Ein guter Freund - Torsten Körner - E-Book
SONDERANGEBOT

Ein guter Freund E-Book

Torsten Körner

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Er war eine Legende des deutschen Films: Als Quax, der Bruchpilot, Pfeiffer ("mit drei f") und Hauptmann von Köpenick verstand es Heinz Rühmann wie kein zweiter, dem sprichwörtlichen "kleinen Mann" ein Gesicht zu geben, und wurde von einem Millionenpublikum dafür geliebt. Wie gelang es diesem "Genie der Harmlosigkeit", sich in drei Gesellschaftssystemen, der Weimarer Republik, dem "Dritten Reich" und schließlich in der Bundesrepublik, zu behaupten und derart ungebrochener Popularität zu erfreuen? Torsten Körner hat auf der Grundlage jahrelanger Recherchen und zahlreicher Gespräche mit Zeitgenossen Rühmanns, u.a. Johannes Mario Simmel, Artur Brauner und Frank Beyer, in dieser umfassenden Biographie den Weg des großen Schauspielers nachgezeichnet. Mit einer ausführlichen Filmographie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 785

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über Torsten Körner

Torsten Körner, geboren 1965, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft, Magisterarbeit über Schiller, Promotion über Heinz Rühmann. Er ist Autor u. a. zahlreicher Sachbücher und Biographien, wie beispielsweise Die Geschichte des Dritten Reiches erzählt von Torsten Körner, 2000; Der kleine Mann als Star. Heinz Rühmann und seine Filme der fünfziger Jahre, 2001; Franz Beckenbauer. Der freie Mann, Biographie, 2005; Götz George. Mit dem Leben gespielt, Biographie, 2008; Geschichten aus dem Speisewagen. Unterwegs in Deutschland, 2010 sowie Die Familie Willy Brandt, 2013.

Informationen zum Buch

Er war eine Legende des deutschen Films: Als Quax, der Bruchpilot, Pfeiffer (»mit drei f«) und Hauptmann von Köpenick verstand es Heinz Rühmann wie kein zweiter, dem sprichwörtlichen »kleinen Mann« ein Gesicht zu geben, und wurde von einem Millionenpublikum dafür geliebt. Wie gelang es diesem »Genie der Harmlosigkeit«, sich in drei Gesellschaftssystemen, der Weimarer Republik, dem »Dritten Reich« und schließlich in der Bundesrepublik, zu behaupten und derart ungebrochener Popularität zu erfreuen?

Torsten Körner hat auf der Grundlage jahrelanger Recherchen und zahlreicher Gespräche mit Zeitgenossen Rühmanns, u.a. Johannes Mario Simmel, Artur Brauner und Frank Beyer, in dieser umfassenden Biographie den Weg des großen Schauspielers nachgezeichnet.

Mit einer ausführlichen Filmographie.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Torsten Körner

Ein guter Freund

Heinz Rühmann

Biographie

Inhaltsübersicht

Über Torsten Körner

Informationen zum Buch

Newsletter

Erhofftes Wiedersehen

1902–1920

Prächtiger Knabe

Auf Mutters Schoß und Vaters Tresen

Katastrophen

Münchner sind famose Kerle

In ihm rumort Theater

1920–1930

Die halbe Portion

Tapferes Schneiderlein

Der Mustergatte tritt an

Über die Dörfer zum Glück

Begegnung mit dem Nebbich

Heinz und Maria

»Der Kleene verdient’s Geld«

Zu neuen Ufern

Der Konsenskandidat

Der »kleine Mann« – ein Star

Provinzknirps auf Abwegen

1930–1939

Tonfilm-Tankwart gesucht

Die Drei von der Tankstelle

»Aufmunterungsmaschine in finsterster Zeit«

Freunde, Flieger, Kapriolen

Ein Mann will nach oben

In die Hände gespuckt …

»Bitterer Tyrann«

»Staatspolitisch besonders wertvoll«

Kleiner Mann ganz groß

Ungeküsst soll er nicht schlafen gehn

»Von Judenliste streichen«

Lauter Lügen

1939–1945

Hauptsache glücklich!

Inseln, Oasen und Parks

Jasager, Neinsager, Vielleichtsager

Gasmänner und Bruchpiloten

Bombenstimmung

Regie: Heinz Rühmann

Die Feuerzangenbowle

Einbahnstraße Untergang

1945–1960

Zwischen den Fronten

Gastspieldirektion Heinz Rühmann

Gerüchte

Die Comedia

Kassengift und leise Töne

Keine Angst vor großen Tieren

Alles Theater

Der Hauptmann von Köpenick

Der behördlich anerkannte Idiot

Mitläuferballade

1960–1994

Kleiner Mann – was nun?

Kein wilder Sechziger

Abschied vom Gestern

Glück gehabt

Anhänger der Stille

Ein guter Freund

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Zeittafel

Bühnenverzeichnis

Heinz Rühmann Filmographie

Auszeichnungen

Personenregister

Dank

Impressum

Erhofftes Wiedersehen

Die ganze Erde bebte, die Welt geriet aus den Angeln, den kleinen Mann konnte das nicht erschüttern. Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Er spitzte die Lippen, pfiff ein fröhliches Lied und wanderte frohgemut durch deutsche Räume und Zeiten. Unterdessen krachten die großen Banken zusammen, Selbstmörder stürzten sich von den Brücken ins eisige Wasser, man hungerte, drehte jeden Pfennig dreimal um und schlug sich auf den Straßen die Schädel ein. Was braucht es Geld, um glücklich zu sein? Es wird schon wieder besser! Die Republik von Weimar verendete, man jubelte dem großen Führer zu. Bald starrte das ganze Land vor Waffen, Männer und Frauen waren hart, tüchtig und flink. Das tausendjährige Reich saß fest in den Köpfen, Herzen und Kalendern. Der kleine Mann war heimgekehrt ins Glück, er blinzelte aufmunternd, zog weiter. Jahreszeiten kamen und gingen, Sonne, Wind, Regen und Schnee. Feldmarschall Hindenburg war gestorben, Kaiser Wilhelm lebte im Exil. Der Führer und sein Volk zogen in den Krieg, der kleine Mann zog über die Leinwände. An den Fronten wurde zerstört und getötet, mörderische Rekorde allenthalben. Bald jedoch schlugen große Männer zurück, und die Deutschen verloren den Weltkrieg mit Pauken und Trompeten. Der Führer war tot, die Städte lagen in Trümmern, der kleine Mann aber lachte. Das große Aufräumen begann: Man zerschnitt das kriegerische Land, zog neue Grenzen und teilte es in Ost und West. Ein großer Frost kam derweil über die Welt, Raketen schossen wie Pilze aus dem Boden, der Krieg war kalt. Im geteilten Deutschland wurde gemauert, man harkte, hegte, pflegte, wusch, meißelte, säte, goss Fundamente, verstrich Mörtel und schaufelte, unbewältigt blieb dennoch vieles. Eisen, Stahl und Beton blühten, Jahreszeiten kamen und gingen, Sonne, Wind, Schnee und Regen, Kalenderblätter verwelkten. Der kleine Mann schritt fröhlich aus und weiter, keine Angst vor großen Tieren. Stalin ging ins Grab, Kennedys Kopf wurde von einer Kugel zerschmettert, Adenauer starb, und Churchill war schon lange tot. Und wenn auch die ganze Erde bebte, den kleinen Mann konnte das nicht erschüttern. Unterdessen wurde Martin Luther King ermordet, die Amerikaner landeten auf dem Mond, und Willy Brandt fiel in Warschau auf die Knie. Das große rote Reich zerfiel, die Mauern zwischen Ost und West zerbröckelten, und das einstmals so kriegerische Land durfte wieder zusammenwachsen. Der kleine Mann rieb sich die Augen, blinzelte vergnügt und lief und lief und lief. Ein Freund, ein guter Freund, das ist das beste, was es gibt auf der Welt. So lebt er fort, vergnügt bis an kein Ende.

1902–1920

Prächtiger Knabe

Heinrich Wilhelm Rühmann wurde am 7. März 1902 in der Kettwiger Straße 10/12 in Essen, Regierungsbezirk Düsseldorf, geboren. Einen Tag später konnten die Leser der »Rheinisch-Westfälischen Zeitung« dieses Ereignis zur Kenntnis nehmen: »Die Geburt eines prächtigen Knaben zeigen hocherfreut an Hermann Rühmann und Frau, geb. Stemme.«

Der »prächtige Knabe« wurde am 5. April evangelisch getauft und von allen bald nur noch »Heinzi« oder »Heinzelmann« gerufen. Heinz Rühmann war der zweite Sohn des Hoteliers Heinrich Fritz Hermann Rühmann, der am 28. Februar 1873 in Aukrug im Kreis Osterode/Harz geboren wurde. Dessen Frau Maria Charlotte Henriette Elise, genannt Margarethe, Stemme war am 15. September 1877 in Hannover zur Welt gekommen. Sie hatten am 27. Februar 1899 in Essen geheiratet, und am 20. Dezember 1899, zehn Monate später, wurde der erste Sohn Hermann Heinrich Rühmann geboren.

Niemand aus Heinz Rühmanns Familie hat einen ähnlichen Lebensweg eingeschlagen wie er, nirgendwo in der langen Ahnenreihe kündigen sich die Spuren seines besonderen Talents an. Wohin man auch blickt, hat man es mit bodenständigen Bürgern zu tun, kleinen Leuten, die über Jahrhunderte in die Fußstapfen ihrer Vorfahren traten, meist an Ort und Stelle blieben, nur im Fall einer Hochzeit oder wirtschaftlicher Not in die allernächsten Dörfer und Städte umzogen.

Die Vorfahren von Heinz Rühmann stammen aus den Dörfern Ohlum bei Peine und Pöhlde im niedersächsischen Landkreis Osterode. In Ohlum, das im Jahr 1022 erstmals nachweislich erwähnt wird, taucht der Name Rühmann bereits 1567 auf.1 Jürgen Heinrich Rühmann, der Ururgroßvater von Heinz Rühmann, baute 1776 einen kleinen Hof in Ohlum. Noch heute findet sich im Giebel des Hofes eine der damals üblichen Holztafeln mit religiöser Inschrift: »Gott ist und bleibt der wundermann, der viel und wenig machen kann, drum wen dein thun will nirgend fort, so halte dich an gottes wort, Trau Gott und habe guten muth, er wird es machen alles gut.«

Jürgen Heinrich Rühmanns Sohn, Johann Balthasar Melchior Heinrich Rühmann, geboren am 25. Oktober 1799, zog dann nach Pöhlde, wo er am 4. Juni 1885 starb. Die Rühmanns waren Ackermänner, Handwerker, einige brachten es schließlich im 19. Jahrhundert als kleine Kaufleute oder Gastwirte zu bescheidenem Wohlstand. Auch Heinz Rühmanns Großvater war Gastwirt in Pöhlde, und Sohn Hermann wurde dort im väterlichen Gasthof geboren. Im Jahr 1885 musste die Familie ihr Haus jedoch verkaufen, der Großvater von Heinz Rühmann zog schließlich mit seiner Familie nach Steterburg im Großherzogtum Braunschweig.

Hermann Rühmann erlernte hier den Beruf seines Vaters, allerdings war er unruhiger und ehrgeiziger als seine Vorfahren. Er wollte aufsteigen, Karriere machen, die kleinen, verrauchten Dorfgasthöfe mit ihren Stammkunden hinter sich lassen. Ihn trieb der Geist der Zeit, das euphorische Gründungsfieber, die nervöse Aufbruchstimmung der Wilhelminischen Ära. Kaiser Wilhelm II., der 1888 den Thron bestiegen und den Übervater der Epoche, Kanzler Otto von Bismarck, 1890 entlassen hatte, war ein Repräsentant dieser gesellschaftlichen Unruhe. Zwar belächelten ihn die Intellektuellen, die meisten Deutschen jedoch bewunderten ihn und eiferten ihm nach. Sein rastloses Reisen, seine theatralischen Auftritte, sein militärischer Machtwille und seine pompöse Hofhaltung wurden zum allgemeinen Vorbild. Der Glanz und der Reichtum des Hofes wurden – freilich mit bescheideneren Mitteln – bis in die kleinste bürgerliche Stube nachgeahmt, und die Männer orientierten sich am stramm-militärischen Gestus ihres Herrschers. Sie wollten die biedermeierliche Beschaulichkeit, die noch ihre Großväter und Väter gepflegt hatten, hinter sich lassen, sie wollten aufbrechen, Fuß fassen, hochkommen, glänzen, renommieren, sich verändern und wenn schon nicht die ganze Welt, so doch zumindest ihr Stück von der Welt erobern.

Auch Heinz Rühmanns Großvater mütterlicherseits war von diesem Ehrgeiz angesteckt. Heinrich Stemme wurde am 19. Dezember 1847 in Barsinghausen in der Nähe von Hannover geboren, wo seine Vorfahren seit Jahrhunderten ansässig waren und ihr Geld als Bäcker, Lehrer oder Bauern verdienten. Nach seiner Heirat mit Auguste Sahink trieb es ihn zunächst nach Hannover, wo er sich vom Kellner zum Schankwirt hocharbeitete. Dann zog er 1878 vorübergehend nach Minden und betrieb als Bahnhofsrestaurateur das dortige Bahnhofslokal. Laut Gewerbesteuer-Rolle beschäftigte er »1 Oberkellner, 3 Kellner und 2 Mamsellen«.2 Nach einem halben Jahr gab er das Lokal jedoch wieder auf und kehrte für einige Jahre nach Hannover zurück. 1885 zog er nach Essen und pachtete an der wichtigsten Geschäftsstraße, der Kettwiger Straße, Ecke Akazienallee, ein Hotel, später kaufte er es. Heinrich Stemme muss es in der Zwischenzeit zu Geld gebracht haben, um eine Immobilie in dieser Lage erwerben zu können.

Die Geschichte der Stadt Essen, in der sich die Lebenswege von Heinz Rühmanns Eltern kreuzen sollten, verdeutlicht gut den grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, den Deutschland nach der Reichsgründung von 1871 vollzog. Durch den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung wandelte sich das Land vom Agrar- zum Industriestaat. Vor allem im Westen entstanden riesige Industrielandschaften und weiträumige Siedlungsgebiete, die die idyllischen Dörfer und Städtchen des Ruhrgebiets von den Landkarten verbannten. Noch um 1850 war Essen eine ruhige Kleinstadt mit 9000 Einwohnern gewesen, fünfzig Jahre später waren es bereits 295000, womit die Einwohnerzahl um ein Dreiunddreißigfaches gestiegen war. Dieses Wachstum, das in mit dem Aufstieg der Firma Krupp zum größten deutschen Industrieunternehmen zusammenhing, zog Arbeitsuchende und Aufstiegswillige geradezu magisch an.

Auch Hermann Rühmann war dem Ruf der inzwischen größten Stadt des Ruhrgebiets gefolgt. Er trat als Oberkellner in das Hotel seines zukünftigen Schwiegervaters ein. Das Hotel Stemme war ein solides bürgerliches Etablissement. Es lag wenige hundert Meter vom Hauptbahnhof entfernt, der Verkehr war hier sehr belebt, Pferdefuhrwerke zogen rasselnd auf dem Kopfsteinpflaster vorbei, Straßenbahnen fuhren direkt am Hotel entlang, die ersten Automobile bahnten sich vielbestaunt und langsam ihren Weg durch die vielköpfige Menge der Passsanten. Vom Bahnhof her strömten die Reisenden in die Innenstadt, die, auf der Suche nach einem Quartier, gleich am Eingang der Kettwiger Straße auf das Hotel Lindenhof und das Hotel Stemme trafen.

Hier arbeitete sich Hermann Rühmann hoch, eiferte seinem Chef nach und fand Gefallen an dessen Tochter Margarethe, die im Familienbetrieb mitarbeitete. Die Bildungschancen für Frauen in der Wilhelminischen Gesellschaft waren gering, man erwartete von ihnen Heirat, Mutterschaft und Haushaltsführung. Höhere Schulen für Mädchen gab es nicht, in Preußen wurden Frauen erst 1896 zur Reifeprüfung zugelassen, und von den Wahlen blieben sie noch bis 1919 ausgeschlossen. Margarethe Rühmanns Weg war also vorgezeichnet, und der Bewerber schien eine gute Partie zu sein. Wie sein Schwiegervater musste er es zu Kapital gebracht haben, denn 1897 kaufte er den Hotelbetrieb von Heinrich Stemme und war fortan Geschäftsführer und Chef. Somit konnte er Margarethe Stemme zumindest den gleichen Lebensstandard garantieren wie ihr Vater, der trotz des Verkaufs weiterhin eine maßgebliche Rolle im familieneigenen Hotelbetrieb gespielt haben dürfte.

In den Erinnerungen Heinz Rühmanns3 taucht sein Vater allenfalls als schemenhafte Gestalt auf. Er wird als trinkfreudiger Wirt geschildert, der mit seinen Stammgästen und Freunden die Nächte durchzechte, großspurig auftrat, mitunter den Mund recht voll nahm, aber dennoch ein unsicherer Mensch blieb. Auf den wenigen erhaltenen Fotos sieht man einen Mann, der zumeist etwas missmutig in die Kamera blickt, der Mode der Zeit folgend mit englischem Bowlerhut, steifem Kragen, säuberlich gebundener Krawatte. Sein Schnurrbart ist nach Kaiser-Wilhelm-Manier an den Enden aufgezwirbelt. Im Gegensatz zu seiner Frau, die zwei Köpfe kleiner ist als er, steht er etwas verloren im Familienbild, während sich die Kinder an die Mutter schmiegen.

Als Heinz Rühmann am 7. März 1902 in einem Zimmer im ersten Stock des Hotels Stemme geboren wurde, war dies für Hermann Rühmann ein willkommener Anlass zu feiern. Die Stimmung wurde in der Nacht so ausgelassen, dass die angetrunkenen Männer die Säulen des Speisesaals immer wieder hinauf- und hinunterkletterten und dabei den wohlgeratenen Nachwuchs lautstark hochleben ließen. Derweil lag die erschöpfte Mutter im Bett und fand wegen des Lärms keinen Schlaf.

Vielleicht feierte der junge Vater aber auch einen guten Geschäftsabschluss und seinen Abschied von Essen. Denn etwa einen Monat vor der Geburt des zweiten Sohnes Heinz hatte der Vater das Hotel verkauft und war entschlossen, in das unweit von Essen gelegene Städtchen Wanne umzuziehen, um die dortige Bahnhofsgastwirtschaft zu übernehmen, die angeblich eine wahre Goldgrube sein sollte. In den Akten des Stadtarchivs Essen zum Hotelbetrieb Stemme ist ein anonymer Brief überliefert, der den Geschäftsmann Hermann Rühmann ein wenig charakterisiert und auf jeden Fall wie ein Menetekel über seiner weiteren Laufbahn steht.

In dem Brief vom 13. Februar 1902, der unterschrieben ist mit »ein rechtlich Denkender«, heißt es: »Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, jedenfalls haben Sie schon in Erfahrung gebracht, dass Hotel Stemme (He. Rühmann) jetzt wieder zum Preis von 540000 Mark verkauft ist. Es ist doch im Grunde genommen ein wirkliches Schwindelgeschäft, wenn ein derart altes Gebäude für solch horrenden Preis verkauft wird, selbst wenn das Geschäft gut sein soll, so ist es doch nicht möglich, dass die Käufer, welche noch Stempel, Umschreibung und Provisionsgebühren ca. 16000 Mark zu zahlen haben, zahlungsfähig sind. Das Ende wird sein, die Geschäftsleute, die mit solcher Firma arbeiten, müssen lange auf Zahlungen warten, die endlich dann später ganz aufhören, der Schluss ist Pleite. Dass durch solche Wirtschaftsverkäufe ungesunde Geschäfte geschaffen werden, ist unausbleiblich und werden Sie daher dringend gebeten, verehrter Oberbürgermeister Ihre Zustimmung res. Consessionsübertragung zu verweigern.«4

Hermann Rühmann ließ also in Essen nicht nur Freunde zurück. Einige Essener Kaufleute betrachteten ihn ganz offensichtlich als unsoliden, windigen Geschäftsmann, dem nicht zu trauen war. Doch vorerst schien das Glück noch auf seiner Seite zu sein. Wenige Monate nach dem Verkauf des Hotels zog die Familie Rühmann nach Wanne. Dort wird Heinz Rühmann aufwachsen und die ersten elf Jahre seines Lebens verbringen.

Auf Mutters Schoß und Vaters Tresen

Die große revolutionäre Kraft des 19. Jahrhunderts war der Eisenbahnbau. Das neue Verkehrsmittel veränderte die Gesellschaft und den Alltag der Menschen rasant. Mit dem sich vergrößernden Schienennetz entstand eine vielfach verflochtene Wirtschafts- und Handelszone. Die getrennten regionalen Märkte wuchsen zu einem nationalen Großwirtschaftsraum zusammen, noch bevor Deutschland politisch geeint war. Zulieferindustrien wie der Kohlebergbau, Maschinenbau und die Eisenerzeugung erhielten bedeutende Wachstumsimpulse. Die Transportleistung der Bahn stieg im Personen- und Güterverkehr ständig an, und auch die fahrplanmäßige Geschwindigkeit erhöhte sich beträchtlich: Im Jahr 1850 durften erst 50 km/h gefahren werden, um 1900 waren es 100 km/h. Inzwischen war auch das Streckennetz von knapp 6000 km im Jahr 1850 auf rund 52000 km im Jahr 1900 angewachsen. Durch die Bahnlinien entstanden neue Zentren, während andere Orte an Bedeutung verloren. Das Raum- und Zeitgefühl der Menschen veränderte sich durch die neuen Geschwindigkeitserfahrungen und die so gewonnene Mobilität.

Diese Entwicklungen veränderten auch das beschauliche Städtchen Wanne. Im Laufe weniger Jahrzehnte entwickelte sich die Gemeinde am Flüsschen Emscher zu einem Eisenbahnknotenpunkt im Ruhrgebiet, dessen Gesicht sich in dieser Zeit ebenfalls radikal wandelte. Überall schossen die Fördertürme der Zechen empor, rauchende Schlote und Schornsteine, wohin man sah. Eisen-, Stahl- und Kohleindustrien prägten jetzt das Bild, die Städte, Dörfer und Siedlungen wuchsen ununterscheidbar ineinander, die idyllische Landschaft der Region zwischen Rhein und Ruhr verschwand unwiderbringlich.

Vom industriellen Wachstum, das immer mehr Arbeiter ins Ruhrgebiet, nach Wanne, Herne, Bochum oder Gelsenkirchen lockte, wollte auch Hermann Rühmann profitieren. Im Frühjahr 1902 pachtete er das Bahnhofsrestaurant in Wanne. Der alte Bahnhof war ein schmuckloser Zweckbau, ganz aus Holz und langgestreckt, an dessen einem Ende sich die Gaststätte befand. In seiner Autobiographie hat Heinz Rühmann geschildert, dass die Familie auch im Bahnhof gewohnt habe.5 Eine Zweitwohnung besaß die Familie offensichtlich in der Bahnhofstraße 28, der Hauptgeschäftsstraße des Ortes, in der Hermann Rühmann laut Stadtadressbuch gemeldet war.6 Wahrscheinlich nutzte die Familie diese Wohnung bisweilen als Ausweichquartier, denn die Wohnräume im Bahnhof waren klein, und Tag und Nacht zogen die schnaufenden und zischenden Dampflokomotiven vorbei. Nicht weniger als zehn wichtige Linien mündeten in den Bahnhof von Wanne ein: »Allein 20 Schnellzüge passieren ihn jetzt täglich, außerdem 150 Personen-, über 30 Eilgut- und Viehzüge, 340 Güterzüge und ca. 20 Anschlusszüge zur Bedienung der angeschlossenen Zechen.«7

Diese hohe Verkehrsfrequenz verschaffte dem Bahnhofsrestaurateur Rühmann zu jeder Tageszeit neue Gäste: Arbeiter, durchreisende Geschäftsleute, Eisenbahnpersonal. Die Schilderung eines Heimatforschers aus dem Jahr 1903 zeigt, wie sehr der Bahnhof als Sinnbild einer Epoche empfunden wurde, die durch neue Verkehrsströme und Mobilität gekennzeichnet war: »Eine solche, an der Weltlinie liegende Station sieht Leute aus allerlei Volk, das unter dem Himmel ist. Da verkehren Reisende vom ganzen Kontinent, aus allen Zonen und Weltteilen. Der angelsächsische Vetter und der heißblütige Nachbar im Westen, der Yankee und der schwarze Sohn Afrikas, Asiaten und Polynesier. Auch die auf der Höhe der Menschheit wandelnden, gekrönten Häupter, wie fürstliche und prinzliche Personen passieren die Station.«8

Auch Durchreisende, deren Züge nur kurz in Wanne hielten, wurden bedient: »Mein Vater hatte Papiertüten erfunden, in denen belegte Brötchen eingepackt waren und außen der Aufdruck: Gute Reise wünscht Hermann Rühmann, Bahnhofsrestaurant Wanne. Diese Tüten wurden zusammen mit Getränken von Kellnern auf Tabletts den Zug entlang getragen, die dabei riefen: ›Belegte Brötchen, Limonade gefällig?‹ Ein Riesengeschäft.«9 Einträglich waren auch die Imbiss-Automaten, die der findige Gastwirt zwischen den Wartesälen der ersten und der zweiten sowie der dritten und vierten Klasse aufgestellt hatte.

Bei all dieser Geschäftigkeit hatte Hermann Rühmann wenig Zeit für seine Kinder. Als Heinz Rühmann zweieinhalb Jahre alt war, wurde am 15. Oktober 1904 seine Schwester Ilse geboren. Jetzt zog sich die Mutter etwas aus dem Geschäftsbetrieb zurück und kümmerte sich – unterstützt von Kindermädchen und Zugehfrauen – um die nunmehr drei Kinder. Wie fast alle Jungen jener Zeit wurde Heinz Rühmann in den ersten Lebensjahren noch in Mädchenkleider gesteckt. Mit Samtkleidchen, weißem Kragen und langen Haaren sahen die Jungen den Mädchen zum Verwechseln ähnlich, bis die Haare kurzgeschnitten wurden und sie die allseits beliebten Matrosenanzüge anziehen mussten. Wer etwas auf sich hielt, demonstrierte mit der Marinemode seinen Stolz auf die Kaiserliche Flotte. Blau trug man alltags, am Sonntag weiß. Für aufstiegsorientierte Familien wie die Rühmanns war es selbstverständlich, dass die Kinder teure Bleyle-Anzüge und Blusen tragen mussten, die man in Wanne bei Otto Honcamp in der Bahnhofstraße kaufte.

Sobald die Rühmann-Kinder älter waren, durften sie unter Aufsicht in dem kümmerlichen Bahnhofsgarten herumtoben oder beim Vater am Tresen stehen und die Gäste anstaunen. Hier verfolgte Heinz Rühmann das erste Schauspiel seines Lebens, dessen Hauptdarsteller der hochgewachsene Vater selbst war.

Es fällt nicht schwer, sich das Bahnhofsrestaurant als Bühne vorzustellen, zumal, wenn man sich den kindlichen Blickwinkel von Heinz Rühmann zu eigen macht. Vor seinen Augen agierte der Vater wie ein Schauspieler, der ganz verschiedene Gesichter zeigte und Haltungen einnahm, um den unterschiedlichen Ansprüchen seiner Gäste gerecht zu werden. Wenn das Kind dem Vater in die Küche folgte, konnte es geschehen, dass es ihn mit strenger Miene lautstarke Anweisungen erteilen hörte. Hier steuerte und dirigierte der Wirt im Hintergrund, er trieb die Kellner an, mahnte die Küchenmamsellen zur Eile, er kanzelte den einen Lieferanten ab, während er einem anderen mit ausgesuchter Freundlichkeit begegnete. Ganz anders trat der Vater am Tresen und im Speisesaal auf. Mit verschränkten Armen hörte er den Erzählungen seiner Stammgäste zu, nickte beflissen, seufzte anteilnehmend, oder er schlug, einhellige Entrüstung ausdrückend, mit der flachen Hand auf den Tresen. Fremden wurde natürlich nicht mit der gleichen eingespielten Intimität begegnet, sondern mit je nach ihrem Äußeren fein abgestufter Freundlichkeit. Ein aufstrebender, ehrgeiziger und standesbewusster Gastwirt wie Rühmann achtete genau darauf, mit wem er es zu tun hatte. Als Wirt war er gegenüber jedem Gast zu Höflichkeit und Zuvorkommenheit verpflichtet, doch natürlich war der Apotheker anders zu behandeln als der Krämer, der Bürgermeister anders als der Schreiber, der Durchreisende anders als der Stammgast, der Militär anders als ein Zivilist, der Schuldirektor anders als der Pedell. In Rühmanns Memoiren gewinnt der Vater vor allem in diesem öffentlichen Raum Gestalt. Hier scheint er einen stärkeren Eindruck auf ihn hinterlassen zu haben als in der Familie, die er ganz offensichtlich vernachlässigte.

Der Vater war es auch, der ihn in das hineinstieß, was Rühmann später als eine Art Urszene seiner Karriere schildert: »Vater lebte für seine Gäste, vor allem aber für die zahlreichen Stammtischfreunde, die allesamt fröhliche Zecher gewesen sein müssen. Vor diesen Gästen gab ich als Kind von vielleicht fünf Jahren meinen ersten ›öffentlichen‹ Auftritt. Um seine Freunde zu amüsieren, holte mich mein Vater eines Abends aus dem Bett. Ich musste ein Gedicht rezitieren. Mutter protestierte vergeblich. Stolz wie alle Väter, stellt er mich im wehenden Nachthemd auf einen Stuhl mitten im Gästezimmer. Er strahlte über das ganze Gesicht, als seine Gäste und Freunde mir für meine Vortragskunst lauten Beifall zollten.«10 Diese Szene soll der Vater wegen ihres großen Erfolges häufig wiederholt haben, sehr zum Leidwesen seiner Frau, die um die Gesundheit ihres Sohnes fürchtete. Auf diese Weise lernte Heinz Rühmann früh, sich Aufmerksamkeit zu erspielen, für seine Darstellungen belacht und beklatscht zu werden. Scheu oder Angst scheint er dabei von Anfang an nicht gekannt zu haben.

Bei einer anderen Gelegenheit riss ihn der Vater wieder einmal aus dem Schlaf, trug ihn ins Wohnzimmer und stemmte ihn mit einer Hand in die Höhe, während die angetrunkenen Gäste ihn erwartungsvoll anstarrten: »Statt zu weinen, legte ich, schlaftrunken wie ich war, die rechten Finger an die Schläfe und rief: ›Ich begrüße Tante Karoline!‹ Wörtlich. Dabei gab es gar keine Tante Karoline in unserer Familie. Alles lachte, nur meine Mutter nicht.«11

Wie alle Kinder ahmte der kleine Rühmann Verhaltensformen und Gesten der Erwachsenen nach. Und dass dieser Spiel- und Nachahmungstrieb von Eltern und Verwandten gelobt und durch Beifall honoriert wurde, ist auch nicht ungewöhnlich. Bei Heinz Rühmann muss sich diese Erfahrung jedoch festgesetzt, wiederholt und bewährt haben. In den späteren Schul- und Jugendjahren werden ihm sein Spieltrieb, sein Nachahmungstalent helfen, sich anzupassen und allgemeine Sympathie zu erlangen. Überliefert sind diese theatralischen Kinderszenen auch von der Haushälterin der Familie Rühmann, Wilhelmine Mertens, die viele Jahre später einem Journalisten berichtete, wie der Vierjährige in der Wirtschaft auf einen Stuhl stieg und die Gäste mit Liedern oder Gedichten unterhielt.12

1908 wurde Heinz Rühmann mit sechs Jahren in eine kirchliche Volksschule in Wanne eingeschult. Später wechselte er auf das Realgymnasium im benachbarten Eickel und wurde dort in die Sexta aufgenommen.13 Das Statussymbol aller Gymnasiasten war die Schülermütze, die jedes Jahr ein neues Band erhielt, um die Klassenstufe zu kennzeichnen. Das damalige Erziehungsideal war vor allem auf die Vermittlung eines möglichst breiten Allgemeinwissens an historischen Daten und Fakten ausgerichtet. Für das Schulgeld, das die Eltern zahlten, erwarteten sie, dass ihre Kinder möglichst viel Unterrichtsstoff in den Köpfen nach Hause trugen: »Lückenlose Geschichtskenntnisse mit den Jahreszahlen aller Schlachten und Regierungszeiten der Herrscher, tote und lebende Fremdsprachen und Geographie bedeuteten die Wissensausstattung fürs Leben.«14

Neben diesen fachlichen Qualifikationen wurde seit den neunziger Jahren die vaterländische und nationale Erziehung der Schüler verstärkt, vor allem durch den Geschichtsunterricht. Dass ein Lateinlehrer voller Überzeugung an die Tafel schrieb: »Dulce et decorum est pro patria mori«, war nur ein Zeichen von vielen, das von der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft Zeugnis ablegte. So lautete das Aufsatzthema am Realgymnasium Eickel für die Reifeprüfung Ostern 1912: »Der Krieg kann auch heilsam sein, nachgewiesen an der deutschen Geschichte«15. Je länger der letzte Krieg mit Frankreich zurücklag, desto mehr wurde öffentlich marschiert und paradiert, um die Erinnerung an die glanzvollen Siege wachzuhalten. Für die Jugend, auch in Wanne, organisierte man Kriegsspiele, bei denen berühmte Schlachten nachgestellt und militärische Grundbegriffe eingeübt wurden. Die Uniform war das beste Stück des Mannes, und wer nicht gedient hatte war ein armer Tropf. Der Spruch »Der höchste Gott im deutschen Land, das ist und bleibt der Leutenant« war in den meisten Fällen ganz ernst gemeint. Heinz Rühmann bekam von seinem Vater zur Anerkennung für seine schulischen Leistungen nicht nur ein Fahrrad, sondern auch eine komplette Kinderuniform geschenkt. An nationalen Festtagen wie dem Tag von Sedan stand der Schüler Rühmann dann mit Helm und Säbel vor der ganzen Schule und deklamierte feierlich ein langes Gedicht auf den Kaiser.

Einem Außenseiter, der in Rühmanns Karriere noch eine große Rolle spielen sollte, gelang es, dieser Gesellschaft, in der alles Soldatische verehrt und Militärs unbedingter Gehorsam entgegengebracht wurde, einen Streich zu spielen. Am 16. Oktober 1906 verwandelte sich der mehrfach vorbestrafte Schuster Wilhelm Voigt mit Hilfe einer staubigen Uniform, die er bei einem Trödler billig erstanden hatte, in einen preußischen Hauptmann. Da er im Gefängnis militärische Begriffe und Regeln auswendig gelernt hatte, brachte er eine Handvoll Soldaten unter sein Kommando und führte sie nach Köpenick. Dort besetzte er das Rathaus und verhaftete den Bürgermeister. Dann ließ er sich die Stadtkasse aushändigen und verschwand mit der Beute. Das »Berliner Tageblatt« kommentierte: »Vor der Uniform liegen alle auf dem Bauch, die sogenannte Gesellschaft, die Behörden vom Minister bis zum letzten Nachtwächter, das Bürgertum und die Masse des Volkes auch.«16 Und der sozialdemokratische »Vorwärts« schrieb: »Die Welt lacht. Über die deutschen Grenzen hinaus, über den englischen Kanal und den atlantischen Ozean dringt ein schrilles Hohngelächter. Die Welt lacht auf Kosten des preußischen Junkerstaates. Die Achtung, die deutsche Wissenschaft, deutsche Industrie sich im Auslande erworben haben, erstickt in einem spöttischen Gelächter.«17

Derart kritische Meinungen teilten jedoch nur wenige Lehrer, und selbst wenn man über diese Köpenickiade schmunzelnd den Kopf schüttelte, ließ man doch nicht von der stramm patriotischen Erziehung ab. In Gefahr gebracht sahen viele Pädagogen der Zeit ihre Bemühungen dagegen durch eine andere große Macht des 20. Jahrhunderts: das Kino. Auch in Wanne gab es ein viel besuchtes kinematographisches Theater, das Kurzfilme mit Klavierbegleitung zeigte. Für den 27. bis 29. Mai 1911 kündigte das Wanner Biotophon-Theater von Peter Köffer zum Beispiel folgendes Programm an: »Jagd zu Pferde in den Revieren S. M. des Zaren (Interessante Naturaufnahmen), Die Hutnadel (Komische Szene), ein Edison-Drama mit dem Titel Der eifersüchtige Bildhauer, Der weibliche Sheriff (ein tragikomisches Ereignis aus dem Westen Amerikas), Aufopfernde Liebe und Ein strammer Junge ist angekommen.«18

Der Bühnenautor Sigmund Graff – er sollte später Mitarbeiter des Propagandaministeriums werden – schilderte den Besuch in einem dieser frühen Kinematographen: »Die Schüler des Progymnasiums hatten rote Mützen. Wir trugen sie stolz, hüteten uns jedoch, sie bei verbotenen oder nur in Begleitung von Erwachsenen gestatteten Unternehmungen aufzusetzen, wie beispielsweise beim Besuch des Kinos. Das einzige Kino der Stadt bestand aus einem kahlen Raum mit Stühlen. Man hielt es für eine mehr oder minder anrüchige Sache, zu der die gute Gesellschaft nur heimlich hinging. Wenn es zwischen den Akten für einige Minuten hell wurde, beugten sich die Damen der Gesellschaft möglichst weit vor, um nicht erkannt zu werden. Sehr wichtig war der Klavierspieler, der je nach den vorbeihuschenden Motiven vom munteren Tralala zum schicksalsschweren Pathos oder zur zärtlichen Stimmungsmalerei übergehen musste. Das Zelluloidband riss noch häufig, was zur Freude der Liebespärchen eine längere rabenschwarze Finsternis zur Folge hatte.«19

Unter der Überschrift »Die Jugend in Wanne und Kinematographen« warnte ein besorgter Autor im Sommer 1911 in der Wanner Zeitung vor den verderbliches Einflüssen des neuen Mediums: »All die treue, mühevolle Arbeit, die brave Eltern, Lehrer und Pfarrer an der Jugend getan haben im Sinne der Veredlung und der Bereicherung, kann durch wenige Vorstellungen vernichtet werden: die Phantasie wird vergiftet, das Urteil verwirrt, das freie Empfinden abgestumpft, minderwertige Triebe geweckt. Und diese ekelhafte Massenvergiftung unseres deutschen Volkes lassen wir uns gefallen? Traurig, dass die Polizei uns nicht schützt.«20 Die letzten Sätze waren besonders gegen die französischen Firmen Pathé und Gaumont gerichtet, die den europäischen Markt zusammen mit Hollywood und der italienischen Filmstadt Cinecittà beherrschten. Erst 1917 wurde in Deutschland mit der Ufa ein vergleichbares Filmimperium begründet, und dreizehn weitere Jahre sollte es dauern, bis die Ufa den jungen Schauspieler Rühmann zum Star machte.

Weitaus stärker als vom Kino war Rühmann aber damals von einer anderen Sensation des jungen Jahrhunderts fasziniert, die die Menschen weltweit in ihren Bann schlug und die er sein Leben lang lieben sollte: die Fliegerei. Als die ersten Luftschiffe des Grafen Zeppelin langsam, mit tiefem Brummen über Deutschland hinwegzogen, war die Begeisterung groß. Der uralte Menschheitstraum vom Fliegen hatte sich erfüllt, gebannt sah man zu, wie die zigarrenförmigen Kolosse durch die Luft schwebten, riesig, unheimlich, staunenswert. Fast überall entlang der Flugstrecke bekamen die Schulkinder frei, als Graf Zeppelin 1909 sein Luftschiff LZ 5 von Friedrichshafen nach Köln überführte.21 Auch in der Nähe von Wanne war ein ähnliches Luftschiff stationiert, das Parseval-Luftschiff P. L. 12 Charlotte, das der Major Professor von Parseval gebaut hatte. Am 20. Juni 1911 landete es auf einer Freifläche zwischen Wanne und Herten, die Bevölkerung lief neugierig zusammen, und schon war die Idee geboren, hier einen Flugplatz zu gründen. In Anwesenheit der Erbprinzessin Charlotte von Sachsen-Meiningen wurde der Flugplatz Wanne-Herten an Pfingsten 1912 eingeweiht.

Groß war das Aufsehen im Sommer 1911 auch, als eine Berliner Zeitung den »B. Z. Preis der Lüfte« auslobte und ein »Deutscher Rundflug« veranstaltet wurde. Über Wochen hinweg berichtete die »Wanner Zeitung« über die Veranstaltung, und immer wieder wurden neue Berechnungen aufgestellt, wann die tollkühnen Flieger denn endlich über Wanne zu sehen sein würden. Zu denen, die am 2. Juli 1911 in den Himmel starrten, gehörte ganz sicher der flugbegeisterte Heinz Rühmann. Wie groß damals die Begeisterung für die Luftfahrt war, macht ein Augenzeugenbericht der »Wanner Zeitung« sehr anschaulich: »Die Bevölkerung unserer Gemeinde wurde gestern in den Abendstunden gegen 8–9 Uhr durch das Erscheinen zweier Flieger aus ihrem Treiben sehr angenehm aufgerüttelt. Plötzlich bemerkte man gegen 8 Uhr 20 in der Richtung von Bismarck her einen schwarzen Punkt am Himmel, der sich bald verstärkte. Der erste Flieger von Köln nahte. Es war Herr Dr. Wittenstein in seinem Zweidecker, der nach einer Zwischenlandung in Hamborn seine Reise fortsetzte und unseren Ort überflog. Majestätisch flog der Formann-Zweidecker über unseren Ort in einer Höhe von 200 M mit einer Geschwindigkeit von 80–90 Kilometern. Das Surren der Propeller machte die Bewohner aufmerksam. Das Luftfahrzeug glitt trotz des heftigen Windes und der starken Böen sicher und ruhig dahin und entschwand bald den Augen der aufgescheuchten Bevölkerung, die den Fliegern überall ein lautes Hurrah zuriefen.«22

Vater Hermann Rühmann, der immer an den neuesten Sensationen interessiert war, unternahm zum stolzen Preis von drei Mark eine Rundfahrt mit dem Parseval-Luftschiff. Und auch Sohn Heinz Rühmann war an diesem Wunderwerk der Technik brennend interessiert. In seinem Kinderzimmer, das er sich mit Bruder Hermann teilte, baute er die ersten Flugzeuge nach, sammelte Zubehör wie Peddigrohr, Propeller, Gummibänder und Räder für die Fahrgestelle. Er verehrte die Piloten mit ihren unförmigen Lederhelmen und die ölverschmierten Monteure wie Helden und schwänzte auch einmal die Schule, um den ganzen Tag auf dem Flughafen verbringen und die Flugzeuge aus allernächster Nähe ansehen zu können.

Als ihn ein Pilot generös auf einen der Flugsitze hob, war der Schüler Rühmann endgültig mit dem »Flugfimmel« infiziert: »Unser Zimmer glich bald einer regelrechten Ausstellung von Flugzeugmodellen, die ich nach Vorlagen bastelte. Lehrer und Nachbarn verurteilten kopfschüttelnd meinen Spleen. Was für andere Klassenkameraden das Sammeln von Schmetterlingen oder Briefmarken bedeutete, war für mich die Welt der Technik.«23

Finanziell muss es der Familie in diesen Jahren gut gegangen sein. Im Sommer wurden Ferien an der Nordsee gemacht, so etwa 1903 auf Borkum, oder die Familie fuhr zur Kur nach Bad Kissingen, Bad Salzuflen oder nach Bad Wildungen. Manchmal trat Margarethe Rühmann diese Reisen auch ohne ihren Mann an, nur mit den Kindern und ihrer besten Freundin Tilly Korn, die sie noch aus Essener Tagen kannte. Ein Klavier wurde angeschafft, auf dem Margarethe Rühmann gern spielte. Doch die guten Jahre in Wanne waren bald vorbei, denn dem geschäftigen Bahnhofsgastwirt Rühmann bot sich 1912 die große Chance seines Lebens. Aber nicht in Wanne, sondern in Essen, wohin die Familie Ende des Jahres 1912 zurückkehrte.

Katastrophen

Große Geschäfte sollten es werden, und viel Geld sollte fließen, als der kleine Wanner Bahnhofsrestaurateur zum international angesehenen Hotelier aufsteigen wollte. Das waren die Träume von Hermann Rühmann im Frühjahr 1913. Bereits im September 1908 hatte er zusammen mit seinem Schwiegervater Heinrich Stemme, der Quisisana Automatenfabrik GmbH, der Likörfabrik Weithoff, der Dortmunder Aktien Brauerei sowie einigen anderen Gesellschaftern die Firma »Hotel Restaurant Stemme GmbH« gegründet. Das Stammkapital betrug 150000 Mark, und Hermann Rühmann leistete mit 30000 Mark die höchste Einlage. Sein Schwiegervater Heinrich Stemme war mit 25000 Mark beteiligt, hielt jedoch wohl bei diesem Geschäft die Fäden in der Hand. Ziel des Unternehmens war »die Errichtung und der Betrieb von automatischen Verkaufsständen für Waren und Erzeugnisse aller Art, insbesondere die Errichtung und der spätere Betrieb von Automaten-Restaurants.«24

Inzwischen hatte Heinrich Stemme das Hotel an der Kettwiger Straße, das Hermann Rühmann 1902 so vorteilhaft an einen Hotelier verkauft hatte, wieder zurückerworben und dort begonnen, ein solches Automatenrestaurant zu errichten.25 Doch die Geschäfte der Gesellschaft hatten nach drei Jahren noch keinen Gewinn abgeworfen, weil man zunächst die Kredite tilgen musste. Damit war an die Errichtung von weiteren Filialen vorerst nicht zu denken. Heinrich Stemme sah sich ganz im Gegenteil dazu gezwungen, sein Hotel mitsamt dem Grundstück an die Stadt zu verkaufen, um die Hypotheken, die er bei der Leipziger Hypothekenbank in Höhe von 275000 Mark bereits aufgenommem hatte, liquidieren zu können. Doch durch diesen Schritt kamen alsbald weitere Kosten auf die Stemme GmbH zu, denn die Essener Baupolizei verlangte die Verlegung der Küche aus dem Keller ins Erdgeschoss, was eine enorme finanzielle Investition für alle Gesellschafter bedeutete.

Obwohl Hermann Rühmann als Hauptgesellschafter jetzt unter Druck geriet, wollte er von seinem Hoteliertraum nicht ablassen. Die Chance schien tatsächlich einmalig zu sein: In Essen entstand in prominenter Lage der Handelshof, ein Riesenbau, wie ihn die Stadt bis dahin noch nicht gesehen hatte, mit Hotel- und Bürokomplex, ein protziges Zeugnis der wachsenden wirtschaftlichen Kraft der Kommune.26 Ein Motor dieser Wirtschaftsentwicklung war die Expansion der Firma Krupp, die 1911 hundert Jahre alt geworden war. Vor allem die militärische Aufrüstung des Kaiserreiches ließ die Krupp-Belegschaft enorm ansteigen. In Essen war man stolz darauf, Heimat der »größten Waffenschmiede der Welt« zu sein. Handel und Wirtschaft waren allgemein im Aufschwung, und die Stadt wollte sich ein neues, repräsentatives Gesicht geben. So entstand 1912 Essens bis dahin größtes Kaufhaus mit einer Fläche von 10000 Quadratmetern. Weitere Großbauvorhaben waren das neue Polizeipräsidium, eine Reihe von Großbanken, neue Schulen, Krankenhäuser und Kirchen. Eine der größten Synagogen Deutschlands wurde am 25. September 1913 in Essen eingeweiht, ein mächtiger Kuppelbau, der 1400 Menschen Platz bot. Der von 1906 bis 1918 amtierende Oberbürgermeister der Stadt, Wilhelm Holle, scheute kein Risiko und förderte städtische Bauvorhaben, wo er nur konnte.

Was Essen zu diesem Zeitpunkt noch fehlte, war ein repräsentatives Hotel, das ein angemessenes Pendant zum neuerrichteten Hauptbahnhof bildete. Dieses Gegenstück sollte mit dem Handelshof 1912 entstehen. Als der Komplex schließlich am Anfang des Jahres 1913 fertiggestellt war, staunten die Essener nicht schlecht: »Und selbst denen unter den Essenern, die mit ihrer Erinnerung nur dreißig oder vierzig Jahre zurückgreifen können, ist es wie ein Traum, wenn sie an dem Heute die Entwicklung messen, die die ländliche Mittelstadt Essen in diesem Zeitraum genommen hat. Man kann an Gebäuden von der Größe und der Ausdehnung des ›Handelshofes‹ nicht vorübergehen, ohne dass einem derartige Gedanken über den Weg laufen.«27 Der Handelshof war in der Tat monumental: Er enthielt ein Hotel, zwei Restaurants, ein Café, eine Konditorei, ein Kino, diverse Läden, Dutzende von Büros. Es gab insgesamt 350 verfügbare Räume, die nutzbare Fläche aller Geschosse betrug zusammen 15000 Quadratmeter. Auch für den heutigen Betrachter sind die Ausmaße des Komplexes noch beeindruckend. Die Türme des Gebäudes haben eine Höhe von 45 Metern, die Länge der Straßenfronten beträgt etwa 200 Meter. Die Gesamtkosten des Unternehmens beliefen sich damals auf 5600000 Mark.28

Alle Aufstiegssehnsüchte Hermann Rühmanns sollten sich mit diesem gigantischen »Geschäftspalast« verwirklichen. Er pachtete von der Essener Grundbesitz-Gesellschaft den gesamten Hotelkomplex, zu dem außerdem ein Weinsalon, ein Bierrestaurant, ein Café und ein Spatenbräukeller gehörten, in dem sich der Besucher »beim Verkauf von Münchener Spezialitäten aus eigener Metzgerei unwillkürlich nach Bayerns Hauptstadt versetzt« fühlen sollte. Bei der Einrichtung der Räume kleckerte Rühmann nicht, er klotzte. Typisch für den schrillen Größenwahn der Wilhelminischen Gesellschaft war das ausufernde Selbstlob, das sich Hermann Rühmann in der Werbebroschüre des Handelshofes auf den Leib schreiben ließ: »Die moderne großzügige Schaffenskraft spiegelt sich nicht allein in dem mächtigen Aufbau wieder, sondern lässt erkennen, dass auch auf die innere Einrichtung des Hotel- und Wirtschaftsbetriebes gebührend Wert gelegt ist, und dass die Besitzer in der Wahl des Pächters jenen Scharfblick zeigten, der nur wenigen Großstadtunternehmungen eigen ist. Schon das ganze Arrangement und die raffinierte Ausstattung des Hotels rechtfertigt den Ruf, welcher Herrn Rühmann als internationalem Hotel-Fachmann vorangeht. Das luxuriöse, trotzdem aber vornehm-gediegene Vestibül des Hoteleingangs, von wo aus ein elektrischer Aufzug die Verbindung mit den einzelnen Hoteletagen herstellt, heimelt jeden von der Reise ermüdeten Gast an. Die einzelnen Hotelzimmer sind mit kaltem und warmfließendem Wasser, Normaluhr, Telephon, Dampfheizung und elektrischem Licht versehen. Auch fehlen natürlich elegant und komfortabel eingerichtete Bäder nicht.«29 Mit diesem Auftritt wollte sich Hermann Rühmann an die Spitze der Ruhrgebiets-Gastronomie katapultieren. Endlich sollte der Schwiegervater Stemme, der dem Können des Schwiegersohnes nie ganz über den Weg getraut hatte, übertrumpft werden.

Die Familie Rühmann zog in den fünften Stock des Gebäudes, von wo aus man ganz Essen überblicken konnte. Sehr lange lebte Heinz Rühmann hier allerdings nicht, nur knapp ein Jahr war er in den weitläufigen Gängen des Handelshofes zu Hause. Dennoch hätte ihn die hoch gelegene Wohnung der Eltern eines Tages fast das Leben gekostet. Noch immer war er von dem Wunsch beseelt, selbst einmal fliegen zu können. Zu diesem Zweck präparierten die Brüder einen Sonnenschirm, den sie aus einem der väterlichen Restaurants entwendet hatten. Mit diesem Fallschirm wollte Heinz dann aus dem fünften Stock abspringen und sanft zu Boden schweben. Bruder Hermann postierte sich in der Kettwiger Straße, um das Startsignal zu geben, sobald die Straße frei sei. Derweil stieg Heinz auf eine Kiste, um abzuspringen. Zum Glück hatte ein Anwohner von der gegenüberliegenden Straßenseite die Vorbereitungen beobachtet und rief nun herüber, der Junge solle sofort mit diesem Unsinn aufhören. Die Passanten blickten nach oben, das Aufsehen war groß und allgemein.

Die Nachricht von diesem Flugversuch drang auch bis ins Humboldt-Gymnasium an der Steeler Straße, das Heinz Rühmann besuchte, und seine Lehrer ermahnten ihn eindringlich, sich ungefährlicheren Beschäftigungen zu widmen, etwa der Erledigung der Hausaufgaben. Allerdings wurde sein Schulbesuch dort jäh unterbrochen, als sich die Ehe der Eltern aufzulösen begann. Dem Vater war als Pächter des Hotels Handelshof kein Glück beschieden. Er hatte sich übernommen, und die Einnahmen reichten wohl nicht einmal dazu aus, die laufenden Unkosten zu decken, geschweige denn, die beträchtlichen Kredite zurückzuzahlen. Ende des Jahres 1913 war er finanziell am Ende. Am 10. Dezember 1913 schrieb er an den Oberbürgermeister: »Hierdurch teile ich Ihnen mit, dass ich heute mein Geschäft verkauft habe und der gesamte Wirtschaftsbetrieb an Herrn Otto Blau aus Bad Nauheim übergeht.«30

Der Bankrott des Vaters dürfte das Seine dazu beigetragen haben, die Ehe der Rühmanns zu zerrütten. Immer häufiger kam es in diesen Monaten zwischen den Eltern zum Streit. Eines Nachts erlebten die Kinder, wie sich die Mutter in ihrem Zimmer einschloss und ihr Mann weinend an der Tür rüttelte und seine Frau beschwor, doch endlich zu öffnen. Doch Margarethe Rühmann gab nicht nach. Sie hatte ihn immer wegen seiner Leichtfertigkeit und Sorglosigkeit gewarnt, hatte ihn angefleht, das Geld beisammenzuhalten, doch jetzt war die Pleite perfekt. Die schöne Zukunft schien verspielt, wenig blieb zu retten.

Um den Kindern die dauernden Auseinandersetzungen zu ersparen, wurden sie für ein Jahr in ein Schülerheim nach Lennep geschickt. Diese Kleinstadt im Bergischen Land liegt etwa dreißig Kilometer von Essen entfernt und hatte damals knapp 10000 Einwohner. Der zwölfjährige Heinz und sein Bruder Hermann besuchten das dortige Realgymnasium. Die Schülerlisten vermerken den Eintritt der Brüder für den 22. April 1914 und ihren Austritt zu Ostern 1915. Es muss ein dunkles Jahr für die Kinder gewesen sein. Heinz Rühmann hatte Heimweh, er sehnte sich nach den Eltern und weinte viel. In der Schule erhielt er seine erste Ohrfeige, und trotz des Bruders fühlte er sich allein gelassen. Er kapselte sich ab, baute sich eine kleine Welt, ein Terra-Aquarium, in dem er sich einige Fische, Frösche und eine kleine Schildkröte hielt. Er beobachtete die Tiere stundenlang und zog sich so von den anderen Schülern zurück.31

Als die Kinder ein Jahr später nach Essen zurückkehrten, lebten die Eltern bereits nicht mehr zusammen. Ob Heinz Rühmann seinen Vater überhaupt noch einmal gesehen hat, ist ungewiss. Die Ehe von Hermann und Margarethe Rühmann wurde am 17. März 1915 vom Landgericht Essen rechtskräftig geschieden.32 Die Mutter zog mit den Kindern in die Brunnenstraße 74, Hermann Rühmann hatte sich ein Zimmer in der Stadt genommen. Damit verlieren sich die Spuren des Vaters. Sein letzter eingetragener Wohnsitz findet sich für 1914 im Essener Stadtadressbuch, wo noch der Handelshof als Adresse angegeben ist. Doch diese Angabe dürfte bereits bei der Veröffentlichung des Adressbuches nicht mehr gestimmt haben. Sicher ist nur, dass Hermann Rühmann Mitte 1915 nach Berlin fuhr.33 Suchte er dort Zuflucht bei Verwandten? Wollte er der Schande, die ihm sein finanzieller Ruin in Essen gebracht hatte, entgehen? War er auf der Flucht vor seinen Gläubigern, oder wollte er noch einmal ganz von vorn beginnen? Diese Fragen bleiben offen. Er muss in diesen letzten Lebensmonaten ein einsamer Mann gewesen sein. Wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte 1915 nahm er sich in Berlin das Leben. Die genaueren Todesumstände sind bis heute unbekannt.

Nach dem Tod ihres Mannes blieb Margarethe Rühmann mit den Kindern noch zwei Jahre in Essen. Was von dieser Zeit bleibt, sind einige Erinnerungen des jungen Rühmann. Spuren von Trauer- oder Verlustgefühlen sind in ihnen nicht zu erkennen.34 Auch später äußerte er sich nie ausführlich über diesen Punkt seines Lebens. Der hochgewachsene Vater hatte ihm Respekt eingeflößt, ihm für seine jugendlichen Missetaten hin und wieder eine Tracht Prügel versetzt, aber ein ödipales Drama war daraus nicht entstanden. Offenbar war der Junge bei Hermann Rühmanns Tod noch viel zu jung, um echte Gefühle der Rebellion entwickelt zu haben. Der Vater blieb nur eine Episode in seinem Leben, sein Verlust hinterließ keine Leerstelle. Orientierung und Geborgenheit gab ihm die Mutter, die stark, diszipliniert und wohl auch stolz war. Nicht zuletzt um das Schulgeld für ihre Kinder weiterzahlen zu können, nahm sie wieder eine Arbeit, vermutlich als Köchin, auf.

Die verbleibenden zwei Jahre in Essen besuchte Heinz Rühmann wieder das Humboldt-Gymnasium. Und seine dortige Schulklasse wurde ihm alsbald ein willkommenes Publikum, das sich von seinen Darbietungen höchst amüsiert unterhalten ließ. Jahre später erzählte der Schauspieler immer wieder, welchen Erfolg er mit der Nachahmung seiner Lehrer gehabt hätte. Vor allem sein Mathematiklehrer Professor Kabath sei häufig Opfer dieser parodistischen Attentate geworden. Auf einem erhaltenen Klassenfoto sieht dieser Kabath wie ein Despot aus, ein Mann in den späten Fünfzigern, hager, mit einem kleinen spitzen Bauch und einem kompliziert gekämmtem Gebilde aus Schnauz- und Kinnbart. Das Bild des deutschen Gymnasiallehrers dieser Epoche ist vielfach nur als Witzblattfigur überliefert. Ein Pensionsalter für Lehrer gab es damals nicht, die Lehrerschaft war deshalb überaltert und tief geprägt von den obrigkeitsstaatlichen Leitbildern des 19. Jahrhunderts. Auf die Schüler wirkten diese Männer wie unnahbare Fossilien im schwarzen Gehrock mit Kneifer oder – wenn sich ein Lehrer eleganter zeigen wollte – mit Monokel.

Die Szene, die Rühmann in diesem Zusammenhang immer wieder geschildert hat, erinnert an seine berühmte Parodie in der Feuerzangenbowle, wenn er Professor Crey (Erich Ponto) nachahmt. Als Kabath ihn einmal mit der Aufsicht über die Klasse beauftragte weil er zum Direktor gerufen wurde, benutzte er die Abwesenheit des Lehrers, um ihn in Gestik, Mimik und Sprache nachzuahmen. Die Klasse brüllte vor Lachen, als Rühmann an der Tafel stand und mit hoher Stimme Aufgaben diktierte. Plötzlich verstummte der Lärm. Ohne dass er es bemerkt hatte, war der Lehrer ins Klassenzimmer und hatte sich das Schauspiel, das auf seine Kosten ging, angesehen.

Münchner sind famose Kerle

Die Atmosphäre am Vorabend des Ersten Weltkriegs war aggressiv und vergiftet. Was den Deutschen fehlte, war eine gemeinsame Geschichte, ein inneres Band verpflichtender Werte, die zu verteidigen man bereit gewesen wäre. Der einzige gemeinsame Nenner, den die Reichsgründung mit sich gebracht hatte, war ein äußerer und innerer Militarismus. Das Reich war mit »Blut und Eisen« aus dem Boden gestampft worden, und diese fragwürdige Identität lebte fort. Man war stolz auf das Militär und die militärischen Triumphe der Vergangenheit. Alte Feindbilder, vor allem die gegen den »Erzfeind« Frankreich gerichteten, wurden gepflegt. Und noch etwas verband die Deutschen: das Gefühl, ja die tief sitzende Angst, von den europäischen Nachbarn umstellt und bedroht zu sein. Als man sich im August 1914 mit solcher Begeisterung in den Krieg stürzte, schienen alle Probleme wie weggeblasen, ein kollektiver Rausch, der in dem glückseligen Ruf eines jungen Leutnants gipfelte: »Krieg ist wie Weihnachten!«35, erfasste die meisten Deutschen.

Am Abend des 1. August 1914 wurde wie im ganzen Land auch vor dem Essener Rathaus unter lautem Jubel der Bevölkerung die Mobilmachung verkündet. Der Erste Weltkrieg hatte begonnen. Der zwölfjährige Rühmann erlebte den nationalen Rausch hautnah. Die ganze Oberprima seiner Schule meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst, und die Namen der Schüler, die »für das Vaterland gefallen« waren, konnte man bald in den Essener Zeitungen lesen. Die Essener Jugendwehr, in der auch Heinz und sein Bruder Hermann Dienst taten, übte mit lautem Gebrüll Angriff und Attacke, man gewöhnte die Jugendlichen an Marschtritt, Befehl und Gehorsam.

Doch obwohl Wilhelm II. am 4. August ausgerufen hatte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, wurde bald klar, dass das Kriegspathos die Zerrissenheit des Landes nur für kurze Zeit übertüncht hatte. 8,5 Millionen tote Soldaten und 21 Millionen Verwundete sollte dieser mit Maschinengewehren, Giftgas, Panzern, Handgranaten, Flammenwerfern, Kampfflugzeugen, weitreichenden Geschützen enorm technisierte Krieg fordern.

Die anfängliche Kriegsbegeisterung, während der die Kruppianer noch über ihre »Dicke Bertha« jubelten, schwand vor allem in der Arbeiterhochburg Essen sehr schnell. Das berüchtigte Krupp-Geschütz mit einer Reichweite von vierzehn Kilometern und einem Geschossgewicht von 930 Kilogramm brachte die Festung Lüttich zum Einsturz. Der Stolz wich einer bitteren Enttäuschung, als sich die Versorgungslage in Essen dramatisch zu verschlechtern begann. Kriegsküchen des Roten Kreuzes und der Kirchen versuchten, die Not zu lindern, viele Lebensmittel wurden nur noch auf Bezugskarten abgegeben. Auf einigen Zechen und auch bei Krupp kam es zu Hungerstreiks, Krankheiten wie die Ruhrepidemie brachen aus, und im sogenannten »Steckrübenwinter« 1917 spitzte sich die Lage dramatisch zu.

Von diesen Kriegsfolgen waren auch die Rühmanns wie alle Essener sehr viel stärker betroffen als von der Bombardierung der Stadt am 24. September 1916, die keine großen Schäden anrichtete. Margarethe Rühmann entschloss sich, zu ihrer Freundin Tilly Korn nach München zu ziehen, wo die Wohnungs- und Lebensmittelsituation besser als in Essen sein sollte. Nach dem katastrophalen Winter 1917 wartete Margarethe Rühmann noch den Schuljahreswechsel ab, dann zog die Familie nach München. Ab 23. April 1917 war sie bei Tilly Korn in der Schlotthauerstraße 5 im dritten Stock gemeldet. Einige Monate später wurde dort eine Wohnung im vierten Stock frei, die Margarethe Rühmann zusammen mit ihren drei Kindern bezog.

Obgleich sich die Lebensumstände der vaterlosen Familie Rühmann in München 1917 etwas verbesserten, war die Not – anders, als man gehofft hatte – hier kaum geringer als in Essen. Mit der Wohnung hatten die Rühmanns Glück gehabt, denn der Wohnungsmangel in der bayerischen Landeshauptstadt verschärfte sich in den Kriegsjahren dramatisch: »Der Anblick von Familien, die auf der Suche nach einer Unterkunft durch die Stadt streiften, wurde so alltäglich, dass ein Münchner Volkssänger eine Moritat über eine geplagte Hausfrau verfasste, die kreuz und quer durch die Stadt schlurft, ohne für ihre Familie je eine Bleibe zu finden. Die Wohnungsnot war natürlich ein Segen für die Vermieter, die für zwei Zimmer im Rückgebäude damals stolze 40 Mark verlangen konnten.«36

Noch schlimmer als die Wohnungsknappheit war jedoch die katastrophale Lebensmittelversorgung: »Lebensmittel wurden nicht nur rationiert, die Rationen wurden zudem laufend herabgesetzt. Schon 1916 gab es in München nur noch 125 Gramm Butter pro Woche. Auch Zucker, Seife und Kleidung waren nun rationiert. Um Energie zu sparen, wurde die Sommerzeit eingeführt. Das Färben von Ostereiern war verboten, und es gab nur noch Dünnbier. Als Wildbret bot der Markt Fleisch von Eichkätzchen, Kaninchen und Dachsen. Es gab keine Semmeln mehr. Gleichzeitig musste Bayern als Bundesland mit agrarischer Überschussproduktion Getreide an das Reich abführen.«37 Im Frühjahr 1917 verschärfte sich die Situation, es fehlte an Fleisch und Milch, es kam zu ersten Streiks, die Kriegsmüdigkeit wuchs. Vor den Bäckereien und Metzgereien bildeten sich lange Schlangen, wer es sich leisten konnte, kaufte auf dem Schwarzmarkt oder klapperte die Bauernhöfe in der Umgebung Münchens ab. Margarethe Rühmann musste die vierköpfige Familie mit ihrer schmalen Witwenrente über die Runden bringen. Außerdem verdiente sie sich etwas Geld, indem sie Zimmer untervermietete. Das Schulgeld für die Kinder war ihr ermäßigt worden, und bald nach dem Umzug begannen die Geschwister von Heinz Rühmann mit der Berufsausbildung, so dass auch sie über ein wenig Geld verfügten.

Die Schlotthauerstraße lag in der Münchner Au, die seit 1808 eine eigenständige Stadt gewesen war. Die Au hatte einen schlechten Ruf, war lange Zeit ein überfülltes, schmutziges Armeleuteviertel, in dem Arbeiter, kleine Handwerker und verarmte Kleinbürger wohnten. Auch viele Unterstützungsbedürftige und Bettler fristeten hier ein kümmerliches Dasein. Als die Vorstadt schließlich 1854 eingemeindet wurde, lebten hier rund 10000 Menschen. Über dem Viertel lag immer ein leichter Malzgeruch, der von den großen Bierbrauereien herüberwehte.

Zur Schule ging Heinz Rühmann in die Kreis-Oberrealschule Maria Theresia am Regerplatz, den er zu Fuß bequem erreichen konnte. Für seine Anpassungsfähigkeit spricht, dass er sich an der neuen Schule sofort eingewöhnte. Immerhin war er ein Preuße in Bayern, und gerade während des Krieges verschärften sich in Bayern die antipreußischen Gefühle. Man machte den »preußischen Größenwahn« für den blutigen Krieg verantwortlich und sah in Wilhelm II. und seinen Generälen die wahren Schuldigen an dem Desaster. Da muss es überraschen, dass ein »Saupreiß« wie Rühmann gleich zum Klassen- und dann sogar zum Schulsprecher, der im Elternbeirat saß, gewählt wurde. Nur der erste Schultag endete mit einem Fiasko: »Als ich das erste Mal in diese Schule ging, trug ich einen Bleyle-Matrosenanzug, den ich sonst nur sonntags anziehen durfte. Meine Mutter wollte es so. Sie konnte nicht ahnen, was sie damit anrichtete: solche Anzüge waren in Bayern unbekannt. Alles stand im Schulhof um mich herum und schüttelte sich aus vor Lachen.«38 Unter diesem Spott litt der junge Schüler aber keinesfalls lange, das Missgeschick war bald vergessen. Er war rührig, fleißig, ohne jedoch ein Streber zu sein. Der Umzug in die fremde Stadt und der soziale Abstieg durch den Bankrott des Vaters hatten auf seine offene und unverstellte Art, auf andere zuzugehen, offenbar keinen Einfluss.

Als Rühmann bei einem Ausflug in die Stadt König Ludwig III. sah, der in einer Equipage mit seinen Adjutanten spazierenfuhr, muss dies ein sensationeller Eindruck für ihn gewesen sein. Bisher hatte er lediglich die Industrielandschaft des Ruhrgebiets mit ihren Zechen, Schloten, Kohlenhalden und Arbeitervierteln kennengelernt. Und nun glänzte vor ihm eine Stadt, die damals als die heiterste und schönste in Deutschland galt. Die Einheimischen im »Isar-Athen« waren stolz auf ihre Geselligkeit, ihre Gemütlichkeit und ihre Toleranz, und noch stolzer waren sie auf ihre Biergärten und das frisch gezapfte Bier, das angeblich alle Stände miteinander versöhnte.

München war – ganz im Gegensatz zum protestantischen Essen – eine theatralische, verspielte Stadt, deren Bild maßgeblich durch die Baulust König Ludwigs I. und seines Sohnes Maximilian II. geprägt worden war. Angeregt durch italienische und griechische Vorbilder, hatte Ludwig I. vor allem durch Leo von Klenze prächtige Boulevards, monumentale Museumsbauten, wie die Glyptothek oder die Alte Pinakothek, errichten lassen. Neben zahlreichen Kirchen entstanden auch aufsehenerregende Denkmäler wie das Bavaria-Standbild oder der Obelisk am Karolinenplatz, der an die 30000 bayerischen Soldaten erinnern sollte, die während Napoleons Russlandfeldzug 1812 ums Leben gekommen waren. Maximilian II. hatte die Bautätigkeit des Vaters fortgesetzt und weitere Boulevards und prunkvolle Bauten in Auftrag gegeben. So wurden während seiner Regierungszeit das Neue Rathaus im neugotischen Stil und der Gärtnerplatz samt anliegendem Theater im Stil der italienischen Neurenaissance gebaut.

Es ist einem Zufall zu verdanken, dass sich einige Jugendbriefe Rühmanns erhalten haben, die über seinen Alltag in diesen Jahren Auskunft geben. Sie sind vor allem deshalb von Bedeutung, da in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs Rühmanns Berliner Haus Am Kleinen Wannsee 15 ausbrannte, weshalb aus der Zeit vor 1945 kaum persönliche Dokumente und Zeugnisse im Nachlass überliefert sind. Die Jugendbriefe von 1917 und 1918 blieben zumindest auszugsweise erhalten, weil sie 1935 im »Essener Anzeiger« abgedruckt wurden. In diesem Jahr, Rühmann war längst ein Star, besuchte er seine alte Heimatstadt Essen und traf mit einigen früheren Schulfreunden zusammen, unter anderen mit Alfred Hampel, an den er nach seinem Umzug nach München häufig geschrieben hatte. Mit Rühmanns Einwilligung stellte Hampel der Zeitung einige dieser Briefe zur Verfügung, die unter der Überschrift »Heinz Rühmann. Mein Jugendfreund und Klassenkamerad« veröffentlicht wurden.

Einen breiten Raum nehmen in dieser Korrespondenz naturgemäß die Erlebnisse in der Schule ein. Im Frühjahr 1917 schreibt der fünfzehnjährige Rühmann an Hampel: »Ich habe hier in München sehr nette Lehrer und es geht bei uns in der Klasse viel gemütlicher her, als in Norddeutschland. Wenn der Lehrer bei uns ruft: ›Saubub dreckiger oder Brillenschlang’ geschwollene!‹ so macht das gar nichts aus. Nur ich muss immer furchtbar lachen.«39 Aus dem Juli 1917 stammt die folgende Passage: »Herzlichen Dank für Deine Karte und die Grüße der Klassenkameraden. Ich habe bereits seit dem 14. Juli schon Ferien bis 1. Oktober. Mein Zeugnis war gut, 5 mal sehr gut und 5 mal gut. Das beste der Klasse. Nun wird es wohl nächste Woche nach Erling zum Ammer-See gehen. Da helfe ich in der Land- und Forstwirtschaft. Heute nachmittag ist die große Jacobi-Dult (riesige Kirmes). Da saufen sich die Münchner alle einen ordentlichen Rausch an, wie immer!! Überhaupt sind die Münchner ganz famose Kerle, so gemütlich und freundlich, da kommt ein Essener gar nicht gegen an. Auch ich habe schon mein gut Teil bayrisch gelernt. Es ist gar nicht so gefährlich, wie es sich anhört.«40

Einige Wochen später schrieb er vom Ammersee: »Jetzt sitze ich hier auf dem Privatgut des Königs (Leutstetten) und bin ein tüchtiger Forstarbeiter geworden. Wir müssen tüchtig arbeiten, bekommen aber auch im Tag 2,50 Mark. Arbeit ist von 6 bis 11 Uhr und von 12,30 bis 5,30. Zehn Stunden und freie Verpflegung.« Im März 1918, Rühmann war inzwischen 16 Jahre alt, der Krieg ging in seine letzte Phase, und die Schüler wurden wegen des Arbeitskräftemangels in der Landwirtschaft eingesetzt, meldete er nach Essen: »Auch wir sollen zur Landwirtschaft heraus. Geprüft und untersucht wird aber erst nach den Osterferien. Wahrscheinlich komme ich, wie im vorigen Jahre, als Führer einer Gruppe heraus. – 10 bis 20 Schüler. Bin jetzt auch dem Jungsturm beigetreten. Das Regiment besteht aus 48 Kompagnien (!) je 70 Mann. Jede Kompagnie hat einen Leutnant als Führer (aber einen ›richtigen‹). Dienstags und Freitags ist abends von 6,45 bis 8,30 in der Kaserne Übung. Samstags scharfschießen mit Modell 98 (nach Scheibe 150 m), Sonntags Felddienstübungen, wo militärische Aufgaben gelöst werden. Das ist was anderes wie die Essener Jugendwehr!«41

Im ersten Jahr nach dem Umzug nach München begann sich der Schüler Heinz Rühmann allmählich abzusondern. Er wurde ein Einzelgänger, ohne deshalb jedoch ein Außenseiter zu sein. In der Schule war er durchaus beliebt, ein Spaßvogel auch hier. Beim landwirtschaftlichen Einsatz der Jugendlichen gab er in seiner Gruppe den Ton an, unter Schüchternheit litt er offensichtlich nicht. Dennoch zog es ihn jetzt fast immer allein hinaus, wenn er die bayerische Bergwelt erkundete. Er schrieb im Dezember 1918 an Alfred Hampel: »Von meiner Mutter habe ich auch schon die Erlaubnis erhalten, im Sommer wieder in die Alpen zu dürfen. Dann wage ich mich schon an die 2000er heran, denn vergangenen Sommer habe ich in den nicht sehr hohen Tegernseer und Schlierseer-Bergen (1600 bis 1900 m) sehr viel gelernt an Klettern und Gratübergängen.«42 Das Kind aus dem Ruhrpott begann die Natur zu entdecken, bei seinen romantischen Touren stiegen Sehnsüchte und Wünsche in ihm auf, die Pubertät begann Traumbilder zu spinnen. Bei den Bergtouren füllte er Seite um Seite seines Tagebuchs. Pläne wurden entworfen und verabschiedet, Wege und Möglichkeiten schienen auf. Es war gleichsam eine Initiationsphase für den jungen Rühmann. Seine Persönlichkeit begann sich zu verändern, Rollen wurden erprobt, die Phantasie schlug lichte Schneisen in die Zukunft.

In ihm rumort Theater

In ihren Lebenserinnerungen schildern Schauspieler zumeist den schicksalhaften Moment, in dem sich ihr künstlerischer Weg als magische Vision vor ihnen aufgetan hat, sie von der Vorstellung eines Lebens für die Kunst gepackt, ergriffen, gerührt, verführt oder gewaltsam angezogen wurden. Beispielhaft in diesem Sinne ist die Schilderung von Gustav Knuth: »Eines Tages nun wollte Else mit einer Freundin die Oper ›Troubador‹ besuchen. Die Freundin sagte in letzter Minute ab, und so hatte meine Schwester plötzlich die zweite Karte übrig. ›Zieh deinen Sonntagsanzug an‹, sagte sie zu mir, ›du kannst mit mir ins Theater gehen!‹ Damit war mein Schicksal entschieden. So unglaublich das wirklich klingt, aber es war wirklich so: Als ich meinen Fuß zum erstenmal über die Schwelle eines Theaters setzte, packte es mich und ließ mich nie wieder los. Ich war dieser zauberhaften, geheimnisvollen Welt mit Haut und Haaren verfallen.«43

Heinz Rühmann hat – entsprechend seinem Charakter, dem aufwendige Selbststilisierungen fremd waren, – seinen Weg zum Theater sehr viel nüchterner beschrieben. Warum er sich im Frühjahr 1919 plötzlich vom Theater angezogen fühlte, blieb ihm selbst unerklärlich; anders als viele seiner Kollegen hat er diese Leerstelle nicht nachträglich mit mystifizierenden Überhöhungen gefüllt.

Im Frühjahr 1919 hatte er die Schule gewechselt, da man an der Kreis-Oberrealschule am Regerplatz kein Abitur ablegen konnte. Fortan ging der siebzehnjährige Primaner auf die Luitpold-Oberrealschule an der Alexandrastraße, ohne jedoch dort an seine bisher guten Schulleistungen anknüpfen zu können. Vielmehr fiel er stark ab und verfolgte den Unterricht nur noch lustlos: »Daran war keine Primanerliebe schuld, sondern in mir rumorte das Theater. Mit einem Mal. Wodurch? Wieso? Warum? – Ich weiß es nicht. Außer Märchenvorstellungen hatte ich keine Theatererlebnisse. Aber ich konnte an nichts anderes mehr denken. Es war wie ein Zwang.«44

Was rumorte in dem jungen Rühmann? Welche Bilder oder Erlebnisse lenkten ihn? War es das Vorbild des ehrgeizigen Vaters? Klang ihm der Applaus der Gäste des Wanner Bahnhofrestaurants noch im Ohr? Hatten bereits die Klassenkameraden mit ihrem Gelächter über seine Lehrerparodien den Beifall des Publikums vorweggenommen? Oder trug möglicherweise ein Erlebnis in der Münchner Au die Schuld an seiner plötzlich erwachenden Theaterbegeisterung?