Verschlüsselte Wahrheit - Inspector Rebus 5 - Ian Rankin - E-Book
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Verschlüsselte Wahrheit - Inspector Rebus 5 E-Book

Ian Rankin

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Beschreibung

Fünf Jahre ist es her, dass das Central Hotel in Edinburgh bei einem Großbrand bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Die Katastrophe forderte mehrere Tote, viele Gäste wurden verletzt, doch die Ermittlungen verliefen schnell im Sande. Nun fallen Inspector Rebus Hinweise auf Brandstiftung in die Hände, die nie in den Akten auftauchten. Die Tat trägt die Handschrift von Unterweltgröße »Big Ger« Cafferty. Aber der hat einflussreiche Freunde – nicht zuletzt bei der Edinburgher Polizei – und allzu bald bekommt Rebus das auch persönlich zu spüren …

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Seitenzahl: 539

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Buch

Voller Vorfreude auf das gemeinsame Abendessen mit seiner Freundin Dr. Patience Aitken gönnt sich Inspector John Rebus noch ein Pint frisch gebrautes Bier. Doch der Abend hält einige Überraschunge für ihn bereit: Plötzlich steht sein Bruder vor der Tür mit der Bitte um Hilfe, und nach einem Streit trennt Patience sich von Rebus. Wieder einer dieser Tage, tröstet sich Rebus. Als jedoch ein ihm nahe stehender Kollege auf brutale Weise zusammengeschlagen wird, verliert Rebus seine Geduld. Um dem unbekannten Täter auf die Spur zu kommen, eignet er sich das Notizbuch seines Kollegen an. Dies enthält zwar nur verschlüsselte Eintragungen, doch im Laufe mühsamer Recherchen führen die einzelnen Hinweise zu einem alten, nie aufgeklärten Fall von Brandstiftung: In einem Flammenmeer war fünf Jahre zuvor das Central-Hotel bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die grauenhafte Tat trug »Big Ger« Caffertys Handschrift, doch die Polizei konnte ihn nicht dingfest machen. Das Notizbuch enthält allerdings genug Beweise, und Rebus setzt alles daran, dem skrupellosesten Schurken Edinburghs endlich das Handwerk zu legen. Aber »Big Gers« Macht und Einfluss sind nicht zu unterschätzen: Rebus wird vom Dienst suspendiert …

Autor

Ian Rankin wurde 1960 im schottischen Fife geboren, lebte in Edinburgh und London, bevor er mit seiner Familie für einige Zeit nach Südfrankreich zog. Sein melancholischer Serienheld John Rebus ist aus den britischen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken und bereits mehrfach ausgezeichnet worden.

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorWidmungDankPROLOGKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Copyright

»Für die Bösen sind alle Dinge böse; doch für die Guten sind alle Dinge gerecht und gut.«

James Hogg

Die privaten Memoiren und Bekenntnisseeines gerechtfertigten Sünders.

Dank

Der Autor möchte sich für die Verleihung des Chandler-Fulbright-Stipendiums bedanken, das ihm beim Schreiben dieses Buches sehr geholfen hat.

PROLOG

An jenem Morgen saßen sie zu zweit in dem Lieferwagen, dessen Scheinwerfer gegen den Nebel ankämpften, der von der Nordsee landeinwärts zog. Er war dicht und weiß wie Rauch. Gemäß den strengen Anweisungen, die ihnen erteilt worden waren, fuhren sie sehr vorsichtig.

»Warum müssen wir das überhaupt machen?«, fragte der Fahrer, ein Gähnen unterdrückend. »Was ist mit den beiden anderen?«

Der Beifahrer war viel größer als sein Begleiter. Obwohl bereits über vierzig, trug er sein Haar lang, in Form eines deutschen Militärhelms geschnitten. Immer wieder zupfte er an den Haaren auf der linken Seite seines Kopfs und strich sie glatt. In diesem Augenblick jedoch hielt er sich mit beiden Händen an seinem Sitz fest. Ihm gefiel nicht, dass der Fahrer so häufig gähnte und dabei jedes Mal die Augen zukniff. Der Beifahrer war kein großer Plauderer, aber vielleicht würde es den Fahrer wach halten, wenn er mit ihm redete.

»Ist nur vorübergehend«, sagte er. »Außerdem kommt das ja auch nicht jeden Tag vor.«

»Gott sei Dank.« Der Fahrer schloss wieder die Augen und gähnte. Der Lieferwagen bewegte sich auf den mit Gras bewachsenen Seitenstreifen zu.

»Soll ich fahren?«, fragte der Beifahrer. Dann lächelte er. »Du könntest ja hinten ein bisschen pennen.«

»Sehr witzig. Da ist noch so eine Sache, Jimmy, dieser Gestank!«

»Fleisch fängt halt nach ’ner Weile an zu riechen.«

»Hast wohl auf alles ’ne Antwort parat, was?«

»Ja.«

»Sind wir bald da?«

»Ich dachte, du kennst den Weg.«

»Über die Hauptstraßen schon. Aber nicht bei diesem Nebel.«

»Wenn wir uns dicht an der Küste halten, kann es nicht mehr weit sein.« Der Beifahrer dachte außerdem: Wenn wir uns dicht an der Küste halten, dann brauchen nur zwei Räder über den Seitenstreifen zu rutschen und wir fliegen die Klippe hinunter. Aber nicht nur das beunruhigte ihn. Bisher hatten sie noch nie die Ostküste benutzt, doch an der Westküste wurde jetzt zu sehr aufgepasst. Also war dies eine unerprobte Route, und das machte ihn nervös.

»Hier ist ein Schild.« Sie bremsten und versuchten, im Nebel was zu erkennen. »Nächste rechts.« Der Mann am Steuer fuhr ruckelnd weiter, blinkte und kam dann an ein niedriges eisernes Tor, an dem ein offenes Vorhängeschloss hing. »Wenn es nun abgeschlossen gewesen wäre?«, fragte er.

»Ich hab einen Bolzenschneider hinten drin.«

»Auf alles eine verdammte Antwort.«

Sie fuhren auf einen kleinen schotterbedeckten Parkplatz. Zwar konnten sie es nicht sehen, doch auf einer Seite standen Tische und Bänke aus Holz, wo sonntags Familien Picknick machten und mit den Mücken kämpften. Der Platz war wegen seiner Aussicht sehr beliebt, eine endlose Weite von Himmel und Meer. Als sie die Türen öffneten, konnten sie das Meer hören und riechen. Über ihnen schrien bereits die Möwen.

»Muss später sein, als wir gedacht haben, wenn die Vögel schon auf sind.« Sie wappneten sich innerlich, die Hecktür des Lieferwagens zu öffnen, dann taten sie es. Der Gestank war wirklich entsetzlich. Selbst der ansonsten gleichmütige Beifahrer rümpfte die Nase und bemühte sich, nicht zu atmen.

»Je schneller, desto besser«, sagte er in hastigem Tonfall. Die Leiche steckte in zwei dicken Plastiksäcken, in denen mal Kunstdünger gewesen war. Einen hatte man ihr über die Füße gezogen und einen über den Kopf, so dass sie in der Mitte überlappten. Sie wurden von einem Klebeband und einer Schnur zusammengehalten. In den Säcken befanden sich außerdem einige Hohlblocksteine, die das Ganze schwer und sperrig machten. Die beiden Männer hielten ihre groteske Ladung so tief, dass sie über das nasse Gras schleifte. Ihre Schuhe quatschten bereits vor Nässe, als sie das Schild passierten, das vor der steilen Klippe warnte. Noch schwieriger war es, über den Zaun zu klettern, obwohl der eh schon ziemlich wackelig war.

»Der könnte noch nicht mal ein dämliches Kind aufhalten«, bemerkte der Fahrer. Er keuchte vor Anstrengung, und die Zunge klebte ihm am Gaumen.

»Vorsicht«, sagte der Beifahrer. Schlurfend bewegten sie sich in winzigen Schritten vorwärts, bis sie überaus deutlich den Rand der Klippe ausmachen konnten. Dahinter gab es keinen festen Boden mehr, da ging es nur noch senkrecht nach unten in ein aufgewühltes Meer. »Okay.« Ohne lange zu fackeln, warfen sie das Ding ins Leere, heilfroh, es los zu sein. »Gehn wir.«

»Mann, was riecht die Luft gut.« Der Fahrer griff in seine Jackentasche und zog eine Viertelflasche Whisky hervor. Sie waren schon fast wieder beim Wagen, als sie ein Auto auf der Straße hörten, dann das Knirschen von Reifen auf Schotter.

»Verdammt und zugenäht.«

Die Scheinwerfer erwischten sie, als sie den Wagen erreichten.

»Scheißpolizei!«, sagte der Fahrer mit erstickter Stimme.

»Reiß dich zusammen«, erwiderte der Beifahrer warnend. Seine Stimme war ruhig, doch seine Augen funkelten. Sie hörten, wie die Handbremse angezogen wurde, dann ging die Autotür auf. Ein uniformierter Beamter stieg aus. Er hielt eine Taschenlampe in der Hand. Die Scheinwerfer und den Motor hatte er angelassen. Im Wagen war niemand sonst.

Der Beifahrer wusste, was das bedeutete. Das hier hatte nichts mit ihnen zu tun. Vermutlich kam der Polizist immer gegen Ende seiner Nachtschicht hierher. Bestimmt hatte er eine Thermosflasche und eine Decke im Auto. Eine Tasse Kaffee und ein Nickerchen, bevor er den Dienst beendete.

»Morgen«, sagte der Uniformierte. Er war nicht mehr jung, und er war keinen richtigen Ärger gewohnt. Höchstens mal eine Schlägerei am Samstagabend oder ein Streit zwischen benachbarten Bauern. Für ihn war es eine weitere langweilige Nacht gewesen, eine Nacht, die ihn seiner Pension ein Stückchen näher brachte.

»Morgen«, sagte der Beifahrer. Er wusste, dass er den Mann austricksen konnte, sofern der Fahrer ruhig blieb. Doch dann dachte er, ich bin ja der Auffällige von uns beiden.

»Eine richtige Waschküche, was?«, meinte der Polizist.

Der Beifahrer nickte.

»Deshalb haben wir auch angehalten«, erklärte der Fahrer. »Dachten, wir warten, bis es klarer wird.«

»Sehr vernünftig.«

Der Fahrer beobachtete, wie der Beifahrer sich zum Wagen drehte, den hinteren Reifen auf der Fahrerseite inspizierte und ihm anschließend einen Tritt gab. Dann ging er zum hinteren Reifen auf der Beifahrerseite und tat das Gleiche, bevor er sich hinkniete, um einen Blick unter das Fahrzeug zu werfen. Der Polizist beobachtete das Schauspiel ebenfalls.

»Irgendwelche Probleme?«

»Eigentlich nicht«, sagte der Fahrer nervös. »Aber es ist besser sicherzugehen.«

»Dann sind Sie also schon länger unterwegs.«

Der Fahrer nickte. »Und wir müssen noch bis rauf nach Dundee.«

Der Polizist runzelte die Stirn. »Von Edinburgh? Warum sind Sie denn nicht auf der Autobahn geblieben oder auf der A 914?«

Der Fahrer dachte rasch nach. »Wir mussten erst noch was in Tayport ausliefern.«

»Trotzdem«, begann der Polizist. Der Fahrer beobachtete, wie der Beifahrer sich von seiner Inspektion aufrichtete, die sich nun im Rücken des Polizisten abspielte. Er hielt einen großen Stein in der Hand. Der Fahrer sah dem Polizisten starr in die Augen, während der Stein sich hob und herabsauste. Der Monolog endete mitten im Satz, während der Mann zu Boden sank.

»Das ist ja eine schöne Scheiße.«

»Was hätten wir denn tun sollen?« Der Beifahrer steuerte bereits auf den Wagen zu. »Komm, lass uns abhauen!«

»Aye«, sagte der Fahrer, »noch ’ne Minute länger, und der hätte dein … äh …«

Der Beifahrer musterte ihn finster. »Du meinst wohl, noch ’ne Minute länger, und er hätte deine Schnapsfahne gerochen.« Seine finstere Miene entspannte sich erst, als der Fahrer gleichgültig die Schultern zuckte.

Sie wendeten den Wagen und fuhren vom Parkplatz. Aus der Ferne war immer noch der Lärm der Möwen zu hören. Der Motor des Polizeiwagens lief weiter. Das Licht der Scheinwerfer fiel auf die am Boden liegende bewusstlose Gestalt. Doch die Taschenlampe war bei dem Sturz kaputtgegangen.

1

Alles passierte nur, weil John Rebus in seiner Lieblingsmassagepraxis saß und die Bibel las.

Alles passierte nur, weil ein Mann in der irrigen Annahme durch die Tür spazierte, dass ein Massagesalon, der so nah an einer Brauerei und einem halben Dutzend guter Pubs lag, zwangsläufig Kunden bediente, die freitags ihre Lohntüten versoffen oder überhaupt ständig betrunken waren, also ein äußerst zwielichtiges Etablissement sein musste.

Doch der Organ Grinder, wie sich dieser Muskelkneter nannte, der gottesfürchtige Mieter dieses Ladens, führte ein sauberes Geschäft. Es war ein Ort, an dem müde Muskeln weich geklopft wurden. Und Rebus war müde, müde von den Streitereien mit Patience Aitken, müde von den Problemen mit seinem Bruder Michael, der plötzlich aufgetaucht war, eine Bleibe gesucht und Unterschlupf in einer Wohnung gefunden hatte, die voller Studenten war, und vor allem war er müde von seinem Job.

Es war mal wieder so eine Woche gewesen.

Am Montagabend hatte er einen Anruf aus seiner Wohnung in der Arden Street bekommen. Die Studenten, an die er sie vermietet hatte, hatten Patiences Nummer und wussten, dass sie ihn dort erreichen konnten, aber es war das erste Mal, dass sie einen Grund dafür hatten. Der Grund war Michael Rebus.

»Hallo, John.«

Rebus erkannte die Stimme sofort. »Mickey?«

»Wie geht’s dir, John?«

»Mein Gott, Mickey. Wo bist du? Nein, Unsinn, ich weiß natürlich, wo du bist. Ich meine …« Michael lachte leise. »Ich hab halt gehört, du wärst in den Süden gegangen.«

»Hat nicht funktioniert.« Seine Stimme wurde leise. »Die Sache ist die, John, können wir irgendwo miteinander reden? Ich hab zwar schon die ganze Zeit Horror davor, aber ich muss unbedingt mit dir reden.«

»Okay.«

»Soll ich bei dir vorbeikommen?«

Rebus dachte rasch nach. Patience war zur Waverley Station gefahren, um ihre beiden Nichten abzuholen, aber trotzdem … »Nein, bleib, wo du bist. Ich komm vorbei. Die Studenten sind ganz nett. Vielleicht machen sie dir ’ne Tasse Tee oder drehen dir ’nen Joint, während du auf mich wartest.«

Von der anderen Seite erst Schweigen, dann Michaels Stimme: »Das wär nicht unbedingt nötig gewesen.« Die Verbindung wurde unterbrochen.

Michael Rebus war wegen Drogendealerei zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden, von denen er drei hatte absitzen müssen. In dieser Zeit hatte John Rebus seinen Bruder noch kein halbes Dutzend Mal besucht. Er war überaus erleichtert gewesen, als Michael nach seiner Entlassung den Bus nach London nahm. Zwei Jahre war das nun her, und die beiden Brüder hatten seitdem kein Wort miteinander gesprochen. Aber nun war Michael wieder da und brachte ungute Erinnerungen an eine Zeit in John Rebus’ Leben zurück, die er am liebsten vergessen hätte.

Die Wohnung in der Arden Street war verdächtig sauber, als er dort eintraf. Nur zwei von den Studenten waren da, nämlich das Paar, das sich in Rebus’ ehemaligem Schlafzimmer häuslich eingerichtet hatte. Er redete im Flur mit ihnen. Sie waren gerade auf dem Weg ins Pub, drückten ihm aber vorher schnell noch einen neuen Brief vom Finanzamt in die Hand. Rebus hätte sie am liebsten gebeten zu bleiben. Nachdem sie weg waren, war es in der Wohnung sehr still. Rebus wusste, dass Michael im Wohnzimmer sein würde, und dort fand er ihn auch. Er hockte vor der Stereoanlage und schaute die Schallplatten durch.

»Sieh dir das an«, sagte Michael, immer noch mit dem Rücken zu Rebus. »Die Beatles und die Stones, das gleiche Zeug, das du früher gehört hast. Weißt du noch, wie du Dad damit wahnsinnig gemacht hast? Was war das noch mal für ein Plattenspieler …?«

»Ein Dansette.«

»Genau. Dad hat ihn für Zigarettencoupons bekommen, die er gesammelt hat.« Michael stand auf und drehte sich zu seinem Bruder um. »Hallo, John.«

»Hallo, Michael.«

Sie umarmten sich nicht und gaben sich auch nicht die Hand. Sie setzten sich einfach hin. Rebus in den Sessel, Michael aufs Sofa.

»Hier sieht’s ja völlig anders aus«, sagte Michael.

»Ich musste ein paar Möbel kaufen, bevor ich die Wohnung vermieten konnte.« Bereits jetzt waren Rebus einige Dinge aufgefallen – Brandstellen von Zigaretten auf dem Teppich, Poster, die gegen sein ausdrückliches Verbot mit Tesafilm auf die Tapete geklebt worden waren. Er öffnete den Brief vom Finanzamt.

»Du hättest mal sehen sollen, wie die plötzlich aktiv wurden, als ich ihnen sagte, du kämst vorbei. Staubgesaugt und Geschirr gespült. Da soll noch mal einer sagen, Studenten wären faul.«

»Die sind ganz in Ordnung.«

»Und wann ist das alles passiert?«

»Vor ein paar Monaten.«

»Die haben mir erzählt, du lebst mit einer Ärztin zusammen.«

»Sie heißt Patience.«

Michael nickte. Er sah blass und krank aus. Rebus wollte eigentlich nicht neugierig sein, aber er war es. Der Brief vom Finanzamt gab ihm deutlich zu verstehen, sie wüssten, dass er seine Wohnung vermietet hätte. Ob er denn seine zusätzlichen Einkünfte nicht angeben wollte? Sein Hinterkopf kribbelte. Das passierte immer, wenn er sich aufregte, seit er sich bei einem Feuer dort üble Verbrennungen zugezogen hatte. Die Ärzte meinten, es gebe nichts, was er oder sie dagegen tun könnten.

Außer natürlich, sich nicht aufzuregen.

Er steckte den Brief in die Jackentasche. »Also, was willst du, Mickey?«

»Kurz gesagt, John, ich brauche eine Bleibe. Nur für ein bis zwei Wochen, bis ich wieder Boden unter den Füßen habe.« Rebus starrte mit steinerner Miene auf die Poster an den Wänden, während Michael weiterredete. Er wolle sich eine Arbeit suchen … das Geld wäre knapp … er würde jeden Job nehmen – er brauche bloß eine Chance.

»Weiter nichts, John, bloß eine Chance.«

Rebus dachte nach. Patience hatte natürlich Platz in ihrer Wohnung. Selbst jetzt, wo die Nichten zu Besuch waren, gab es immer noch genügend Platz. Aber Rebus würde auf keinen Fall seinen Bruder mit nach Oxford Terrace nehmen. Die Dinge liefen eh schon nicht besonders gut. Sie engagierten sich beide beruflich, arbeiteten lange und waren deshalb häufig erschöpft. Rebus bezweifelte, dass sich die Situation durch Michael entspannen würde. Ich bin doch nicht der Hüter meines Bruders, dachte er. Aber trotzdem.

»Wir könnten dich vielleicht hier in der Abstellkammer unterbringen. Ich muss allerdings erst mit den Studenten reden.« Er glaubte zwar nicht, dass sie nein sagen würden, doch es schien ihm höflicher zu fragen. Wie könnten sie es überhaupt wagen, nein zu sagen? Er war schließlich ihr Vermieter, und Wohnungen waren schwer zu finden.

»Das wär toll.« Michael klang erleichtert. Er stand auf und ging zur Tür der Abstellkammer. Die war eher ein großer belüfteter Schrank, der vom Wohnzimmer abging. Gerade groß genug für ein Bett und eine Kommode, wenn man die Kisten und den übrigen Plunder ausräumte.

»Das ganze Zeug kriegen wir vermutlich im Keller unter«, sagte Rebus, der nun direkt hinter seinem Bruder stand.

»John«, erwiderte Michael, »so wie ich mich fühle, wär ich schon zufrieden, wenn ich im Keller schlafen dürfte.« Und als er sich zu seinem Bruder umdrehte, hatte Michael Rebus Tränen in den Augen.

Am Mittwoch wurde Rebus allmählich klar, dass seine Welt eine schwarze Komödie war.

Michael war ohne jedes Aufhebens in die Wohnung in der Arden Street eingezogen. Rebus hatte Patience mitgeteilt, dass sein Bruder wieder da war, ansonsten jedoch nicht viel dazu gesagt. Sie verbrachte ohnehin viel Zeit mit den Töchtern ihrer Schwester. Sie hatte sich ein paar Tage freigenommen, um ihnen Edinburgh zu zeigen, was sich jedoch als ziemlich anstrengend erwies. Die fünfzehnjährige Susan wollte nämlich genau die Dinge tun, die Jenny mit ihren acht Jahren nicht tun wollte oder konnte. Rebus fühlte sich von diesem weiblichen Triumvirat fast völlig ausgeschlossen. Allerdings schlich er sich manchmal nachts in Jennys Zimmer, um den unschuldigen Anblick eines schlafenden Kindes zu erleben. Susan versuchte er allerdings eher aus dem Weg zu gehen, da diese sich anscheinend der Unterschiede zwischen Männern und Frauen nur allzu sehr bewusst war.

Beruflich war er so eingespannt, dass er nicht mehr als ein paarmal am Tag an Michael dachte. Ach ja, die Arbeit, das war auch so eine Sache. Nachdem die Great London Road Police Station abgebrannt war, hatte man Rebus nach St. Leonard’s versetzt, der Hauptwache im Stadtzentrum.

Mit ihm gekommen waren Detective Sergeant Brian Holmes und – zu ihrer beider Bestürzung – Chief Superintendent »Farmer« Watson und Chief Inspector »Fart« Lauderdale. Der Umzug hatte durchaus Vorteile gebracht – neuere Büros und Möbel, günstigere Lage und bessere Ausstattung  –, aber nicht genug. Rebus konnte sich immer noch nicht so ganz an seinen neuen Arbeitsplatz gewöhnen. Alles war dermaßen aufgeräumt, dass er nie etwas fand. Folglich war er stets darauf erpicht, aus dem Büro heraus und auf die Straße zu kommen.

Was dazu führte, dass er in einer Metzgerei in der South Clerk Street landete und auf einen Mann mit einer schweren Stichwunde hinunterstarrte.

Der Mann war bereits von einem Arzt versorgt worden, der zufällig in der Schlange gestanden hatte und auf seine Koteletts und ein paar Scheiben Vorderschinken wartete, als der Verletzte in den Laden taumelte. Die Wunde war provisorisch mit einer sauberen Metzgerschürze verbunden worden, und nun warteten alle darauf, dass aus dem Krankenwagen vor der Tür eine Trage ausgeladen wurde.

Ein Constable setzte Rebus kurz ins Bild.

»Ich war nur ein Stück weiter die Straße rauf, als mich jemand über den Vorfall informierte. Deshalb kann er nicht länger als fünf Minuten hier gewesen sein, und ich bin sofort gekommen. Dann hab ich’s gleich per Funk durchgegeben.«

Rebus hatte die Funkmeldung des Constable im Auto aufgeschnappt und beschlossen vorbeizufahren. Nun wünschte er beinah, er hätte es nicht getan. Der Fußboden war voller Blut, das das dort ausgebreitete Sägemehl rot gefärbt hatte. Warum einige Metzger immer noch Sägemehl über ihre Böden schütteten, war ihm unbegreiflich. Außerdem war an der weiß gekachelten Wand ein blutiger Handabdruck und darunter ein Blutfleck von undefinierbarer Form.

Der Verletzte hatte auch draußen eine feucht schimmernde Blutspur hinterlassen, die Clerk Street entlang und ein Stück in den Lutton Place hinein (beleidigend nahe an St. Leonard’s), wo sie urplötzlich am Bordstein endete.

Der Name des Mannes war Rory Kintoul, und jemand hatte ihm ein Messer in den Unterleib gerammt. Das wussten sie. Viel mehr jedoch nicht, da der Mann sich weigerte, über den Vorfall zu sprechen. Ganz anders verhielten sich dagegen die Leute, die zum fraglichen Zeitpunkt in der Metzgerei gewesen waren. Sie standen jetzt draußen und berichteten denjenigen, die stehen blieben, um durch das Schaufenster zu starren, von den aufregenden Ereignissen. Das erinnerte Rebus an Samstagnachmittage im St. James Centre, wenn sich Männer vor den Fernsehläden scharten in der Hoffnung, die Fußballergebnisse mitzukriegen.

Rebus beugte sich zu Kintoul hinab.

»Und wo wohnen Sie, Mr Kintoul?«

Doch der Mann hatte nicht vor zu antworten. Stattdessen kam von der anderen Seite der Glastheke eine Stimme.

»Duncton Terrace.« Der Sprecher trug eine blutige Metzgerschürze und wischte gerade ein großes Messer an einem Geschirrtuch ab. »Das ist in Dalkeith.«

Rebus sah den Metzger an. »Und Sie sind …?«

»Jim Bone. Mir gehört der Laden.«

»Und Sie kennen Mr Kintoul?«

Kintoul hatte mühsam den Kopf gedreht und suchte offenbar Blickkontakt mit dem Metzger, als ob er dessen Antwort beeinflussen wollte. Doch so schlaff, wie er da unten gegen die Theke gelehnt saß, hätte er schon dämonische Fähigkeiten besitzen müssen, um das tatsächlich zu bewirken.

»Sollte ich wohl«, antwortete der Metzger. »Er ist mein Cousin.«

Rebus wollte gerade etwas sagen, doch in diesem Augenblick wurde die Fahrtrage von zwei Sanitätern hereingerollt. Einer von ihnen wäre fast auf dem glitschigen Fußboden ausgerutscht. Als sie die Trage vor Kintoul hinstellten, bemerkte Rebus etwas, das er so schnell nicht vergessen würde. Hinter der Theke waren zwei kleine Schilder, eines steckte in einem Stück Cornedbeef, das andere in einer dicken Scheibe Hüftsteak.

Kalter Aufschnitt stand auf dem einen Schild, auf dem anderen ganz lapidar Frischfleisch. Als die Sanitäter den Cousin des Metzgers hochhoben, blieb ein großer Flecken frischen Blutes auf dem Fußboden zurück. Kalter Aufschnitt und Frischfleisch. Rebus ging schaudernd zur Tür.

An dem Freitag nach der Arbeit beschloss Rebus, eine Massage zu nehmen. Er hatte Patience zwar versprochen, dass er um acht zu Hause sein würde, aber jetzt war es erst sechs. Außerdem schien ein kräftiges Durchkneten ihn immer für das Wochenende fit zu machen.

Doch als Erstes spazierte er ins Broadsword, um sich ein Pint des dort ausgeschenkten Biers einzuverleiben. Es gab nichts Typischeres in dieser Gegend als Gibson’s Dark, ein starkes Bier, das nur sechshundert Meter weiter in der Gibson Brewery hergestellt wurde. Eine Brauerei, ein Pub und ein Massagesalon – es fehlte nur noch ein gutes indisches Restaurant und ein kleiner Lebensmittelladen, und Rebus hätte hier bis in alle Ewigkeit glücklich und zufrieden leben können.

Nicht dass er nicht gerne mit Patience in deren Gartenwohnung in der Oxford Terrace wohnen würde. Das stellte sozusagen die andere Seite seines Lebens dar. Denn zweifellos lagen Welten zwischen Oxford Terrace und dieser anrüchigen Gegend Edinburghs, einer von vielen dieser Art. Rebus fragte sich, warum diese eine so starke Anziehungskraft auf ihn ausübten.

Die Luft draußen war von dem typischen Hefegeruch der Bierherstellung erfüllt, der mit dem noch schlimmeren Gestank der viel größeren Brauereien der Stadt konkurrierte. Das Broadsword war eine beliebte Kneipe und wurde wie die meisten beliebten Kneipen in Edinburgh von einem gemischten Publikum frequentiert: Studenten, Proleten und ab und zu ein Geschäftsmann. Das Einzige, was für das ansonsten recht anspruchslose Lokal sprach, war gutes Bier und ein guter Weinkeller. Das Wochenende hatte bereits begonnen, und Rebus stand eingezwängt an der Bar neben einem Mann, dessen riesiger Schäferhund hinter den Barhockern auf dem Fußboden schlief. Das Tier nahm den Stehplatz von mindestens zwei erwachsenen Männern ein, doch niemand forderte es auf, ein wenig zu rücken. Ein Stück von ihm entfernt sah Rebus einen Mann an der Bar, der in einer Hand einen Drink hielt und die andere besitzergreifend um einen wohl gerade in einem der Secondhandläden in der Nähe erstandenen Garderobenständer gelegt hatte. Alle an der Bar tranken das gleiche dunkle Gebräu.

Obwohl es in dieser Gegend ein halbes Dutzend Pubs gab, schenkte nur das Broadsword Gibson’s vom Fass aus, da alle anderen Pubs an eine der großen Brauereien gebunden waren. Während das Bier seine Kehle hinunterrann, fragte sich Rebus, welche Wirkung es auf seinen Stoffwechsel haben würde, wenn der Organ Grinder ihn erst mal in der Mangel hatte. Er entschied sich gegen ein zweites Pint und machte sich stattdessen auf den Weg zu O-Gee’s. So hatte der Organ Grinder seinen Salon genannt. Rebus gefiel der Name, weil er genauso klang wie das Geräusch, das die Kunden von sich gaben, wenn der Organ Grinder sie bearbeitete: »O Jeez!« Doch alle waren stets bemüht, es nicht laut zu sagen, denn der Organ Grinder hörte nicht gern Flüche auf seiner Massagebank. Das brachte ihn auf, und niemand wollte den Händen eines aufgebrachten Organ Grinder ausgeliefert sein. Niemand wollte sich für ihn zum Affen machen.

So saß er also da, mit der Bibel auf dem Schoß, und wartete auf seinen Termin um halb sieben. Die Bibel war das Einzige, das der Organ Grinder als Lektüre zur Verfügung stellte. Rebus hatte sie sich schon einmal vorgenommen, doch es machte ihm nichts aus, sie noch einmal zu lesen.

Dann flog die Eingangstür auf.

»Wo sind denn die Mädchen, eh?« Dieser neue Kunde war nicht nur falsch informiert, sondern auch ganz schön betrunken. Und der Organ Grinder lehnte es strikt ab, Betrunkene zu behandeln.

»Falscher Laden, Kumpel.« Rebus wollte ihm gerade ein paar Salons in der Nähe nennen, wo er ganz bestimmt unter den Händen sachkundiger Thailänderinnen auf seine Kosten kommen würde, da gebot ihm der Mann mit einem dicken ausgestreckten Finger Einhalt.

»John Rebus, du alter Scheißkerl!«

Rebus runzelte die Stirn und versuchte, das Gesicht irgendwie einzuordnen. Er überflog in Gedanken die Verbrecherfotos von zwei Jahrzehnten. Der Mann bemerkte Rebus’ Ratlosigkeit und breitete die Arme aus. »Deek Torrance, erinnerst du dich nicht an mich?«

Rebus schüttelte den Kopf. Torrance kam entschlossen auf ihn zu. Rebus ballte die Fäuste, auf alles gefasst.

»Wir haben die Fallschirmspringerausbildung zusammen gemacht«, sagte Torrance. »Mein Gott, da musst du dich doch dran erinnern!«

Und plötzlich fiel es Rebus wieder ein. Er erinnerte sich an alles, an die gesamte schwarze Komödie, die seine Vergangenheit darstellte.

Sie tranken zusammen im Broadsword und tauschten Geschichten aus. Deek hatte es nur ein Jahr im Fallschirmregiment ausgehalten und sich nicht viel später ganz vom Militär getrennt.

»Zu rastlos, John, das war mein Problem. Und was war deins?«

Rebus schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck Bier. »Mein Problem, Deek? Dafür gibt es keinen Namen.« Doch es hatte einen Namen bekommen, zuerst durch Mickeys plötzliches Wiederauftauchen und nun durch Deek Torrance. Geister. Beide waren sie Geister aus der Vergangenheit, doch Rebus wollte kein Geizhals wie Ebenezer Scrooge von Dickens sein. Er bestellte eine weitere Runde.

»Du hast immer gesagt, du wolltest dich für den SAS bewerben«, sagte Torrance.

Rebus zuckte die Achseln. »Hat nicht geklappt.«

In der Bar wurde es immer voller, und irgendwann wurde Torrance von einem jungen Mann angerempelt, der versuchte, einen Kontrabass durch das Gedränge zu bugsieren.

»Kannst du das Ding nicht draußen lassen?«

»Nicht in der Gegend hier.«

Torrance wandte sich wieder Rebus zu. »Hast du das gesehen?«

Rebus lächelte. Er fühlte sich gut nach der Massage. »Niemand bringt in dieser Gegend irgendwas Kleines mit in eine Bar.« Deek Torrance antwortete nur mit einem Grunzen. Ja, jetzt erinnerte er sich genau an ihn. Er war dicker und kahlköpfiger und sein Gesicht grober und fleischiger geworden. Er hörte sich nicht mal mehr so an wie damals, jedenfalls nicht ganz so. Aber eine Eigenheit gab es noch, das Torrance-Grunzen. Ein Mann von wenigen Worten, das war Deek Torrance gewesen. Jetzt allerdings hatte er eine Menge zu sagen.

»Was machst du denn so, Deek?«

Torrance grinste. »Da ich weiß, dass du Polizist bist, sollte ich das besser nicht sagen.« Rebus wartete einfach ab. Torrance war so betrunken, dass er schon fast sabberte. Er würde sich gewiss nicht lange zurückhalten können. »Ich mache in An- und Verkauf, hauptsächlich Verkauf.«

»Und was verkaufst du?«

Torrance beugte sich dicht zu ihm. »Rede ich mit der Polizei oder mit einem alten Kumpel?«

»Mit einem Kumpel«, erwiderte Rebus. »Strikt außerdienstlich. Also, was verkaufst du?«

Torrance grunzte. »Alles, was du willst, John. Ich bin so was wie Jenners, das Kaufhaus … bloß ich komm an Dinge ran, die die nicht führen.«

»Zum Beispiel?« Rebus sah auf die Uhr über der Bar. Es konnte doch unmöglich schon so spät sein. Die ließen die Uhr hier immer zehn Minuten vorgehen, aber trotzdem.

»Einfach alles«, sagte Torrance. »Alles von ’ner Matratze bis zum Schießeisen. Du brauchst es nur zu sagen.«

»Wie wär’s mit einer Uhr?« Rebus begann seine abzunehmen. »Meine scheint immer nur für ein paar Stunden zu gehen.«

Torrance warf einen Blick darauf. »Longines«, sagte er und sprach den Namen korrekt aus, »die solltest du nicht wegwerfen. Lass sie mal richtig reinigen, dann tut sie’s auch wieder. Ich könnte sie allerdings auch für ’ne Rolex in Zahlung nehmen …«

»Du handelst also mit geklauten Uhren.«

»Hab ich das gesagt? Kann ich mich nicht dran erinnern. Alles, John, was auch immer der Kunde will. Ich besorge es ihm.« Torrance zwinkerte.

»Hör mal, wie spät ist es eigentlich?«

Torrance zuckte die Schultern und zog den Ärmel seines Jacketts hoch. Er hatte keine Uhr an. Rebus wurde nachdenklich. Er hatte seinen Termin mit dem Grinder eingehalten. Deek hatte bereitwillig im Vorraum auf ihn gewartet. Und danach hatten sie immer noch Zeit für ein bis zwei Pints gehabt, bevor er nach Hause musste. Bisher hatten sie zwei … nein drei Bier getrunken. Vielleicht war er schon ein bisschen spät dran. Es gelang ihm, den Barmann auf sich aufmerksam zu machen. Er tippte auf sein Handgelenk.

»Zwanzig nach acht!«, rief der Barmann.

»Dann sollte ich wohl besser Patience anrufen«, meinte Rebus.

Doch irgendwer benutzte das öffentliche Telefon, um jemandem seine große Liebe zu gestehen. Außerdem hatte derjenige den Hörer in die Damentoilette gezogen, damit er trotz all dem Lärm in der Bar etwas verstehen konnte. Die Telefonschnur war straff gespannt und drohte jeden zu garrottieren, der versuchte, die Toilette zu benutzen. Rebus wartete zunächst geduldig, dann starrte er immer eindringlicher auf die Gabel des Telefons an der Wand. Zum Teufel damit. Er drückte mit der Hand auf die Gabel, ließ sie los und reihte sich wieder in die Schar der Trinker ein. Ein junger Mann tauchte aus der Damentoilette auf und knallte den Hörer auf die Gabel. Er wühlte in der Tasche nach Kleingeld, hatte aber keins und steuerte auf die Bar zu.

Rebus ging zum Telefon. Er nahm den Hörer ab, hörte aber kein Freizeichen. Er versuchte es noch einmal, dann versuchte er zu wählen. Nichts. Irgendetwas war offensichtlich kaputtgegangen, als der Mann den Hörer aufknallte. Verdammte Scheiße. Es war jetzt fast halb neun, und bis zur Oxford Terrace brauchte er mit dem Auto fünfzehn Minuten. Dafür würde er teuer bezahlen müssen.

»Du siehst aus, als könntest du noch ’nen Drink vertragen«, bemerkte Torrance, als Rebus sich wieder neben ihn an die Bar stellte.

»Weißt du was, Deek?«, sagte Rebus. »Mein Leben ist eine schwarze Komödie.«

»Na ja, besser als eine Tragödie, was?«

Rebus fragte sich allmählich, worin der Unterschied bestand.

Um zwanzig nach neun war er an der Wohnung. Vermutlich hatte Patience für vier Personen gekocht. Vermutlich hatte sie fünfzehn Minuten gewartet, bevor sie anfingen zu essen. Sie würde sein Essen weitere fünfzehn Minuten warm gestellt haben, dann hatte sie es weggeschmissen. Wenn es Fisch war, hatte es die Katze gefressen. Ansonsten war es auf dem Komposthaufen im Garten gelandet. Das war schon vorgekommen, viel zu häufig vorgekommen. Und doch kam es immer wieder vor, und Rebus war sich nicht sicher, ob die Entschuldigung, einen alten Freund getroffen zu haben oder dass seine Uhr kaputt war, irgendetwas bewirken würde.

Die Stufen zu der Gartenwohnung hinunter waren ausgetreten und glatt. Rebus nahm sie ganz vorsichtig, und so kam es, dass er erst ziemlich spät die große Sporttasche bemerkte, die – angestrahlt vom orangefarbenen Licht der Straßenlaterne  – auf der Rattanmatte vor der Wohnungstür stand. Es war seine Tasche. Er zog den Reißverschluss auf und sah hinein. Auf einigen Kleidungsstücken und einem Paar Schuhe lag ein Zettel. Er las ihn zweimal.

Du brauchst es gar nicht erst an der Tür zu versuchen, ich hab den Riegel vorgeschoben. Ich hab außerdem die Klingel abgestellt, und der Telefonhörer liegt das ganze Wochenende neben dem Telefon. Ich stell dir am Montagmorgen eine weitere Landung von deinem Kram an die Treppe.

Diese Nachricht brauchte keine Unterschrift. Rebus stieß einen tiefen Seufzer aus, dann steckte er seinen Schlüssel ins Schloss. Er ließ sich nicht drehen. Er drückte auf die Klingel. Kein Ton. Zuletzt bückte er sich und linste durch den Briefschlitz. Der Flur lag im Dunkeln, und auch aus keinem der Zimmer drang Licht.

»Mir ist was dazwischengekommen«, rief er. Keine Antwort. »Ich hab versucht anzurufen, bin aber nicht durchgekommen.« Immer noch nichts. Er wartete noch eine Weile und hoffte, dass zumindest Jenny das Schweigen brechen würde. Oder Susan, sie war doch so eine richtige kleine Unruhestifterin. Und außerdem eine Herzensbrecherin, so wie sie aussah. »Wiedersehen, Patience!«, rief er. »Wiedersehen, Susan. Wiedersehen, Jenny.« Schweigen. »Es tut mir Leid.«

Und das war auch so.

»Mal wieder eine von diesen Wochen«, murmelte er vor sich hin und nahm die Tasche.

Am Sonntagmorgen kam Andrew McPhail bei fahlem Sonnenschein und eisigem Wind klammheimlich nach Edinburgh zurück. Er war lange fort gewesen, und die Stadt hatte sich verändert. Alles hatte sich verändert, überall. Obwohl er bereits seit ein paar Tagen zurück war, litt er immer noch unter Jetlag, und aufgrund der überhöhten Preise in London war er ärmer, als er eigentlich hätte sein sollen. Er ging zu Fuß vom Busbahnhof in den Stadtteil Broughton, ganz in der Nähe des Leith Walk. Obwohl es kein weiter Weg war und er nicht viel Gepäck hatte, fiel ihm jeder Schritt schwerer. Im Bus hatte er schlecht geschlafen, doch das war nichts Neues. Er konnte sich gar nicht erinnern, wann er das letzte Mal so richtig gut geschlafen hatte, traumlos.

Die Sonne sah aus, als ob sie jeden Augenblick verschwinden könnte. Dichte Wolken zogen über Leith herein. McPhail bemühte sich, schneller zu gehen. Er hatte eine Adresse in der Tasche, die einer Pension. Am Abend zuvor hatte er dort angerufen, und seine Vermieterin erwartete ihn. Sie klang nett am Telefon, doch war ihm das letztlich egal, solange sie nur den Mund hielt. Er wusste, dass seine Ausreise aus Kanada in den kanadischen Zeitungen gestanden hatte, sogar in einigen amerikanischen, und er hatte angenommen, dass die Journalisten hier auf der Suche nach einer Geschichte hinter ihm her sein würden. Es hatte ihn überrascht, dass er völlig unbemerkt in Heathrow aussteigen konnte. Niemand schien zu wissen, wer er war, und das war gut so.

Er wünschte sich nichts weiter als ein ruhiges Leben, wenn auch vielleicht nicht ganz so ruhig wie die letzten Jahre.

Er hatte seine Schwester von London aus angerufen und sie gebeten, sich bei der Auskunft nach einer Mrs MacKenzie im Belevue-Viertel zu erkundigen. (Die Auskunft in London hatte sich nicht als besonders hilfsbereit erwiesen.) Melanie und ihre Mutter hatten bei Mrs MacKenzie gewohnt, als er sie kennen lernte, bevor sie zusammenzogen. Alexis war allein erziehende Mutter, ein Fall fürs Sozialamt. Mrs MacKenzie war verständnisvoller gewesen als die meisten Vermieter. Nicht dass er Melanie und ihre Mum je dort besucht hätte – das hätte Mrs MacKenzie nicht behagt.

Heutzutage nahm sie nur noch selten Pensionsgäste auf, doch sie war eine gute Christin, und McPhail war sehr überzeugend gewesen.

Nun stand er vor dem Haus. Es war ein schlichtes, zweistöckiges Gebäude mit grauem Rauputz und hässlichen Doppelfenstern. Es sah genauso aus wie die Häuser rechts und links von ihm. Mrs MacKenzie öffnete die Tür, als hätte sie schon länger auf ihn gewartet. Sie machte sich umständlich in Wohnzimmer und Küche zu schaffen, dann führte sie ihn die Treppe hinauf, um ihm das Bad und schließlich sein eigenes Zimmer zu zeigen. Es war nicht größer als eine Gefängniszelle, aber nett eingerichtet (irgendwann Mitte der sechziger Jahre, nahm er an) und soweit ganz in Ordnung. Er hatte nichts daran auszusetzen.

»Es ist sehr schön«, erklärte er Mrs MacKenzie, die mit den Schultern zuckte, als wollte sie sagen, natürlich ist es das.

»Der Tee ist fertig«, sagte sie. »Ich schenk uns beiden ein Tässchen ein.« Dann erinnerte sie sich an etwas. »Denken Sie daran, dass im Zimmer nicht gekocht werden darf.«

Andrew McPhail schüttelte den Kopf. »Ich koche nicht«, erwiderte er. Ihr fiel noch etwas ein, und sie ging zum Fenster, an dem die Gardinen noch geschlossen waren.

»Ich zieh die mal auf. Sie können auch ein Fenster öffnen, wenn Sie frische Luft wollen.«

»Ein bisschen frische Luft wär nicht schlecht«, stimmte er zu. Sie schauten beide aus dem Fenster auf die Straße hinunter.

»Es ist ruhig hier«, sagte sie. »Nicht allzu viel Verkehr. Tagsüber gibt’s natürlich schon ein bisschen Lärm.«

McPhail sah, was sie meinte. Auf der anderen Straßenseite stand ein altes Schulgebäude mit einem schwarzen Eisenzaun davor. Es war keine große Schule, vermutlich eine Grundschule. Von McPhails Fenster aus konnte man auf das Schultor blicken, das sich rechts vom Hauptgebäude befand. Gleich hinter dem Tor lag der derzeit verlassene Schulhof.

»Ich schenk uns jetzt den Tee ein«, sagte Mrs MacKenzie. Nachdem sie fort war, legte McPhail sein Gepäck auf das weich gefederte Bett, neben dem ein kleiner Schreibtisch und ein Stuhl standen. Er nahm den Stuhl und stellte ihn vor das Fenster, dann setzte er sich darauf. Er schob einen kleinen Glasclown auf der Fensterbank ein Stück weiter, so dass er sein Kinn an der Stelle aufstützen konnte, wo die Figur gestanden hatte. Nun behinderte nichts mehr seine Aussicht. Er saß dort und blickte verträumt auf den Schulhof, bis Mrs MacKenzie rief, dass der Tee im Wohnzimmer bereitstehe. »Es gibt auch Sandkuchen.« Andrew McPhail stand seufzend auf. Ihm war jetzt eigentlich gar nicht nach Tee zumute, aber vermutlich konnte er ihn auch mit auf sein Zimmer nehmen und später trinken. Er fühlte sich müde, hundemüde, aber er war zu Hause und irgendetwas sagte ihm, dass er diese Nacht schlafen könnte, in einen totenähnlichen Schlaf sinken würde.

»Ich komme, Mrs MacKenzie!«, rief er und riss seinen Blick von der Schule los.

2

Am Montagmorgen ging das Gerücht durch die Polizeiwache St. Leonard’s, dass Inspector John Rebus in noch üblerer Laune wäre als gewöhnlich. Einige konnten sich das kaum vorstellen und wären beinahe so weit gegangen, sich in seine Nähe zu wagen, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen … aber auch nur beinahe.

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