten ihm, dass das Auto sich rückwärts bewegte. Es waren auch weitere, entferntere Geräusche zu hören. Noch mehr Metall, noch mehr Glas.
Die Zugmaschine des Sattelschleppers hatte schon ein gut Teil ihres Schwungs verloren, und der Zusammenstoß mit dem Auto hatte sie vollends zum Stillstand gebracht. Rebus hatte das Gefühl, seine Wirbelsäule würde entzweibrechen. Peitschenhiebtrauma nannte man das? Knüppeltrauma hätte es eher getroffen, Ladung-Backsteine-Trauma. Das Auto blieb stehen, und er stellte fest, dass sein Unterkiefer schmerzte - das war im ersten Moment alles. Er wandte sich zum Fahrersitz, da er annahm, Lauderdale habe ihm aus nicht näher angegebenen Gründen eine gelangt, und stellte fest, dass sein Vorgesetzter nicht mehr da war.
Gut, sein Hintern war da und starrte Rebus aus seiner unvorteilhaften Position - etwa von da aus, wo sich bis eben noch die Frontscheibe befunden hatte - ins Gesicht. Lauderdales Füße hatten sich unter dem Lenkrad verhakt. Einer davon unbeschuht. Die Beine hingen ausgestreckt über das Lenkrad. Und der Rest von ihm lag auf dem, was von der Motorhaube übrig geblieben war.
»Frank!«, rief Rebus. »Frank!« Er hütete sich, Lauderdale ins Auto zurückzuziehen; hütete sich, ihn auch nur anzufassen. Er versuchte, seine Tür zu öffnen, aber da war keine Tür mehr. Also öffnete er stattdessen seinen Sicherheitsgurt und wand sich durch die ehemalige Windschutzscheibe ins Freie. Seine Hand kam mit Metall in Berührung, und er verspürte etwas wie ein Brutzeln. Fluchend riss er die Hand zurück und sah, dass er sich auf den teilweise offen liegenden Motorblock gestützt hatte.
Hinter ihm blieben Autos stehen. Der D.S. und der D. C. kamen auf ihn zugerannt.
»Frank«, sagte Rebus leise. Er sah auf Lauderdales blutüberströmtes, aber noch lebendiges Gesicht. Ja, er hatte keinen Zweifel, dass Lauderdale noch lebte. Da war einfach noch etwas... Er rührte sich nicht, man hätte nicht einmal beschwören können, dass er atmete. Aber irgendetwas war da, irgendeine unsichtbare Energie, die ihn nicht verlassen hatte. Jedenfalls noch nicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte jemand.
»Helfen Sie ihm«, befahl Rebus. »Rufen Sie einen Rettungswagen. Und sehen Sie im Laster nach, wie es dem Fahrer geht.«
Dann schaute er hinüber zur anderen Fahrbahn, und was er da sah, ließ ihn erstarren. Im ersten Moment war er sich nicht sicher, nicht hundertprozentig. Also kletterte er auf die Metallstangen, die die zwei Fahrbahnen voneinander trennten. Und dann war er sich sicher.
Der Wagen der Verdächtigen war von der Fahrbahn abgekommen. Gründlich abgekommen. Irgendwie hatte er einen Satz über die Leitplanke gemacht, war diagonal über den Fußgängerweg geschlittert und hatte dann noch genügend Schwung gehabt, um das äußerste Geländer zu durchbrechen - dasjenige, das den Fußgängerweg von der Leere trennte, unter der, tief unten, der Firth of Forth lag. Ein scharfer Wind zerrte an Rebus und peitschte ihm den Schneeregen in die Augen. Er kniff sie zusammen und sah dann noch einmal hin. Der Cortina war noch da: Motorhaube und Vorderräder hingen zwischen den verbogenen Geländerstäben über dem Abgrund, aber Hinterräder und Heck standen noch auf dem Fußgängerweg. Rebus fragte sich, was sich im Kofferraum befinden mochte.
»O mein Gott«, sagte er. Dann fing er sofort an, über die Metallpfeiler zu klettern.
»Was machen Sie da?«, schrie jemand. »Kommen Sie zurück!«
Aber Rebus kraxelte weiter, ohne allzu sehr an seine Höhe über dem Meeresspiegel oder den Abstand zwischen den einzelnen Metallstangen zu denken. Mehr Abstand als Metall. Der kalte Stahl tat seiner brennenden Handfläche gut. Er ging am Aufleger des Sattelschleppers vorbei, der auf der Seite lag, halb auf der Fahrbahn, halb auf dem Mittelstreifen. Auf der Seite verlief ein Schriftzug: Byars Haulage. Herrgott, war das kalt. Dieser Wind, dieser verdammte Wind. Trotzdem merkte Rebus, dass er schwitzte. Ich hätte einen Mantel anziehen sollen, dachte er. Ich hol mir noch den Tod.
Dann war er auf der gegenüberliegenden Fahrbahn angelangt, wo inzwischen eine ganze Reihe Autos unordentlich zum Stehen gekommen waren. Zwischen Fahrbahn und Fußgängerweg klaffte eine richtige Lücke; nur ein kleiner Sprung, aber jeder Zentimeter davon frische Luft. An der Stelle, gegen die der Cortina geprallt war, waren die Stäbe des Geländers auseinander gebogen. Rebus ging darauf zu und hüpfte dann hinüber auf den Fußgängerweg.
Die zwei Jungen waren aus ihrem Wagen herausgestolpert.
Um aussteigen zu können, hatten sie über ihre Sitze nach hinten klettern müssen. Die Vordertüren öffneten sich nur ins Leere. Die Teenager sahen verängstigt nach links und rechts. Von Norden her waren Sirenen zu hören. Die Polizei von Fife war im Anmarsch.
Rebus hob die Hände in die Höhe. Hinter ihm standen die zwei uniformierten Beamten. Die zwei jungen Leute sahen Rebus nicht an; alles, was sie sehen konnten, waren Uniformen. Sie hatten einen schlichten Verstand, mit dem sie einfache Sachverhalte begriffen. Sie verstanden, was Uniformen bedeuteten. Sie sahen sich wieder um, suchten nach einem Fluchtweg, der nicht da war, dann nahm der eine von beiden - blond, groß, eine Spur älter als der andere - den Jüngeren bei der Hand und begann, ihn mit sich rückwärts zu ziehen.
»Macht keine Dummheiten, Jungs«, sagte einer der Uniformierten. Aber das waren nur Worte. Keiner hörte zu. Die zwei Teenager standen jetzt mit dem Rücken am Geländer, vielleicht drei Meter vom demolierten Auto entfernt. Rebus trat langsam vor und deutete mit dem Finger, damit klar war, dass er zum Auto ging. Durch den Aufprall hatte sich der Kofferraum ein paar Finger breit geöffnet. Rebus hob den Deckel vorsichtig hoch.
Es lag niemand drin.
Als er den Kofferraum schloss, wippte der Wagen auf seinem Auflagepunkt und kam dann wieder zum Stillstand. Rebus sah den älteren Jungen an.
»Es ist eisig hier draußen«, sagte er. »Setzen wir uns in ein Auto.«
Dann lief alles in Zeitlupe ab. Der blonde Junge schüttelte fast lächelnd den Kopf und nahm seinen Freund in die Arme, drückte ihn regelrecht an sich. Dann lehnte er sich gegen das Geländer und lehnte sich einfach immer weiter zurück, ohne seinen Freund loszulassen. Ihre billigen Turnschuhe behielten noch für einen Augenblick den Kontakt mit dem Straßenbelag, rutschten dann aus, Beine flogen hoch und über die Brüstung, und die beiden stürzten ins Dunkel.
Vielleicht war es Selbstmord, vielleicht ein Fluchtversuch, dachte Rebus später. So oder so war es der sichere Tod. Wenn man aus der Höhe aufs Wasser traf, war es wie ein Aufschlag auf Beton. Ein solcher Sturz durch die Dunkelheit - und sie schrien nicht, gaben keinen Laut von sich und sahen das Wasser nicht auf sich zurasen.
Nur dass sie nicht auf dem Wasser landeten.
Eine Fregatte der Royal Navy war gerade aus der Werft von Rosyth ausgelaufen und steuerte die offene See an, und das war’s dann auch, womit sie zusammenstießen: ein eisernes Deck.
Was, wie später alle auf dem Revier meinten, den Polizeitauchern einen unerfreulichen Einsatz bei Minustemperaturen ersparte.
2
Sie brachten Rebus ins Krankenhaus.
Er fuhr im Fond eines Streifenwagens. Frank Lauderdale in einer Ambulanz. Noch wusste niemand, wie schwer seine Verletzungen waren. Die Fregatte war von Rosyth aus angefunkt worden, aber die Matrosen hatten die Leichen ohnehin schon gefunden. Ein paar von ihnen hatten sie auf dem Deck aufprallen hören. Die Fregatte kehrte wieder zum Stützpunkt zurück. Es würde seine Zeit brauchen, das Deck wieder auszubeulen.
»Ich fühl mich selbst ziemlich ausbeulungsbedürftig«, teilte Rebus im Krankenhaus der Schwester mit. Er kannte sie; sie hatte ihn vor einiger Zeit wegen Verbrennungen behandelt, hatte eine Salbe aufgetragen und die Verbände gewechselt. Lächelnd verließ sie das Kabuff, in dem er auf einem Untersuchungstisch lag. Als sie gegangen war, machte er eine kurze Bestandsaufnahme: Sein Unterkiefer schmerzte infolge des Fausthiebs, den ihm Lauderdale vor seinem Flug durch die Frontscheibe verpasst hatte. Der Schmerz schien sich tief in ihn hineinzubohren, als greife er auf die Zahnnerven über. Abgesehen davon fühlte er sich aber nicht allzu schlecht; nur recht wackelig. Er hob die Hände und hielt sie sich vor die Augen. Ja, das Zittern konnte er auf den Unfall schieben, auch wenn er wusste, dass er in letzter Zeit auch ohne irgendwelche Blechschäden einen ziemlichen Tatterich hatte. Sein Handteller wies eine sehr hübsche Blase auf. Vor dem Verbinden hatte ihn die Schwester gefragt, woher die Verbrennung komme.
»Hab einen heißen Motor angefasst«, hatte er erklärt.
»Passt.«
Rebus hatte hingeschaut und gesehen, was sie meinte: Ein Teil der Seriennummer des Motors hatte sich ihm ins Fleisch gebrannt.
Endlich ließ sich der Arzt blicken. In dieser Nacht war einiges los. Rebus kannte den Arzt. Er hieß George Klasser und war Pole oder so was Ähnliches, oder zumindest seine Eltern waren es. Rebus hatte immer gedacht, Klasser stehe ein bisschen zu weit oben in der Krankenhaushierarchie, um Nachtdienst zu schieben, aber da war er.
»Ganz schön kalt draußen, wie?«, meinte Dr. Klasser.
»Machen Sie Witze?«
»Nur ein bisschen Konversation, John. Wie fühlen Sie sich?«
»Ich glaube, ich krieg Zahnschmerzen.«
»Sonst noch was?« Dr. Klasser murkste mit seinem Handwerkszeug herum: Stableuchte und Stethoskop, Klemmbrett und kaputtem Kuli. Schließlich war er so weit, dass er seinen Patienten untersuchen konnte. Rebus leistete nicht allzu viel Widerstand. Er dachte ans Trinken: an die sahnige Schaumkrone auf einem großen Stout. An den wärmenden Duft, der aus einem Glas Malt aufstieg.
»Wie geht’s meinem Chief Inspector?«, fragte Rebus, als die Krankenschwester zurückkam.
»Er wird gerade geröntgt«, antwortete sie.
»Verfolgungsjagden in Ihrem Alter!«, brummelte Dr. Klasser. »Kommt alles vom Fernsehen.«
Als Rebus ihn ausführlich musterte, wurde ihm bewusst, dass er den Mann noch nie richtig angeschaut hatte. Klasser war Anfang vierzig, hatte stahlgraues Haar und ein vorzeitig gealtertes Gesicht. Sah man von ihm nur Kopf und Schultern, hätte man ihn für größer gehalten, als er tatsächlich war. Er wirkte sehr distinguiert, weswegen Rebus ihn wohl für einen Oberarzt oder was in der Richtung gehalten hatte.
»Ich dachte, nur Kalfakter und Grünschnäbel arbeiteten nachts«, kommentierte er, während ihm Dr. Klasser mit seiner Lampe in die Augen leuchtete.
Klasser legte das Lämpchen beiseite und fing an, Rebus den Rücken zu kneten, mit Handgriffen, als plusterte er ein Kissen auf.
»Tut’s hier irgendwo weh?«
»Nein.«
»Und hier?«
»Nicht mehr als sonst.«
»Hmmm... Um auf Ihre Frage zurückzukommen, John: Offenbar arbeiten Sie nachts. Weist Sie das als Kalfakter oder als Grünschnabel aus?«
»Das tut weh.«
Dr. Klasser lächelte.
»Also«, sagte Rebus, während er vorsichtig wieder in sein Hemd schlüpfte, »was hab ich?«
Klasser fand einen funktionierenden Stift und kritzelte etwas auf sein Klemmbrett. »Nach meiner Schätzung noch ein, vielleicht zwei Jahre zu leben.«
Die zwei Männer starrten sich gegenseitig an. Rebus wusste ganz genau, wovon der Arzt redete.
»Ich mein’s ernst, John. Sie rauchen, Sie saufen wie ein Loch, und Sie bewegen sich nicht. Seit Patience aufgehört hat, Sie zu bekochen, ist Ihre Ernährung die reine Katastrophe. Tonnenweise Kohlenhydrate, gesättigte Fettsäuren...«
Rebus schaltete ab. Er wusste selbst, dass er seit einiger Zeit ein Alkoholproblem hatte, und zwar gerade weil er es gelernt hatte, sich zusammenzunehmen. Die Folge war, dass nur wenige merkten, dass er ein Problem hatte. Er war im Dienst immer gut gekleidet und ging während der Mittagspause sogar manchmal ins Fitness-Center. Er aß, was es gerade gab, und vielleicht zu reichlich, und ja, er rauchte wieder. Aber schließlich war niemand vollkommen.
»Eine Besorgnis erregende Prognose, Doktor.« Er knöpfte sich das Hemd zu und fing an, es sich in die Hose zu stopfen, überlegte es sich dann aber anders. Es war ihm angenehmer, das Hemd über der Hose zu tragen. Noch angenehmer wäre es gewesen, die Hose aufgeknöpft zu tragen. »Und um das zu erkennen, brauchen Sie nur meinen Rücken abzutasten?«
Dr. Klasser lächelte wieder. »So etwas können Sie vor einem Arzt nicht geheim halten, John.«
Er schlüpfte behutsam in sein Jackett. »Gut«, sagte er, »sehen wir uns dann später im Pub?«
»Ich bin gegen sechs da.«
»Gut.«
 
Rebus verließ das Krankenhaus und atmete tief durch.
Es war halb drei, die kälteste und dunkelste Zeit der Nacht. Er spielte mit dem Gedanken, bei Lauderdale vorbeizuschauen, aber er wusste, dass das bis zum Morgen warten konnte. Seine Wohnung lag direkt auf der anderen Seite der Meadows, aber auf den Weg hatte er momentan keine gesteigerte Lust. Der Schneeregen hatte nicht aufgehört und ging allmählich in richtigen Schnee über, und der Wind schnitt einem ins Fleisch.
Dann ertönte eine Hupe: Rebus erkannte einen kirschroten Renault 5 und darin D.C. Siobhan Clarke; sie winkte ihm zu. Er schwebte beinahe zum Auto.
»Was machen Sie denn hier?«
»Ich hab davon gehört.«
»Wie das?« Er öffnete die Beifahrertür.
»Ich war neugierig. Ich hatte dienstfrei, aber ich hab beim Revier angerufen, nur um zu hören, wie die Geldübergabe abgelaufen war. Als ich vom Unfall hörte, hab ich mich angezogen und bin hergefahren.«
»Jedenfalls ist Ihr Anblick Balsam für meine Zähne.«
»Zähne?«
Rebus rieb sich den Unterkiefer. »Klingt verrückt, aber ich glaube, ich hab von diesem Schlag Zahnschmerzen gekriegt.«
Sie ließ den Motor an. Im Auto war es warm und gemütlich. Rebus spürte, dass er sofort schläfrig wurde.
»Also eine mittlere Katastrophe?«, sagte sie.
»Eine mittlere, ja.« Sie verließen das Krankenhausgelände und bogen nach links ab, Richtung Tollcross.
»Wie geht’s dem C. I.?«
»Ich weiß nicht. Er wird geröntgt. Wo fahren wir hin?«
»Ich bring Sie nach Haus.«
»Ich sollte mich zurückmelden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab angerufen.Vor morgen früh werden Sie nicht benötigt.«
Rebus entspannte sich ein wenig mehr. Vielleicht fingen die Schmerztabletten ja an zu wirken. »Wann ist die Leichenschau?«
»Halb zehn.« Sie durchquerten gerade den Lauriston Place.
»Da hinten gab’s eine Abkürzung, die Sie hätten nehmen können«, meinte Rebus.
»Das war eine Einbahnstraße.«
»Schon, aber zu dieser Uhrzeit fährt da niemand durch.« Ihm wurde bewusst, was er gesagt hatte. »Herrgott«, flüsterte er und rieb sich die Augen.
»Also, was war’s?«, fragte Siobhan Clarke. »Ich meine, war’s ein Unfall, oder versuchten sie zu entkommen?«
»Weder noch«, erwiderte Rebus leise. »Wenn ich darauf wetten müsste, würde ich Selbstmord sagen.«
Sie sah ihn an. »Alle beide?«
Er zuckte die Achseln, dann schüttelte es ihn.
Am Tollcross warteten sie schweigend, bis die Ampel auf Grün schaltete. Ein paar Betrunkene waren, gegen den Wind ankämpfend, auf dem Weg nach Haus.
»Schauderhafte Nacht«, bemerkte Clarke, als sie wieder anfuhr. Rebus nickte, ohne etwas zu sagen. »Werden Sie bei der Leichenschau dabei sein?«
»Ja.«
»Kann nicht behaupten, dass ich Sie darum beneide.«
»Wissen wir schon, wer sie waren?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Ich vergess dauernd, dass Sie dienstfrei haben.«
»Stimmt, ich habe dienstfrei.«
»Was ist mit dem Wagen, haben wir den identifiziert?«
Sie wandte sich zu ihm und lachte. Es klang merkwürdig in seinen Ohren, hier in diesem stickigen, überheizten Auto, zu dieser späten Stunde und nach all dem, was passiert war. Plötzliches Lachen, das seltsamste Geräusch, das man sich vorstellen kann. Er rieb sich den Unterkiefer und steckte sich einen prüfenden Finger in den Mund. Der Zahn, den er berührte, schien durchaus noch fest zu sitzen.
Dann sah er Füße, die plötzlich unter zwei jungen Körpern weggefegt wurden, während die Körper hintenüber ins Leere fielen und verschwanden. Sie hatten nicht einen Ton von sich gegeben. Kein Unfall, kein Fluchtversuch; etwas Fatalistisches, etwas zwischen ihnen Vereinbartes.
»Kalt?«
»Nein«, sagte er, »mir ist nicht kalt.«
Sie blinkte, um vom Melville Drive abzubiegen. Auf der linken Seite war das Wenige, was er von den Meadows ausmachen konnte, mit einer Schicht Neuschnee bedeckt. Rechts lag Marchmont und dort Rebus’ Wohnung.
»Sie war nicht im Wagen«, sagte er tonlos.
»Es hätte ja schließlich sein können«, sagte Siobhan Clarke. »Wir wissen nicht mal, ob sie wirklich verschwunden ist, nicht mit Sicherheit.«
»Nein«, pflichtete er ihr bei, »das wissen wir nicht.«
»Bloß zwei doofe Jungen.« Sie hatte den Ausdruck in Edinburgh aufgeschnappt, aber mit ihrem englischen Akzent ausgesprochen klang er etwas komisch. Rebus lächelte in die Dunkelheit.
Und dann waren sie da.
Sie setzte ihn vor der Haustür ab und lehnte einen halbherzig angebotenen Kaffee ab. Rebus wollte nicht, dass sie die Müllkippe sah, die er sein Zuhause nannte. Die Studenten waren im Oktober ausgezogen und hatten eine Wohnung zurückgelassen, die ihm nicht mehr so richtig gehörte. Etliche Dinge stimmten nicht ganz, waren nicht mehr so, wie er sie in Erinnerung hatte. Ein Teil seines Bestecks fehlte und war durch Sachen ersetzt worden, die er noch nie gesehen hatte. Mit dem Geschirr war es das Gleiche. Als er bei Patience ausgezogen und hierher zurückgekehrt war, hatte er seine Sachen in Kartons mitgenommen. Die meisten davon standen noch immer unausgepackt im Flur.
Erschöpft stieg er die Treppe hinauf, schloss die Tür auf und ging an den Kartons vorbei geradewegs ins Wohnzimmer und zu seinem Sessel.
Sein Sessel war noch weitgehend der Alte. Er hatte sich rasch wieder Rebus’ Körperformen angepasst. Er setzte sich, stand dann wieder auf und fasste den Heizkörper an. Das Ding war lauwarm und gab furchtbare Geräusche von sich. Er hätte einen besonderen Schlüssel gebraucht, irgendein Werkzeug, um das Ventil zu öffnen und die Soße rauslaufen zu lassen. Let it bleed. Mit den übrigen Heizkörpern war es genauso.
Er brühte sich was Heißes auf, schob eine Kassette in das Abspielgerät und holte die Steppdecke aus dem Schlafzimmer. Bevor er sich wieder im Sessel niederließ, zog er ein paar Sachen aus; dann deckte er sich mit der Steppdecke zu, griff nach unten, schraubte die Flasche Macallan auf und goss sich etwas davon in den Kaffee. Er trank die Hälfte des Bechers und goss dann mehr Whisky nach.
Er hörte Motorengeräusche und sich verbiegendes Metall und den heulenden Wind. Er sah Füße, die Sohlen billiger Turnschuhe, etwas wie ein Lächeln auf den Lippen eines blonden Teenagers. Aber dann wurde das Lächeln zu Dunkelheit, und alles verschwand.
Irgendwann schlief er, die Arme um den Körper geschlungen, ein.
3
Im Städtischen Leichenschauhaus auf dem Cowgate keine Spur von Dr. Curt, aber Professor Gates war schon bei der Arbeit.
»Wissen Sie«, sagte er, »man kann gefahrlos aus jeder beliebigen Höhe fallen; es ist immer nur dieser verdammte letzte Zentimeter, der einem das Genick bricht.«
Zusammen mit ihm standen Inspector John Rebus, Detective Sergeant Brian Holmes, ein weiterer Arzt und ein Assistent von der Pathologie um den Seziertisch herum. Die vorläufige Mitteilung eines plötzlichen Todesfalles lag dem Staatsanwalt bereits vor, und jetzt wurde die Obduktion zweier verstorbener männlicher Personen durchgeführt, bei denen es sich wahrscheinlich um William David Coyle und James Dixon Taylor handelte.
James Taylor - Rebus warf einen Blick auf die Sauerei, an der sich Professor Gates zu schaffen machte, und erinnerte sich an diese letzte Umarmung. Ain’t it good to know that you’ve got a friend.
Die Wucht des Aufpralls auf das Deck der Fregatte Ihrer Majestät Descant hatte die beiden in so etwas wie haarige Marmelade verwandelt. Ein kleiner Teil davon lag auf der Marmorplatte - der Rest wartete in blitzenden Stahleimern. Für die offizielle Identifizierung würde man keine Angehörigen bemühen. Sollte es sich als nötig erweisen, würde eine DNA-Abgleichung denselben Zweck erfüllen.
»›Flachmänner‹ sagen wir dazu«, bemerkte Professor Gates. »In Lockerbie hab ich ganze Haufen davon gesehen. Hab sie vom Boden gekratzt und zur örtlichen Eisbahn geschafft. Äußerst praktisch, so’ne Eisbahn, wenn man kurzfristig mit zweihundertsiebzig Leichen dasteht.«
Brian Holmes hatte schon einige unappetitliche Leichen gesehen, aber immun war er deswegen noch nicht. Er scharrte fortwährend mit den Füßen, rollte die Schultern und bedachte Rebus, der Fetzen von »You’re So Vain« vor sich hinsummte, immer wieder mit bösen, empörten Blicken.
Datum, Uhrzeit und Ort des Todes festzustellen war kein Problem. Die Todesursache war auch leicht ermittelt, wenngleich sich Professor Gates wegen der genauen Formulierung nicht ganz sicher war.
»Stumpfes Trauma?«
»Wie wär’s mit Bootsunfall?«, schlug Rebus vor, was hier und da mit einem Lächeln quittiert wurde. Wie die meisten Pathologen hatte Professor Alexander Gates MD, FRC Path., DMJ (Path.), FRCPE, MRCPG, einen ausgeprägten Sinn für Humor. Einen absolut unerlässlichen Sinn für Humor. Er sah nicht wie ein Pathologe aus. Er war nicht lang und leichengrau wie Dr. Curt, sondern ein sanguinischer, vierschrötiger Typ, der von seiner Figur her eher an einen Ringer als an einen Leichenbeschauer erinnerte. Er hatte eine breite Brust, einen Stiernacken und fleischige Hände, deren Finger er für sein Leben gern in den Gelenken knacken ließ, sei es einzeln oder alle auf einmal.
Er mochte es, wenn man ihn Sandy nannte.
»Ich bin derjenige, der den Totenschein ausstellt«, erklärte er Brian Holmes, der daraufhin das entsprechende Kästchen im provisorischen Vordruck ausfüllte. »Die Adresse lautet ›Gerichtsmedizin, Cowgate‹.«
Rebus und die Übrigen sahen zu, wie Gates seine Untersuchung vornahm. Er war imstande, das Vorliegen zweier unterschiedlicher Leichen zu bestätigen. Er entnahm Proben venösen Blutes zwecks Feststellung von Blutgruppe,
DNA, toxikologischem Befund und Blutalkohol. Normalerweise wären auch Urinproben entnommen worden, aber das ließ sich diesmal einfach nicht machen, und Gates zweifelte selbst an der Verlässlichkeit von Blutuntersuchungen. Als Nächstes kamen Humor vitreus und Mageninhalt sowie Galle und Leber.
Dann begann er vor ihren Augen die Leichen wieder zusammenzusetzen: nicht so, dass sie als Menschen erkennbar wurden, nicht ganz jedenfalls, aber so, dass er sicher sein konnte, alle ursprünglichen Teile der Körper beisammen zu haben. Dass nichts fehlte und nichts dazwischengeraten war, was nicht dazugehörte.
»Als Junge habe ich unheimlich gern Puzzles gemacht«, sagte der über seine Arbeit gebeugte Pathologe ruhig.
Rebus erinnerte sich, ebenfalls ein Faible für Puzzles gehabt zu haben. Er fragte sich, ob Kinder noch immer damit spielten. Als die Leichenschau abgeschlossen war, rauchte er draußen, in der trockenen, frostigen Luft eine Zigarette. Links und rechts die Straße runter gab es genügend Pubs, aber es hatte noch keines geöffnet. Sein Frühstücksschlückchen Whisky hatte sich schon fast verflüchtigt.
Brian Holmes kam aus dem Leichenschauhaus und stopfte einen grünen Aktendeckel in seine Tasche. Er sah, dass Rebus sich den Unterkiefer rieb.
»Was nicht in Ordnung?«
»Zahnweh, das ist alles.«
Es war tatsächlich Zahnweh, ganz eindeutig, oder zumindest Zahnfleischweh. Es gelang ihm nicht, einen bestimmten Zahn als den Übeltäter zu identifizieren; der Schmerz war einfach da und schwoll unter der Oberfläche an.
»Soll ich Sie mitnehmen?«
»Danke, Brian, aber ich bin mit dem Auto da.«
Holmes nickte und klappte seinen Kragen hoch. Sein Kinn war hinter einem Schal aus Lambswool versteckt. »Die Brücke ist wieder geöffnet«, sagte er. »In südlicher Richtung einspurig.«
»Was ist mit dem Cortina?«
»Steht in Howdenhall. Die Kollegen nehmen Fingerabdrücke ab, nur für den Fall, dass sie doch irgendwann im Auto gewesen sein sollte.«
Rebus nickte stumm. Auch Holmes sagte nichts.
»Kann ich was für Sie tun, Brian?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich hab mich nur gefragt... Hätten Sie heute nicht als Allererstes ins Revier gesollt?«
»Und?«
»Warum sind Sie also stattdessen hergekommen?«
Das war eine gute Frage. Rebus wandte sich zur Tür des Leichenschauhauses um und hatte wieder die ganze Szene vor Augen. Die Kabine des Sattelschleppers, die auf Kollisionskurs ging, der über der Motorhaube liegende Lauderdale, dann das andere Auto... eine letzte Umarmung... ein Sturz.
Er zuckte unverbindlich die Schultern und ging zu seinem Wagen.
 
Chief Inspector Lauderdale würde durchkommen.
Das war die gute Nachricht.
Die schlechte war, dass D. I. Alister Flower sich um eine zeitweilige Beförderung bemühte, um Lauderdales Posten übernehmen zu können.
»Und das, noch eh das Fleisch vom Leichenschmaus erkaltet«, sagte Chief Superintendent »Farmer« Watson. Als ihm bewusst wurde, was er da gesagt hatte, errötete er. »Nicht dass es... Ich meine, kein Begräbnis oder Leichen...« Er hustete in die locker geballte Faust.
»Flower hat allerdings nicht ganz Unrecht, Sir«, wandte Rebus ein, um die Verlegenheit seines Vorgesetzten zu überspielen. »Das Problem ist nur, dass er das Taktgefühl eines Trampeltiers hat. Ich meine, irgendjemand wird schon einspringen müssen. Wie lang wird Frank voraussichtlich fehlen?«
»Wir wissen es nicht.« Der Farmer nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und las daraus vor. »Beide Beine gebrochen, zwei gebrochene Rippen, gebrochenes Handgelenk, Gehirnerschütterung. Die Diagnose ist eine halbe Seite lang.«
Rebus rieb sich sein angeschlagenes Jochbein und fragte sich, ob es für Lauderdales gebrochenes Handgelenk verantwortlich sein konnte.
»Wir wissen nicht einmal«, fuhr der Farmer leise fort, »ob er je wieder laufen können wird. Die Brüche waren ziemlich übel. Und was ich jetzt nicht gebrauchen kann, ist ein Ellbogenkampf zwischen Flower und Ihnen um einen Posten, den ich vielleicht gar nicht vergeben kann.«
»Verstanden.«
»Gut.« Der Farmer schwieg kurz. »Was können Sie mir also über letzte Nacht sagen?«
»Es wird alles in meinem Bericht stehen, Sir.«
»Versteht sich, aber ich würde die Wahrheit vorziehen. Was hat sich Frank eigentlich gedacht?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, durch die Gegend zu brettern wie ein gottverdammter Stuntman. Für solche Eskapaden haben wir schließlich das Fußvolk.«
»Wir haben lediglich Verdächtige verfolgt, Sir.«
»Natürlich.« Watson musterte Rebus. »Möchten Sie dem noch etwas hinzufügen?«
»Nicht viel, Sir. Nur dass es kein Unfall war, und sie hatten auch nicht die Absicht zu fliehen. Es war ein Selbstmordpakt: nicht abgesprochen, aber trotzdem Selbstmord.«
»Und warum hätten sie das tun sollen?«
»Keine Ahnung, Sir.«
Der Farmer seufzte und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »John, ich glaube, Sie sollten meine Meinung über diese ganze Sache erfahren.«
»Ja, Sir?«
»Das war von Anfang bis Ende eine einzige verquirlte Kacke.«
 
Und das war noch zurückhaltend ausgedrückt.
Sie waren nur da, weil manche Leute Macht und Einfluss besaßen, weil jemand um einen Gefallen gebeten hatte. Und angefangen hatte alles mit einem diskreten Anruf von Edinburghs Lord Provost beim stellvertretenden Polizeipräsidenten von Lothian and Borders, er möge veranlassen, dass wegen des Verschwindens seiner Tochter Ermittlungen angestellt würden.
Nicht dass etwas auf eine Straftat hingedeutet hätte. Sie war weder entführt noch überfallen, noch ermordet worden, noch irgendwas in der Richtung, sondern lediglich eines Morgens aus dem Haus gegangen und nicht wieder zurückgekommen. Ja, sie hatte sogar einen an ihren Vater adressierten Abschiedsbrief hinterlassen, der sich durch bündige Kürze auszeichnete: »Arschlöcher, ich gehe.« Er war nicht unterschrieben, aber es handelte sich um die Handschrift der Tochter.
Hatte es eine Meinungsverschiedenheit gegeben? Einen Streit? Waren laute Worte gefallen? Nun, es war nicht möglich, einen Teenager im Haus zu haben, ohne dass es zu gelegentlichen Differenzen kam. Und wie alt war die Tochter des Lord Provost, Oberbürgermeisters kleine Kirstie Kennedy? Hier kam die Krux: Sie war siebzehn, und zwar reife, selbstständige siebzehn, durchaus imstande, auf sich aufzupassen, und von Rechts wegen alt genug, um von zu Hause auszuziehen, wann immer es ihr passte. Womit die Sache für die Polizei eigentlich hätte erledigt sein müssen, bloß… bloß dass es der Lord Provost war, der angerufen hatte, der Sehr Ehrenwerte Cameron McLeod Kennedy, Friedensrichter, Stadtverordneter für South Gyle.
Und so kam von ganz oben die Botschaft heruntergesickert: Seht euch nach Kirstie Kennedy um, aber macht’s diskret.
Was, und darin waren sich alle einig, so gut wie unmöglich war. Man konnte keine Fragen auf der Straße stellen, ohne dass Gerüchte aufkamen, ohne dass die Leute für die Person, auf die diese Fragen abzielten, das Schlimmste zu befürchten begannen. Das war die Ausrede, die man vorbrachte, als die Medien auf die Sache aufmerksam wurden.
Es gab ein Foto von der Tochter, ein Foto, das der Polizei anvertraut worden war und das die Medien irgendwie in die Finger gekriegt hatten. Der Lord Provost schäumte vor Wut. Er sah darin den Beweis, dass er Feinde innerhalb der Polizei hatte. Das hätte ihm Rebus allerdings gleich sagen können: Wenn man einen Gefallen einforderte, bestand immer die Gefahr, dass irgendjemand es krumm nahm.
Da war sie also, in Fernsehen und Zeitungen: die kleine Kirstie Kennedy. Kein sehr aktuelles Foto, vielleicht zwei, drei Jahre alt; und der Unterschied zwischen vierzehn oder fünfzehn und siebzehn war gewaltig. Als Vater einer ehemals minderjährigen Tochter wusste Rebus das nur zu gut. Kirstie war mittlerweile erwachsen, und das Foto würde bei den Nachforschungen so gut wie gar nichts nutzen.
Um den Medienrummel zu dämpfen, gab der Lord Provost eine Pressekonferenz. Seine Frau war an seiner Seite - seine zweite Frau, nicht Kirsties Mutter; Kirsties Mutter war tot -, und sie wurde gefragt, was sie der Ausreißerin sagen möchte.
»Sie soll nur wissen, dass wir für sie beten, das ist alles.«
Und dann war der erste Anruf gekommen.
Es war nicht schwierig, den Lord Provost anzurufen. Er stand nicht nur im Telefonbuch - seine Dienstnummer fand sich, wie die jedes anderen Stadtverordneten auch, in einer nützlichen Broschüre, die in regelmäßigen Abständen an Zigtausende von Bürgern Edinburghs ausgegeben wurde.
Der Anrufer klang jung, noch nicht lang aus dem Stimmbruch heraus. Er hatte lediglich gesagt, er habe Kirstie und wolle Geld für ihre Freilassung. Er hatte sogar ein Mädchen an den Hörer geholt. Sie hatte nur zwei Worte kreischen können, bevor sie wieder weggezerrt worden war. Die Worte waren »Dad« und »ich« gewesen.
Der Lord Provost konnte nicht beschwören, dass es Kirstie gewesen war, aber das Gegenteil konnte er ebenso wenig beschwören. Er wandte sich wieder an die Polizei, und die riet ihm, mit den Entführern einen Treffpunkt für die Geldübergabe zu vereinbaren; nur dass sie dort kein Geld erwarten würde, sondern Polizeibeamte, und zwar nicht zu knapp.
Der Auftrag lautete nicht Zugriff, sondern unauffällige Verfolgung. Für die Aktion wurde ein Polizeihubschrauber abgestellt, dazu vier Zivilstreifenwagen. Es hätte ein Kinderspiel sein müssen.
Hätte. Aber der Anrufer hatte als Ort der Übergabe eine Bushaltestelle auf der stark befahrenen Queensferry Road ausgesucht. Lebhafter Verkehr und keinerlei Möglichkeit, einen Zivilstreifenwagen so zu parken, dass er nicht aufgefallen wäre. Der Anrufer war clever gewesen. Als der Zeitpunkt der Übergabe gekommen war, hatte der Cortina auf der anderen Straßenseite gehalten. Der Beifahrer war herausgesprungen, zwischen den fahrenden Autos im Slalom hinübergerannt, hatte die mit Bündeln von Zeitungspapier voll gestopfte Tasche an sich genommen und war damit zum wartenden Auto zurückgesprintet.
Drei der vier Polizeiwagen standen auf der falschen Straßenseite, und sie brauchten Ewigkeiten, um zu wenden. Der vierte hatte jedoch über Funk durchgegeben, in welcher Richtung die Verdächtigen flohen. Der Hubschrauber hatte natürlich wegen des schlechten Wetters schon vor einiger Zeit landen müssen.Was zur Folge hatte, dass Lauderdale - der Einsatzleiter - das Letzte aus seinem Wagen herausholte, um die Ausreißer wieder einzuholen, und dabei um Jahrzehnte jünger wurde.
Rebus hoffte, dass es die Sache wert gewesen war. Er hoffte, dass der in seinem Krankenhausbett festgezurrte Lauderdale von der Erinnerung an die Verfolgungsjagd einen Kick kriegen würde. Rebus selbst hatte davon nichts anderes zurückbehalten als ein mieses Gefühl im Magen, einen schlimmen Traum und ein ramponiertes Gesicht.
 
Es wurde Geld gesammelt, um etwas für den Chief Inspector zu kaufen. Demonstrativ und viel zu schnell legte D. I. Alister Flower einen Zehner hinein. Er lief mit geblähter Brust und einem öligen Bühnenlächeln herum. Rebus fand ihn mehr denn je zum Kotzen.
Alle sahen Rebus an und fragten sich, ob man ihn Flower vor die Nase setzen würde. Fragten sich, was Rebus täte, wenn Flower plötzlich sein Boss werden würde. Die Gerüchte vermehrten sich rascher als das Geld im Sammelkorb.
Der Halter des Fluchtwagens saß unten in einem Vernehmungsraum. Man hatte ihm erklärt, dass man, wenn er sich kooperativ zeigte, wegen der abgelaufenen Kfz-Versicherung ein Auge zudrücken würde. Jetzt redete er wie ein Wasserfall, erzählte eine Geschichte nach der anderen, Leben und Taten des Willie Coyle und Dixie Taylor. Rebus ging nach unten, um eine Weile zuzuhören. D. S. Macari und D. C. Allder führten die Vernehmung durch.
»Zwölf Uhr fünfzehn, Detective Inspector Rebus betritt den Raum«, sagte Macari für das Tonband. »Also«, fragte er den sitzenden Jüngling, »wie kamen sie zurecht, Willie und Dixie? Beide auf Stütze, aber ein bisschen was dazuverdienen ist immer drin, stimmt’s?«
Rebus lehnte sich an die Wand und versuchte, möglichst ungezwungen zu wirken. Er lächelte den Wagenhalter sogar an und nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass alles in Ordnung sei. Der Wagenhalter war noch keine zwanzig und durchaus vorzeigbar, ordentlich angezogen und gepflegt. Er trug einen unauffälligen Silberring am rechten Ohr, aber sonst keinerlei Schmuck, nicht einmal eine Armbanduhr.
»Sie kamen zurecht«, erwiderte er. »Die Stütze is nicht schlecht, selbst von der Sozialhilfe kann man leben, wenn man ein bisschen aufpasst.«
»Und haben sie aufgepasst?« Dann fügte Macari hinzu: »Mr. Duggan nickt.« Wieder für das Tonband. »Warum sollten sie also wohl so’ne Nummer abziehen?«
Duggan schüttelte den Kopf. »Das würd ich auch gern wissen. Ich hab keinen blassen Schimmer. Willie hatte sich bis dahin nie das Auto von mir geliehen. Er meinte, er müsste was transportieren.«
»Was genau?«
»Hat er nich gesagt.«
»Aber Sie haben ihm den Wagen trotzdem geliehen.«
»Wie gesagt, Willie konnte aufpassen.«
»Und Dixie?«
Duggan zeigte den Anflug eines Lächelns. »Na ja, Dixie is anders. Der brauchte ein Kindermädchen.«
»Was? War er irgendwie weich in der Birne?«
»Nö, er war nur total relaxt. Er hat nie... es war schwer, ihn für irgendwas zu interessieren.« Er sah auf. »Das is irgendwie schwer zu beschreiben.«
»Versuchen Sie’s einfach, Mr. Duggan.«
»Schon seit der Schule waren Willie und Dixie die besten Kumpel. Sie standen auf dieselbe Musik, dieselben Comics, dieselben Games. Die verstanden sich.«
»Und die haben immer zusammengewohnt, seit sie von zu Hause weg sind?«
Rebus gefiel Macaris Stil. Auf dem Revier nannten sie ihn »Toni«, nach der Figur im Comic Oor Wullie. Er hatte es fertig gebracht, Duggan zu beruhigen und ihm die Zunge zu lockern; er hatte eine Beziehung hergestellt. Was Allder betraf, war sich Rebus nicht so sicher; Allder war einer von Flowers Männern.
»Ich glaub schon«, sagte Duggan. »Die waren echt dicke Freunde. Wir haben auf der Schule mal ein Buch gelesen. Da waren zwei Typen wie die drin, der eine doof und der andere nich.«
»Von Mäusen und Menschen?«, schlug Rebus vor.
»Von Burns, nicht?«, sagte Allder.
Rebus signalisierte Macari, dass er gehen würde.
»Zwölf Uhr dreißig, Inspector Rebus verlässt den Raum. So, Mr. Duggan, um jetzt wieder zum Auto zu kommen...«
 
Wie immer hatte Rebus seinen Abgang genau falsch getimt. Alister Flower kam den Korridor entlang auf ihn zu und pfiff dabei »Dixie«.
»Da drin sitzt ein Junge«, erinnerte ihn Rebus, »der grad zwei Kumpels verloren hat, und einer davon hieß Dixie.«
Flower hörte auf zu pfeifen und stieß ein kurzes, unangenehmes Lachen aus. »Muss mein, Sie wissen schon, Unterbewusstsein gewesen sein.«
»Um so’n Ding haben zu können, braucht man erst mal ein Bewusstsein«, sagte Rebus, während er sich schon entfernte. »Womit Sie irgendwie ausscheiden.«
Flower hatte nicht vor, ihn einfach so davonkommen zu lassen. Er holte Rebus an der Schwingtür ein. »Wenn ich erst mal Chief Inspector bin, wird hier einiges anders«, knurrte er.
»Mit Sicherheit«, pflichtete ihm Rebus bei. »Denn bis dahin wird der Krebs heilbar und der erste Mensch auf dem Mars gelandet sein.«
Dann stieß er die Tür auf und war weg.
4
Er fuhr raus nach Stenhouse. Es lag weiter draußen, als er es in Erinnerung hatte, und hübscher war es auch. Ruhig, sobald man die Gorgie Road hinter sich gelassen hatte. Zweigeschossige Doppelhäuser mit ordentlichen Vorgärten und sauber gefegten Bürgersteigen. Manche Türstufen sahen geschrubbt aus; seine Mutter hatte sich ein paarmal die Woche mit allen anderen Frauen ihrer Straße hingekniet, um die Stufe mit heißem Seifenwasser oder Chlorlauge sauber zu machen. Eine schmutzige Türstufe warf ein schlechtes Licht auf den dazugehörigen Haushalt.
Rebus war eher an das Zentrum gewöhnt, an das Edinburgh der großen Wohnblocks. Die kleine Vorortsiedlung überraschte ihn. Auf Bürgersteigen und Straßen lag Salz. Im Sommer wären die Leute draußen gewesen und hätten über Zäune hinweg miteinander getratscht, aber jetzt war es kalt, und sie befanden sich alle im Winterschlaf.
Der Edinburgher Winter konnte beharrlich sein und von Anfang Oktober bis in den April hinein dauern. Die Witterung variierte: Manchmal blieb es den ganzen Tag über düster; an anderen Tagen, wenn Neuschnee lag, versengte einem der Sonnenglast die Augen. Die Leute liefen ständig mit zusammengekniffenen Augen herum - entweder um im Halbdunkel etwas zu erkennen, oder weil sie das grelle Licht blendete.
Heute war ein trüber Tag, der schmutzig graue Himmel drohte, sich jeden Augenblick in Schnee aufzulösen. Rebus steckte die Hände in die Taschen und spürte das Papiertütchen. Auf der Gorgie Road hatte er eine Eisenwarenhandlung gefunden und war von dort zu einem Fachgeschäft dirigiert worden, wo er sich einen Ventilschlüssel für die Heizkörper besorgt hatte. Jetzt sah er sich um, fand das Haus, nach dem er suchte, und stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf.
»Tag, Sir«, sagte Siobhan Clarke, die ihm auf sein Klopfen hin geöffnet hatte. »Wie geht es Ihnen?«
Rebus drängte sich an ihr vorbei ins Haus. Drinnen war es nicht viel wärmer als draußen. Im Wohnzimmer war Brian Holmes gerade dabei, eine CD-Sammlung durchzusehen.
»Was gefunden?«, fragte Rebus.
Holmes stand auf. »Es gibt ein paar Zeitungen mit Artikeln über den Kirstie-Kennedy-Fall. Dadurch sind sie wahrscheinlich auf die Idee gekommen. Keinerlei Anzeichen dafür, dass das Mädchen je hier gewesen ist. Ziemlich unwahrscheinlich, dass sie sich mit solchen Pennern einlassen würde. Sie ist ein Lyzeummädchen; Willie und Dixie waren typische Hauptschüler.«
»Sieht wie ein ausgemachter Schwindel aus, Sir«, pflichtete ihm Clarke bei.
Rebus hatte sich währenddessen umgesehen. Jetzt wandte er sich an Clarke. »Angenommen, Sie sind ein Mädchen aus gutem Hause: gute Schule, angenehme Verhältnisse. Angenommen, Sie wollen von zu Haus weg und einfach für eine Weile verschwinden, vielleicht auch für immer. Würden Sie sich mit Leuten aus Ihrer eigenen Schicht zusammentun oder lieber in die Niederungen begeben, wo keiner Sie kennt und niemand sich um Sie schert?«
»Sie meinen, zu Typen wie Willie und Dixie?«
Rebus zuckte die Schultern. »Ich denke nur laut nach. Wenn Sie mich fragen, würde ich sagen, sie hat das getan, was jeder schottische Ausreißer tut: Ist runter nach London.«
»Gott steh ihr bei«, sagte Holmes leise.
»Also, sind Sie hier fertig?«
»Nein, Sir.«
»Dann lassen Sie sich nicht aufhalten. Und wenn Sie diesen Heizofen in Gang bringen, helfe ich sogar ein bisschen mit.«
Brian Holmes kramte in seinen Taschen nach Kleingeld für den Stromzähler, und dann machten sie sich alle an die Arbeit.
Es gab zwei Schlafzimmer, das eine aufgeräumt, mit gemachtem Bett, das andere ein Schweinestall.Wie ein neben dem Bett liegendes Schreiben vom Sozialamt bestätigte, gehörte das ordentliche Zimmer Willie Coyle. In einem Regal standen Bücher, größtenteils brandneu. Rebus fragte sich, welcher Buchladen in letzter Zeit wohl über schwindende Bestände zu klagen gehabt hatte. Er zog etwas mit dem Titel Trainspotting heraus und sah, dass hinter den Büchern irgendwelche Papiere versteckt waren: Computerausdrucke, an einer Ecke zusammengeheftet und mit professionell aussehenden Tabellen und Diagrammen bedeckt. Es schien sich dabei um einen Geschäftsbericht oder etwas in der Art zu handeln.
Holmes sah seinem Vorgesetzten über die Schulter. »Erzählen Sie mir jetzt nicht, dass Willie Unternehmer war!«
Rebus zuckte mit den Schultern, rollte aber dann den Bericht zusammen und steckte ihn sich in die Tasche.
»Hier!«, rief Siobhan Clarke. Als sie zu ihr traten, zog sie bereits ihren Fund unter Dixie Taylors Bett hervor: drei noch originalverpackte Einwegspritzen, eine zu einem Stummel heruntergebrannte Kerze und ein an der Unterseite geschwärzter Teelöffel.
Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Let It Bleed« bei Orion, an imprint of Orion Books Ltd., London
 
 
 
 
Umwelthinweis:
Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
 
 
2. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2004
Copyright © 1995 by Ian Rankin
Copyright © 2004 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagfoto: Wolf Huber Redaktion: Irmgard Perkounigg Verlagsnummer: 45428
KvD · Herstellung: Sebastian Strohmaier
eISBN : 978-3-641-03828-1
www.goldmann-verlag.de
 
Leseprobe
 

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