Ein reines Gewissen - - Ian Rankin - E-Book

Ein reines Gewissen - E-Book

Ian Rankin

4,6
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein neuer Ermittler, eine brillante Serie: der erste Fall für Malcolm Fox

Bei der Polizei nennt man sie »die dunkle Seite«: Malcom Fox und sein Team in der Abteilung für interne Ermittlungen. Gerade haben sie einen korrupten Officer überführt, da wartet auch schon der nächste Fall: Ein Polizist soll Kinderpornographie verbreitet haben. Doch je näher Fox dem Mann kommt, desto mehr ist er von dessen Unschuld überzeugt. Und als sich Fox plötzlich selbst mit dem Vorwurf des Mordes konfrontiert sieht, sitzen Jäger und Gejagter im selben Boot …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 611

Bewertungen
4,6 (20 Bewertungen)
14
4
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Freitag, 6. Februar 2009
Kapitel 1
Montag, 9. Februar 2009
Kapitel 2
Kapitel 3
Copyright
Freitag, 6. Februar 2009
1
Als Malcolm Fox den Raum betrat, empfing ihn kurzer Applaus.
»Brecht euch bloß keinen ab«, sagte er und legte seine abgewetzte Aktentasche auf den Schreibtisch gleich an der Tür. In dem Büro befanden sich zwei weitere Beamte der Inneren. Als Fox seinen Mantel auszog, wandten sie sich schon wieder ihrer Arbeit zu. Über Nacht waren in Edinburgh acht Zentimeter Schnee gefallen. Etwa genauso viel hatte vor einer Woche ausgereicht, um London lahmzulegen, aber Fox hatte es zur Arbeit geschafft, und die anderen, wie es aussah, auch. Die Welt draußen wirkte makellos rein. In seinem Garten hatte Fox Spuren entdeckt - er wusste, dass irgendwo in der Nähe seines Grundstücks eine Fuchsfamilie wohnte; nach hinten grenzten die Häuser an einen städtischen Golfplatz. »Foxy« nannten sie ihn im Polizeipräsidium, ein Spitzname, der seinem Selbstbild überhaupt nicht entsprach. »Ein Bär von einem Mann« - so hatte einer seiner früheren Vorgesetzten ihn beschrieben. Langsam, aber zuverlässig, und nur hin und wieder zum Fürchten.
Tony Kaye ging, einen prall gefüllten Ordner unter den Arm geklemmt, an dem Schreibtisch vorbei und brachte das Kunststück fertig, Fox auf die Schulter zu klopfen, ohne etwas fallen zu lassen.
»Trotzdem gut gemacht«, sagte er.
»Danke, Tony«, sagte Fox.
Das Hauptquartier der Lothian and Borders Police lag in der Fettes Avenue. Aus manchen Fenstern konnte man das Fettes College sehen. Einige Beamte der Inneren hatten Privatschulen besucht, aber keiner das Fettes. Fox selbst hatte das staatliche Schulwesen durchlaufen - Boroughmuir, dann Heriot Watt. Er war Anhänger des Hearts FC, schaffte es allerdings selbst zu den Heimspielen nur selten. Rugby interessierte ihn nicht, obwohl Edinburgh zu den Austragungsorten der Six Nations Championship gehörte. Februar war Six-Nations-Monat, was bedeutete, dass die Waliser an diesem Wochenende scharenweise als Drachen verkleidet und überdimensionale aufblasbare Lauchstangen schwenkend in die Stadt einfallen würden. Fox würde sich das Spiel vermutlich im Fernsehen anschauen, vielleicht würde er sich sogar dazu aufraffen, in den Pub zu gehen. Seit fünf Jahren trank er nun nichts mehr, hatte sich in den letzten zwei Jahren aber hin und wieder einen Besuch im Pub zugetraut. Allerdings nur in der richtigen Gemütsverfassung, nur wenn sein Wille stark genug gewesen war.
Er hängte seinen Mantel auf und beschloss, dass er auch das Jackett ablegen konnte. Manche der Kollegen im Polizeipräsidium hielten seine Hosenträger für Affektiertheit, aber er hatte fast sechs Kilo abgenommen, und Gürtel mochte er nicht. Die Hosenträger waren nicht besonders auffällig - dunkelblau auf unifarbenem, hellblauem Hemd. Seine Krawatte war heute dunkelrot. Er hängte das Jackett über die Rückenlehne seines Stuhls und strich es an den Schultern glatt, bevor er sich hinsetzte, die Verschlüsse seiner Aktentasche hochschob und die Unterlagen über Glen Heaton herausholte. Heaton war der Grund für die kurze Beifallsbekundung der internen Ermittler. Heaton war ein Ergebnis. Fox und sein Team hatten beinahe ein Jahr gebraucht, um das Material für ein Verfahren zusammenzutragen. Jetzt war ihr Fall von der Staatsanwaltschaft angenommen worden, und Heaton, den man bereits verwarnt und vernommen hatte, würde vor Gericht gestellt werden.
Glen Heaton - seit fünfzehn Jahren bei der Polizei, elf davon beim Criminal Investigation Department. Und während dieser elf Jahre hatte er die Vorschriften meistens zu seinem Vorteil ausgelegt. Aber er war zu weit gegangen, hatte nicht nur seinen Kumpels bei der Presse, sondern auch Kriminellen Informationen zugeschanzt. Und damit einmal mehr das Interesse der Inneren geweckt.
Complaints and Conduct hieß ihre Abteilung offiziell. Sie waren die Polizisten, die gegen andere Polizisten ermittelten. Die »Leisetreter«, die »Schleicherbrigade«. Innerhalb der Abteilung gab es eine Untereinheit - die Professional Standards Unit. Während Complaints and Conduct die bodenständigen Fälle bearbeitete - Beschwerden über Streifenwagen, die auf Behindertenparkplätzen standen, oder Polizisten in der Nachbarschaft, die zu laut Musik hörten -, galt die PSU zuweilen als »die dunkle Seite«. Ihre Ermittler spürten Rassismus und Korruption auf. Sie befassten sich mit Fällen, in denen Schmiergelder kassiert oder beide Augen zugedrückt worden waren. Sie gingen geräuschlos, akribisch und entschlossen vor und verfügten über so viel Macht, wie sie brauchten, um ihre Arbeit zu erledigen. Fox und sein Team gehörten zur PSU. Ihr Büro lag in einem anderen Stockwerk als das Complaints and Conduct Department und war um einiges kleiner. Monatelang hatte Heaton unter Beobachtung gestanden, man hatte seinen privaten Telefonanschluss abgehört, seine Handy-Telefonverzeichnisse überprüft, mehrfach seinen Computer durchforstet - alles ohne sein Wissen. Er war beschattet und fotografiert worden, sodass Fox am Ende mehr über den Mann wusste als dessen eigene Frau, bis hin zu der Stripteasetänzerin, mit der Heaton ein Verhältnis gehabt hatte, und dem Sohn aus einer früheren Beziehung.
Von anderen Polizisten hörten die internen Ermittler immer dieselben Fragen: Wie kannst du das nur machen? Wie kannst du auf deinesgleichen spucken? Schließlich waren das Beamte, mit denen man schon gearbeitet hatte oder womöglich in Zukunft arbeiten würde. »Die Guten« nannte man sie auch. Aber genau da lag das Problem: Was bedeutete es, »gut« zu sein? Darüber hatte Fox oft gegrübelt, den Blick starr in den Spiegel hinter der Bar gerichtet, in der Hand ein weiteres Glas Alkoholfreies.
Hier sind wir, und dort sind sie, Foxy... Manchmal muss man den kürzesten Weg nehmen, oder man kriegt gar nichts auf die Reihe... Hast du das denn nie gemacht? Bist du vielleicht weißer als weiß? Wie jungfräulicher Schnee?
Nein, er war nicht wie jungfräulicher Schnee. Manchmal fühlte er sich fortgeschwemmt - in die PSU hinein, ohne es wirklich gewollt zu haben; in Beziehungen... und nur allzu bald von neuem fortgeschwemmt. An diesem Morgen hatte er seine Schlafzimmervorhänge aufgezogen und sich beim Anblick des Schnees gefragt, ob er anrufen und sagen sollte, er sei steckengeblieben. Doch dann war das Auto eines Nachbarn vorbeigekrochen und die Lüge dahingeschmolzen. Er war zur Arbeit erschienen, weil er nun einmal so war: Er erschien zur Arbeit, und er ermittelte gegen Polizisten. Heaton war jetzt vom Dienst suspendiert, wenn auch bei vollem Gehalt. Die Fallakte war an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden.
»Das war’s dann also?« Fox’ anderer Kollege stand vor dem Schreibtisch, die Hände wie üblich in den Hosentaschen vergraben, und schaukelte leicht auf den Fersen. Joe Naysmith, seit sechs Monaten dabei, immer noch voller Eifer. Er war achtundzwanzig, noch jung für die Innere. Tony Kaye hatte den Eindruck, dass Naysmith den Job als schnellen Weg in eine leitende Position betrachtete. Bemüht, die wirre Haarmatte unter Kontrolle zu bringen, derentwegen er ständig aufgezogen wurde, schüttelte der junge Mann kräftig den Kopf.
»So weit, so gut«, sagte Malcolm Fox. Er hatte ein Taschentuch aus der Hosentasche gezogen und schnäuzte sich.
»Also gehen die Getränke heute Abend auf dich?«
Von seinem eigenen Schreibtisch aus hatte Tony Kaye zugehört. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, während er Blickkontakt mit Fox herstellte.
»Für den Kleinen aber bitte nur einen Milchshake. Sonst will er als Nächstes lange Hosen.«
Naysmith drehte sich um und nahm gerade lange genug die Hand aus der Tasche, um Kaye den Stinkefinger zu zeigen. Kaye schürzte die Lippen und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.
»Sie sind hier nicht auf dem Spielplatz«, knurrte eine Stimme von der Türschwelle her. Dort stand Chief Inspector Bob McEwan. Er kam hereingeschlendert und strich Naysmith mit den Fingerknöcheln über die Stirn.
»Haare schneiden, Jungchen - was habe ich Ihnen gesagt?«
»Sir«, murmelte Naysmith auf dem Weg zu seinem Schreibtisch. McEwan warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Geschlagene zwei Stunden habe ich in diesem Meeting gesessen.«
»Das war bestimmt sehr effektiv, Bob.«
McEwan schaute Fox an. »Der Chief meint, oben in Aberdeen liege ein Hauch von Fäulnis in der Luft.«
»Irgendwelche Einzelheiten?«
»Noch nicht. Kann nicht behaupten, dass ich scharf drauf wäre, den Fall in meinem Eingangskorb zu finden.«
»Haben Sie Freunde bei Grampian?«
»Ich habe nirgendwo Freunde, Foxy, und das ist gut so.« Der Chief Inspector hielt inne, anscheinend fiel ihm etwas ein. »Heaton?«, fragte er, worauf er Fox langsam nicken sah. »Gut, gut.«
An der Art, wie er das sagte, erkannte Fox, dass sein Chef Skrupel hatte. Früher, in grauer Vorzeit, hatte er Seite an Seite mit Glen Heaton gearbeitet. McEwans Version war, dass der Mann solide Arbeit geleistet und jede Beförderung, die sich ihm bot, verdient hatte. Ein guter Polizeibeamter im Großen und Ganzen...
»Gut«, sagte McEwan wieder, diesmal noch geistesabwesender. Dann straffte er die Schultern und richtete sich auf. »Und was haben Sie heute noch vor?«
»Kleinkram.« Wieder schnäuzte Fox sich die Nase.
»Sind Sie Ihre Erkältung immer noch nicht los?«
»Sie scheint mich zu mögen.«
McEwan schaute erneut auf die Uhr. »Es ist schon Mittag vorbei. Warum machen Sie nicht mal früh Feierabend?«
»Sir?«
»Wir haben Freitagnachmittag, Foxy. Es könnte sein, dass ich am Montag etwas Neues für Sie habe, deshalb sollten Sie lieber Ihre Akkus aufladen.« McEwan konnte sehen, dass Fox nachdachte. »Nicht Aberdeen«, erklärte er.
»Was dann?«
»Könnte auch übers Wochenende im Sande verlaufen.« McEwan zuckte die Schultern. »Wir unterhalten uns am Montag.« Er wandte sich zum Gehen, zögerte jedoch. »Was hat Heaton gesagt?«
»Er hat mir nur einen seiner gefürchteten Blicke zugeworfen.«
»Ich habe gesehen, wie gestandene Männer Reißaus nehmen, wenn er das tut.«
»Ich nicht, Bob.«
»Nein, Sie nicht.« McEwans Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, während er auf seinen Schreibtisch in der anderen Ecke des Zimmers zusteuerte.
Tony Kaye hatte sich auf seinem Stuhl wieder nach hinten gelehnt. Seine scharfen Ohren konnten es mit jedem elektronischen Gerät aufnehmen. »Wenn du dich auf den Heimweg machst, lass mir einen Zehner da.«
»Wofür?«
»Für die Drinks, die du uns schuldest - zwei Pints für mich und einen Milchshake für den Kleinen.«
Joe Naysmith vergewisserte sich, dass der Chef nicht hersah, bevor er Kaye ein zweites Mal den Stinkefinger zeigte.
Malcolm Fox ging nicht nach Hause, nicht unmittelbar. Sein Vater lebte in einem Pflegeheim im Osten der Stadt, unweit von Portobello. Portobello war einmal ein feiner Ort gewesen, im Sommer sehr beliebt, weil man am Strand spielen oder einen Spaziergang auf der Promenade machen konnte. Dort gab es Eisbuden und Spielautomaten und Fish ’n’ Chips. Und Sandburgen unten am Wasser, wo der Sand feucht und formbar war. Die Leute ließen Drachen steigen oder warfen ihren Hunden Stöcke zum Apportieren in die Brandung. Das Wasser war so kalt, dass man die ersten paar Sekunden keine Luft mehr bekam, aber danach wollte man gar nicht mehr raus. Eltern saßen in gestreiften Liegestühlen, vielleicht hinter einem Windschutz, den sie in den Sand gerammt hatten. Mum hatte ein Picknick eingepackt: der körnige Geschmack von Streichwurst auf dünnem Weißbrot; Flaschen mit warmer Cola. Lächelnde Gesichter und Sonnenbrillen und Dad mit seinen hochgekrempelten Hosen.
Malcolm hatte seinen Vater schon zwei Jahre nicht mehr mit auf die Strandpromenade genommen. Er hatte es vorgehabt und immer wieder verworfen. Der alte Herr war ziemlich wackelig auf den Beinen - sagte sich Malcolm dann. Nur ungern gestand er sich den wahren Grund ein, nämlich seine Furcht davor, angestarrt zu werden... Ein alter Mann, dem geschmolzenes Eis aus der Waffel über den Handrücken lief, während er von seinem Sohn zu einer Bank geführt wurde. Sie würden sich hinsetzen, und er würde mit seinem Taschentuch das Eis von den Slippern seines Vaters wischen und dann mit demselben Tuch dessen graumeliertes Kinn abtupfen.
Nein, das war natürlich nicht der Grund. Heute war es einfach zu kalt.
Für das Pflegeheim zahlte Fox mehr als für seine eigene Hypothek. Er hatte seine Schwester gebeten, einen Teil der Kosten zu übernehmen, was sie, wie sie sagte, auch tun würde, wenn sie könnte. Das Heim war privat. Fox hatte sich zwei städtische Alternativen angeschaut, aber die hatten, nicht nur wegen des scharfen Geruchs, einen trostlosen Eindruck gemacht. Die Lauder Lodge war besser. Etwas von dem Geld, das Fox berappt hatte, war in den allgemeinen Topf gewandert und als Prägetapete und Raumspray mit Kiefernduft wieder herausgekommen. Er konnte auch immer Talkumpuder riechen, und das Fehlen unangenehmer Küchendünste sprach für eine gut funktionierende Belüftung. Seitlich des Gebäudes fand er einen Parkplatz und meldete sich an der Eingangstür an. Es war ein freistehendes viktorianisches Haus, das vor der jüngsten Krise einen siebenstelligen Betrag wert gewesen sein dürfte. Am Fuß der Treppe gab es einen Wartebereich, aber eine Angestellte sagte ihm, er könne gleich durchgehen.
»Sie kennen sich ja aus, Mr. Fox«, trällerte sie, worauf er nickte und sich dem längeren der beiden Korridore zuwandte. Der Anbau war etwa zehn Jahre alt. Die Wände wiesen ein paar Haarrisse auf, und manche der Doppelglasfenster waren von Kondenswasser beschlagen, die Zimmer jedoch hell und luftig - genau die Worte, mit denen man ihn bearbeitet hatte, als er sich das Haus zum ersten Mal angeschaut hatte. Hell und luftig, keine Treppen und für ein paar Glückspilze sogar ein eigenes Bad. Der Name seines Vaters stand maschinengeschrieben auf einem Pappschild, das mit Klebeband an der Tür befestigt war.
Mr. M. Fox. M für Mitchell, den Mädchennamen von Malcolms Großmutter. Mitch: Alle Welt nannte Malcolms Dad Mitch. Es war ein guter, schnörkelloser Name. Fox atmete tief durch, klopfte an und ging hinein. Sein Dad saß am Fenster, die Hände im Schoß. Er sah etwas hagerer aus, nicht ganz so munter. Er wurde nach wie vor rasiert, seine Haare wirkten frisch gewaschen. Sie waren fein und silbern und die Koteletten noch genauso lang wie früher.
»Hallo, Dad«, sagte Fox, ans Bett gelehnt. »Wie geht’s?«
»Kann mich nicht beschweren.«
Fox runzelte die Stirn. Du hast dir in der Fabrik, in der du beschäftigt warst, den Rücken ruiniert; du warst jahrelang erwerbsunfähig; dann kam der Krebs, und du wurdest behandelt, unter Schmerzen, aber erfolgreich; deine Frau starb, kurz nachdem du die Entwarnung erhalten hattest; und dann kam das Alter.
Und du durftest dich nicht beschweren - weil du das Familienoberhaupt warst, der Mann im Haus.
Die Ehe deines Sohnes zerbrach nach weniger als einem Jahr; er hatte bereits ein Alkoholproblem, das sich daraufhin für eine Weile noch verschlimmerte; deine Tochter entfernte sich weit vom Nest und meldete sich nur unregelmäßig, bis sie mit einem unausstehlichen Partner wieder zu Hause landete.
Aber du kannst dich nicht beschweren.
Wenigstens riecht dein Zimmer nicht nach Pisse, und dein Sohn kommt dich besuchen, wenn er kann. Alles in allem hat der Junge es zu etwas gebracht. Du hast ihn nie gefragt, ob er seinen Beruf mag. Hast ihm nie dafür gedankt, dass er die Heimkosten für dich zahlt.
»Ich habe vergessen, dir Schokolade mitzubringen.«
»Die Mädchen holen mir welche, wenn ich sie darum bitte.«
»Auch Türkischen Honig? Gar nicht so leicht zu finden heutzutage.«
Mitch Fox nickte langsam, sagte aber nichts.
»War Jude mal hier?«
»Ich glaube nicht.« Die Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wann habe ich sie zuletzt gesehen?«
»Seit Weihnachten? Da frage ich einfach mal das Personal.«
»Ich glaube, sie war hier... War das letzte oder vorletzte Woche?«
Fox hatte unbewusst sein Handy hervorgeholt. Er tat, als schaute er in seinem Posteingang nach, wollte in Wirklichkeit jedoch die Uhrzeit wissen. Weniger als drei Minuten, seit er das Auto abgeschlossen hatte.
»Ich habe endlich den Fall zu Ende gebracht, von dem ich dir erzählt habe.« Er klappte das Handy wieder zu. »Habe mich heute Morgen mit dem Staatsanwalt getroffen - sieht aus, als käme es zur Verhandlung. Bis dahin kann allerdings noch eine Menge schiefgehen...«
»Ist heute Sonntag?«
»Freitag, Dad.«
»Ich höre dauernd Glocken.«
»Um die Ecke ist eine Kirche - vielleicht findet eine Hochzeit statt.« Fox glaubte es selbst nicht: Er war an der Kirche vorbeigefahren, und sie hatte leer ausgesehen. Warum tue ich das?, fragte er sich. Warum belüge ich ihn?
Die Antwort: So war es am einfachsten.
»Wie geht es Mrs. Sanderson?«, fragte er, während er erneut sein Taschentuch aus der Hosentasche zog.
»Sie hat Husten. Will nicht, dass ich mich anstecke.« Mitch Fox hielt inne. »Bist du sicher, dass du hier sein solltest, mit deinen ganzen Keimen?« Dann schien ihm ein Gedanke zu kommen. »Es ist Freitag, und es ist noch hell... Wieso bist du nicht bei der Arbeit?«
»Hab freibekommen, weil ich ein braver Junge bin.« Fox stand auf und strich im Zimmer umher. »Hast du alles, was du brauchst?« Auf dem Nachttisch sah er einen Stapel älterer Taschenbücher: Wilbur Smith; Clive Cussler; Jeffrey Archer - Bücher, die Männer angeblich mochten. Vermutlich hatte das Personal sie ausgesucht; sein Vater war nie ein großer Leser gewesen. Der Fernseher hing an einem Träger hoch oben in einer Ecke des Zimmers - was das Fernsehen schwierig machte, es sei denn, man lag im Bett. Als er einmal zu Besuch gekommen war, lief gerade ein Pferderennen, dabei hatte sein Vater sich nie dafür interessiert - wieder das Personal. Die Tür zum Badezimmer war angelehnt. Fox schob sie auf und warf einen Blick hinein. Keine Badewanne, aber eine Duschkabine mit einem Klappstuhl. Es roch nach medizinischem Shampoo, dasselbe Zeug, das seine Mum für ihn und Jude benutzt hatte, als sie Kinder waren.
»Es ist nett hier, nicht wahr?« Die Frage stellte er laut, aber nicht so, dass sein Vater sie hören konnte. Genau das hatte er jedes Mal gefragt, seit sie Dads Umzug aus der Doppelhaushälfte in Morningside bewerkstelligt hatten. Anfangs war es eine rhetorische Frage gewesen; inzwischen konnte er es nicht mehr so genau sagen. Sein Elternhaus hatte ausgeräumt werden müssen. Einige der Möbel standen in Fox’ Garage. Auf seinem Speicher stapelten sich Schachteln mit Fotos und anderen Erinnerungsgegenständen, von denen ihm die meisten wenig oder nichts bedeuteten. Eine Zeitlang hatte er bei seinen Besuchen welche mitgebracht, aber es hatte seinen Vater aufgeregt, wenn er sie nicht zuordnen konnte. Namen, von denen er fand, er hätte sie wissen müssen, waren aus seinem Gedächtnis gelöscht. Gegenstände hatten ihre Bedeutung verloren. Dann füllten sich die Augen des alten Herrn mit Tränen.
»Möchtest du irgendwas machen?«, fragte Fox und setzte sich wieder auf den Bettrand.
»Eigentlich nicht.«
»Fernsehen? Vielleicht eine Tasse Tee?«
»Mir geht’s gut.« Unvermittelt richtete Mitch Fox den Blick auf seinen Sohn. »Dir auch, oder?«
»Mir ging’s noch nie besser.«
»Wie läuft’s bei der Arbeit?«
»Ich werde verehrt und geachtet von allen, die mich kennen.«
»Eine Freundin?«
»Zur Zeit nicht.«
»Wie lange seid ihr jetzt schon geschieden, du und...?«Wieder zogen die Augenbrauen sich zusammen. »Ihr Name liegt mir auf der...«
»Elaine - und sie ist schon lange passé, Dad.«
Mitch Fox nickte und wurde für einen Moment nachdenklich. »Du musst dich vorsehen, hörst du.«
»Ich weiß.«
»Maschinen, denen ist nicht zu trauen...«
»Ich arbeite nicht mit Maschinen, Dad.«
»Trotzdem...«
Wieder gab Malcolm Fox vor, den Nachrichteneingang auf seinem Handy zu prüfen. »Ich kann schon auf mich aufpassen«, versicherte er seinem Vater. »Mach dir keine Sorgen.«
»Sag Jude, sie soll mich mal wieder besuchen«, bat Mitch Fox. »Sie muss auf ihrer Treppe vorsichtiger sein...«
Malcolm Fox blickte von seinem Handy auf. »Ich werd’s ihr ausrichten«, sagte er.
»Was hat Dad mir da von einer Treppe erzählt?«
Fox stand draußen, neben seinem Auto. Es war ein silbergrauer Volvo S60 mit viertausendachthundert Kilometern auf dem Tacho. Er hatte es ein halbes Dutzend Mal klingeln lassen. Gerade wollte er auflegen, als seine Schwester doch noch abhob.
»Du hast Mitch besucht?«, mutmaßte sie.
»Er hat nach dir gefragt.«
»Ich war letzte Woche da.«
»Nachdem du auf der Treppe gestürzt warst?«
»Mir geht’s gut. Nur ein paar Beulen und blaue Flecke.«
»Könnten die blauen Flecke sich im Gesicht befinden, Jude?«
»Du klingst wie ein Polizist, Malcolm. Ich habe ein paar Sachen runtergebracht und bin hingefallen.«
Fox schwieg einen Moment, während er den Verkehr beobachtete. »Und wie geht’s sonst so?«
»Tut mir leid, dass wir uns über Weihnachten nicht sehen konnten. Habe ich mich für die Blumen bedankt?«
»Du hast mir an Silvester eine SMS geschickt und mir ein >Guter Meter Jahr< gewünscht.«
»Ich krieg noch die Krise mit diesem Handy - die Tasten sind viel zu klein.«
»Vielleicht war da Alkohol im Spiel.«
»Das vielleicht auch. Bist du immer noch trocken?«
»Seit fünf Jahren.«
»Kein Grund zur Überheblichkeit. Wie ging es Mitch?«
Fox fand, dass er jetzt lange genug an der frischen Luft gewesen war, er machte die Autotür auf und stieg ein. »Ich weiß nicht, ob er genug isst.«
»Es kann ja nicht jeder deinen Appetit haben.«
»Meinst du, ich sollte einen Arzt bitten, sich ihn mal anzuschauen?«
»Würde er es dir danken?«
Fox hatte eine Tüte Pfefferminzbonbons vom Beifahrersitz genommen und steckte sich eins in den Mund. »Wir sollten uns mal abends treffen.«
»Klar.«
»Nur du und ich, meine ich.« Er lauschte auf das Schweigen seiner Schwester, gespannt, ob sie ihren Partner erwähnen würde. Wenn sie es tat, könnte er das Gespräch vielleicht endlich in die Richtung lenken, die sie bisher tunlichst vermieden hatten:
Und Vince?
Nein, nur wir beide.
Warum?
Weil ich weiß, dass er dich schlägt, Jude, und weil ich nicht schlecht Lust habe zurückzuschlagen.
Du irrst dich, Malcolm.
Tue ich das? Dann zeig mir diese blauen Flecke und die Treppe, wo es angeblich passiert ist, okay?
Doch sie sagte nur: »Gut, ja, das machen wir.« Bald darauf verabschiedeten sie sich, und Fox klappte sein Handy zu und warf es auf den Beifahrersitz. Wieder eine verpasste Gelegenheit. Er ließ den Motor an und fuhr nach Hause.
Zu Hause, das war ein Bungalow in Oxgangs. Als er und Elaine das Haus kauften, hatten die Verkäufer von Fairmilehead, der Anwalt dagegen von Colinton gesprochen - beides benachbarte Viertel, die sogar damals schon für attraktiver gehalten wurden als Oxgangs - aber Fox fühlte sich hier wohl. Es gab Geschäfte und Pubs und eine Buchhandlung. Die Stadtumgehung war nur Minuten entfernt. Es fuhren regelmäßig Busse, und die zwei großen Supermärkte waren mit dem Auto gut zu erreichen. Fox konnte seinem Vater keinen Vorwurf machen, dass er Elaines Namen vergessen hatte. Die Zeit des Werbens hatte sechs Monate gedauert, die Ehe weitere zehn, und das Ganze lag sechs Jahre zurück. Sie hatten sich aus der Schule gekannt, sich später jedoch aus den Augen verloren. Dann die Wiederbegegnung auf der Beerdigung eines alten Freundes. Sie beschlossen, nach dem Essen noch einen trinken zu gehen, und fielen, berauscht von Alkohol und Lust, ins Bett. »Lust auf Leben«, wie sie es genannt hatte. Für Elaine war gerade eine Langzeitbeziehung zu Ende gegangen - der Begriff »Lückenbüßer« war Fox erst nach der Hochzeit in den Sinn gekommen. Sie hatte ihren Verflossenen zu der Feier eingeladen, und er war gekommen, gut gekleidet und ein Lächeln auf den Lippen.
Einen Monat nach der Hochzeitsreise (Korfu; sie bekamen beide einen Sonnenbrand) hatten sie ihren Fehler bemerkt. Sie war diejenige, die ging. Er hatte sie gefragt, ob sie den Bungalow wolle, doch sie fand, es sei seiner, und so war er geblieben und hatte das Haus mehr nach seinem Geschmack eingerichtet. »Junggesellenbeige«, hatte die Beschreibung eines Freundes gelautet, gefolgt von der Warnung: »Pass bloß auf, dass dein Leben nicht auch diese Farbe annimmt.« Als Fox in die Auffahrt einbog, fragte er sich, was an beige so verkehrt war. Es war einfach eine Farbe wie jede andere auch. Im Übrigen hatte er die Haustür gelb gestrichen. Er hatte zwei Spiegel aufgehängt, einen unten in der Diele, den anderen am oberen Treppenabsatz. Gerahmte Gemälde machten sowohl das Ess- als auch das Wohnzimmer freundlicher. Der Toaster in der Küche glänzte silbern. Sein Federbettbezug war kräftig grün und die dreiteilige Couchgarnitur rot wie Ochsenblut.
»Alles andere als beige«, murmelte er vor sich hin.
Kaum war er im Haus, fiel ihm wieder ein, dass er seine Aktentasche im Kofferraum vergessen hatte. Sobald man in die Innere eintrat, wurde man gewarnt: Lassen Sie nichts sichtbar herumliegen. Er ging wieder hinaus, um sie zu holen, und legte sie auf die Küchenarbeitsplatte, bevor er den Wasserkessel füllte. Der Plan für den Rest des Tages: Tee mit Toast, Füße hochlegen. Für später wartete im Kühlschrank eine Lasagne. Im Ausverkauf bei Zavvi hatte er ein halbes Dutzend DVDs erstanden; davon könnte er sich abends eine oder zwei reinziehen, falls nichts in der Glotze kam. Früher war Zavvi Virgin gewesen. Doch Virgin war pleitegegangen. Genau wie der Woolworth in der Lothian Road - als Kind war Fox regelmäßig, fast schon andächtig, dort hingegangen, um Spielsachen und Süßigkeiten zu kaufen, als Teenager dann Singles und LPs. In den letzten Jahren war er mindestens hundertmal daran vorbeigefahren, jedoch nie mit einem triftigen Grund, anzuhalten und hineinzugehen. In seiner Aktentasche lag eine Tageszeitung: weitere Untergangsszenarien für die Wirtschaft. Vielleicht war das einer der Gründe dafür, dass heute jeder Zehnte Antidepressiva nahm. ADHS war auf dem Vormarsch, und jedes fünfte Grundschulkind war übergewichtig und auf dem besten Weg zum Diabetiker. Das schottische Parlament hatte im zweiten Anlauf seinen Haushalt verabschiedet, Kommentatoren vertraten jedoch die Ansicht, dass zu viele Arbeitsplätze von der öffentlichen Hand abhängig waren. Schlimmer war es anscheinend nur noch in Ländern wie Kuba. Zufällig gehörte Buena Vista Social Club zu den DVDs, die er gekauft hatte. Vielleicht würde er es am Abend damit probieren: ein kleines bisschen Kuba in Oxgangs. Ein kleines bisschen Abwechslung.
Ein anderer Zeitungsartikel handelte von einer litauischen Frau. Nachdem sie in Brechin ermordet worden war, war ihre Leiche zerstückelt ins Meer geworfen und dann, Stück für Stück, am Strand von Arbroath wieder angespült worden. Ein paar Kinder hatten den Kopf entdeckt, und jetzt standen zwei ausländische Arbeitnehmer wegen Mordes vor Gericht. Das war ein Fall ganz nach dem Geschmack vieler Polizisten. Fox hatte in seinem früheren Leben beim CID nicht mehr als eine Handvoll Morde bearbeitet, erinnerte sich aber an jeden Tatort und jede Autopsie. Er war dabei gewesen, wenn man Familienangehörigen die Nachricht überbracht hatte oder sie ins Leichenschauhaus begleitet werden mussten, um jemanden zu identifizieren. Die Innere war eine Welt fernab von all dem, weshalb andere Polizisten meinten, Fox und seine Kollegen hätten es leicht.
»Wieso fühlt es sich dann nicht auch leicht an?«, fragte er laut, gerade als der Toast fertig war. Er nahm alles einschließlich der Zeitung mit hinüber auf das Wohnzimmersofa. Viel würde es zu dieser Tageszeit im Fernsehen nicht geben, aber BBC-Nachrichten kamen immer. Sein Blick wanderte zum Kaminsims. Dort standen gerahmte Fotos. Auf dem einen waren seine Mutter und sein Vater zu sehen, vermutlich im Urlaub, Mitte der Sechzigerjahre. Das andere zeigte Fox selbst, noch nicht ganz Teenager, den Arm um seine jüngere Schwester gelegt, die neben ihm auf dem Sofa saß. Ihm war, als hätten sie sich im Haus einer Tante befunden, aber er wusste nicht, bei welcher. Fox lächelte in die Kamera, Jude dagegen interessierte sich nur für ihren Bruder. Ein Bild blitzte in seinem Kopf auf - Jude, wie sie die Treppe in ihrem Haus hinunterstolperte. Was hatte sie getragen? Leere Tassen vielleicht, oder einen Korb Wäsche. Doch dann war sie am Fuß der Treppe angelangt, unversehrt, und Vince stand mit geballter Faust vor ihr. Es war schon einmal passiert, und Jude hatte damals behauptet, sie habe als Erste zugeschlagen, oder ihm jedenfalls ordentlich Paroli geboten. Es wird nicht wieder vorkommen...
Fox war der Appetit vergangen, und der Tee schmeckte, als hätte er zu viel Milch hineingegossen. Sein Handy gab einen Summton von sich: eine SMS. Sie kam von Tony Kaye. Er war mit Joe Naysmith im Pub.
»Weiche von mir, Satan«, sagte Fox zu sich selbst.
Fünf Minuten später suchte er den Autoschlüssel.
Montag, 9. Februar 2009
2
Montagmorgen. Die Parkplatzsuche am Polizeipräsidium kostete Malcolm Fox fast so viel Zeit wie die gesamte Fahrt dorthin. Tony Kaye und Joe Naysmith waren schon im Büro. Naysmith, der Jüngste im Team, hatte eine Kanne Kaffee gekocht und Milch besorgt. Jeweils freitags bat er die anderen zur Kasse. Manchmal zahlten sie, manchmal aber auch nicht, dann tat Naysmith immer so, als führte er Buch über das, was sie ihm schuldeten.
»Ein Pfund steht noch aus«, sagte er jetzt und pflanzte sich, die Hände in den Hosentaschen, vor Fox’ Schreibtisch auf.
»Sagen wir, am Wochenende das Doppelte oder nichts«, antwortete Fox, während er seinen Mantel aufhängte. Es war ein wunderschöner heller Tag, die Straßen waren frei von Eis. In den Gärten seiner Siedlung hatte er im Vorbeifahren weiße Kleckse erblickt, wo einmal Schneemänner gestanden hatten. Er zog sein Jackett aus, worauf die dunkelblauen Hosenträger zum Vorschein kamen. Seine Krawatte war heute von einem leuchtenderen Rot als am Freitag, sein Hemd weiß mit gelben, haarfeinen Streifen. Obwohl seine Aktentasche fast leer war, machte er sie auf. Naysmith hatte sich zu seiner Kaffeekanne zurückgezogen.
»Drei Löffel Zucker«, erinnerte Kaye ihn, was ihm die erwartete Geste einbrachte.
»Nichts von Bob gehört?«, fragte Fox.
Naysmith schüttelte seinen Wuschelkopf - für einen Haarschnitt hatte er am Wochenende keine Zeit gehabt - und deutete auf Fox’ Schreibtisch. »Da müsste aber eine Nachricht liegen.«
Fox schaute nach, sah aber nichts. Er rutschte mit seinem Stuhl zurück und spähte unter den Schreibtisch. Auf dem Boden lag, bereits mit dem Abdruck seiner Sohle versehen, ein Zettel. Er hob ihn auf, drehte ihn um und entzifferte McEwans Handschrift.
Inglis - CEOP - 10.30
CEOP stand für Kinderschutz - Child Exploitation and Online Protection lautete die offizielle Bezeichnung. Die meisten Polizisten sprachen die Abkürzung »Chop« aus. Der Chop Shop, in dem keine Autos, sondern ganz andere Dinge ausgeschlachtet wurden, befand sich in Zimmer 2.24, um die Ecke und dann am Ende des Korridors. Fox war ein-, zweimal dort gewesen, schon beim bloßen Gedanken an das, was dort vor sich ging, zog sich ihm der Magen zusammen.
»Kennt ihr jemanden namens Inglis?«, fragte er laut. Weder Naysmith noch Kaye konnten ihm helfen. Fox schaute auf seine Uhr: Bis zehn Uhr dreißig war es noch über eine Stunde. Naysmith rührte geräuschvoll in einem Kaffeebecher. Kaye lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, streckte sich und gähnte. Fox faltete das Stück Papier und steckte es in die Tasche, dann stand er auf und zog sein Jackett wieder an.
»Dauert nicht lange«, sagte er.
»Wir halten die Stellung«, versicherte ihm Kaye.
Der Korridor war ein paar Grad kühler als das Büro der Inneren. Obwohl Fox sich nicht sonderlich beeilte, stand er kurz darauf vor Zimmer 2.24. Es war die allerletzte Tür im Gang, gesichert durch ein spezielles Hochsicherheitsschloss und eine eigene Sprechanlage. Namen waren keine aufgelistet; im Chop Shop blieb man unter sich - ähnlich wie in der Inneren. Auf einem Schild an der Tür stand eine Warnung: »In diesem Raum kann man auf beunruhigende Geräusche und Bilder stoßen. Bei der Arbeit an Bildschirmen ist die Anwesenheit von mindestens zwei Personen erforderlich.« Fox atmete tief durch, drückte den Knopf und wartete. Aus dem Lautsprecher drang eine Männerstimme.
»Ja?«
»Inspector Fox. Ich möchte Inglis sprechen.«
Erst Schweigen, dann wieder die Stimme: »Ein bisschen übereifrig, was?«
»Ach ja?«
»Zehn Uhr dreißig...«
»Hier steht halb zehn.«
Wieder Stille, dann: »Moment.«
Er wartete, den Blick auf die Spitzen seiner Schuhe gerichtet. Er hatte sie einen Monat zuvor in der George Street gekauft, und sie drückten noch immer. Obwohl es hochwertige Schuhe waren, die nach Aussage der Verkäuferin halten würden »bis zum Jüngsten Tag... oder bis die neue Straßenbahn ihren Betrieb aufnimmt, je nachdem, was früher eintritt«. Ein schlaues Mädchen mit Sinn für Humor. Fox hatte gefragt, warum sie nicht studiere.
»Wozu?«, hatte sie geantwortet. »Es gibt so oder so keine guten Jobs, es sei denn, man wandert aus.«
Das hatte Fox an seine eigene Teenagerzeit erinnert. Eine ganze Reihe seiner Altersgenossen hatten davon geträumt, im Ausland das große Geld zu machen. Einigen wenigen war es auch gelungen.
Die Tür wurde von innen geöffnet, eine Frau stand vor ihm. Sie war mit einer hellgrünen Bluse und einer schwarzen Hose bekleidet, etwa zehn Zentimeter kleiner als er und vielleicht zehn Jahre jünger. Am Handgelenk trug sie eine goldene Uhr. Keine Ringe an den Fingern. Sie streckte ihm die rechte Hand hin.
»Ich bin Inglis.«
»Fox«, sagte er, und dann mit einem Lächeln: »Malcolm Fox.«
»Sie sind von der PSU.« Es war eine Feststellung, Fox nickte trotzdem. Das Büro war beengter, als er es in Erinnerung hatte. Fünf Schreibtische, zwischen denen man sich gerade noch hindurchquetschen konnte. An den Wänden reihten sich Aktenschränke und freistehende Metallregale. Auf den Regalen standen Computer und Festplattenlaufwerke. Manche der Festplatten waren ausgebaut worden, damit man sie besser untersuchen konnte. Andere hatte man als Beweisstücke eingetütet und etikettiert. Die einzige freie Stelle an der Wand war mit Gesichtern tapeziert. Die Männer sahen nicht alle gleich aus. Manche waren jung, manche alt; manche hatten Kinn- oder Schnurrbärte; manche schauten dumpf und unsicher, andere wieder unverfroren in die Kamera. In dem Raum befand sich nur noch eine weitere Person, vermutlich der Mann, dessen Stimme über die Sprechanlage gekommen war. Er saß an seinem Schreibtisch und musterte den Besucher. Fox nickte ihm zu, und der Mann nickte zurück.
»Das ist Gilchrist«, sagte Inglis. »Kommen Sie herein, und machen Sie sich’s bequem.«
»Geht das überhaupt?«, fragte Fox.
Inglis schaute sich um. »Wir tun, was wir können.«
»Sind Sie nur zu zweit?«
»Zurzeit ja«, räumte sie ein. »Hoher Personalverschleiß, Sie wissen schon.«
»Und außerdem geben wir die Fälle am Ende meistens an London ab«, fügte Gilchrist hinzu. »Da unten haben sie ein hundert Mann starkes Team.«
»Das kommt mir wiederum viel vor«, bemerkte Fox.
»Die müssen auch mit einigem fertig werden«, erwiderte Inglis.
»Sage ich eigentlich Inglis zu Ihnen? Ich meine, gibt es eine Rangbezeichnung oder vielleicht einen Vornamen...?«
»Annie«, verriet sie ihm schließlich. Mit einer Handbewegung bat sie Fox, sich an dem leeren Schreibtisch neben ihrem niederzulassen.
»Dreh dich doch mal, Anthea-Püppchen«, sagte Gilchrist. Die Art, wie er es sagte, ließ Fox ahnen, dass der Witz nicht zum ersten Mal gemacht wurde.
»Bruce Forsyth?«, mutmaßte er. »The Generation Game?«
Inglis nickte. »Angeblich wurde ich nach der hinreißenden Assistentin mit dem Schmollmund benannt.«
»Aber Annie ist Ihnen lieber?«
»Annie ist mir entschieden lieber, außer Sie möchten auf einer eher förmlichen Ebene bleiben, dann bitte DS Inglis.«
»Annie ist in Ordnung.« Im Sitzen zupfte Fox einen losen Faden von einem Hosenbein. Er versuchte, die Akte auf dem Schreibtisch vor ihm nicht zu beachten, die die Aufschrift »Schuluniform« trug. Er räusperte sich. »Mein Chef hat mir gesagt, Sie wollten mich sprechen.«
Inglis nickte. Sie hatte sich an ihren Computer gesetzt. Ein weiterer Laptop stand etwas wackelig auf dem Festplattenlaufwerk. »Wie viel wissen Sie über die CEOP?«, fragte sie.
»Ich weiß, dass Sie Ihre Zeit damit verbringen, Perversen nachzustellen.«
»Exakt auf den Punkt gebracht«, sagte Gilchrist, der weiter auf seiner Tastatur herumhämmerte.
»Früher war das noch deutlich einfacher«, fügte Inglis hinzu. »Inzwischen läuft alles digital. Kein Mensch bringt seine Fotos mehr zum Entwickeln. Niemand muss Zeitschriften kaufen oder sich gar die Mühe machen, irgendetwas auszudrucken, es sei denn ganz privat zu Hause. Man kann sich ein Kind von der anderen Seite des Globus ausgucken und sich erst dann mit ihm treffen, wenn feststeht, dass es bereit ist.«
»Ganz und gar bereit«, wiederholte Gilchrist.
Fox fuhr sich mit dem Finger am Kragen entlang. Es war höllisch warm hier drinnen. Er konnte sein Jackett nicht ablegen; sie befanden sich in einer geschäftlichen Besprechung, der erste Eindruck und so weiter. Allerdings fiel ihm auf, dass über der Rückenlehne von Annie Inglis’ Stuhl ein schickes roséfarbenes Jackett hing. Inglis trug einen glänzend braunen Pagenkopf, und Fox fragte sich, ob er wohl gefärbt war. Dazu ein dezentes Make-up. Keinen Nagellack. Außerdem bemerkte er, dass ihr Büro im Unterschied zu den anderen auf diesem Stockwerk blickdichte Fenster besaß.
»Es wird heiß hier drinnen«, erklärte sie ihm gerade. »Das kommt von den vielen Festplatten. Legen Sie ruhig Ihr Jackett ab, wenn Sie möchten.«
Er lächelte dünn: Während er sich bemüht hatte, ihre Gedanken zu lesen, hatte sie umgekehrt dasselbe versucht. Er entledigte sich des Jacketts, das er sich über die Knie legte. Als Inglis und Gilchrist einen Blick wechselten, war ihm klar, dass es mit seinen Hosenträgern zu tun hatte.
»Ein anderes Problem ist«, fuhr sie fort, »dass unsere >Klientel< immer gerissener wird. Die kennen sich mit der Hard- und Software besser aus als wir. Wir versuchen dauernd, mit ihnen Schritt zu halten. Ein Beispiel...«
Sie hatte mit dem Handgelenk die Maus auf ihrem Schreibtisch angestoßen. Der Computerbildschirm, der vorher schwarz gewesen war, zeigte jetzt ein verfremdetes Bild.
»Das nennen wir einen >Verwirbelungs-Strudel<«, erklärte sie. »Täter schicken sich gegenseitig Bilder, die sie zuvor verwirbelt haben. Wir müssen dann Software entwickeln, mit deren Hilfe wir sie >entstrudeln< können.« Mit einem Mausklick begann das Foto sich zu dem Bild eines Mannes zusammenzusetzen, der den Arm um einen asiatischen Jungen gelegt hatte. »Sehen Sie?«, fragte Inglis.
»Ja«, antwortete Fox.
»Es gibt noch jede Menge andere Tricks. Sie sind jetzt so weit, dass sie Bilder hinter anderen Bildern verstecken können. Wenn man davon nichts weiß, macht man sich vielleicht nicht die Mühe, sie hervorzuholen. Wir haben schon Festplatten gesehen, die in anderen Festplatten steckten...«
»Wir haben schon alles gesehen«, betonte Gilchrist. Inglis sah zu ihrem Kollegen hinüber.
»Schön wär’s«, erinnerte sie ihn. »Jede Woche gibt es irgendwas Neues, Ekelhafteres. Und alles ist rund um die Uhr verfügbar. Sie sitzen zu Hause an Ihrem Computer, surfen, bestellen vielleicht was oder lesen den neuesten Tratsch, und dabei trennen Sie vier Mausklicks von der Hölle.«
»Oder vom Himmel«, unterbrach Gilchrist, den Blick auf seinen eigenen Bildschirm geheftet. »Alles eine Frage des Geschmacks. Wir haben Sachen, da würden Ihnen die Schamhaare zu Berge stehen.«
Fox wusste, dass die Leute vom Chop Shop sich als einen besonderen Menschenschlag betrachteten, anders als die übrigen Polizisten in Fettes: dickhäutiger, robuster, durch ihren Job gestählt. Dazu kam ein gewisses Machogehabe. Er fragte sich, wie hart Annie Inglis gearbeitet hatte, um diesem Bild zu entsprechen.
»Ich höre Ihnen zu«, war alles, was er sagte. Inglis tippte mit der Spitze eines Kugelschreibers auf den Bildschirm.
»Dieser Typ hier«, sagte sie und zeigte auf den Mann mit dem asiatischen Jungen. »Wir wissen, wer er ist. Wir wissen ziemlich viel über ihn.«
»Ist er Polizist?«
Sie sah Fox an. »Wie kommen Sie darauf?«
»Warum sollte ich sonst hier sein?«
Sie nickte langsam. »Ja, Sie liegen richtig. Aber unser Mann ist Australier, mit Wohnsitz in Melbourne.«
»Und?«
»Wie gesagt, wir wissen eine Menge über ihn.« Sie schlug einen Ordner auf und nahm ein paar Blätter heraus. »Er betreibt eine Website für Gleichgesinnte. Vor der Registrierung muss man einen bestimmten Beitrag leisten.«
»Man muss teilen«, sagte Gilchrist. »Mindestens fünfundzwanzig Aufnahmen.«
»Aufnahmen?«
»Von sich selbst mit Kindern. Brüderlich teilen...«
»Dazu kommt aber noch ein symbolischer Geldbetrag, zahlbar per Kreditkarte«, ergänzte Inglis. Sie reichte Fox die beiden oberen Blätter, eine Liste mit Namen und Zahlen. »Kennen Sie jemanden?«
Fox ging die Liste zweimal durch. Sie enthielt an die hundert Namen. Langsam schüttelte er den Kopf.
»J. Breck?«, hakte Inglis nach. »Das J steht für Jamie.«
»Jamie Breck...« Der Name sagte Fox etwas. Dann kam es ihm. »Er gehört zur Lothian and Borders«, sagte er.
»Stimmt genau.«
»Falls es derselbe Jamie Breck ist.«
»Die Kreditkarte ist nach Edinburgh zurückzuverfolgen. Genau genommen zu Jamie Brecks Bank.«
»Das haben Sie bereits überprüft?« Fox gab die Liste zurück. Inglis nickte.
»Das haben wir.«
»Also gut. Und wo komme ich nun ins Spiel?«
»Im Moment ist seine Kreditkarte alles, was wir haben. Bislang hat er noch keine Fotos eingestellt - vielleicht tut er es auch gar nicht.«
»Ist die Seite noch im Netz?«
»Wir hoffen, dass sie nicht Wind bekommen, jedenfalls nicht, bevor wir so weit sind.«
»Die Nutzer kommen aus über zwölf Ländern«, warf Gilchrist ein. »Lehrer, Jugendleiter, Pfarrer...«
»Und keiner weiß, dass Sie ihnen auf der Spur sind?«
»Wir und ein Dutzend andere Polizeibehörden rund um den Globus.«
»Einmal«, erzählte Inglis, »verhaftete die Londoner Dienststelle den Leiter eines Tauschrings und übernahm den Betrieb seiner Website. Die User fingen erst nach zehn Tagen an, Verdacht zu schöpfen...«
»Bis dahin«, unterbrach Gilchrist erneut, »lag aber schon jede Menge Material gegen sie vor.«
Fox nickte und wandte sich wieder Inglis zu. »Was erwarten Sie von der PSU?«
»Normalerweise würden wir London die Arbeit machen lassen, aber da es einer von hier ist...« Sie hielt inne, den Blick auf Fox gerichtet. »Wir möchten, dass Sie uns ein Bild erstellen. Wir wollen mehr über Jamie Breck wissen.«
Fox sah sich das Foto auf dem Monitor an. »Und es könnte nicht vielleicht ein Fehler sein?« Als er seine Aufmerksamkeit wieder auf Annie Inglis lenkte, zuckte sie die Achseln.
»Chief Inspector McEwan hat uns erzählt, dass Sie gerade Glen Heaton hinter Schloss und Riegel gebracht haben. Breck arbeitet auf derselben Wache.«
»Das heißt?«
»Das heißt, Sie können mit ihm sprechen.«
»Über Heaton?«
»Sie lassen es so aussehen, als ginge es um Heaton. Dann schildern Sie uns Ihren Eindruck.«
Fox schüttelte den Kopf. »Ich bin bei denen nicht besonders beliebt. Vermutlich würde Breck mich nicht mal grüßen. Wenn er allerdings tatsächlich Dreck am Stecken hat...«
»Ja?«
»Können wir Nachforschungen anstellen.«
»Personenüberwachung?«
»Falls nötig.« Jetzt schenkte sie ihm ihre ganze Aufmerksamkeit, und selbst Gilchrist hatte seine Beschäftigung unterbrochen. »Wir können überprüfen, was er auf seinem Computer anstellt. Wir können sein Privatleben durchleuchten.« Fox hielt inne, während er sich die Stirn rieb. »Die Kreditkarte ist alles, was Sie haben?«
»Bis jetzt.«
»Was hält ihn davon ab zu behaupten, jemand anders müsse sie benutzt haben?«
»Deswegen brauchen wir ja mehr.« Inglis hatte sich mit ihrem Stuhl gedreht, sodass zwischen ihren und seinen Knien nur noch ein Millimeter Platz war. Die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, die Hände gefaltet, beugte sie sich vor. »Er darf aber keinen Verdacht schöpfen. Wenn er es tut, warnt er alle anderen. Dann haben wir sie verloren.«
»Und die Kinder dazu«, ergänzte Fox leise.
»Was?«
»Es geht doch um die Kinder, oder? Kinderschutz?«
»Genau«, sagte Gilchrist.
»Genau«, wiederholte Annie Inglis.
Ein paar Schritte vor dem Büro der Inneren blieb Fox stehen. Er hatte sein Jackett wieder angezogen und fuhr sich, nur um irgendetwas zu tun, mit den Fingern am Revers entlang. Er dachte über DS Anthea Inglis (die lieber Annie genannt werden wollte) und ihren Kollegen Gilchrist nach - von dem er nicht einmal den Rang oder Vornamen wusste. Und über das ganze Chop-Shop-Ding. Die PSU mochte zwar als die »dunkle Seite« gelten, aber er hatte den Eindruck, dass Inglis und ihr Kollege jeden Tag in eine Finsternis schauten, wie er sie niemals kennenlernen würde. Dessen ungeachtet legten sie eine gewisse Großspurigkeit an den Tag. Bei der PSU wusste man, dass alle einen hassten, aber mit der CEOP verhielt es sich anders. Die Polizeikollegen schreckte der bloße Gedanke an das, was man in 2.24 täglich zu sehen bekam, sie mieden einen, weil sie sich genau davor fürchteten. Ja, das war’s: Der Chop Shop war gefürchtet. Richtiggehend gefürchtet, anders als die lnnere. Was hinter der verschlossenen Tür von 2.24 an Albträumen und Schreckgespenstern lauerte, genügte für ein ganzes Leben.
»Malcolm?« Die Stimme kam von hinten. Er drehte sich um und sah Annie Inglis mit verschränkten Armen und leicht ausgestellten Beinen da stehen. Dann kam sie auf ihn zu, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Hier«, sagte sie und hielt ihm in der ausgestreckten Hand etwas hin. Es war ihre Visitenkarte. »Da stehen meine Handynummer und meine E-Mail-Adresse drauf, nur für den Fall.«
»Danke«, sagte er, während er vorgab, die Zeilen zu studieren. »Ich habe gerade...«
»Einfach hier rumgestanden?«, mutmaßte sie. »Und über alles nachgedacht?«
Er holte seine Brieftasche hervor und ließ eins seiner eigenen Kärtchen herausgleiten. Sie nahm es mit einem leichten Kopfnicken entgegen, drehte sich um und ging den Flur hinunter zurück. Sehr elegant, fand er. Eine Frau, die sich ihrer Stärken bewusst ist und sich in ihrer Haut wohl fühlt. Eine, die weiß, dass sie gemustert wird. Hübscher Arsch noch dazu.
Im Büro der PSU ging es nun viel lauter zu. Bob McEwan saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Als er Fox sah, gab er ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er ruhig näherkommen könne. McEwans Schreibtisch war immer aufgeräumt, aber wie Fox wusste, lag es daran, dass alles regelmäßig in diversen Schubladen verstaut wurde. Tony Kaye hatte dort einmal nach einer Paracetamol gesucht und Fox und Naysmith gerufen, um ihnen etwas zu zeigen.
»Die reinste Archäologie«, hatte Joe Naysmith bemerkt. »Schicht auf Schicht...«
McEwan legte auf und begann, sich in seiner kaum lesbaren Handschrift eine Notiz zu machen. »Wie lief’s?«, fragte er leise.
Fox stützte sich mit den Fingerknöcheln auf den Schreibtisch und beugte sich zu seinem Chef vor. »Gut«, sagte er. »Es lief gut. Habe ich Ihr Okay?«
»Kommt drauf an, was Sie meinen.«
»Erst einmal ein Background-Check, danach, falls nötig, Personenüberwachung.«
»Was ist mit seinem Computer?«
»Das Wichtigste zuerst.«
»Hat man Sie gebeten, mit ihm zu sprechen?«
»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist. Er könnte mit Heaton befreundet sein.«
»Genau das habe ich auch gedacht«, sagte McEwan, »und deshalb eine kleine Unterredung geführt.«
Fox’ Augen verengten sich. »Mit wem?«
»Jemandem, der Bescheid weiß.« Da er spürte, dass Fox versuchte, die handgeschriebene Notiz zu entziffern, drehte McEwan sie um. »Breck und Heaton sind eher Rivalen als Kumpel. Damit haben Sie lhren Vorwand.«
»Aber unsere Ermittlungen gegen Heaton sind unter Dach und Fach.«
»Fürs Erste ja, aber wer weiß das schon genau?«
»Und Sie stehen hinter mir? Zeichnen den Papierkram ab?«
»Was immer Sie brauchen. Der DCC ist auch schon eingeweiht.«
Der Deputy Chief Constable hieß Adam Traynor, seine Einwilligung war für alle verdeckten Ermittlungen im kleinen Stil erforderlich. McEwans Telefon klingelte, und er legte die Hand auf den Hörer, bereit abzuheben, den Blick aber immer noch auf Fox gerichtet. »Ich überlasse es Ihnen, Foxy.« Dann, als Fox sich aufrichtete, um zu gehen: »Wie war überhaupt Ihr langes Wochenende?«
»Habe mir zwei Nächte in Monaco gegönnt«, erwiderte Fox.
Als er an Tony Kayes Schreibtisch vorbeiging, fragte er sich, wie viel dieser Radar von einem Menschen wohl aufgeschnappt haben mochte. Kaye schien eifrig damit beschäftigt, auf seiner Tastatur ein paar Notizen einzutippen. »lrgendwas Interessantes?«, fragte Fox.
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, entgegnete Kaye mit einem raschen Blick zur Chef-Ecke.
»Vielleicht ist genug Platz, dass du auch an Bord kommen kannst«, beschloss Fox spontan, während er sich am Kinn kratzte.
»Sag einfach Bescheid, Foxy.«
Fox nickte zerstreut und begab sich zurück in die relative Sicherheit seines Schreibtischs. Naysmith war dabei, eine weitere Kanne Kaffee zu kochen.
»Drei Löffel Zucker!«, rief Kaye ihm zu.
Naysmith’ Mund zuckte, dann fiel ihm auf, dass er beobachtet wurde. Er winkte mit einem leeren Kaffeebecher in Fox’ Richtung, doch der schüttelte den Kopf.
3
Bei der HR war man nie besonders erfreut, jemanden von der Inneren zu sehen. Die »Human Ressources« hatten früher einmal Personalabteilung geheißen, was Fox vorzog. Die HR dagegen hätte es lieber gesehen, wenn Beamte wie er nicht einfach so hereinspazieren dürften, als hätten sie hier das Sagen. Man reagierte dann immer gereizt, und das aus gutem Grund. Man musste ihm freien Zugang gewähren, was praktisch jedem anderen verwehrt war. McEwan hatte vorher telefonisch mitgeteilt, dass Fox jeden Augenblick eintreffen würde. Zudem hatte er einen Brief getippt und unterschrieben, der bestätigte, dass Fox Akteneinsicht bekommen musste. Namen wurden keine genannt, was einige von der HR fuchste; dahinter stand wohl die Vermutung, man könne ihnen keine Informationen anvertrauen. Wenn bekannt würde, wen die Innere im Visier hatte, könnte die Information weitergegeben und damit jegliche Ermittlung von vornherein sabotiert werden. In der Vergangenheit war das einmal passiert, vor über zehn Jahren; seitdem waren die Vorschriften geändert worden, sodass die internen Ermittler ihrer Suche jetzt vollkommen ungestört nachgehen konnten. Zu diesem Zweck musste die Abteilungsleiterin ihr Büro räumen und es dem Beamten der Inneren zur Benutzung überlassen, gleiches galt für den PC, auf dem sie sich zuvor eingeloggt hatte. Außerdem musste sie ihm die Schlüssel zu den vielen Aktenschränken im Großraumbüro aushändigen. Dann konnte sie nur noch mit verschränkten Armen dastehen, wütend, den Blick abgewandt, während er seiner Aufgabe nachging.
Fox hatte diese Prozedur schon oft durchlaufen, anfangs war er noch bemüht freundlich gewesen, hatte sich sogar entschuldigt. Da Mrs. Stephens jedoch durch nichts zu besänftigen war, hatte er es aufgegeben. Es machte ihr nach wie vor Freude, ihn und seinesgleichen hinzuhalten, indem sie die Mitteilung des Chief Inspectors mit größter Sorgfalt und Aufmerksamkeit las, sich manchmal sogar telefonisch bei McEwan rückversicherte. Anschließend ließ sie sich Fox’ Dienstausweis geben und trug seine Daten in ein Formular ein, das er unterschreiben musste. Dann verglich sie seine Unterschrift mit der auf seinem Dienstausweis, atmete laut hörbar aus und übergab ihm die Schlüssel, ihren PC, ihren Schreibtisch und ihr Büro.
»Danke«, sagte er dann, für gewöhnlich seine erste und letzte Äußerung ihr gegenüber.
Die HR lag im Erdgeschoss des Polizeipräsidiums. Nun war Lothian and Borders nicht die größte Polizeieinheit in Schottland, und Fox fragte sich oft, was sie zu tun hatten. Es war ziviles Personal, hauptsächlich weiblich. Die Frauen starrten ihn über ihre Bildschirme hinweg an, von der ein oder anderen bekam er ein Augenzwinkern oder eine Kusshand. Manche kannte er vom Sehen aus der Kantine. Es gab jedoch nie ein Gespräch, keine Einladung zu einer Tasse Kaffee oder Tee - dafür sorgte Mrs. Stephens.
Fox vergewisserte sich, dass niemand zusah, als er Jamie Brecks Akte aus dem Schrank holte. Er drückte sie so an sich, dass man den Namen nicht lesen konnte; nachdem er die Schublade wieder verschlossen hatte, ging er in Mrs. Stephens’ Büro zurück, machte die Tür hinter sich zu und setzte sich. Dass ihr Stuhl noch warm war, störte ihn wenig. Die schmale Akte enthielt alle Einzelheiten über Brecks Polizeilaufbahn sowie frühere Abschlüsse. Er war siebenundzwanzig und seit sechs Jahren bei der Polizei, wovon er die ersten zwei in Ausbildung und Streifendienst verbracht hatte, bevor er zum CID wechselte. Seine Beurteilungen waren positiv, fast schon überschwenglich. Über die Fälle, die er bearbeitet hatte, stand nichts in den Akten, es gab aber auch keinen Hinweis auf Schwierigkeiten oder disziplinarische Probleme. »Ein Vorzeigepolizist«, lautete eine Bemerkung, die etwas weiter hinten wiederholt wurde. Was Fox tatsächlich an Neuem erfuhr, war, dass Breck im selben Stadtteil wohnte wie er, in der neuen Siedlung unweit des Morrisons-Supermarkts. Während der Bauphase war Fox in der Siedlung herumgefahren, weil er sich mit dem Gedanken an ein größeres Haus getragen hatte.
»Kleine Welt«, murmelte er jetzt vor sich hin.
Die Computerdaten waren kaum aufschlussreicher. Die eine oder andere Krankschreibung, aber nichts Stressbedingtes, nie eine Therapie oder Krankenhauseinweisung. Brecks Vorgesetzte in der Wache am Torphichen Place - wo er seit drei Jahren stationiert war - sangen Lobeshymnen auf ihn. Zwischen den Zeilen konnte Fox lesen, dass Breck ausgesprochen schnell die Karriereleiter erklomm. Schon für einen Detective Sergeant war er jung, und nun sah es aus, als könnte er noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr zum Detective Inspector befördert werden. Fox selbst war mit achtunddreißig DI geworden. Breck hatte das private George Watson’s College besucht. Zweite Rugby-Mannschaft. Bachelor of Science an der Universität von Edinburgh. Eltern noch am Leben, beide Allgemeinmediziner. Ein älterer Bruder, Colin, der in die USA ausgewandert war, wo er als Ingenieur arbeitete. Fox zog sein Taschentuch heraus, fand eine trockene Stelle und schnäuzte sich. Das Geräusch genügte, um Mrs. Stephens durch das schmale Fenster neben der Tür zu ihm hereinspähen zu lassen. Ihr Gesicht war vor Abscheu wie erstarrt. Überall in ihrem Büro würde er seine Keime hinterlassen und ihr privates Reich besudeln. Obwohl gar keine Notwendigkeit dazu bestand, schnäuzte er sich ein weiteres Mal, fast ebenso geräuschvoll.
Dann schloss er die Onlineakte. Mrs. Stephens wusste, was er als Nächstes tun würde: das System herunterfahren. Noch eine Vorsichtsmaßnahme; er wollte, dass seine Suche so weit wie möglich gelöscht wurde. Bevor er das jedoch tat, tippte er einen weiteren Namen ein: Anthea Inglis. Eindeutig gegen die Vorschrift, aber er tat es trotzdem. Innerhalb von zwei Minuten hatte er herausgefunden, dass sie nie geheiratet hatte.
Dass sie auf einem Bauernhof in Fife aufgewachsen war.
Dass sie das örtliche College besucht hatte, bevor sie nach Edinburgh zog.
Dass sie die unterschiedlichsten Jobs gehabt hatte, bevor sie in den Polizeidienst eintrat.
Dass ihr vollständiger Name Florence Anthea Inglis lautete.
Wenn der eine ihrer Namen aus The Generation Game stammte, fragte er sich, ob der andere seinen Ursprung wohl in der alten Kinderserie mit Zebulon und Pollux hatte. Fox musste sich ein Lächeln verkneifen, während alles herunterfuhr. Er trat aus dem Büro und ließ die Tür einen Spalt breit offen, beim Wiedereinräumen der Akte in die Schublade achtete er darauf, dass sie nicht von den anderen zu unterscheiden war. Dann machte er die Schublade zu, schloss sie ab und schickte sich an, Mrs. Stephens den Schlüssel zurückzugeben. Sie stand, die Arme immer noch verschränkt, an den Schreibtisch eines Kollegen gelehnt, sodass er den Schlüssel stattdessen neben ihr auf den Tisch legte.
»Bis zum nächsten Mal«, sagte er, schon halb abgewandt. Als er an den Frauen vorbeiging, blickte eine von ihnen kurz auf, was er mit einem Augenzwinkern quittierte.
In der Inneren erfuhr er von Naysmith, dass eine Nachricht auf ihn wartete.
»Auf meinem Schreibtisch oder darunter?«, fragte Fox. Aber da lag der Zettel, gleich neben seinem Telefon. Mit einem Namen und einer Nummer. Er schaute erst den Zettel an, dann Naysmith. »Alison Pettifer?«
Da Naysmith mit den Achseln zuckte, nahm Fox den Telefonhörer in die Hand und tippte die Nummer ein. Als jemand abhob, meldete er sich mit »Inspector Fox«.
Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »The Complaints« bei Orion Books, London
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung März 2010
Copyright © der Originalausgabe 2009 by John Rebus Limited Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hand-im-Glück-Verlags, München
eISBN : 978-3-641-03854-0
www.manhattan-verlag.de
Leseprobe

www.randomhouse.de