Die Kanzlerin am Dönerstand - Torsten Körner - E-Book
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Die Kanzlerin am Dönerstand E-Book

Torsten Körner

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Beschreibung

Ein charmantes Porträt über Angela Merkel jenseits des Scheinwerferlichts. In seinem neuen Buch versammelt SPIEGEL-Bestsellerautor Torsten Körner ein Kaleidoskop von vielsagenden Szenen im Leben Angela Merkels, die stets der Frage nachgehen, wie man als Mensch beschaffen sein muss, um nicht von den Mühlen der Macht zermahlen zu werden. Entstanden ist ein charmantes Porträt in Splittern, in dem wir mehr über den Menschen Angela Merkel erfahren als in manch dicker Biografie. Viele Merkel-Beobachter tun so, als hätte die Kanzlerin der Welt die Augen verhext. Sie sei ein Rätsel, sie sei unlesbar, man wisse nichts über sie – so ein hartnäckiges Klischee. Wirklich? Torsten Körner beweist das Gegenteil und lädt uns ein, Merkel-Neuland zu betreten. Sein neues Buch zeigt, wer die mächtigste Frau der Welt war, wenn sie nicht mächtig war. Denn den Menschen Angela Merkel entdeckt man nicht hinter all den bekannten Bildern, sondern zwischen ihnen, an ihren Rändern und in ihren Schatten. Dass die Kanzlerin Wladimir Putin und Barack Obama traf, wissen wir, aber was geschah, als sie Campino oder Hape Kerkeling begegnete? Warum kamen ihr einst als Umweltministerin die Tränen? Warum gab sie ihr erstes Westgeld für einen Döner aus? Wann fluchte sie derb und deutlich? Und wie ging es zu, als die Klimakanzlerin auf Greta Thunberg traf? Mit den Antworten auf diese Fragen und auf noch viel mehr ist ein brillant geschriebenes Erinnerungsbuch mit spannenden Einblicken in Angela Merkels Persönlichkeit entstanden.

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Seitenzahl: 303

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Torsten Körner

Die Kanzlerin am Dönerstand

Miniaturen aus dem Leben von Angela Merkel

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Torsten Körner

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Die beste Beerdigung der Welt …

Spring

Notwehr

First Daughter

Fahrkarten bitte

Drahtesel

Kindheitsmuster

Schmuggelware

Der Leutnant

Generation Wartburg

Tatort

Bardame

Gänsebraten

Döner

Klassentreffen

Tränen

Adler

Am Dönerstand

Mon Chéri – Wer kann dazu schon Nein sagen?

Kartoffelsuppe

Schreckliche Eltern

Das dreißigste Jahr

Katzengleich

Kohls Mädchen

Vollpfosten

Pizza

Männer und Lötstäbe

Als ihre Hände laufen lernten

Zeit

Auf dem Fensterbrett

Das große Auge

Im Theater

Sprache und Sein

Namenswahl

Ruhestörung

Richtlinienkompetenz

An Tagen wie diesen

Selfies

Heimat

Neue Heimaten

Dr. Sauers gesammeltes Schweigen

Des Müllers Lust

Ziemlich beste Freunde

Kochtopf

Mut wagen

Ein Todesfall und eine Hochzeit

Madame Nö

Hauptbahnhof

Von Konrad zu Herlinde

Möhren

Dicke Fische

Das rote Bändchen

Tiere

Töchter

Gottes Bestiarium

Drei Knöpfe gehen ihren Weg

Mehr Willy wagen

Den Schalk im Nacken

Seniorenresidenz

Deutsches Blut

Die Losung des Tages

Die Kanzlerin und ihre Kinder

Auf der Frauentoilette

Nachhilfeunterricht

Die Marathonläuferin

Coda

Methode und Material

Literatur

Inhaltsverzeichnis

Die beste Beerdigung der Welt …

… ist die, nach der man sich die Erde aus den Kleidern schüttelt und wieder aufsteht, ist die, nach der man sein ganzes Leben noch vor sich hat, nach der man sich ausschüttet vor Lachen, weil alle so doofe Gesichter gemacht haben.

Sie muss zehn oder elf Jahre alt gewesen sein. Familie Kasner hatte auf dem Waldhof in Templin einen Garten, einen eingezäunten Garten. Innerhalb des Gartens gab es eine Sandkiste, was insofern komisch wirkte, weil der ganze Waldhof ein Abenteuerspielplatz war, eine Buddel- und Wühlgrube, ein Reich aus Erde, Wiese, Bäumen, Büschen und landwirtschaftlichen Gebäuden aller Art. In dieser Umgebung war der Sandkasten ein geradezu vornehmer Statthalter städtischer Spielplätze. Auch war sein Sand feinkörniger als die sonst vorherrschende uckermärkische Scholle. In diesem Sandkasten spielten einige der Waldhof-Kinder bisweilen Beerdigung. Die Kinder des Diakons, die Kinder des Verwaltungsleiters, die Geschwister Kasner, die Kinder des Leiters der Werkstätten, vielleicht fünfzehn Kinder, Mädchen und Jungen gemischt. Jeder und jede wurde nach seiner und ihrer Fasson eingebuddelt und feierlich beerdigt.

Die meisten stammten aus religiösen und kirchlich geprägten Elternhäusern, weshalb sie mit den kirchlichen Ritualen des Abschiednehmens vertraut waren. So wurden die Beerdigungen im Sandkasten individuell angepasst. Man sprach ein paar Trauerworte, man bat den lieben Gott um Beistand für den Verstorbenen und erinnerte seine vorzüglichsten Tugenden. Jeder bekam eine Grabbeigabe, jeder suchte sich etwas Reiseproviant aus. Angela Merkel, so erinnert es eine ihrer Totengräberinnen, wünschte sich einen Bund Petersilie, der der soeben Dahingegangenen zwischen die Lippen gesteckt wurde. Da lag sie, stumm und mit angehaltenem Atem, fühlte den Sand auf ihrer Brust … Da spielte sie das erste Mal völlige Reglosigkeit – so lange, bis das Gelächter der anderen sie ins Leben zurückrief.

Inhaltsverzeichnis

Spring

Das Mädchen steht mit mageren Beinen auf dem Sprungturm. Sie ist nur zögernd nach oben geklettert. Sie hat jeder Stufe misstraut, sie hat mit den Füßen tastend Materialkunde betrieben und dabei das Kinn fest an die Brust gezogen. Nun steht sie dort oben, die Lippen blau und die anderen warten. »Spring, Angela, spring!« Die, die partout nicht springen wollten, sind gar nicht erst hochgestiegen; die, die Angst bekamen, sind wieder heruntergeklettert – und alle anderen sind längst gesprungen, mit lautem Gejohle oder still mit angelegten Armen, manche mit Kopfsprung, grade wie ein Speer. Nur sie steht noch dort oben, schon eine Dreiviertelstunde, und versucht, das Für und Wider abzuwägen. Der Sportlehrer sieht auf die Uhr. Die Stunde ist gleich um. Springt sie jetzt? Die Schüler verlassen das Becken, kaum jemand achtet noch auf sie. Dann lässt sie das Geländer los, geht vorwärts: Springt sie oder stürzt sie? Sie hat sich überwunden, das zählt. Das Wasser nimmt kaum Notiz von ihr, als sie – ohne großes Aufsehen zu erregen – eintaucht. Das kribbelt so schön an den Sohlen und stolz ist sie auch.

Inhaltsverzeichnis

Notwehr

Sie lässt sich schubsen, nein, sie schubst nicht zurück. Sie steht oft am Rand. Sie steckt ein, sie steckt zurück. Wenn die anderen drängeln, wartet sie, selbst auf die Gefahr hin, zu kurz zu kommen. Wenn sie jemand schlägt, läuft sie weg. Die Eltern sehen das mit Sorge, vor allem ihre Mutter ermutigt die Tochter, sich zur Wehr zu setzen. Wenn dich einer haut, hau zurück! Lass dir nichts gefallen! Sie muss wohl dreizehn gewesen sein, als sie aus ihrer Rolle der Dulderin heraustritt, sie fährt ganz plötzlich aus ihrer allzu geduldigen Haut. In der Goethe-Schule schreiben sie eine Mathearbeit. Angela konzentriert sich, aber der Junge neben ihr macht Faxen, wippelt mit dem Stuhl, stört. Die Zahlen auf dem Papier tanzen wild durcheinander, sie kann die Aufgabe nicht lösen, obwohl sie den Weg zur Lösung kennt. Unvermittelt wendet sie sich ihm zu, mit heißem Zorn, und gibt dem Störenfried eine saftige Ohrfeige. Der Lehrer, der die sich anbahnende Szene bereits kommen sah, applaudiert spontan: Bravo, Angela!

Die Geschichte erreicht die Eltern auf verschiedenen Wegen. Da wussten wir, seufzt die Mutter noch viele Jahre später erleichtert auf, jetzt schafft sie es. Die Geschichte aber hat ein Nachspiel. Der Geohrfeigte rächt sich. Über Wochen verfolgt er Angela, demoliert ihr Rad, lässt ihr die Luft aus den Reifen, hänselt sie. Aber schließlich wird sie dann doch wieder zum Geburtstag des Quälgeistes eingeladen und die Affäre ist ausgestanden.

Inhaltsverzeichnis

First Daughter

Wenn Ivanka die Augen schloss, um die Kanzlerin zu herzen, sah es aus, als fiele Puderzucker aus den Wimpern, so süß, so weihnachtlich nahm sich die First Daughter aus. Die Bundeskanzlerin hatte Ivanka Trump zum Women20-Summit 2017 nach Berlin eingeladen. Sie versprach sich davon, einerseits einen Kontakt zum irrlichternden Präsidenten Donald Trump aufzubauen und andererseits das Frauenthema auf die globale Agenda zu setzen. Mehr Frauen in Führungspositionen in Wirtschaft und Politik. Ivanka als Verbündete also. Auf dem Podium saßen neben der Tochter des Präsidenten auch Christine Lagarde, Direktorin des IWF, und Königin Máxima der Niederlande. Am Abend gab es im Hotel InterContinental ein festliches Diner. Die Kanzlerin saß neben der Tochter aus Gold und Seide. Diese wandte sich an Angela Merkel und fragte mit honigfarbener Stimme – die bisweilen irritierend der des Vaters gleicht –, wie sie denn ihre Wochenenden verbringe, wie sie ausruhe, sich ablenke und entspanne. Die Kanzlerin drehte sich Ivanka zu und antwortete, sie sitze in ihrem kleinen Garten oder höre zusammen mit ihrem Mann Musik. Ivanka schloss die Augen. Der Puderzucker war gefroren. Als sie die Augen wieder öffnete, zeichnete sich tiefe Ratlosigkeit in ihr Gesicht. Was um alles in der Welt hat die Kanzlerin gemeint? War das ein Code? Eine verschlüsselte Botschaft an meinen Vater?

Als sich die Frauen zwei Jahre später in München treffen, twittert Ivanka begeistert: »Ich habe in unseren Gesprächen so viel von ihr gelernt und freue mich schon auf die Fortsetzung unserer Zusammenarbeit in Zukunft. Danke!«

Inhaltsverzeichnis

Fahrkarten bitte

Die Kanzlerin ist auch nur ein Mensch. Gelegentlich muss man daran erinnern, wenn man liest und sieht, welche Macht ihr zugeschrieben wird, wessen Tochter sie angeblich sein soll (Hitler, Honecker, Aliens) und welche Pläne sie hegt, dieses Land und dann gleich die ganze Welt ihren monströsen Plänen zu unterwerfen. Als sich im Herbst 2020 die zweite Corona-Welle aufbaut, sucht die Kanzlerin Rat. Sie findet ihn bei Virologinnen, Epidemiologen und Expertinnen, die den zukünftigen Verlauf der Pandemie vorausberechnen.

Die bekannte Virologin – auch sie gehört zum Beraterkreis um Merkel – steht am Hauptbahnhof in Hannover, als ihr Handy klingelt. Der Zug fährt ein, ein infernalisches Gewimmel von Durchsagen ertönt. Die Virologin nimmt das Gespräch dennoch an, als sie sieht, wer da anruft. »Frau Professor, ich muss von Ihnen wissen, ist es fünf vor zwölf oder zwölf?« – »Frau Merkel, es ist zwölf, es wäre jetzt Zeit zu handeln.« Die Virologin ist kaum eingestiegen und hat sich einen ruhigen Winkel zum Telefonieren gesucht, als sich plötzlich der Schaffner nähert. »Die Fahrscheine bitte!« Die Virologin hat die Kanzlerin am Ohr, zwei Taschen über der Schulter, die Fallzahlen steigen, die zweite Welle rollt, der Zug auch. »Die Fahrkarten bitte!« Der Schaffner steht wie ein Ausrufezeichen. Die Virologin versucht ihm zu signalisieren, dass sie in fünf Minuten so weit sei. »Es ist dringend!«, flüstert sie dem Mann zu. Der Mann steht unbeirrbar wie eine Eins. Die Kanzlerin wartet auf Rat. Die Virologin gerät in Wallung. Sie hält dem Schaffner das Handy hin, wo man auf dem Display erkennt, wer da gerade anruft. »Die Kanzlerin, es ist dringend!«, flüstert die Virologin noch einmal und bittet den Schaffner mit allen ihr möglichen Gesichtsausdrücken um Verständnis und Geduld. Aber der Schaffner ist auch nur ein Mensch oder ein Schaffner und bleibt stehen, jetzt wie eine deutsche Eiche. Die Virologin bittet die Kanzlerin um Verständnis, sie müsse jetzt erst mal ihre Fahrkarte vorzeigen, die überdies noch auf dem Handy gespeichert ist. »Na, wir waren ja auch so gut wie fertig, Frau Professor!«, zeigt sich die Kanzlerin entspannt. So wurde verhindert, dass die Kanzlerin endgültig die Macht in Deutschland übernahm, danke, Deutsche Bahn!

Inhaltsverzeichnis

Drahtesel

Solange sie noch unsicher war, wo rechts und links ist, durfte Angela nicht mit dem Rad zur Schule fahren. Auch das Aufsteigen wollte beherrscht werden und noch herausfordernder war das Absteigen. Lange Zeit tat sie sich schwer damit, blickte sehnsüchtig den anderen Kindern nach, die – selbst wenn sie jünger waren – den Balanceakt instinktiv besser beherrschten und wie von Zauberhand fuhren. Sie hingegen übte, übte, übte, bis ihre Mutter sie ziehen ließ. Dann jedoch fuhr sie morgens und mittags vom Waldhof zur Goethe-Schule und zurück, gute drei Kilometer, bisweilen blitzschnell, bisweilen bummelnd, fast immer in Gesellschaft.

Die schönste und sicherste Strecke führte durch den Templiner Bürgergarten, ein randständiges Stadtwäldchen, das nicht genau wusste, ob es nun Park, Grüngürtel oder Wald sein sollte und mal mehr oder weniger vernachlässigt aussah. Die Behörden zerbrachen sich alle Jahre wieder den Kopf darüber, wie man denn nun mit dem Bürgergarten verfahren sollte und wie man ihn schützen könnte, vor Kindern und Jugendlichen, die die Wege bisweilen zu Rennstrecken umfunktionierten und mit ihren Rädern sehr unsozialistischen Staub aufwirbelten. So wurde eines Tages verfügt, dass das wilde Fahrradfahren im Bürgergarten nicht mehr gestattet sei, und die neue Ordnung sollte durch die Präsenz von Volkspolizei durchgesetzt werden.

Zu den Kindern des Waldhofs hatte sich das entweder nicht herumgesprochen oder sie ignorierten die neuen Regeln geflissentlich, denn die angebotenen Ausweichrouten waren länger und verkehrsreicher. So kam es, dass Angela auf dem Weg von der Schule nach Hause direkt dem Staat in die Arme fuhr und es nicht mehr schaffte, ihm auszuweichen. Das Mädchen, das vor ihr gefahren war, hatte die uniformierten Parkwächter bereits von Weitem gesehen, war blitzschnell abgebogen und hinter ein paar Bäumen verschwunden. Angela jedoch, entweder unaufmerksam oder zu schwungvoll, um noch rechtzeitig bremsen und umsteuern zu können, geriet schnurstracks in die Polizeikontrolle. Die Staatsmacht, die sich durch mehrere Volkspolizisten repräsentieren ließ, setzte die Schülerin erst einmal fest und unterzog sie einem Vor-Ort-und-Stelle-Verhör, während die entkommene Begleiterin die Szene aus ihrem Versteck beobachtete. Die Zeit schien sich endlos zu dehnen. Mit wem bist du denn da grad gefahren? Wer war die andere an deiner Seite? Mädchen, wir haben sie doch gesehen! Willst du uns nicht helfen? Wir können hier lange stehen, wenn du nichts sagen möchtest! Aber das Mädchen hält dicht, druckst herum, nennt aber keinen Namen. Endlich lassen die Polizisten sie gehen. Jetzt wird aber geschoben, Fräulein! Das Mädchen hat eine Prüfung bestanden. Sie, heißt es nun, ist keine Petze.

In Deutschland fahren nur Kandidaten Fahrrad, Kanzler nehmen in gepanzerten Limousinen Platz. In der politischen Bildergalerie der Bundesrepublik wird man kaum einen Kanzler auf einem Drahtesel finden, zu viel Draht und zu viel Esel. Das Fahrrad taugt nicht als Machtsymbol, es verkörpert Alltag, aber nicht den Ausnahmehelden, es birgt zu viele Gefahren (die Unsportlichkeit des Kanzlers wird offenbar, er wirkt alltäglich, die Aura der Macht zerbröselt). Matthias Brandt hat einmal erzählt, wie sein Vater, damals amtierender Bundeskanzler, mit Herbert Wehner zu einer Fahrradtour aufbrechen wollte, um eine versöhnliche Gesprächsatmosphäre anzubahnen, doch die Pedalen-Diplomatie endete, ehe sie begonnen hatte. Der radentwöhnte, eingerostete Brandt fiel vom Rad und zog laut fluchend zu Fuß davon. Kanzler fahren nicht mehr Rad, sie erinnern sich nur noch daran, etwa, wenn sie Reden auf das Fahrrad halten müssen, und auch das kommt im Autoland Deutschland sehr selten vor. Doch dem Siegeszug des E-Bikes konnte sich auch die Bundeskanzlerin nicht mehr entziehen und so eröffnete sie 2013 die Fahrradmesse Eurobike 2013 in Friedrichshafen: »Ich gebe zu, dass die Zeit als Bundeskanzlerin meinen Enthusiasmus für das praktische Ausüben des Fahrradfahrens etwas gesenkt hat. Ich glaube aber nicht, dass das dauerhaft ist, wenngleich ich mich mit den immer wieder neuen technischen Entwicklungen gar nicht so leichttue. Die vielen Gangschaltungen und jetzt auch noch das E-Bike – das müsste ich dann einmal in Ruhe ausprobieren.«

Inhaltsverzeichnis

Kindheitsmuster

Als junge Frau las Angela Merkel den 1976 in der DDR erschienenen Roman »Kindheitsmuster« von Christa Wolf. Das Buch habe sie sehr beschäftigt, sagte sie einmal. In dem Buch heißt es: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.« Als die Mauer fiel, war Angela Merkel fünfunddreißig Jahre alt. 2021 feierte sie ihren 67. Geburtstag. Sie hat also immer noch mehr als die Hälfte ihres Lebens in der DDR verbracht. In »Kindheitsmuster« sucht die Erzählerin nach ihren Vergangenheiten, nach den Mustern, die sie prägten, und nach den Zäsuren, die tief in ihre Biografie einschnitten.

Angela Merkel wurde 1954 in Hamburg geboren, blieb aber nur wenige Wochen dort. Dann zog die Familie zunächst ins brandenburgische Quitzow, drei Jahre später nach Templin in die Uckermark. Der Theologe Horst Kasner folgte dem Ruf seiner Kirche, die Lehrerin Herlind Kasner folgte ihrem Mann. Die Familie Kasner schwimmt also gegen den Strom. Millionen von Menschen fliehen vor dem Mauerbau 1961 vom Osten nach Westen, die Kasners jedoch ziehen vom Westen in den Osten. Zwar wächst Angela in der DDR auf, aber der Staat ist nur einGehäuse, eine Mentalitätsprägestätte neben anderen, er ist nur ein Land neben anderen. Diese anderen Länder und Orte, durch die Angela Merkel geprägt wird, heißen Uckermark, Templin, das Pfarrhaus, die Geburtsstadt Hamburg, die eine Großmutter dort, die andere in Ostberlin. Die Grenze, die Teilung geht durch die Familie. Ein Land kann man teilen, die Familie trennen, aber Gefühle und Gedanken gehen hin und her. Es bleibt ein wandernder Riss im Bewusstsein. Die seltenen Besuche der Verwandten in Templin, die Pakete aus dem Westen, nur zu besonderen Anlässen dürfen Herlind oder Horst Kasner in den Westen reisen. Nie als Familie, sie könnten ja fliehen, Menschen als Unterpfand.

Bin ich so glücklich wie meine Cousinen in Hamburg? Angela bejaht das für sich. Das Kind vermisst noch nichts. Seine Kinderwelt ist groß und abenteuerlich. Der Waldhof ist ein Kosmos für sich, er ist kirchliche Fort- und Weiterbildungsstätte und zugleich Heimstätte für mehrfach geistig und körperlich behinderte Jugendliche und Erwachsene. Es gibt Holz- und Tischlerwerkstätten, eine Gärtnerei, Stallungen, eine Wäscherei, es gibt Schlafsäle, eine Aula, verschiedene Wohnhäuser und Landwirtschaft. Kartoffel- und Erdbeerfelder, Spargel wird angebaut, Möhren, Erbsen, Bohnen, Kräuter. Tiere werden geschlachtet, Tiere werden geboren, Katzen streunen umher, Hunde halten Wacht. Angela sitzt auf einem großen Kessel, dem Kartoffeldämpfer, und beobachtet, wie Tierfutter hergestellt wird. Sie darf Gemüse putzen, Erdbeeren pflücken, sie schaut dem Gärtner über die Schulter, sie stromert beim Schmied vorbei und der Tischler baut manchmal Stelzen für die Kinder. Der Tag hat eine klare Ordnung, morgens, mittags und abends werden die Glocken geläutet. Um 18 Uhr ruft die Glocke zum Abendbrot, jetzt heißt es, sich zu beeilen. Als sie ihr Studium in Leipzig beginnt, wird sie noch monatelang das abendliche Läuten vermissen.

Im Pfarrhaus teilt der Pastor die großen Worte aus, seine Frau spricht die entscheidenden, die kleinen, die alltäglichen, die Worte, die einen tragen, geleiten, behüten und strafen. Horst Kasner ist für die pastoralen Lebensweisheiten zuständig und für die schneidende Strenge, Herlind Kasners Strenge ist milder, sie ist zudem die Zuversichtspolitikerin im Alltag. Sie ist das Ohr für die Tochter, deren Sorgen und Sehnsüchte sie kennt. Jeden Tag kann sich das Kind alles von der Seele sprechen, sich freisprechen mit und bei der Mutter. Der Vater ist oft fort, oft länger fort als versprochen, die Tochter steht dann am Tor mit lauter ungesagten Worten und wartet vergeblich. Zeit für alle Welt ist beim Vater reichlich vorhanden, gegenüber der Tochter ist er jedoch zeitknausrig. Sie empfindet das als Ungerechtigkeit, ebenso sein scheinbar grenzenloses Verständnis für Rat- und Hilfesuchende, für Gäste aller Art, aber für sie selbst bleiben nur kümmerliche Krümel an Aufmerksamkeit und Verständnis.

Aber so wie der Vater vor allem anwesend ist als Abwesender, ist die Mutter abwesend als Anwesende. Sie ist Lehrerin für Latein und Englisch und darf als Frau eines Pfarrers nicht in der DDR unterrichten. Sie ist also eine Lehrerin, die nicht lehren darf, und eine Hamburgerin ohne Hamburg. Sie ist ihrem Mann in die Fremde gefolgt, wo er eine Aufgabe findet und eine Überzeugung lebt, währenddessen sie vieles aufgeben muss. Umso mehr nimmt sie sich der Kinder an. Da ist Marcus, der Zweitgeborene, und Irene, das Nesthäkchen, zehn Jahre nach der älteren Schwester geboren. Angela ist die Vermittlerin zwischen den Kindern, vielleicht auch zwischen den Erwachsenen, sie gilt als harmoniebedürftig. Viel später, als Erwachsene, als Politikerin, wenn alle Welt ihren Namen ausdeuten will, korrigiert sie diejenigen, die Angela mit »Engel« übersetzen, sie bevorzugt die andere Bedeutung, sie ist die »Botin«.

Die Lehrerin, die nicht lehren darf, unterrichtet ihre Kinder. Jeden Morgen gibt sie die Parole aus, ihr müsst besser sein als die anderen, als Kinder eines Pfarrers müsst ihr besser sein, sonst dürft ihr nicht studieren. Herlind Kasner bringt Angela Englisch bei, fragt sie Vokabeln ab, vermittelt Wissen jeder Art. Ob Geschichte oder Geografie, die Mutter packt der Tochter manchen Sinn- oder Merkspruch in den Gedächtnisranzen. Isar, Iller, Lech und Inn fließen rechts zur Donau hin; Altmühl, Naab und Regen fließen links entgegen.

Ab und an gibt es eine Ohrfeige für das Kind, jedoch selten, eher schon mal eine Kürzung des Taschengelds, wenn die Tochter wütend wird und sich weigert, Aufträge auszuführen. Warum muss ich jetzt wieder die Petersilie aus dem Garten holen? Ärger handelt sie sich ein, als sie mit vierzehn das erste Mal gegen den Willen ihrer Eltern ins Kino geht, »Heißer Sommer« mit Chris Doerk und Frank Schöbel, das Traumpaar aller DDR-Teenager. Die Eltern haben nichts übrig für diese DEFA-Klamotte, einen, wie sie wohl finden, albernen Schlagerfilm, dessen Handlung aus Sommer, Sonne, Strand und Küsschen hier und da besteht.

Wolkenloser Himmel und der Wind der schweigt

Kaum zu glauben wie das Barometer steigt

Heißer Sommer in diesem Jahr

Ist ein heißer Sommer wie wunderbar

Der Film ist eine Ferienfantasie. Befreit von Regeln und Alltagsdrill toben sich Oberschüler ohne Eltern an der Ostsee aus. Ohne Eltern genießt auch Angela größere Freiheiten: »In den Ferien bin ich oft zu meiner Großmutter nach Berlin gefahren. Das waren die tollsten Zeiten, das vollkommene Kinderglück. Abends durfte ich bis zehn Uhr fernsehen, was meine Eltern nie erlaubt haben. Und morgens um neun bin ich aus dem Haus gerannt und habe systematisch alle Museen abgegrast. Dort habe ich viele internationale Bekanntschaften geschlossen. Ich habe Bulgaren, Amerikaner und Engländer kennengelernt, bin im Alter von fünfzehn mit Amerikanern essen gegangen und habe denen alles über die DDR erzählt.«

Die Schülerin ist kontaktfreudig, auch in der Schule ist sie beliebt. Sie ist Klassenbeste, aber nicht als Streberin verschrien, sie ist mittendrin, lässt abschreiben, motiviert andere zum Lernen und greift auch zu ungewöhnlichen Motivationstricks. Als eine Schulfreundin Bammel vor einer Klausur hat, verspricht sie ihr, ausnahmsweise mal mit ihr eine Zigarette zu rauchen, wenn sie sich richtig reinhängt und besteht. Für die gleiche Freundin klaut sie einen Strauß Blumen, als diese sich sehr jung verlobt. Angela ist ein guter Kumpel. Keine Königin auf der Tanzfläche, sondern eher eine Beobachterin am Rand, die darauf wartet, dass sie jemand anspricht. Zu Hause pflegt sie eine Kunstpostkartensammlung, interessiert sich vor allem für expressionistische Maler und am Sonntag geht sie in die Maria-Magdalenen-Kirche, wo sie am 3. Mai 1970 konfirmiert wird. Das Leben ist sicher kein Poesiealbum, aber mancher Spruch, mancher Vers, manches Zitat wird zum Lebensbegleiter. Angela Merkels Konfirmationsspruch lautet »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei. Am größten aber ist die Liebe«. Sehr viel weltlichere Leitsätze begegnen dem Kind, wenn es sein Geld zur Templiner Sparkasse trägt. An dem alten Fachwerkhaus kann man Sinnsprüche wie diese lesen: »Wer früh sich übt in Sparsamkeit, der bringt’s im Leben doppelt weit« oder auch »Wer spart, erfüllt eine große gesellschaftliche Aufgabe«. Eine Verschwenderin ist sie nie gewesen, weder als Kind noch als junge Erwachsene.

Zum großen Kinderglück gehören die kleinen Freuden, Apfelsaft und Buletten, Schwimmen in den nahen Seen. Nur in der Schule stört der Status als Kind eines Intelligenzlers. Im Klassenbuch gab es die Spalte »soziale Herkunft«, dort stand bei ihr ein großes »I« für Intelligenz. Dieses »I« verhinderte auch einmal, dass sie dem Rat eines Sitznachbarn folgte. In einer Vertretungsstunde fragte der Lehrer alle Schüler nach dem Beruf des Vaters und ihr Mitschüler riet ihr, einfach »Fahrer« statt Pfarrer zu sagen. Aber schon als sie aufstand, wusste sie, dass der eigentlich charmante Trick sofort auffliegen würde, wenn der Vertretungslehrer ins Klassenbuch schaute. Deshalb galt es, sich unangreifbar zu machen und ein so gutes Abitur hinzulegen, dass selbst der Arbeiter- und Bauernstaat mit seiner absurd-ungerechten Verteilung von Bildungschancen nicht an ihr vorbeikam. Sie musste glänzen und sich anpassen, herausstechen und doch nicht auffallen. Auch in der Erweiterten Oberschule sprachen die Lehrer von Leistung, Leistung, Leistung. »Erfolg zu haben ist Pflicht«, verkündete der Klassenlehrer mit schöner Regelmäßigkeit und Inbrunst. So galt Bildung in der Schule als Dienst am Staat und im Elternhaus galt Bildung als Schutz vor dem Staat. Und lehrte die Kirche, ihr protestantischer Glaube, nicht auch, dass man Gott am besten diene, indem man seine Vermögen auf der Erde ausschöpfe und sich zu einem gottgefälligen Menschen ausbilde? Sie ist dann nach dem Abitur gerne nach Leipzig gegangen und nicht nach Berlin, das näher lag. Sie musste da raus, Distanz braucht es zum Erwachsenwerden. Aber auch in Leipzig blieb sie auf dem Fleißpfad, dem Leistungsgedanken verpflichtet. Es galt nicht nur vorwärts-, es galt auch über vieles hinwegzukommen. Die junge Studentin Angela Kasner kam sehr oft am Kroch-Hochhaus am Leipziger Augustusplatz vorbei. Oben auf dem Turm schlugen zwei Glockenmänner die Stunde und erinnerten daran, dass Zeit kostbar ist. Und auf dem Sockel, auf dem sie standen, prangte der weithin sichtbare Spruch: Omnia vincit labor. Über alles siegt die Arbeit.

In der Maria-Magdalenen-Kirche, in der 1970 ihre Konfirmation gefeiert wurde, fanden 2011 und 2019 die Trauerfeiern für die Eltern statt, zuerst für Horst und dann für Herlind Kasner. Doch Templin und die Uckermark werden wohl immer ein Teil von Angela Merkel bleiben, selbst nachdem die beiden Portalfiguren ihres Lebens, Vater und Mutter, verstorben sind.

Inhaltsverzeichnis

Schmuggelware

Die elterliche Küche bebte, schwarzer Rauch stieg auf, für einen Moment war ungewiss, ob es Überlebende gab. Die wissenschaftliche Laufbahn von Rudolf Zahradník begann mit einem Knall. Der Zauberlehrling hatte Schwefel und Kaliumchlorat mengentechnisch in ein explosives Beziehungsverhältnis zueinander gesetzt. Die Eltern des angehenden Chemikers bewiesen Toleranz, allerdings mussten die Experimente fortan im Badezimmer fortgesetzt werden.

Professor Zahradník war ein Gentleman und Gelehrter. Und ein Pionier der Quantenchemie, ein Wissenschaftler von Weltruf. Als 1989 die »samtene Revolution« die kommunistische Herrschaft beendete, hofften viele Tschechen, dass er das Präsidentenamt übernehmen würde. Angela Merkel lernt die Koryphäe Anfang der Achtzigerjahre kennen, als sie für verschiedene Forschungsaufenthalte mehrere Monate in Prag verbringt. Auch Joachim Sauer, ihr späterer Mann, ist damals in Prag, um am Institut von Rudolf Zahradník zu forschen. Erkundet werden aber auch, so erinnerte es Angela Merkel anlässlich eines Staatsbesuches in Tschechien, die berühmten Weinanbaugebiete in Böhmen und Mähren, woher ihre Schwäche für gute Weine rührt.

Exzellente Wissenschaftler blicken immer über den Tellerrand hinaus, so auch Zahradník, der sicherlich als ein Mentor der angehenden Wissenschaftlerin gelten kann. Mit ihm konnte die Physikerin aus Ostberlin offen über Ideologie und wissenschaftliche Evidenz und über Lebensverhältnisse in Ost und West sprechen. Schon damals war Prag eine besondere Stadt für sie. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 hatte sich der vierzehnjährigen Schülerin unauslöschlich ins Gedächtnis geschrieben, da sie das historische Ereignis sozusagen hautnah erlebte. Sie machte damals mit ihren Eltern im tschechoslowakischen Riesengebirge Urlaub, wo die Kasners bei Einheimischen eine Ferienwohnung gemietet hatten. Eines Tages begann der Sohn des Vermieters, Briefmarken zu zerreißen, auf denen das Konterfei von Antonín Novotný zu sehen war, der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei. Was machst du denn da? Warum zerreißt du denn die Briefmarken? – Jetzt ist Dubček der große Held. Jetzt geht ein anderer Wind.

Horst und Herlind Kasner lassen sich vom Aufbruchsgeist anstecken. Sie sind neugierig. Ist das die Revolution? Kommt jetzt der erhoffte »Sozialismus mit einem menschlichen Antlitz«? Wird sich auch die DDR verändern? Die Erwachsenen fahren nach Prag und lassen Angela und ihren Bruder zwei Tage in der Obhut der Gastgeber in Pec pod Sněžkou. Die Hoffnung jedoch, das Leben könne sich im Ostblock zum Besseren wenden, freiheitlicher und demokratischer werden, währt nur kurz. Als Angela wenig später die zweite Hälfte der Sommerferien bei ihrer Großmutter in Ostberlin verbringt, hört sie im Radio, dass die Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschieren, Panzer rollen durch Prags Straßen. Der »Prager Frühling« findet ein gewaltsames und blutiges Ende. Eiszeit. Doch Zahradník ist ein Überwinterungsvirtuose. Er weiß um die Endlichkeit von Systemen, er weiß um die Gesetze des Zerfalls.

Als Bundeskanzlerin absolviert Angela Merkel 2008 ihren Antrittsbesuch in Tschechien, es ist auch ein Wiedersehen mit ihrem alten Professor, der an diesem Tag seinen achtzigsten Geburtstag feiert. Beide sind sichtlich gerührt und sie drehen im privaten Gespräch das Rad der Zeit zurück. In ihrer Rede an der Karls-Universität geht die Kanzlerin in besonderer Weise auf ihren Mentor ein: »Ich erinnere mich natürlich sehr gerne an meine Zeiten als Wissenschaftlerin hier in Prag. Es ist für mich ein sehr bewegender Moment, dass Professor Rudolf Zahradník mit seiner Frau heute hier unter uns weilt – an einem Tag mit einem runden Geburtstag, zu dem ich ihm noch einmal herzlich gratulieren möchte. Ich hatte viele Monate lang die Freude, als Wissenschaftlerin bei Professor Rudolf Zahradník und seinen Mitarbeitern zu sein. Wenn ich zurückblicke, dann war dies eine Zeit, in der er uns, die Jüngeren, immer wieder dazu angehalten hat, sich trotz der widrigen gesellschaftspolitischen Umstände niemals hängen zu lassen, niemals leichtfertig und ungenau zu sein, sondern selbst unter diesen Umständen zu versuchen, an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu gelangen.« Zahradník lächelte, da sprach die Bundeskanzlerin des wiedervereinigten Deutschlands – und er war ihr Lehrer und Anstifter zu zollverletzendem Verhalten gewesen.

Weil Zahradník sowieso ein Mensch der Zuversicht war, weil er sowieso gerne lächelte – er absolvierte sogar seine Experimente mit einem Lächeln – und weil er zudem gerne erzählte, erzählte er am liebsten grenzüberschreitende Zuversichtsgeschichten: »Angela hat ein paarmal für unseren Enkel Filzpantoffeln aus der DDR mitgebracht. Die waren schlichtweg besser als die, die es bei uns zu kaufen gab. Und sie hat für Kolleginnen eine Nähmaschine nach Prag mitgebracht, weil es derlei bei uns gar nicht gab. Das war ein richtiger Liebesdienst. Der Zöllner, der sie kontrollierte, war fassungslos und sagte: ›Um Gottes willen, sie fahren zur wissenschaftlichen Arbeit nach Prag, wozu brauchen Sie da eine Nähmaschine?‹ Angela hat ihm ernsthaft gesagt, dass sie darauf nach Feierabend Kleider nähen wolle.« Die Kanzlerin revanchierte sich dafür mit anderen Zuversichtsgeschichten, so etwa der, dass sie sich in Prag glücklicher-, aber verbotenerweise mit ihrer Hamburger Cousine treffen konnte. Oder sie erzählte die Geschichte vom total verspäteten Vorzeigezug des Sozialismus, der Vindobona von Ostberlin nach Prag. Der Triebwagen der Deutschen Reichsbahn der DDR war dem westdeutschen TEE, dem TransEuropExpress, nachempfunden und sah aus wie eine Mischung aus Rakete und Haifisch. Seit 1957 befuhr der Vindobona die Strecke, gehobene Ausstattung, gern benutzt auch von Diplomaten. Allerdings betrug die Fahrtzeit zwischen elf und vierzehn Stunden, inklusive der ermüdend langen Grenzkontrollen an der DDR- und an der tschechoslowakisch-österreichischen Grenze. »Der Vindobona hatte oft Verspätung. Einmal hatte er viele Stunden Verspätung. Ich habe zu Rudolf Zahradník gesagt, dass das alles ganz schrecklich und schlimm sei. Dann hat er gesagt: Regen Sie sich bitte nicht auf. Wir beide sind doch die Einzigen, die wissen, dass wir an einem Experiment teilnehmen, das nicht funktionieren kann, nämlich dem Sozialismus. Aber es wissen leider noch nicht alle. Deshalb müssen wir noch eine Weile mit den Unzulänglichkeiten leben.« Am Abend des Tages, an dem sie diese Geschichte erzählt hat, fliegt die Kanzlerin noch zurück nach Berlin. Sie braucht fünfunddreißig Minuten.

Von ihrem Lehrer hat Angela Merkel etwas gelernt, für das erst später ein Wort gefunden wird: Resilienz. Lächeln. Widerstehen. Aufstehen. Das eigene Betriebssystem am Laufen halten. Manchmal braucht es Bier, böhmische Knödel, Wein. Meistens reicht Zuversicht, Besinnung auf das, was unbeschädigt geblieben ist. Weitermachen. Rudolf Zahradník ist ein Langstreckenläufer der Zuversicht. Wie Merkel auch. Als er neunzig Jahre alt wird, nimmt sie überraschend an seiner Geburtstagsfeier teil. Manchmal lassen sich Staatsbesuche auch so planen, dass der Staat zur Neben- und der Mensch zur Hauptsache wird. Zwei Jahre später, im Oktober 2020, stirbt der große Gelehrte und Lehrer Angela Merkels. In einem Nachruf auf ihn heißt es: »Zahradníks Motto war: nach vorne schauen, Vertrauen schenken und Menschen miteinander verbinden. Rudolfs Haltung fand eine wunderbare Entsprechung in seiner symbiotischen Ehe mit Milena Zahradníková, geb. Bílková. Beide hatten sich während des Prager Aufstandes im Mai 1945 in einem Keller kennengelernt. Milena verstarb sechs Tage vor Rudolfs Tod. Die Trauer um den Verlust dieser wunderbaren Menschen will nicht weichen.«

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Der Leutnant

Die Kindheit ist der Webstuhl unserer Identität. Wer wir später sind und wer wir nicht sind, entscheidet sich hier. Der Waldhof, wo Angela Merkel aufwuchs, lag inner- und außerhalb Templins, er war eine eigene Welt, ein Dorf am Rande der Stadt, hier begegneten sich Menschen, die sich nur hier begegnen konnten, weil sie woanders versteckt und verschwiegen wurden. Der Waldhof wurde 1854 gegründet und war zunächst eine »Knabenrettungsanstalt« für jene, die aus Familien kamen, die unter den Industrialisierungsprozessen litten, verwahrloste, verhaltensauffällige Kinder. Im Laufe der Zeit entstanden Werkstätten aller Art, landwirtschaftliche Betriebe, eine Gärtnerei, eine Tischlerei, Gemeinschaftsküchen. Als Horst Kasner mit seiner Frau Herlind und der kleinen Angela auf den Waldhof zog, befand sich dieser gerade im Umbruch. Statt schwer erziehbarer oder verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher, die in die sogenannten Jugendwerkhöfe der DDR abgeschoben wurden, zogen jetzt, 1958, Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen auf den Waldhof. Zur gleichen Zeit baute Horst Kasner dort das Pastoralkolleg auf, eine Weiterbildungsstätte für Priester und andere Angestellte der evangelischen Kirche. So wuchs Angela inmitten von Menschen auf, die – auf den ersten Blick – nirgendwo als normal gegolten hätten. Erinnern wir uns: Auch in der Bundesrepublik galten Menschen mit geistiger Behinderung vielfach als »Bekloppte«, als »Krüppel«, sie wurden weder systematisch gefördert noch waren sie sichtbare Akteure im gesellschaftlichen Leben. Sie waren irgendwo, aber nie mittendrin. Diese Unsichtbarkeit war in der DDR noch stärker ausgeprägt, hier blieben behinderte Menschen weitgehend der Obhut der Kirche überlassen, im sozialistischen Triumphbild des werktätigen Menschen waren sie unerwünscht, Störenfriede, menschlicher Utopie-Ausschuss.

Seit frühester Kindheit bewegt sich Angela also Tag für Tag zwischen Menschen mit Behinderung, sie gehören zur Gesellschaft des Waldhofs, sie sind Mitglieder der erweiterten Familie: »In ihrer Nachbarschaft aufzuwachsen war eine wichtige Erfahrung für mich. Ich habe damals gelernt, mit Behinderten normal umzugehen. Es gab dort ›Mongoloide‹ (Interview von 1991), und viele von ihnen waren bettlägrig. Die wurden in der DDR-Zeit unsäglich schlecht behandelt. Es gab keine pflegerischen Erfahrungen in den Sechzigerjahren. Ich habe noch Bilder in meinem Kopf – einige mussten ständig angebunden auf Bänken sitzen. Bei uns hat immer jeweils einer der erwachsenen Patienten gearbeitet. Wenn in der Familie jemand Geburtstag hatte, kamen sie gerne, um Kuchen zu bekommen. Wir hatten zu ihnen ein gutes Verhältnis. Das sind prägende Kindheitserinnerungen.« Für viele Klassenkameraden waren die Besuche auf dem Waldhof nicht normal und es gab Mitschüler, die es vermieden, Angela dort zu besuchen. Sie fürchteten sich vor diesen Menschen, die vom Normalitätsbild abwichen, die unvermittelt riefen und schrien, die gar nicht antworteten oder überraschend intim, Menschen, die sich anders bewegten und den Fremden unvermittelt umarmten oder vor ihm flohen. Diese Menschen entzogen sich den Verhaltensroutinen und waren stets für Überraschungen gut.

An einen der Heimbewohner erinnert sie sich besonders. Er brachte den Kasners oft die Kohlen, half im Garten, rupfte Unkraut und lächelte. Dass er eine leichte geistige Beeinträchtigung hatte, hinderte ihn nicht daran, glücklich zu sein. Nur einen Tick hatte er, der ihn manchmal in schwierige Situationen brachte, er wollte partout ein Soldat sein, ein Leutnant, und niemand wusste, woher dieser Wunsch rührte. Er exerzierte gerne, wusste militärische Dienstgrade rauf und runter zu sagen und manchmal marschierte er zum Bahnhof und wollte dort mit zackigen Botschaften Züge abfahren lassen: Alles hört auf mein Kommando! Auf dem Waldhof störte sich niemand daran, alle kannten seine Geschichte, aber in der Stadt wurde er, als man noch nicht so vertraut mit ihm war, ausgelacht und gehänselt. Dann nahm ihn Angela Kasner in Schutz und stellte sich schützend vor ihn.

Er trug gerne eine Prinz-Heinrich-Mütze, so wie einst Helmut Schmidt, die machte ihn zwar nicht zum Offizier, aber sie passte gut zu seinen Träumen von Ruhm und Ehre. Als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, gelang es einer Zeitung, ihn zu Angela Merkel zu befragen. Es war das einzige Interview, das er je geben sollte. Man zitierte ihn nur mit dem einen Satz: »Sie hat mich getröstet, wenn ich weinte, weil mich andere auslachten. Und wer mich angreifen wollte, den hat sie davongejagt.« Unter der Prinz-Heinrich-Mütze steckte stets ein kindliches Gesicht, das jung blieb, auch noch im hohen Alter. Der Leutnant befehligt seine Armeen bis heute.

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Generation Wartburg

In der DDR herrschte Reiseunfreiheit. DDR-Bürgern unter 65 Jahren war – bis auf wenige Ausnahmen – verboten, ins nicht sozialistische Ausland zu reisen. Angela Merkels erste Reise in den Westen hätte sie nach Amerika geführt. Ein Mauermenschentraum. Die endlosen Highways waren das Gegenteil einer eingemauerten Existenz. Der Highway war ein großes Ungewissheitsversprechen, eine Straße, die weder am Horizont noch am Grenzstreifen endete. Der Highway war ein Weg von sich selbst weg zu sich selbst hin. Sie habe darauf gehofft, verriet sie einmal einem Reporter, mit dem Auto durch Amerika zu fahren. In einem amerikanischen Straßenkreuzer?, lautete die Nachfrage. Nein, entgegnete die Kanzlerin, sie sei ein Freund kleinerer Autos. Aber etwas Besseres als der Trabant hätte es schon sein sollen.

Etwas Besseres als den Trabant hatte sie bereits in der Kindheit gefunden. Ihr Vater war stolzer Besitzer eines Wartburg, das Auto der gehobenen Mittelschicht in der DDR. Nicht jeder konnte es sich leisten, nicht jeder wollte fünfzehn Jahre – so lang war die offizielle Wartezeit – warten. Der Wartburg Kombi bot reichlich Platz und konnte auch in Notfällen eingesetzt werden. So ein Notfall lag etwa vor, wenn es in Strömen regnete und die Waldhof-Kinder zur Schule mussten. Dann – aber nur dann, der Regen musste erwiesenermaßen stark sein oder jemand musste arg verschlafen haben – sprang der Fahrdienst Horst Kasner ein. Kurzerhand wurden die Grundschüler der Goethe-Schule in den Kombi verfrachtet und los ging die Expresstaxe. Da Angela und ihr Bruder Marcus nicht die einzigen Grundschüler des Waldhofs waren, kam es bisweilen vor, dass das geräumige Auto überquoll vor Fahrgästen. Vater Kasner machte sich einen Spaß daraus, den Ernst der Lage zu betonen. »Wenn die Polizei kommt«, warnte er die Kinder verschwörerisch, »geb ich euch ein Zeichen und ihr duckt euch schnell unter die Decke!«

Auf den Straßen der DDR fuhren in jenen Jahren sehr viele Traumautos, imaginäre Pkw, die erwünscht und herbeigesehnt wurden, aber nie ankamen, weil die Produktionskapazitäten nie ausreichten. Auch Angela Merkel fuhr so einen Geisterwagen, der zwar bestellt wurde, aber nie das Band verließ. Denn ehe der Trabi, den sie sich gewünscht hatte, an die DDR-Bürgerin Merkel ausgeliefert werden konnte, war die DDR Geschichte. Nach dem Mauerfall wurde die Nachwuchspolitikerin dann stolze Besitzerin eines weißen VW