Ein Rest von Schuld - Inspector Rebus 17 - Ian Rankin - E-Book

Ein Rest von Schuld - Inspector Rebus 17 E-Book

Ian Rankin

4,5
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als in Edinburgh der russische Dichter und Dissident Alexander Todorow ermordet wird, bleibt Inspector Rebus nicht viel Zeit, um die Wahrheit zu finden. In wenigen Tagen endet seine Dienstzeit, und er weiß, dass seine Vorgesetzten die Sache am liebsten schnell zu den Akten legen würden. Ihrer Ansicht fiel Todorow einem Raubüberfall mit tödlichem Ausgang zum Opfer, doch Rebus argwöhnt, dass eine Delegation einflussreicher russischer Geschäftsleute etwas mit der Sache zu tun hat. Dann kommt ein möglicher Zeuge bei einem Brand ums Leben, und Rebus sieht seinen Verdacht bestätigt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 694

Bewertungen
4,5 (24 Bewertungen)
16
5
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
 
Erster Tag - Mittwoch, 15. November 2006
Kapitel 1
Kapitel 2
 
Zweiter Tag - Donnerstag, 16. November 2006
Kapitel 3
Kapitel 4
 
Copyright
Die Grenze ist niemals anderswo. Und keine Palisade sperrt jemals die Mitternacht aus.
Norman MacCaig, »Hotel Room, 12th Floor«
Mein Vater sagte immer, das Klopfen eines Polizisten sei unverwechselbar, und das stimmt auch: Die Knöchel auf dem Türlack sprechen einen weithin vernehmlichen Befehl aus, der sich am schlechten Gewissen des Hörers weidet.
Andrew O’Hagan, Be Near Me
Erster Tag
Mittwoch, 15. November 2006
1
Das Mädchen schrie einmal, nur ein Mal, aber das war genug. Als das Paar mittleren Alters das untere Ende der Raeburn Wynd erreichte, kniete sie schon auf dem Boden, die Hände vors Gesicht geschlagen, die Schultern von Schluchzern bebend. Der Mann musterte kurz die Leiche, versuchte dann, seiner Frau eine Hand vor die Augen zu halten, aber sie hatte sich schon abgewendet. Er holte sein Handy heraus und wählte den Notruf. Es dauerte zehn Minuten, bis der Polizeiwagen kam; das Mädchen versuchte währenddessen zu verschwinden, aber der Mann erklärte ihr ruhig, sie müsse warten, und tätschelte ihr mit der Hand beruhigend die Schulter. Seine Frau saß auf dem Bordstein, obwohl es eine kühle Nacht war. November in Edinburgh, noch nicht kalt genug für Frost, aber auf dem besten Weg dahin. Die King’s Stables Road war nicht gerade eine Hauptverkehrsstraße. Ein »Keine Einfahrt«-Schild verhinderte, dass die Straße als Abkürzung vom Grassmarket zur Lothian Road genommen wurde. Nachts konnte es da ziemlich einsam sein - lediglich ein Parkhaus auf der einen, Castle Rock und ein Friedhof auf der anderen Seite. Die Straßenlaternen schienen grundsätzlich auf Sparflamme zu brennen, und die Fußgänger passten auf, wo sie hintraten. Das Paar mittleren Alters hatte einen Carol Service in der St. Cuthbert’s Church besucht, eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten der städtischen Kinderkrankenhäuser. Die Frau hatte einen Stechpalmenkranz gekauft, der jetzt, links neben der Leiche, auf dem Boden lag. Ihr Mann konnte sich den Gedanken nicht verkneifen: Eine Minute früher oder später, und wir hätten vielleicht nichts gehört, säßen jetzt im Auto auf dem Weg nach Haus, den Kranz im Fond und Classic FM im Radio.
»Ich will nach Haus«, jammerte das Mädchen zwischen einzelnen Schluchzern. Sie stand da, die Knie aufgeschürft. Ihr Rock, fand der Mann, war zu kurz und ihre Jeansjacke nicht warm genug. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor. Er hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, ihr seinen Mantel zu leihen. Stattdessen erinnerte er sie noch einmal daran, dass sie auf die Polizei warten müsste. Plötzlich färbten sich ihre Gesichter blau. Der Streifenwagen näherte sich mit kreiselnder Kennleuchte.
»Da kommt sie schon«, sagte der Mann und legte ihr den Arm wie zum Trost um die Schultern, um ihn sofort wieder wegzunehmen, als er sah, dass seine Frau ihn beobachtete.
Selbst als der Streifenwagen angehalten hatte, blieb das Blaulicht an, und auch der Motor brummte weiter. Zwei uniformierte Beamte stiegen aus, ohne sich erst die Mützen aufzusetzen. Einer von ihnen hielt eine große schwarze Stablampe in der Hand. Die Raeburn Wynd war steil und führte zu einer Reihe von renovierten Kutscherhäuschen mit Garagen im Erdgeschoss, die früher einmal die königlichen Equipagen und Pferde beherbergt hatten. Bei Frost war das Pflaster tückisch.
»Vielleicht ist er ausgerutscht und hat sich den Kopf angeschlagen«, meinte der Mann. »Oder er wollte im Freien übernachten, oder er hatte ein paar zu viel getrunken …«
»Danke, Sir«, sagte einer der Beamten und meinte das Gegenteil. Sein Kollege hatte die Stablampe eingeschaltet, und jetzt sah der Mann Blut auf dem Boden, Blut an den Händen und Kleidern der zusammengesackten Gestalt. Gesicht und Haar waren damit ganz überkrustet.
»Oder jemand hat ihn zu Hackfleisch geprügelt«, kommentierte der erste Officer. »Es sei denn, er ist mehrfach mit dem Gesicht gegen eine Käsereibe gefallen.«
Sein jüngerer Kollege zuckte zusammen. Er hatte sich hingehockt, um die Leiche besser in Augenschein nehmen zu können, stand jetzt aber wieder auf. »Wem gehört der Kranz?«, fragte er.
»Meiner Frau«, erklärte der Mann und fragte sich anschließend, warum er nicht einfach »mir« gesagt hatte.
»Jack Palance«, sagte Detective Inspector John Rebus.
»Ich sag Ihnen doch, ich kenn ihn nicht.«
»Großer Filmstar.«
»Dann nennen Sie mir einen Film.«
»Im Scotsman steht sein Nachruf.«
»Dann müssten Sie ja jetzt ausreichend informiert sein, um mir sagen zu können, in welchem Film ich ihn gesehen habe.« Detective Sergeant Siobhan Clarke stieg aus dem Wagen und knallte die Tür zu.
»Er war der Schurke in vielen Western.« Rebus ließ nicht locker.
Clarke zeigte einem der Uniformierten ihren Dienstausweis und nahm die Stablampe, die ihr der Jüngere von beiden angeboten hatte. Die Spurensicherung war unterwegs. Vom Blaulicht des Streifenwagens angezogen, hatten sich schon die ersten Neugierigen eingefunden. Rebus und Clarke hatten auf der Wache Gayfield Square Überstunden gemacht und an einer Theorie - allerdings ohne einen Hauptverdächtigen - über einen noch nicht aufgeklärten Fall gebastelt. Beiden war die Unterbrechung, die der Einsatz für sie bedeutete, nur recht gewesen.
Sie waren in Rebus’ asthmatischem Saab 900 gekommen, aus dessen Kofferraum er jetzt gerade Plastiküberschuhe und Latexhandschuhe holte. Erst nach einem halben Dutzend geräuschvoller Versuche ließ sich der Deckel wieder schließen.
»Den muss ich in Zahlung geben«, murmelte er.
»Wer würde den schon nehmen?«, fragte Clarke, während sie sich die Handschuhe überstreifte. Dann, als er nicht antwortete: »Waren das eben Wanderschuhe, die ich gesehen habe?«
»So alt wie das Auto«, sagte Rebus und ging auf die Leiche zu. Schweigend musterten die zwei Detectives die am Boden liegende Gestalt und deren nähere Umgebung.
»Jemand hat’s ihm richtig besorgt«, meinte Rebus schließlich. Er wandte sich an den jüngeren Constable. »Wie heißen Sie, mein Sohn?«
»Goodyear, Sir … Todd Goodyear.«
»Todd?«
»Der Mädchenname meiner Mum, Sir«, erklärte Goodyear.
»Schon mal was von Jack Palance gehört, Todd?«
»Hat er nicht in Mein großer Freund Shane mitgespielt?«
»Sie sind zu schade für die Uniform.«
Goodyears Kollege schmunzelte. »Wenn Sie nicht gewaltig aufpassen, nimmt jung Todd gleich keine Verdächtigen, sondern Sie ins Verhör.«
»Wieso?«, fragte Clarke.
Der Constable - er war mindestens fünfzehn Jahre älter als sein Partner und etwa dreimal so breit - deutete mit einem Nicken auf Goodyear. »Ich bin Todd nicht gut genug«, erklärte er. »Der hat sich das CID in den Kopf gesetzt.«
Goodyear ging darauf nicht ein. Er hatte sein Notizbuch gezückt. »Sollen wir mit der Befragung der Zeugen anfangen?«, fragte er. Ein Paar mittleren Alters saß auf dem Bordstein und hielt sich bei den Händen. Dann war da noch ein halbwüchsiges Mädchen, das, die Arme um sich geschlungen, fröstelnd an eine Mauer gelehnt stand. Ein Stück weiter kamen die Gaffer, nachdem sie die Warnung der Polizei vergessen hatten, wieder näher.
»Das Beste, was Sie tun können«, meinte Rebus, »wäre, uns die Leute vom Leib zu halten, bis wir den Fundort gesichert haben. Der Arzt müsste in ein paar Minuten hier sein.«
»Er hat keinen Puls«, sagte Goodyear. »Ich hab es überprüft.«
Rebus sah ihn finster an.
»Ich hab’s dir ja gesagt, dass denen das nicht gefallen wird«, sagte Goodyears Partner mit einem weiteren Schmunzeln.
»Das kontaminiert den Fundort«, sagte Clarke zu dem jungen Beamten und zeigte ihm ihre Handschuhe und Überschuhe. Er machte ein betretenes Gesicht.
»Trotzdem muss der Arzt noch den Tod feststellen«, fügte Rebus hinzu. »In der Zwischenzeit können Sie versuchen die Bagage dort loszuwerden.«
»Bessere Türsteher sind wir, sonst nichts«, sagte der ältere Bulle zu seinem Partner, während sie abzogen.
»Womit das hier der VIP-Bereich wäre«, sagte Clarke leise. Sie sah sich jetzt die Leiche noch einmal an. »Er ist sehr ordentlich angezogen, wohl kaum ein Obdachloser.«
»Möchten Sie nachsehen, ob er Papiere hat?«
Sie trat ein paar Schritte näher, kauerte sich neben die Leiche und tastete die Hosen- und Jacketttaschen ab. »Fühlen kann ich nichts«, sagte sie.
»Nicht einmal Mitleid?«
Sie sah kurz zu Rebus auf. »Werden Sie den Panzer wenigstens dann ablegen, wenn Sie die goldene Armbanduhr in Empfang nehmen?«
Rebus artikulierte lautlos das Wort »Autsch«. Sie hatten in letzter Zeit deswegen so oft Überstunden im Büro gemacht, weil Rebus nur noch zehn Tage bis zu seiner Pensionierung hatte und Unerledigtes abschließen wollte.
»Ein aus dem Ruder gelaufener Raubüberfall?«, schlug Clarke in der eingetretenen Stille vor.
Rebus zuckte lediglich die Achseln, was bedeutete, dass er nicht daran glaubte. Er bat Clarke, die Leiche von oben bis unten abzuleuchten: schwarze Lederjacke, am Kragen offenes tarnfleckiges Hemd, das ursprünglich wahrscheinlich blau gewesen war, ausgeblichene Jeans mit schwarzem Ledergürtel, schwarze Wildlederschuhe. Soweit Rebus das erkennen konnte, hatte der Mann Falten im Gesicht und angegrautes Haar. Anfang fünfzig? Größe schätzungsweise eins zweiundsiebzig bis fünfundsiebzig. Keinerlei Schmuck, keine Armbanduhr. Und Rebus’ Leiche Nummer … was? Vielleicht dreißig, vierzig im Lauf seiner drei Komma soundso viel Jahrzehnte bei der Truppe. Zehn Tage später, und dieser arme Kerl wäre schon nicht mehr sein Problem gewesen - was immer noch der Fall sein könnte. Seit Wochen schon spürte er Siobhans Anspannung: Ein Teil von ihr - vielleicht sogar der beste Teil von ihr - wollte, dass Rebus endlich das Feld räumte. Erst dann konnte sie anfangen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Jetzt waren ihre Augen auf ihn gerichtet, als wüsste sie, woran er gerade dachte. Er lächelte sie listig an.
»Noch bin ich nicht tot«, sagte er, während sich der Van der Spurensicherung langsam näherte und dann stehen blieb.
Der diensthabende Arzt hatte ordnungsgemäß den Tod festgestellt. Die Spusi hatte die Raeburn Wynd abgesperrt, Scheinwerfer aufgestellt und eine Plane gespannt, so dass die Gaffer nichts sehen konnten außer den Schatten auf der anderen Seite. Rebus und Clarke steckten mittlerweile in den gleichen weißen Einwegoveralls wie die Spusi. Ein Kamerateam war gerade eingetroffen, und der Leichenwagen wartete auf seinen Einsatz. Becher voll Tee waren von irgendwoher aufgetaucht und dampften in der kalten Luft. In der Ferne Sirenen; Geschrei von Betrunkenen auf der nahen Princes Street; vielleicht sogar das Heulen einer Eule auf dem Friedhof. Vom jungen Mädchen und dem Ehepaar waren vorläufige Aussagen aufgenommen worden, und Rebus überflog sie gerade, von den zwei Constables flankiert, deren älterer, wie er inzwischen wusste, Bill Dyson hieß.
»Wie man hört«, sagte Dyson, »werden Sie jetzt endlich doch auf die Straße gesetzt.«
»Übernächstes Wochenende«, bestätigte Rebus. »Aber bei Ihnen kann’s auch nicht mehr lange dauern.«
»Sieben Monate, Tendenz fallend. Hab mir für hinterher schon einen netten kleinen Job als Taxifahrer organisiert. Keine Ahnung, wie Todd ohne mich klarkommen wird.«
»Ich werde die Zähne zusammenbeißen«, meinte Goodyear gedehnt.
»Das ist eine Sache, die du gut draufhast«, sagte Dyson, während Rebus sich wieder seiner Lektüre zuwandte. Das Mädchen, das die Leiche entdeckt hatte, hieß Nancy Sievewright. Sie war siebzehn, hatte eine Freundin besucht und war auf dem Heimweg gewesen. Die Freundin wohnte in der Great Stuart Street und Nancy in der Blair Street, einer Querstraße der Cowgate. Sie war schon von der Schule abgegangen und arbeitslos, hoffte allerdings, irgendwann einen Collegeplatz zu bekommen und eine Ausbildung als Zahnarzthelferin zu machen. Die Befragung hatte Goodyear durchgeführt, und Rebus war beeindruckt: saubere Handschrift und jede Menge Details. Sich anschließend Dysons Notizbuch vorzunehmen bedeutete einen Umschwung von Hoffnung zu Verzweiflung: ein Gewirr von hastig hingekritzelten Hieroglyphen. PC Bill Dyson konnte es sichtlich nicht erwarten, diese letzten sieben Monate hinter sich zu bringen. Mit viel Phantasie erschloss Rebus, dass die Eheleute Roger und Elizabeth Anderson hießen und in der Frogstone Road West wohnten, am Südrand der Stadt. Es gab eine Telefonnummer, aber keinerlei Hinweis auf Alter oder Beruf der beiden. Stattdessen konnte Rebus »kamen bloß vorbei« und »haben angerufen« entziffern. Er gab die Notizbücher kommentarlos zurück. Alle drei Zeugen würden später noch einmal befragt werden. Rebus warf einen Blick auf seine Uhr und fragte sich, wann der Pathologe wohl eintreffen würde. Bis dahin konnte man nicht mehr allzu viel tun.
»Sagen Sie ihnen, dass sie gehen können.«
»Das Mädchen ist noch ziemlich wacklig auf den Beinen«, meinte Goodyear. »Meinen Sie, wir sollten sie heimfahren?«
Rebus nickte und richtete seine Aufmerksamkeit auf Dyson. »Was ist mit den beiden anderen?«
»Ihr Auto steht auf dem Grassmarket.«
»Ein bisschen Late-night-Shopping?«
Dyson schüttelte den Kopf. »Weihnachtskonzert in St. Cuthbert’s.«
»Ein Gespräch, das wir uns hätten sparen können«, erklärte ihm Rebus, »wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, das alles aufzuschreiben.« Als sich seine Augen in die des Constable bohrten, spürte er förmlich die Frage, die Dyson auf der Zunge lag: Warum, zum Teufel, hätte ich das tun sollen? Zum Glück war der Veteran nicht so unvorsichtig, irgendetwas in der Richtung laut zu äußern … jedenfalls nicht solange der andere Veteran in Hörweite war.
Rebus ging zum Van der Spurensicherung, wo Clarke gerade dabei war, den Leiter des Teams auszufragen. Er hieß Thomas Banks - »Tam« für alle, die ihn kannten. Er grüßte Rebus mit einem Nicken und fragte, ob sein Name auf der Gästeliste für seine Verabschiedungsfete stünde.
»Wie kommt’s, dass alle so scharf darauf sind, Zeugen meines Ablebens zu werden?«
»Wundern Sie sich nicht«, sagte Tam, »wenn die Bürohengste aus dem Hauptquartier mit Pfählen und Hämmern kommen, nur um ganz sicherzugehen.« Er zwinkerte Clarke zu. »Siobhan erzählt, Sie hätten es so hingedreht, dass Ihre letzte Schicht am Samstag ist. Hat das den tieferen Sinn, dass wir dann alle zu Hause vor der Glotze hängen, wenn Sie sich auf den Langen Marsch begeben?«
»Hat sich einfach so ergeben,Tam«, versicherte ihm Rebus. »Wie steht’s mit Tee?«
»Vorhin wollten Sie keinen haben«, hielt ihm Tam vor.
»Das war vor’ner halben Stunde.«
»Tja, John, hier kriegt keiner’ne zweite Chance.«
»Ich hatte grad gefragt«, unterbrach Clarke, »ob Tams Team was für uns hat.«
»Ich schätze mal, er hat Sie um Geduld gebeten.«
»Darauf lief’s in etwa raus«, bestätigte Tam, während er eine SMS las, die gerade bei ihm eingegangen war. »Messerstecherei vor einem Pub auf dem Haymarket«, informierte er die beiden.
»Viel los, heut Nacht«, kommentierte Clarke. Dann, zu Rebus gewandt: »Der Arzt vermutet, dass unser Mann zu Tode geknüppelt und vielleicht sogar getreten wurde. Er tippt, dass die Autopsie geschlossenes Polytrauma ergeben wird.«
»Ich werde bestimmt keine Wette gegen ihn abschließen«, erwiderte Rebus.
»Ich ebenso wenig«, fügte Tam hinzu und rieb sich über den Nasenrücken. Er wandte sich zu Rebus. »Wissen Sie, wer dieser junge Uniformierte war?« Er nickte in Richtung des Streifenwagens. Todd Goodyear half Nancy Sievewright gerade in den Fond, während Bill Dyson mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte.
»Hab ihn vorher noch nie gesehen«, gab Rebus zu.
»Aber vielleicht kannten Sie seinen Großvater …« Tam ließ es dabei bewenden, Rebus sollte selbst darauf kommen. Er brauchte nicht lange dazu.
»Doch nicht Harry Goodyear?«
Tam nickte bestätigend, so dass es Clarke überlassen blieb zu fragen, wer Harry Goodyear war.
»Ur- und Frühgeschichte«, informierte Rebus sie.
Womit sie, wie so oft bei Rebus, genauso schlau wie vorher war.
2
Rebus fuhr Clarke gerade nach Haus, als ihr Handy trillerte.
Er wendete und fuhr zur Cowgate, wo sich das städtische Leichenschauhaus befand.Vor der Ladebucht stand ein nicht gekennzeichneter Lieferwagen. Rebus parkte daneben und ging voraus. Die Nachtschicht bestand lediglich aus zwei Männern. Der eine war in den Vierzigern und sah - in Rebus’ Augen - wie ein Exknacki aus. Eine verblasste blaue Tätowierung kroch ihm aus dem Halsausschnitt des Overalls zur Kehle. Es dauerte einen Augenblick, bis Rebus eine Art Schlange darin erkannte. Der andere Mann war erheblich jünger, bebrillt und schlaksig.
»Ich nehm mal an, Sie sind der Dichter«, tippte Rebus.
»Lord Byron nennen wir ihn«, krächzte der Ältere.
»Also, wie ich ihn erkannt habe«, sagte der jüngere Sektionsgehilfe zu Rebus. »Ich war erst gestern …« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Vorgestern«, verbesserte er sich und erinnerte Rebus so daran, dass es nach Mitternacht war, »auf einer Lesung von ihm. Er hatte genau dieselben Sachen an.«
»Vom Gesicht her dürfte er kaum zu identifizieren sein«, unterbrach Clarke, die des Teufels Advokatin spielte.
Der junge Mann pflichtete ihr mit einem Nicken bei. »Trotzdem … das Haar, diese Jacke und der Gürtel …«
»Und, wie heißt er also?«, fragte Rebus.
»Todorow. Alexander Todorow. Er ist Russe. Ich habe ein Buch von ihm im Aufenthaltsraum. Er hat’s mir signiert.«
»Das dürfte dann jetzt einiges wert sein.« Der andere Gehilfe klang plötzlich interessiert.
»Könnten Sie es holen?«, fragte Rebus. Der junge Mann nickte und schlurfte an ihm vorbei Richtung Korridor. Rebus musterte die Reihen von Kühlfächern. »In welchem liegt er?«
»Nummer drei.« Der Gehilfe klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die fragliche Klappe. Daran war ein Schildchen befestigt, aber vorläufig noch ohne Namen. »Ich würde nicht darauf wetten, dass Lord Byron sich irrt - der hat was auf dem Kasten.«
»Wie lange ist er schon hier?«
»Paar Monate. Richtig heißt er Chris Simpson.«
Jetzt hatte auch Clarke eine Frage. »Eine Ahnung, wie lang’s noch dauert, bis die Obduktion beginnt?«
»Bis die Pathologen ihren Arsch hierherschaffen.«
Rebus hatte die neueste Ausgabe der Evening News entdeckt und in die Hand genommen. »Sieht schlecht für die Hearts aus«, sagte der Sektionsgehilfe zu ihm. »Pressley ist nicht mehr Kapitän, und die haben bloß einen Ersatzcoach.«
»Musik in DC Clarkes Ohren«, erklärte Rebus dem Mann. Er hielt die Zeitung hoch, so dass sie die Titelseite sehen konnte. Ein halbwüchsiger Sikh war im Pilrig Park überfallen und um den Haarknoten kürzer gemacht worden.
»Gott sei Dank nicht unser Revier«, sagte sie. Als sie Schritte hörten, drehten sie sich alle drei um, aber es war bloß Chris Simpson, der mit einem schmalen Buch zurückkam. Rebus nahm es ihm ab und sah sich den Rückendeckel an. Das Gesicht des Dichters starrte ihm ernst entgegen. Rebus zeigte es Clarke, die mit den Schultern zuckte.
»Sieht schon wie dieselbe Lederjacke aus«, kommentierte Rebus. »Aber er hat hier so was wie eine Kette um den Hals.«
»Die hatte er auch bei der Lesung getragen«, bestätigte Simpson.
»Und der Typ, den Sie heute Nacht reingekriegt haben?«
»Keine Kette - ich hab nachgesehen. Vielleicht hat er sie ihm abgenommen … ich meine der, der ihn überfallen hat.«
»Oder vielleicht ist er es auch gar nicht. Wie lange sollte Todorow in der Stadt bleiben?«
»Er ist mit so einer Art Stipendium hier. Lebt schon seit längerem nicht mehr in Russland - bezeichnet sich als Exilanten.«
Rebus blätterte währenddessen im Buch. Es hieß Astapowo Blues. Die Gedichte waren auf Englisch und trugen Titel wie »Raskolnikow«, »Leonid« und »Geistiger Gulag«. »Was bedeutet der Buchtitel?«, fragte er Simpson.
»Das ist der Ort, wo Tolstoi gestorben ist.«
Der andere Gehilfe schmunzelte. »Ich hab’s Ihnen ja gesagt, dass der was auf dem Kasten hat.«
Rebus reichte das Buch an Clarke weiter, die es aufklappte und sich die Titelseite ansah. Todorow hatte eine Widmung geschrieben, in der er den »Lieben Chris« ermahnte, »die Treue« zu halten, »wie ich’s getan und nicht getan habe«. »Was meinte er damit?«, fragte sie.
»Ich hatte ihm gesagt, dass ich versucht habe, Dichter zu werden. Er sagte mir, das bedeutete, dass ich schon einer war. Ich glaube, er meint, dass er der Poesie die Treue gehalten hat, aber nicht Russland.« Der junge Mann errötete.
»Wo fand die Lesung statt?«, fragte Rebus.
»In der Scottish Poetry Library - grad um die Ecke von der Canongate.«
»War jemand bei ihm? Eine Ehefrau vielleicht, oder jemand vom Verlag?«
Simpson meinte, das könne er nicht mit Sicherheit sagen. »Er ist berühmt, wissen Sie. Es war schon im Gespräch für den Nobelpreis.«
Clarke hatte das Buch wieder zugeklappt. »Es gibt ja immer noch das russische Konsulat«, sagte sie. Rebus nickte. Sie hörten, wie draußen ein Auto vorfuhr.
»Das wird wenigstens einer von den beiden sein«, sagte der andere Gehilfe. »Wir sollten den Sektionssaal fertig machen, Lord Byron.«
Simpson hatte die Hand nach seinem Buch ausgestreckt, aber Clarke wedelte damit in der Luft herum.
»Was dagegen, wenn ich’s noch ein bisschen behalte, Mr. Simpson? Ich versprech, dass ich’s nicht in eBay anbiete.«
Der junge Mann wirkte wenig begeistert, aber sein Kollege drängte zum Aufbruch. Clarke besiegelte die Abmachung, indem sie sich das Buch in die Manteltasche steckte. Rebus hatte sich zur Eingangstür gewandt, die gerade von einem verschlafen aussehenden Professor Gates aufgedrückt wurde. Nur ein paar Schritte hinter ihm tauchte Dr. Curt auf - die zwei Pathologen hatten schon so oft zusammengearbeitet, dass sie Rebus fast wie eine Einheit vorkamen. Schwer, sich vorzustellen, dass sie neben der Arbeit ein eigenständiges, separates Privatleben führten.
»Ah, John«, sagte Gates und reichte Rebus eine Hand, die so eisig war wie die Luft im Raum. »Die Nacht ist bitterkalt geworden. Und da hätten wir DS Clarke - die es zweifelsohne nicht erwarten kann, aus dem Schatten des Mentors zu treten.«
Clarke war sauer, aber sie hielt den Mund - kein Grund, deswegen eine Diskussion anzufangen, wie sie die Sache sah, stand sie längst nicht mehr in Rebus’ Schatten. Rebus lächelte dem bleichen Curt aufmunternd zu, bevor er ihm die Hand gab. Elf Monate zuvor hatte es einen Krebsalarm gegeben, und obwohl er das Rauchen endgültig aufgegeben hatte, war er nicht mehr ganz der Alte.
»Wie geht’s Ihnen, John?«, fragte Curt. Rebus hatte das dumpfe Gefühl, dass vielleicht er diese Frage hätte stellen müssen, aber er antwortete mit einem beruhigenden Nicken.
»Ich tippe auf Türchen Nummer zwei«, sagte Gates, zu seinem Kollegen gewandt. »Gilt die Wette?«
»Es ist die Nummer drei«, erklärte Clarke. »Wir vermuten, dass er ein russischer Dichter sein könnte.«
»Doch nicht etwa Todorow?«, fragte Curt und hob eine Augenbraue. Clarke zeigte ihm das Buch, und die Augenbraue ging noch ein Stückchen höher.
»Ich hätte Sie nicht für einen Liebhaber der Poesie gehalten, Doc«, meinte Rebus.
»Stecken wir mitten in einem diplomatischen Zwischenfall?«, schnaubte Gates. »Sollten wir nach Einstichen mit vergifteten Regenschirmspitzen suchen?«
»Sieht so aus, als hätte ihm ein Irrer die Schnauze poliert«, erklärte Rebus. »Es sei denn, es gibt ein Gift, das einem die Haut vom Gesicht schält.«
»Nekrotisierende Fasziitis«, murmelte Curt in sich hinein.
»Verursacht durch Streptococcus pyogenes«, fügte Gates hinzu. »Ich glaube allerdings nicht, dass die uns bislang je untergekommen ist.« Rebus fand, dass er aufrichtig enttäuscht klang.
 
Geschlossenes Polytrauma: Der Polizeiarzt hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Rebus saß in seinem Wohnzimmer, im Dunkeln, und rauchte eine Zigarette. Nachdem die Regierung ein Rauchverbot am Arbeitsplatz und in Lokalen verhängt hatte, versuchte sie, auch das Rauchen zu Hause zu verbieten. Rebus fragte sich, wie die Heinis das durchsetzen wollten. Auf dem CD-Player lief ein Album von John Hiatt. Leise. Das Stück hieß »Lift Up Every Stone«. Seit er bei der Polizei war, hatte er nichts anderes getan als das: jeden Stein aufgehoben. Aber Hiatt benutzte die Steine, um eine Mauer zu errichten, während Rebus bloß daruntersah und nach den kleinen dunklen Kreaturen spähte, die da herumwuselten. Er fragte sich, ob der Songtext ein Gedicht war und was der russische Dichter von Rebus’ Interpretation gehalten hätte. Sie hatten versucht, jemanden im Konsulat zu erreichen, aber es hatte sich nicht mal ein AB gemeldet, also hatten sie beschlossen, Feierabend zu machen. Siobhan war zu Gates’ erheblicher Verärgerung während der Autopsie eingenickt. Rebus’ Schuld: Er hatte sie in letzter Zeit immer so lange im Büro festgehalten und versucht, sie für all die alten unaufgeklärten Fälle zu interessieren, die ihm nach wie vor keine Ruhe ließen - wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sie die Erinnerung an ihn wachhalten würden …
Rebus hatte sie zu Hause abgesetzt und war dann durch die vormorgendlich stillen Straßen nach Marchmont gefahren, hatte schließlich einen Parkplatz gefunden und war in seine Wohnung gegangen. Das Wohnzimmer hatte ein Erkerfenster, und dort stand sein Sessel. Er redete sich zwar ein, dass er es bestimmt bis ins Schlafzimmer schaffen würde, aber für alle Fälle lag hinter dem Sofa eine Steppdecke. Eine Flasche Whisky hatte er auch - achtzehn Jahre alten Highland Park, vergangenes Wochenende gekauft und noch für ein paar Gläschen gut. Kippen und Schnaps und ein kleines bisschen Nachtmusik. Früher einmal hätte ihm das genügend Trost geboten, aber würde das noch reichen, wenn der Job erst hinter ihm lag? Was hatte er außerdem noch?
Eine Tochter in England, mit einem Collegedozenten liiert.
Eine Exfrau, die nach Italien gezogen war.
Das Pub.
Taxi zu fahren oder für Strafverteidiger Zeugen ausfindig zu machen und vorab zu vernehmen, konnte er sich nicht so recht vorstellen. Ebenso wenig »einen neuen Anfang« zu machen, wie das andere getan hatten - sich in Marbella oder Florida oder Bulgarien zur Ruhe zu setzen. Einige hatten ihre Pension in Immobilien investiert, Wohnungen an Studenten vermietet - ein Chief Inspector, den er kannte, hatte sich auf die Art eine goldene Nase verdient -, aber Rebus hatte keine Lust auf den ganzen Stress. Er würde den Studenten ja doch nur ständig wegen irgendwelchen Brandlöchern im Teppich oder ungespülten Tellern auf den Geist gehen.
Sport? Fehlanzeige.
Hobbys und Lieblingsbeschäftigungen? Das, was er gerade tat.
»Bisschen selbstmitleidig heut Nacht, was, John?«, fragte er sich laut. Musste dann ein bisschen lachen, da ihm bewusst war, dass er es in der Disziplin »Selbstmitleid« in die schottische Nationalauswahl geschafft und bei der Miesepeter-Olympiade gute Aussichten auf die Goldmedaille gehabt hätte. Wenigstens wurde er nicht gerade wieder zusammengenäht und in Eisfach Nummer drei zurückgeschoben. Er war im Geist eine Liste durchgegangen - Straftäter, von denen er wusste, dass sie beim Verprügeln eines Opfers leicht die Kontrolle verloren. Die meisten saßen im Gefängnis oder, vollgepumpt mit Sedativa, in der Geschlossenen. Gates hatte es selbst gesagt: »Da war blinde Wut am Werk.«
»Eine oder mehrere«, hatte Curt hinzugefügt.
Klar, sie konnten es durchaus mit mehreren Tätern zu tun haben. Man hatte dem Opfer mit ausreichend Kraft auf den Hinterkopf geschlagen, um den Schädel zu zertrümmern. Hammer, Stahlrute oder Baseballschläger - oder sonst etwas in der Richtung. Rebus vermutete, dass das der erste Treffer gewesen war. Das Opfer war buchstäblich gekeult worden, so dass es für den oder die Angreifer keine Gefahr mehr darstellte. Aber warum hatte man das Gesicht dann derart traktiert? Wie Gates andeutete, hätte kein normaler Straßenräuber damit Zeit verplempert. Er hätte die Taschen geleert und wäre geflohen. Von einem Finger war ein Ring abgezogen worden, und eine Druckstelle am linken Handgelenk zeigte, dass das Opfer eine Armbanduhr getragen hatte. Eine schmale Einkerbung am Nacken sprach dafür, dass ihm die Halskette abgerissen worden war.
»Am Tatort nichts gefunden?«, hatte Curt gefragt, während er nach der Rippenschere griff.
Rebus hatte den Kopf geschüttelt.
Angenommen, das Opfer hatte Widerstand geleistet … vielleicht war jemandem eine Sicherung durchgebrannt. Oder es gab einen fremdenfeindlichen Hintergrund, sein Akzent hatte ihn verraten …?
»Der Verurteilte hat herzhaft gespeist«, hatte Gates nach Öffnung des Magens schließlich festgestellt. »Garnelencurry, wenn ich mich nicht irre, mit einem Hellen runtergespült. Und riechen Sie nicht einen leichten Hauch von Brandy oder Whisky, Dr. Curt?«
»Keine Frage.«
Und so war es weitergegangen. Siobhan hatte sich krampfhaft bemüht, nicht einzuschlafen, und Rebus hatte neben ihr gesessen und den Pathologen bei ihrer Arbeit zugeschaut.
Keine Abschürfungen an den Knöcheln oder Hautfetzen unter den Fingernägeln - nicht der geringste Hinweis darauf, dass das Opfer eine Chance gehabt hatte, sich zu wehren. Die Kleidung war Kaufhausware und würde ins kriminaltechnische Labor geschickt werden. Als das Blut abgewaschen war, sah das Gesicht schon eher wie das auf dem Gedichtband aus. Während eines von Siobhan Clarkes kurzen Nickerchen hatte Rebus ihr das Buch aus der Tasche gezogen und auf dem Vorsatzblatt eine Kurzbiografie Todorows gefunden. Geboren 1960 im Moskauer Vorort Schdanow, ehemaliger Literaturdozent, Träger zahlreicher Preise und Auszeichnungen,Verfasser von sechs Gedichtbänden für Erwachsene und einem für Kinder.
Jetzt in seinem Sessel am Fenster, versuchte Rebus sich an die Namen indischer Restaurants in der Nähe der King’s Stables Road zu erinnern. Morgen würde er im Telefonbuch nachsehen.
»Nein, John«, sagte er sich, »es ist schon morgen.«
Er hatte sich in der durchgehend geöffneten Tankstelle die Evening News besorgt, um die Schlagzeilen noch einmal überfliegen zu können. Der Marmion-Prozess wurde am Crown Court fortgesetzt, Schießerei in einem Pub in Gracemount, einer tot, einer, der von Glück reden konnte, dass er noch am Leben war. Der junge Sikh war mit ein paar Beulen und blauen Flecken davongekommen, aber das Haar war in seiner Religion heilig, und das mussten seine Angreifer gewusst - oder zumindest geahnt haben.
Und Jack Palance war tot. Rebus hatte keine Ahnung, wie er im wirklichen Leben gewesen war, aber in seinen Filmen hatte er immer harte Burschen gespielt. Rebus schenkte sich einen weiteren Highland Park ein und hob sein Glas.
»Auf die harten Männer«, sagte er und leerte es in einem Zug aus.
Siobhan Clarke erreichte das Ende der Liste von Restaurants im Telefonbuch. Sie hatte ein halbes Dutzend Möglichkeiten unterstrichen, aber infrage kam eigentlich jedes indische Restaurant - Edinburgh war eine kleine Großstadt, und man kam schnell überallhin. Aber sie würden mit den Lokalen in der nächsten Umgebung des Tatorts beginnen und sich dann nach außen vorarbeiten. Sie war mit ihrem Laptop online gegangen und hatte nach Todorow gegoogelt - es gab Tausende von Hits. Er hatte sogar einen eigenen Eintrag in der Wikipedia. Einige der Seiten, die sie fand, waren auf Russisch. Ein paar Artikel kamen aus den USA, wo der Dichter in etlichen Colleges auf dem Lehrplan stand. Es gab auch Rezensionen von Astapowo Blues, weshalb sie jetzt wusste, dass die Gedichte von russischen Autoren der Vergangenheit handelten, zugleich aber kritische Stellungnahmen zur aktuellen politischen Situation in Todorows Heimat darstellten - obwohl Mütterchen Russland kaum als seine Heimat bezeichnet werden konnte, jedenfalls seit zehn Jahren nicht mehr. Er hatte sich zu Recht als einen Exilanten bezeichnet, und seine Ansichten über das Russland der Post-GlasnostÄra hatten ihm einigen Ärger und Spott vonseiten des Politbüros eingebracht. In einem Interview hatte man ihn gefragt, ob er sich als einen Dissidenten verstehe. »Als einen konstruktiven Dissidenten«, hatte er erwidert.
Clarke trank einen weiteren Schluck lauwarmen Kaffee. Das ist dein Fall, Mädchen, sagte sie sich. Rebus würde bald nicht mehr da sein. Sie bemühte sich, nicht allzu sehr daran zu denken. Sie hatten so viele Jahre zusammengearbeitet, dass sie fast die Gedanken des anderen lesen konnten. Sie wusste, dass er ihr fehlen würde, wusste aber auch, dass sie anfangen musste, eine Zukunft ohne ihn zu planen. Sicher, sie würden sich immer wieder mal auf einen Drink treffen, gelegentlich auch zusammen essen gehen. Sie würde Klatschgeschichten und sonstige Leckerbissen mit ihm teilen. Vielleicht würde er sie wegen dieser alten ungelösten Fälle nerven, die er ihr die ganze Zeit aufzuhalsen versuchte …
Im Fernsehen lief BBC News 24, aber mit abgestelltem Ton. Sie telefonierte ein bisschen herum für den Fall, dass jemand den Dichter schon vermisst gemeldet hatte.Viel mehr konnte sie nicht tun, also schaltete sie Fernseher und Computer aus und ging ins Bad. Die Glühbirne musste ausgewechselt werden, also zog sie sich im Dunkeln aus, putzte sich die Zähne und stellte fest, dass sie die Zahnbürste statt unter dem kalten unter dem Warmwasserhahn ausspülte. Im Licht der mit einem hellpinkfarbenen Tuch verhängten Nachttischlampe schüttelte sie die Kissen auf und legte sich mit angezogenen Knien ins Bett, so dass sie Astapowo Blues dagegenstützen konnte. Mal eben vierzig Seiten, trotzdem hatte das Buch Chris Simpson einen Zehner gekostet.
Halte die Treue, wie ich’s getan und nicht getan habe …
Das erste Gedicht der Sammlung endete mit den Versen:
Als das Land blutete und weinte, weinte und blutete,Wandte er die Augen ab,Dass man ihn nicht zum Zeugen aufrufen könnte.
Sie blätterte zur Titelseite zurück und sah, dass Todorow die Gedichte selbst - »mit Unterstützung von Scarlett Colwell« - aus dem Russischen übersetzt hatte. Clarke lehnte sich zurück und machte sich an das zweite Gedicht. Bevor sie die dritte seiner vier Strophen geschafft hatte, war sie eingeschlafen.
Zweiter Tag
Donnerstag, 16. November 2006
3
Die Scottish Poetry Library befand sich in einem der unzähligen engen, zum Teil überwölbten Gässchen, die von der Canongate abgingen. Rebus und Clarke schafften es, die Einfahrt nicht zu finden, und landeten schließlich unten beim Parlament und dem Holyrood-Palast. Als sie den Hügel, jetzt langsamer, wieder hinauffuhren, verpassten sie sie wieder.
»Man kann sowieso nirgendwo parken«, moserte Clarke. An diesem Morgen saßen sie in ihrem Auto, und so war es Rebus’ Aufgabe, Crichton’s Close auszumachen.
»Ich glaube, wir sind eben dran vorbeigefahren«, sagte er und verdrehte den Hals nach hinten. »Fahren Sie auf den Bürgersteig, und wir sehen mal nach.«
Clarke ließ die Warnblinkanlage an, als sie den Wagen abschloss, und klappte den Außenspiegel um, damit er ihr nicht abgefahren wurde. »Wenn ich ein Knöllchen kriege, zahlen Sie das«, warnte sie Rebus.
»Polizeieinsatz, Shiv. Wir legen gegebenenfalls Widerspruch ein.«
Die Poetry Library war ein geschickt zwischen den alten mehrstöckigen Häusern verstecktes modernes Gebäude. Die Frau am Empfangstresen lächelte ihnen strahlend entgegen. Das Lächeln verschwand, als Rebus ihr seinen Dienstausweis zeigte.
»Die Lesung vor ein paar Tagen - Alexander Todorow.«
»Ah ja«, sagte sie, »ganz wunderbar. Einige seiner Bücher sind hier erhältlich.«
»War er allein in Edinburgh? Irgendwelche Angehörigen oder so …?«
Die Augen der Frau verengten sich, und sie griff sich mit einer Hand an die Strickjacke. »Ist etwas passiert?«
Clarke antwortete. »Ich muss Ihnen leider sagen, dass Mr. Todorow letzte Nacht überfallen wurde.«
»Herrje«, stieß die Bibliothekarin atemlos hervor, »ist er …?«
»Mausetot«, steuerte Rebus bei. »Wir müssen mit dem nächsten Angehörigen sprechen oder zumindest mit jemandem, der ihn identifizieren kann.«
»Alexander war hier als Gast des PEN und der Universität und schon seit einigen Monaten in der Stadt …« Die Stimme der Bibliothekarin zitterte ebenso wie der Rest ihrer Person.
»PEN?«
»Das ist eine Schriftstellervereinigung … macht sich sehr für die Menschenrechte stark.«
»Und wo wohnte er?«
»Die Universität hatte ihm eine Wohnung am Buccleuch Place zur Verfügung gestellt.«
»Familie? Eine Ehefrau vielleicht …?«
Aber die Frau schüttelte den Kopf. »Ich glaube, seine Frau ist gestorben. Kinder hatten sie, soweit ich weiß, keine - zum Glück, muss man wohl jetzt sagen.«
Rebus dachte kurz nach. »Und wer hat nun diese Veranstaltung hier organisiert? War es die Universität, das Konsulat …?«
»Das war Scarlett Colwell.«
»Seine Übersetzerin?« Clarkes Frage wurde mit einem Nicken beantwortet.
»Scarlett arbeitet am Slawistischen Seminar.« Die Bibliothekarin begann, die Zettel auf ihrem Tisch durchzusehen. »Ich habe ihre Nummer hier irgendwo … Was für ein schreckliches Unglück. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schlimm das ist.«
»Keinen Ärger während der Lesung selbst?«, fragte Rebus möglichst beiläufig.
»Ärger?« Als sie merkte, dass keine näheren Erklärungen kommen würden, schüttelte sie den Kopf. »Es lief alles glänzend. Stupende Verwendung von Metaphern und Rhythmen … selbst wenn er auf Russisch rezitierte, spürte man die Leidenschaft.« Sie hing kurz der Erinnerung nach. Dann, mit einem Seufzer: »Anschließend hat Alexander mit Freuden Bücher signiert.«
»Sie sagen es in einem Ton«, bemerkte Clarke, »als ob das nicht immer der Fall gewesen wäre.«
»Alexander Todorow war ein Dichter, ein sehr bedeutender Dichter.« Als ob damit alles erklärt wäre. »Ah, hier ist sie ja.« Sie hielt einen Zettel in die Höhe, schien aber nicht bereit zu sein, ihn aus der Hand zu geben. Also tippte Clarke die Nummer in ihr Handy und bedankte sich dann bei der Bibliothekarin für ihre Hilfsbereitschaft.
Rebus sah sich um. »Wo genau hat die Veranstaltung stattgefunden?«
»Oben. Wir hatten über siebzig Gäste.«
»Es hat nicht zufällig jemand die Sache gefilmt?«
»Gefilmt?«
»Für die Nachwelt.«
»Warum fragen Sie?«
Rebus antwortete mit einem Achselzucken.
»Eine Tonaufzeichnung wurde gemacht«, räumte die Frau ein. »Da war jemand von einem Musikstudio.«
Clarke zückte ihr Notizbuch. »Name?«, fragte sie.
»Abigail Thomas.« Dann begriff die Bibliothekarin, dass sie sie falsch verstanden hatte. »Ach so, Sie meinen den Namen des Mannes, der die Aufnahme gemacht hat? Charlie Soundso …« Abigail Thomas kniff die Augen vor Konzentration zusammen, riss sie dann weit auf. »Charles Riordan. Er hat ein Tonstudio in Leith.«
»Danke, Ms.Thomas«, sagte Rebus. Dann: »Fällt Ihnen jemand ein, mit dem wir uns in Verbindung setzen sollten?«
»Sie könnten mit dem PEN reden.«
»Vom Konsulat war an dem Abend niemand hier?«
»Das hätte ich auch nicht erwartet.«
»Wieso?«
»Alexander hielt mit seiner kritischen Haltung zur gegenwärtigen Situation in Russland nicht hinterm Berg. Vor ein paar Wochen war er in Question Time.«
»Der Fernsehsendung?«, fragte Clarke. »Die sehe ich mir manchmal an.«
»Er konnte also ziemlich gut Englisch«, folgerte Rebus.
»Wenn er wollte«, sagte die Bibliothekarin mit einem leicht schiefen Lächeln. »Wenn ihm eine Frage nicht passte, schienen ihn seine Sprachkenntnisse schlagartig zu verlassen.«
»Er scheint ein ziemliches Original gewesen zu sein«, bemerkte Rebus. Er sah, dass auf einem Tisch neben der Treppe ein kleiner Stapel Bücher Todorows lag. »Sind die zu kaufen?«, fragte er.
»Allerdings. Hätten Sie gern eins?«
»Sind die zufällig signiert?« Sie nickte. »In dem Fall sagen wir ein halbes Dutzend.« Er griff in die Brusttasche nach seinem Portemonnaie, während die Bibliothekarin aufstand, um die Bücher zu holen. Als er Clarkes Blick bemerkte, artikulierte er lautlos ein Wort.
Ein Wort, das sehr nach »eBay« aussah.
Sie hatten kein Knöllchen bekommen, dafür ernteten sie bitterböse Blicke von den Fahrern, die sich am Auto vorbeiquetschen mussten. Rebus warf die Tüte mit den Büchern auf den Rücksitz. »Sollten wir sie vorwarnen?«
»Wär vielleicht klüger«, meinte Clarke, wählte die Nummer und hielt sich das Handy ans Ohr. »Sagen Sie mir eins, wissen Sie überhaupt, wie man etwas bei eBay verkauft?«
»Ich bin lernfähig«, antwortete Rebus. Dann: »Sagen Sie ihr, wir treffen uns vor seiner Wohnung, nur für den Fall, dass er da im Vollrausch liegt und wir einen Doppelgänger im Eisfach haben.« Er hielt sich eine Hand vor den Mund und unterdrückte ein Gähnen.
»Haben Sie überhaupt geschlafen?«, fragte Clarke.
»Wahrscheinlich so viel wie Sie«, antwortete er.
Die Universitätszentrale meldete sich. Clarke fragte nach Scarlett Colwell und wurde mit ihr verbunden.
»Miss Colwell?« Eine Pause. »Verzeihung, Doktor Colwell.« Sie sah Rebus an und verdrehte die Augen.
»Fragen Sie sie, ob sie mir was für meine Gicht empfehlen kann«, flüsterte er. Clarke boxte ihm gegen die Schulter, während sie Dr. Scarlett Colwell die schlechte Neuigkeit mitteilte. Zwei Minuten später waren sie auf dem Weg zum Buccleuch Place, einem sechsgeschossigen georgianischen Block gegenüber den moderneren (und weit hässlicheren) Gebäuden der Universität. Insbesondere ein bestimmtes Hochhaus war zu dem Gebäude gewählt worden, das die meisten Edinburgher am liebsten unter der Abrissbirne gesehen hätten. Daraufhin war das Haus, das möglicherweise diese Feindseligkeit gespürt hatte, in eine Phase der Selbstzerstörung getreten und ließ in unregelmäßigen Abständen große Brocken Verputz fallen.
»Sie haben hier nie studiert, oder?«, fragte Rebus, während Clarkes Auto über das Kopfsteinpflaster holperte.
»Nein«, sagte sie und fuhr langsam in eine Parklücke. »Sie?«
Rebus schnaubte durch die Nase. »Ich bin ein Dinosaurier, Shiv - damals in der Bronzezeit durfte man auch ohne Diplom und Gelehrtenhut Detective werden.«
»Waren die Dinosaurier in der Bronzezeit nicht schon längst ausgestorben?«
»Da ich nicht auf dem College war, ist das genau eines der Dinge, die ich nicht weiß. Meinen Sie, es besteht die Chance, dass da oben ein Kaffee für uns rausspringt?«
»Sie meinen, in der Wohnung?« Er nickte. »Sie würden den Kaffee eines Toten trinken?«
»Ich hab schon erheblich Schlimmeres getrunken.«
»Wissen Sie was? Das glaube ich Ihnen aufs Wort.« Clarke war inzwischen aus dem Auto gestiegen, und Rebus folgte ihr. »Das da drüben dürfte sie sein.«
Sie stand bei bereits aufgeschlossener Haustür auf der obersten Stufe der Vortreppe und winkte. Die zwei Polizisten winkten zurück - Clarke, weil es sich so gehörte, und Rebus, weil Scarlett Colwell umwerfend aussah. Ihr Haar fiel ihr in weichen rotbraunen Wellen auf die Schultern, ihre Augen waren dunkel, ihre Kurven beeindruckend. Sie trug einen engen grünen Minirock, eine schwarze Strumpfhose und braune Schaftstiefel. Ihr Rotkäppchenumhang reichte gerade mal bis zur Taille. Als ein Windstoß ihr das Haar in die Augen wehte und sie es zurückstrich, kam sich Rebus wie in einem Werbespot vor. Ihre leicht verschmierte Wimperntusche verriet ihm, dass sie ein paar Tränen vergossen hatte, aber bei der Begrüßung war sie dann ganz nüchtern und sachlich.
Sie folgten ihr vier Treppen empor zum Obergeschoss, wo sie die Tür von Alexander Todorows Wohnung aufschloss; Rebus, der auf dem unteren Absatz eine Verschnaufpause eingelegt hatte, kam gerade in dem Moment oben an, als sie die Tür öffnete. Die Wohnung hatte nicht viel zu bieten: Ein kurzer, enger Flur führte zum Wohnzimmer mit Kochnische. Es gab ein winziges Duschbad, eine separate Toilette und ein Einbettschlafzimmer mit Blick auf die Meadows. Da sich die Wohnung im Dachgeschoss befand, waren die Wände schräg. Rebus fragte sich, ob der Dichter sich mal plötzlich im Bett aufgesetzt und den Kopf angeschlagen hatte. Die Wohnung wirkte nicht so sehr leer als geradezu ausgestorben, so als hätte das Verschwinden ihres letzten Bewohners eine deutliche Spur hinterlassen.
»Die Sache tut uns sehr leid«, sagte Siobhan Clarke, als sie alle im Wohnzimmer standen. Rebus schaute sich um: ein Papierkorb voll zerknüllter Gedichte, eine neben dem ramponierten Sofa liegende leere Cognacflasche, an der Wand über einem Klapptisch, auf dem eine elektrische Schreibmaschine stand, ein Plan des Edinburgher Busnetzes. Es gab weder Computer noch Fernseher, noch eine Musikanlage, lediglich ein Kofferradio mit abgebrochener Antenne. Dafür überall Bücher - teils englische, teils russische, dazu noch einige in anderen Sprachen. Auf der Armlehne des Sofas lag ein Griechischwörterbuch. Auf einem Regal für Nippsachen standen leere Bierdosen, auf dem Kaminsims Einladungen zu Partys vom vergangenen Monat. Im Flur hatte Rebus ein Telefon entdeckt. Er fragte, ob der Dichter ein Handy besessen hätte. Als Colwell den Kopf schüttelte und ihre Mähne ins Schwingen brachte, wusste Rebus, dass er unbedingt noch eine Frage stellen musste, die sie ihm genauso würde beantworten können. Clarkes Räuspern riet ihm ernsthaft davon ab.
»Computer auch nicht?«, fragte er trotzdem.
»Er hätte jederzeit den in meinem Arbeitszimmer benutzen können«, sagte Colwell. »Aber Alexander misstraute der Technik.«
»Sie kannten ihn gut?«
»Ich war seine Übersetzerin. Als das Stipendium ausgeschrieben wurde, habe ich mich sehr für ihn eingesetzt.«
»Und wo war er, bevor er nach Edinburgh kam?«
»Eine Zeit lang in Paris … davor in Köln … Stanford, Melbourne, Ottawa …« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Er war sehr stolz auf die vielen Stempel in seinem Pass.«
»Apropos Pass«, unterbrach Clarke. »Seine Taschen waren leer - haben Sie eine Ahnung, was er normalerweise so bei sich hatte?«
»Notizbuch und Stift … Geld, nehme ich an …«
»Irgendwelche Kreditkarten?«
»Er besaß eine Bankcard. Ich glaube, er hatte bei der First Albannach ein Konto eröffnet. Es müssten hier irgendwo Auszüge sein.« Sie sah sich um. »Sie sagten, es war ein Raubüberfall?«
»Mit Sicherheit ein Überfall.«
»Was war er für ein Mann, Dr. Colwell?«, fragte Rebus. »Wenn ihm jemand auf der Straße dumm gekommen wäre, hätte er Widerstand geleistet, sich gewehrt?«
»Oh, ich glaub schon. Er war ein kräftiger Mann. Immer für einen guten Wein und eine handfeste Auseinandersetzung zu haben.«
»War er reizbar?«
»Nicht besonders.«
»Aber Sie sagten gerade, dass er sich gern gestritten hat.«
»Nein, ich meinte, dass er gern diskutierte«, stellte Colwell richtig.
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»In der Poetry Library. Nach der Lesung wollte er noch was trinken gehen, aber ich musste nach Haus - hab noch Hausarbeiten vor den Weihnachtsferien zu benoten.«
»Mit wem ist er also dann was trinken gegangen?«
»Es waren ein paar hiesige Dichter zur Lesung gekommen: Ron Butlin, Andrew Greig … Und ich könnte mir vorstellen, dass Abigail Thomas auch mit von der Partie war, und wenn auch nur, um die Zeche zu zahlen - Alexander hatte zu Geld keine richtige Beziehung.«
Rebus und Clarke tauschten einen Blick: Sie würden sich noch einmal mit der Bibliothekarin unterhalten müssen. Rebus hüstelte kurz, um die nächste Frage ein wenig hinauszuschieben. »Wären Sie bereit, den Toten zu identifizieren, Dr. Colwell?«
Scarlett Colwell wurde kreidebleich.
»Sie scheinen ihn mit am besten gekannt zu haben«, erklärte Rebus. »Es sei denn, es gibt Angehörige, an die wir uns wenden könnten.«
Aber sie hatte sich schon entschieden. »In Ordnung, ich mach’s.«
»Wir könnten jetzt direkt hinfahren«, sagte Clarke, »wenn es Ihnen recht ist.«
Colwell nickte langsam, ins Leere starrend. Rebus wandte sich zu Clarke. »Rufen Sie die Wache an«, sagte er, »Hawes und Tibbet sollen sich hier ein bisschen umsehen - Reisepass, Bankcard, Notizbuch … Wenn die Sachen nicht hier sind, dann hat sie entweder jemand, oder man hat sie entsorgt.«
»Nicht zu vergessen seine Schlüssel«, fügte Clarke hinzu.
»Richtig.« Rebus ließ noch einmal den Blick durch den Raum wandern. »Schwer zu sagen, ob die Wohnung durchsucht worden ist - oder können Sie das eher erkennen, Dr. Colwell?«
Colwell schüttelte wieder den Kopf und schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es sah immer ziemlich genau so aus.«
»Also können wir uns die Spurensicherung sparen«, sagte Rebus zu Clarke. »Bloß Hawes und Tibbet.«
Mit einem Nicken griff Clarke nach ihrem Handy. Rebus hatte etwas nicht mitbekommen, das Colwell gerade gesagt hatte.
»In einer Stunde habe ich ein Tutorium«, wiederholte sie.
»Wir sorgen dafür, dass Sie rechtzeitig zurück sind«, versicherte er ihr, obwohl es ihm ziemlich gleichgültig war. Er hielt Clarke die Hand hin. »Schlüssel.«
»Bitte?«
»Sie bleiben hier, um Hawes und Tibbet reinzulassen. Ich fahre Dr. Colwell ins Leichenschauhaus.«
Clarke versuchte zunächst, ihn mit Blicken zu töten, gab aber schließlich nach.
»Lassen Sie sich anschließend von einem von denen in die Cowgate fahren«, sagte Rebus in der Hoffnung, ihr die bittere Pille ein wenig zu versüßen.
4
Die Identifizierung lief reibungslos ab, obwohl die Leiche größtenteils verhüllt blieb, damit die Arbeit der Pathologen nicht zu sehen war. Colwell legte für einen Augenblick die Stirn an Rebus’ Schulter und gestattete sich ein paar Tränen. Rebus bedauerte es, kein sauberes Taschentuch dabeizuhaben, aber sie holte selbst eins aus ihrer Umhängetasche, betupfte sich die Augen und putzte sich die Nase. Professor Gates befand sich ebenfalls im Raum. Er trug einen Dreiteiler, der ihm vier, fünf Jahre früher wunderbar gepasst hatte. Er hielt die Hände vor dem Bauch verschränkt und den Kopf gesenkt, ganz wie es sich gehörte.
»Es ist Alexander«, brachte Colwell schließlich heraus.
»Sind Sie sicher?«, fühlte sich Rebus verpflichtet nachzufragen.
»Definitiv.«
»Vielleicht«, meldete sich Gates zu Wort und hob den Kopf, »hätte Dr. Colwell gern eine Tasse Tee, bevor’s an die Schreibarbeit geht?«
»Bloß ein paar Formulare«, erklärte Rebus leise. Colwell nickte, und dann begaben sie sich alle drei in das Arbeitszimmer des Pathologen. Es war ein beklemmend kleiner Raum ohne natürliches Licht, dafür mit einem ständigen Geruch nach Feuchtigkeit vom angrenzenden Duschzimmer. Die Tagesschicht
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Exit Music« bei Orion Books, London
Verlagsgruppe Random House
 
 
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
 
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2007 by John Rebus Limited Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
eISBN : 978-3-641-02539-7
 
www.manhattan-verlag.de
 
Leseprobe
 

www.randomhouse.de