Ein Herz und eine Seele - Andreas Kraß - E-Book

Ein Herz und eine Seele E-Book

Andreas Kraß

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Beschreibung

Der Brieffreund, der Studienfreund, der »beste« Freund – es gibt viele Formen der Männerfreundschaft. Der Berliner Kulturwissenschaftler Andreas Kraß untersucht sie in seinem neuen Buch alle, von der Antike bis in die Gegenwart. Zwanzig Geschichten der Männerfreundschaft von Homer bis Wolfgang Herrndorf werden dafür analysiert und mit einem jeweils epochalen philosophischen Text in Beziehung gesetzt. Im Zentrum stehen nichthomosexuelle Freundschaften und ihre Passionsgeschichten, die einem Muster folgen: Warum muss erst der eine Freund sterben, damit der andere in leidenschaftlicher Weise über die Freundschaft sprechen kann? Und wie verändert sich dies im Laufe der Geschichte? Eine literarisch-kulturgeschichtliche Spurensuche voller neuer und überraschender Einsichten.

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Andreas Kraß

Ein Herz und eine Seele

Geschichte der Männerfreundschaft

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Inhalt

»Ich wachte die ganze [...]Vorwort: Der Poldark-EffektI. Männerfreunde: Geschichte und Geschichten1. Geschichte: Ein Herz und eine Seelea) Epochen der Freundschaft: Von der Politik zur Intimitätb) Codes der Intimität: Von der Freundschaft zur Liebec) Das andere Selbst: Freundschaft als Wesenseinheit2. Geschichten: Nur über seine Leichea) Der tote Freund: Gilgameschs Erbeb) Die tote Braut: Der Ophelia-Komplexc) Grenzen der Freundschaft: Intimität und SexualitätII. Antike: Freundschaft im Zeitalter der Freundschaft1. Politik der Freundschaft: Marcus Tullius Cicero2. Moralisierung: Waffenbrüder in der Literatura) Die geliehene Rüstung: Achill und Patroklosb) Der geschenkte Mantel: David und Jonathanc) Der geraubte Waffengürtel: Aeneas und Pallasd) Die anvertraute Mutter: Jesus und Johannese) Der geliebte Bräutigam: Sergios und BakchosIII. Mittelalter: Freundschaft im Zeitalter der höfischen Liebe1. Religion der Freundschaft: Aelred von Rievaulx2. Emotionalisierung: Herzensfreunde in der Literatura) Das schweigende Horn: Roland und Olivierb) Der geschenkte Schild: Hagen und Rüdigerc) Der getauschte Ring: Eneas und Pallasd) Die geblümte Leiche: Achill und Patroklose) Das gemeinsame Grab: Lancelot und GalahotIV. Frühe Neuzeit: Freundschaft im Zeitalter der passionierten Liebe1. Kunst der Freundschaft: Michel de Montaigne2. Individualisierung: Brieffreunde in der Literatura) Das getauschte Bild: Eduard und Gavestonb) Das durchbohrte Herz: Romeo und Mercutioc) Das geteilte Säckel: Simplicius und Herzbruderd) Die gewechselten Briefe: Werther und Wilhelme) Die vergossenen Tränen: Karlos und RoderichV. Moderne: Freundschaft im Zeitalter der romantischen Liebe1. Wissenschaft der Freundschaft: Maurice Blanchot2. Psychologisierung: Studienfreunde in der Literatura) Die versprochene Schwester: Alfred Tennyson und Arthur Hallamb) Der entwendete Ausweis: Tom Ripley und Dickie Greenleafc) Die versteckten Hemden: Ennis del Mar und Jack Twistd) Der grinsende Zwerg: Uwe Timm und Benno Ohnesorge) Das gestohlene Auto: Maik Klingenberg und Andrej TschichatschowDankLiteraturverzeichnisa) Ausgabenb) Darstellungenc) InternetquellenAbbildungsverzeichnis

»Ich wachte die ganze Nacht hindurch, wortlos, mit heißen, trockenen Augen, Winnetou lag in meinem Schoß, so, wie er gestorben war. Was ich dachte und fühlte? Wer möchte das wohl fragen! Wäre es möglich gewesen, wie gern, wie gern hätte ich die fernere Zeit meines Lebens mit ihm geteilt und nur die Hälfte für mich behalten!«

(Karl May, Winnetou)

»Tschick wollte dann noch, dass wir alle unsere Finger ritzen und einen Tropfen Blut auf die Buchstaben gießen, aber Isa meinte, wir wären doch nicht Winnetou und dieser andere Indianer, und da haben wir’s dann nicht gemacht.«

(Wolfgang Herrndorf, Tschick)

Vorwort: Der Poldark-Effekt

Im Frühjahr des Jahres 2015, als ich in London dieses Buch schrieb, lief auf BBC One eine TV-Serie an, die sich als großer Publikumserfolg erwies: Poldark, eine Neuverfilmung der Romane des britischen Schriftstellers Winston Graham. Die Times berichtete in den ersten Wochen fast täglich über den Film. Am 16. März 2015 erschien ein doppelseitiger Bericht mit dem Titel: The Ross Poldark effect: Hands up, who’s had a man crush?[1] Männliche Journalisten legten Bekenntnisse ab, für welche Männer sie eine Schwäche hätten. David Aaronovitch schwärmte für Jürgen Klinsmann, Matthew Syed für David Beckham und Robert Crampton für Aiden Turner, den Darsteller von Ross Poldark. Wohlgemerkt, es handelte sich um Geständnisse heterosexueller Männer, die sich für andere heterosexuelle Männer begeistern. Das ist mit man crush gemeint. Die wörtliche Bedeutung von crush ist ›zerdrücken, zerbrechen, zerquetschen‹. Dies ist das Schicksal, das Poldark, einem Raufbold und Kartenspieler, widerfährt, bevor seine Geschichte beginnt. Als britischer Soldat, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg sein Glück sucht, wird er schwer verwundet. Doch überlebt er wie durch ein Wunder und kehrt, mit einer Gesichtsnarbe gezeichnet, ins malerische Cornwall zurück. Dort sucht der moralisch Geläuterte seine Verlobte auf, die sich inzwischen mit Poldarks blassem Cousin verbunden hat. Sie hielt ihn für tot, und auch das Publikum wird zunächst im Glauben gelassen, Poldark sei auf dem Schlachtfeld gefallen. Doch nach dem Vorspann sieht man ihn schon bald, gleichsam von den Toten auferstanden, prachtvoll ins Bild reiten: »Back from the grave.«[2] Poldark ist eine verklärte Gestalt – an Leib und Seele zu schön, um wahr zu sein. Wer sich als Mann in Poldark verliebt, verliebt sich in ein Heiligenbild. Poldark ist für den Zuschauer der Freund, den man sich wünscht und der man selbst zu sein begehrt. Crampton schreibt über die Reaktion seiner Freundinnen und Freunde auf sein Liebesbekenntnis zu Aiden Turner alias Ross Poldark:

Die Frauen in meinem Leben waren amüsiert und eine oder zwei waren leicht beeindruckt von meiner Freimütigkeit, aber die meisten hielten das Eingeständnis für keine große Sache. Die übereinstimmende Meinung war: Natürlich stehst du auf Poldark, warum auch nicht? Meine Männerfreunde hingegen sagten überhaupt gar nichts. Betäubendes Schweigen. Super, danke für den Zuspruch, Jungs. Ich gehe einen Schritt aus mir heraus, und ihr lasst mich hängen. Mir wurde keine Feindseligkeit als solche entgegengebracht, aber ich glaube nicht, dass ich mir das peinliche Hüsteln, das traurige Kopfschütteln und den vermiedenen Blickkontakt vorgestellt habe. Der Punkt des Eingeständnisses ist, dass ich nicht nur nicht schwul bin. Ich bin nicht einmal das kleinste bisschen metrosexuell. Kein mangelnder Respekt gegenüber dem, der es ist, aber ich bin es nicht.

Das Problem ist der Homosexualitätsverdacht. Ein Mann darf sich nicht in einen anderen Mann verlieben, wenn er nicht für schwul gehalten werden will. Und doch ist der Wunsch nach Intimität da:

Aidans Anziehungskraft überschreitet die erlaubten Grenzen der bromance. Ja, ich würde gern mit Aidan Turner abhängen – vielleicht ein paar Biere mit Aidan Turner trinken; vielleicht, wenn wir betrunken genug sind, emotionale Intimitäten mit Aidan Turner austauschen – aber diese Gefühle, die ich für Aidan Turner empfinde, gehen irgendwie darüber hinaus. Ich fühle mich zum Teil wegen seines außergewöhnlich guten Aussehens so zu Aidan Turner hingezogen.

Das Wort bromance ist ein Spiel mit ›Bruder‹ (brother) und ›Romanze‹ (romance). Gemeint ist die brüderliche Nähe und Verbundenheit zwischen Freunden. Der man crush geht über bromance hinaus, denn es tritt noch das Gefühl der Verliebtheit hinzu. Die Auslöser sind Eigenschaften, die der vernarrte Journalist schon an Schauspielern wie George Clooney, Brad Pitt und Matt Damon (den üblichen Verdächtigen) bewunderte:

Weil sie tapferer waren als ich, oder stärker oder klüger, oder lustiger, oder – ja – weil sie einfach besser aussahen. Weil sie Qualitäten besaßen, die ich bewunderte, begehrte, ersehnte. Weil sie ein Ideal zu verkörpern schienen, das ich selbst zu erreichen mich bemühte.

Einen man crush zu haben bedeutet für einen Mann, ein narzisstisches Idealbild zu begehren, ein besseres Ich, ein höheres Selbst. Dieses Begehren ist unter eine Bedingung gestellt. Die Leidenschaft für Poldark ist nur deswegen möglich, weil dieser eine Leidensgeschichte durchlaufen hat. Poldark hat einen symbolischen Tod durchschritten. Er ist nicht mehr von dieser Welt in seiner überragenden Schönheit, Klugheit, Tapferkeit und Güte. Er muss zunächst crushed werden, bevor man einen crush auf ihn entwickeln kann.

In diesem Buch soll es um die Heiligsprechung der Männerfreundschaft in der Literaturgeschichte gehen. Man kann das Phänomen auch seriöser beschreiben als mit dem Poldark-Effekt, zum Beispiel mit einem Buch des Soziologen Niklas Luhmann, das den Titel Liebe als Passion trägt und eine vom Mittelalter bis in die Neuzeit reichende Geschichte der heterosexuellen Liebe bietet. Luhmann untersucht, wie sich die Konstellation von Ehe, Liebe und Sexualität im Laufe der Epochen änderte und welche Rolle dabei die Männerfreundschaft spielte. Er interessiert sich nicht für Liebe als Gefühl, sondern als »Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit alldem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird«.[3] Die Frage, die Luhmann an die Liebe richtet, stellt das vorliegende Buch an die Männerfreundschaft. Wie werden im Namen der Männerfreundschaft Gefühle ausgedrückt, gebildet, simuliert, unterstellt und geleugnet? Wenn Luhmann mit Blick auf die Liebe von einer Passion spricht, meint er die paradoxe Vorstellung, dass Liebe ein selbsterwähltes Leiden sei. Liebe wird in der Literatur oftmals wie eine Krankheit beschrieben – aber, so stellt Luhmann süffisant fest: »man geht deswegen nicht zum Arzt«.[4] Was ist jedoch unter Passion zu verstehen, wenn es um die Freundschaft zwischen Männern geht? Zweierlei. Zum einen ist Freundschaft als passionierte Beziehung gemeint, als affektiv aufgeladener Code der Intimität. Zum anderen geht es um literarische Inszenierungen von Männerfreundschaft im Zeichen des Todes: um Freundschaftsgeschichten, die als Passionsgeschichten erzählt werden. Der überlebende Freund nimmt den Verlust des toten Freundes zum Anlass, um in leidenschaftlicher Weise über das Wesen der Freundschaft zu sprechen. Im Unterschied zur Liebe ist das Leiden in der Männerfreundschaft also nicht selbst erwählt, sondern vom Schicksal verhängt. Für den Arztbesuch ist es gewissermaßen schon zu spät. Auch Luhmann stellt fest, dass auf der Männerfreundschaft die Hypothek des Homosexualitätsverdachts liegt. Wenn Freunde allzu passioniert von ihrer Freundschaft sprechen, wenn sie dabei Bilder der körperlichen Nähe wie Küsse und Umarmungen wählen, dann müssen sie sich oft die Frage gefallen lassen, wie es denn eigentlich genau um ihre Intimität bestellt sei.

Das vorliegende Buch trifft in der Wahl seines Gegenstandes zwei Entscheidungen. Es handelt nur von Freundschaft zwischen Männern, die sich nicht als homosexuell identifizieren. Und es handelt nur von solchen Freundschaftsgeschichten, die als Passionsgeschichten erzählt werden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen diesen Bedingungen, der in diesem Buch aufgedeckt werden soll. Die Frage lautet: Warum muss ein Freund sterben, damit der andere in leidenschaftlicher Weise über die Freundschaft sprechen kann? Und wie verändert sich diese Konstellation im Laufe der Geschichte? Wie von der Männerfreundschaft erzählt wird, hat immer auch etwas damit zu tun, wie man in der jeweiligen Epoche von der gleichgeschlechtlichen Liebe denkt. Die Problemstellung dieses Buchs lässt sich auch so formulieren: Welche Vorkehrungen müssen getroffen werden, damit von der Intimität zwischen Männerfreunden erzählt werden kann? Und welche Spielräume eröffnen sich, wenn man von der Männerfreundschaft im Zeichen des Todes erzählt?

Rückt man die Männerfreundschaft ins Zentrum, dann drängt sich die Frage auf, wie es um die Frauenfreundschaft bestellt ist. Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Lillian Faderman schrieb darüber Anfang der 1980er Jahre ein lesenswertes Buch mit dem Titel: Köstlicher als die Liebe der Männer. Romantische Freundschaft und Liebe zwischen Frauen von der Renaissance bis heute. Wie sich Fadermans Buch auf die Freundschaft zwischen Frauen konzentriert, so fokussiert das vorliegende Buch die Freundschaft zwischen Männern. Und doch kommen Frauen immer wieder in den Blick: zum einen in der Weise, dass weibliche Figuren zwischen den männlichen Freunden vermitteln, zum anderen in der Weise, dass einer der Freunde selbst verweiblicht, also eine symbolische Geschlechterdifferenz in die Beziehung der Männerfreunde eingezogen wird. Jacques Derrida hat in seinem Buch Politik der Freundschaft über den »doppelten Ausschluss des Weiblichen« aus der Freundschaft gesprochen, nämlich »zwischen Mann und Frau« und »unter Frauen«.[5] In der Tat wurde in der Geschichte der europäischen Philosophie Freundschaft in der Regel unter der Hand mit Männerfreundschaft gleichgesetzt. Oft wurde Frauen sogar – wie zum Beispiel in Michel de Montaignes Essay über die Freundschaft – die Fähigkeit zur Freundschaft abgesprochen, weil sie aufgrund ihrer seelischen Schwäche zu derart tiefen Bindungen nicht in der Lage seien. Dies ist ein patriarchalisches und frauenfeindliches Argument, dem hier selbstverständlich nicht zugestimmt, sondern entschieden widersprochen werden soll. Ziel ist nicht die erneute Heiligsprechung der Männerfreundschaft, sondern die kritische Analyse der Strategien, mit denen solche Heiligsprechungen vorgenommen werden. Einschluss und Ausschluss gehen Hand in Hand. Die Nähe zwischen Männern wird um den Preis beschworen, dass Frauen (und homosexuelle Männer) ferngehalten werden. Aber wie die Psychoanalyse lehrt, kehrt das Verdrängte stets zurück. Es soll also ein Blick auf die Männerfreundschaft geworfen werden, als wenn es sich nicht um ein Phänomen handele, das sich von selbst verstünde, keiner Erklärung bedürfe, sich aus sich selbst begründe, für sich selber spräche – sondern um eines, das ungewöhnlich, unwahrscheinlich, geradezu unmöglich ist.[6] Es geht um das morbide Moment, das den literarischen Geschichten von der Männerfreundschaft in der patriarchalischen Kultur eignet: Man will mit seinem Freund ein Herz und eine Seele sein – kann es aber nur über seine Leiche.

I.Männerfreunde: Geschichte und Geschichten

Dieses Buch schreibt eine Geschichte der Männerfreundschaft von der Antike bis in die Gegenwart, indem es in vier Kapiteln zwanzig literarische Geschichten der Männerfreundschaft von Homer bis Wolfgang Herrndorf erzählt. Jeder Epoche wird ein philosophischer Text vorangestellt, in dem die Verfasser am eigenen Lebensbeispiel über das Wesen der Männerfreundschaft nachdenken. Der historische Grundriss dieses Buchs orientiert sich an Niklas Luhmanns Geschichtsmodell sowie an seinen Studien zur Geschichte der Liebe und Freundschaft.

1.Geschichte: Ein Herz und eine Seele

Luhmann erzählt von einem doppelten Verschwinden der Männerfreundschaft im Laufe der Geschichte. Zunächst habe sie sich aus dem Diskurs der Politik zurückgezogen, dann aus dem Diskurs der Intimität. Luhmann legt seinen Thesen ein dreistufiges Geschichtsmodell zugrunde. Die europäische Geschichte stellt sich demnach als Abfolge dreier Gesellschaftsformen dar, die sich durch zunehmende Grade der Differenzierung auszeichnen. Die archaische Gesellschaft ist segmentär differenziert. Sie teilt sich in Stämme oder Völker, die nebeneinander existieren. Die antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften sind stratifikatorisch, d.h. in Schichten differenziert. Sie gliedern sich in Stände, die hierarchisch geordnet sind. Die moderne Gesellschaft ist funktional differenziert. Sie besteht aus eigenständigen sozialen Systemen wie Politik, Religion, Kunst und Wissenschaft. Zu diesen Systemen zählt Luhmann auch die Intimität, deren gesellschaftliche Funktion er in der Herstellung persönlicher Zweierbeziehungen sieht. Er unterscheidet zwei Formen der Intimität, die auf unterschiedlichen Geschlechterbeziehungen beruhen, und nennt sie Liebe und Freundschaft. Unter Liebe versteht er die Intimität zwischen Mann und Frau, unter Freundschaft die Intimität zwischen Personen desselben Geschlechts, insbesondere Männern.

a)Epochen der Freundschaft: Von der Politik zur Intimität

Das historische Verhältnis von Freundschaft und Politik erläutert Luhmann in seiner Schrift Wie ist soziale Ordnung möglich?. Er geht davon aus, dass Freundschaft in archaischen Gesellschaften vor allem im Gegensatz zur Feindschaft verstanden wurde. Als Beispiel dient ihm die griechische Kulturgeschichte. Das frühe Griechenland sei geprägt gewesen von einer

für spätarchaische Gesellschaftssysteme vermutlich typische[n] Differenzerfahrung, formuliert mit Hilfe von dichotomischen Modellen für Nähe/Ferne, Zugehöriges/Nichtzugehöriges, Vertrautes/Unvertrautes, Freunde/Feinde. […] Philos [Freund], philein [lieben] und davon abgeleitete Worte bezeichnen einen in dieser Differenz liegenden eigenen Sicherheitsbereich, nämlich die Zugehörigkeit zum eigenen Segment, das eine gesellschaftsbezogene Lebensführung ermöglicht.[7]

Der Gegensatz von Freundschaft und Feindschaft, Nähe und Ferne, Vertrautem und Unvertrautem ist in dieser Epoche weniger eine interpersonale als eine intersegmentale Angelegenheit. Der Mensch versichert sich seiner Gemeinschaft, indem er sich von anderen Gemeinschaften abgrenzt. Die eigene Sippe, der eigene Stamm, das eigene Geschlecht bieten einen Schutzraum, der das bedrohlich Andere fernhält. Daher kann man in dieser Epoche nur am Rande von Freundschaft als einem persönlichen Gefühl sprechen:

Die affektive Besetzung der Semantik ist zunächst eine Nebenbedeutung, die ihre Plausibilität den sozialstrukturellen Bedingungen verdankt. Jedenfalls fehlt zunächst eine ausgearbeitete Terminologie für ›inneres‹ Erleben des Anderen oder der gesellschaftlichen Bedingtheiten.[8]

Eine Ausnahme besteht freilich, deren kultur- und literaturgeschichtliche Bedeutung nicht zu unterschätzen ist, nämlich die »Querintegration militärisch-politischer Art durch Männerbünde«.[9] Mit dieser Feststellung weist Luhmann auf zwei fundamentale Gegebenheiten hin: zum einen auf die Definition der Freundschaft als Männerbund, zum anderen darauf, dass in archaischen Gesellschaften politische und militärische Bünde zentrale Formen der Freundschaft darstellen. In ihnen erkennt Luhmann einen Motor für die »Überwindung der häuslich-familiären Segmentierung und die moralische Konsolidierung größerer städtischer Gemeinschaften«.[10] Die vertikalen Beziehungen verschränken sich mit horizontalen Beziehungen, die mit ethischer Bedeutung aufgeladen sind. Luhmann denkt hier gewiss an die politische Tugendfreundschaft, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik propagiert. Nach Aristoteles ist ein Gemeinwesen, das aus befreundeten Bürgern besteht, immer schon gerecht, da Freundschaft Gerechtigkeit impliziert. Zu den politischen Männerbünden treten die militärischen Männerbünde hinzu, die in der Literaturgeschichte tiefe Spuren hinterlassen haben. Seit Homers Ilias gibt es zahlreiche Epen und Romane, die von Waffenbrüdern und Kampfgefährten handeln. In ihnen spielt die affektive Dimension der Freundschaft mehr als eine Nebenrolle. Häufig werden soldatische Freundschaften als exklusive Zweierbeziehungen dargestellt, in denen Freundschaft nicht nur eine Frage der Politik, sondern auch der Intimität ist.

Die zweite Epoche des politischen Freundschaftsdiskurses umfasst die vormodernen Ständegesellschaften. Sie beginnt in der Antike und reicht über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein. Luhmann stellt fest, dass die antiken Stadtstaaten ein neues Freundschaftskonzept ausprägten:

Freundschaften werden für die Innenverhältnisse der Stadt und für ihr gutes Gelingen wichtiger als Feindschaften; jedenfalls kann man stadtintern nicht mehr unbesehen die Maxime vertreten, man solle die Freunde lieben und Feinde hassen, den einen nützen und den anderen schaden.[11]

Die Entwicklung von der segmentär zur stratifikatorisch gegliederten Gesellschaft wirkt sich auf das Freundschaftsverständnis aus. Freundschaft wird zum politischen Prinzip der Gesellschaft erklärt, und sie wird moralisch unterfüttert. Der Fokus verschiebt sich nach innen, Freundschaft dient nun vor allem der internen Differenzierung des Gemeinwesens. Fortan wird eine Wechselwirkung zwischen privater und politischer Freundschaft postuliert. Die auf Gleichheit und freier Wahl beruhende Freundschaft zwischen einzelnen Personen avanciert zum Vorbild für die Gemeinschaft insgesamt. Zugleich bahnt sich aber auch eine »Trennung von Freundschaftsethik und Politik« an, da sich das egalitäre Prinzip der Freundschaft und das hierarchische Prinzip der Gesellschaft auf Dauer nicht vereinen lassen.[12] Diese Spannung lässt sich an widerstreitenden Vorstellungen über das Verhältnis von Teilen und Ganzem ablesen. Freundschaft kann nicht gleichzeitig Mitte und Spitze der Gesellschaft markieren. Als Beleg führt Luhmann Cicero an, der das aristotelische Freundschaftskonzept aufnahm und weiterentwickelte:

Die perfekte Freundschaft wird in der stoischen Ethik und bei Cicero als ›Mitte‹ der Gesellschaft begriffen, als ›Zentrum‹, auf das hin man sich zu orientieren habe. Die Gesellschaft wird dagegen hierarchisch begriffen, so dass ihr Wesen und ihre Einheit in ihrer ›Spitze‹ zum Ausdruck kommen. Zentrum und Spitze – zwei verschiedene Gesichtspunkte der Sinngebung und zugleich zwei verschiedene Formen, in denen ein Teil des Ganzen das Ganze als Einheit zu repräsentieren hat.[13]

Das egalitäre Prinzip der Freundschaft geht mit der aristotelischen Vorstellung einher, dass der Freund ein anderes Selbst sei. Sie besagt in Luhmanns Formulierung, »dass man sich zum anderen wie zu einem anderen Selbst verhalten kann«.[14] Die Vorstellung des anderen Selbst basiert nach Luhmann auf zwei Prämissen: »(1) Selbstreferenz der an der Beziehung Beteiligten und (2) Gleichheit trotz Andersheit«.[15] Es handelt sich um eine dialektische Beziehung, Identität und Alterität werden spannungsvoll aufeinander bezogen.[16] Nach Luhmann passt »das aristotelische Theoriemuster gut zu stratifizierten, hochkultivierten Gesellschaften«. Daher habe es nicht nur in der Antike, sondern auch in Mittelalter und »Renaissance-Humanismus« Geltung gehabt.[17] Das verbindende Element sind die »Adelswertungen« und der »Adelsbezug«,[18] die sowohl die stratifizierte Gesellschaftsform (aristokratische Oberschicht) als auch das nobilitierende Freundschaftskonzept (Tugend- und Seelenadel) betreffen. Als Beleg für die frühneuzeitliche Präsenz dieser Vorstellung führt Luhmann Montaigne an: »Wenn man einem Einzelzeugnis, Montaignes Essai de l’amitié trauen darf, gibt es selbst gegen Ende des 16. Jahrhunderts noch eine Freundschaft und Politik übergreifende und verbindende Einheitsvorstellung.«[19]

Nach Luhmann büßte die vormoderne Freundschaftskonzeption in den modernen, funktional differenzierten Gesellschaften ihre Plausibilität ein. Freundschaft als gesellschaftliches Prinzip und Freundschaft als persönliche Bindung wurden zunehmend als inkompatibel aufgefasst. Der ethische und der politische Diskurs traten auseinander. Dieser Prozess setzte bereits im 17. Jahrhundert ein:

Einerseits wird Freundschaft im 17. Jahrhundert noch als allgemeine, geradezu kosmische Sympathie, als Sozialkitt, als Bedingung des guten Lebens […] begriffen. In diesem Sinne wird denn auch die gesellschaftliche Funktion der Freundschaft der privaten vorgezogen. Andererseits gilt sie aber auch als Beziehung zwischen bestimmten Personen, die durch eigene Bedingungen und durch Erfahrungen mit dieser Beziehung selbst regiert werden. Im ersteren Sinne fundiert die Freundschaft die politische Gesellschaft, im letzteren Sinne wird sie durch die politische Gesellschaft ermöglicht. Diese verschiedenen Bedeutungen können nun aber kaum noch unter einen Begriff subsumiert werden, sie treten zu weit auseinander.[20]

Im politischen Sinn wird Freundschaft nun als Sozialkitt aufgefasst, der ein gutes Zusammenleben der Bürger im Gemeinwesen ermöglicht. Im privaten Sinn, der zunehmend in den Vordergrund tritt, wird Freundschaft hingegen als exklusive Beziehung individueller Personen verstanden. Freundschaft gilt somit zugleich als Grund und Wirkung der politischen Gemeinschaft. Dieser Widerspruch hat zur Folge, dass sich die Freundschaft vom Öffentlichen ins Private verlagert. Sie wird als persönliche Gemeinschaft aufgefasst, in der sich die Seelen wechselseitig durchdringen. Fortan geht es »nur noch um die interpersonale Interpenetration [Durchdringung] als solche, um die Steigerung von Glückseligkeit in der Beziehung zum anderen. […] Die Freundschaft wird ganz auf Moral, ganz auf wechselseitige Tugendliebe abgestellt.«[21] Als politisches Prinzip hat sie ausgedient, denn »[m]it der Bildung von Freundschaften lässt sich soziale Ordnung nicht garantieren, mit der Beantwortung der Frage, wie Freundschaft möglich ist, käme man nie zu einer Antwort auf die Frage, wie politische Gemeinschaft möglich ist«.[22] Zwar hält man noch am Ideal des harmonischen Gemeinwesens fest, doch wird es nicht mehr mit Freundschaft begründet:

Man sieht, wie die eigentliche Freundschaft ins Persönliche abgedrängt und dann durch einen allgemeineren für tägliches Sozialverhalten ergänzt wird, ohne dass ein darüber hinausgehender Gesellschaftsbegriff für erforderlich gehalten wird.[23]

Daher tritt im Zusammenhang der Politik ein neuer Begriff an die Stelle der Freundschaft: Sympathie im Sinne einer »positive[n] Einstellung zum anderen Menschen«.[24]

Insgesamt ergibt sich nach Luhmann also folgendes Bild: In archaischen Zeiten wird Freundschaft von Feindschaft abgegrenzt; als Prinzip der Freundschaft dominieren die politischen Männerbünde und, als ihr militärisches Gegenstück, die Waffenbrüderschaft. Seit Aristoteles wird Freundschaft als Thema der Politik und der Ethik diskutiert. Tugendhafte Freundschaft gilt als Prinzip der idealen Gesellschaft, die wiederum den Rahmen für persönliche Freundschaften bietet. Dieses Ideal gilt noch für das Mittelalter und die frühe Neuzeit. Im Übergang zur modernen Gesellschaft wird die Doppeldeutigkeit der Freundschaft zu einem Problem, das in der Weise gelöst wird, dass man das Freundschaftsideal aus dem Politischen abzieht und ins Private verlagert. Im politischen Diskurs tritt der Begriff der Sympathie an die Stelle der Freundschaft, die nun ganz auf die Begründung zwischenmenschlicher Nahbeziehungen abgestellt wird. Als politische Signatur hat die Freundschaft ausgedient, dafür reüssiert sie als Code der Intimität.

Wie sich zeigen wird, lässt sich Luhmanns Darstellung anhand der philosophischen und literarischen Geschichten, die in diesem Buch betrachtet werden sollen, bestätigen. Am Beispiel Ciceros, der das Ideal der staatsmännischen Freundschaft propagiert, kann man die Verschränkung von Freundschaft und Politik im Einzelnen nachvollziehen. Die Freundschaftsgeschichten, die in Homers Ilias, in Vergils Aeneis und im biblischen Buch Samuel erzählt werden, bezeugen die große Bedeutung von Waffenbruderschaften in archaischen und antiken Gesellschaften. Doch scheint die Opposition von Politik und Intimität, die Luhmann nahelegt, wohl etwas zu eng gefasst zu sein. Zwar leuchtet die strukturelle Analogie von Politik und Intimität ein, denn im einen Fall geht es um kollektive, im anderen Fall um individuelle Sozialbeziehungen. Doch sind durchaus auch andere gesellschaftliche Systeme als die Politik maßgeblich an der Geschichte der Freundschaft beteiligt, insbesondere die Religion (im Mittelalter), die Kunst (in der frühen Neuzeit) und die Wissenschaft (in der Moderne). Die Geschichte der Freundschaft ist nicht so sehr als Verschiebung von der Politik zur Intimität zu beschreiben, sondern eher als Abfolge von Wechselwirkungen der Intimität mit den Systemen der Politik, Religion, Kunst und Wissenschaft. Freilich handelt es sich bei dieser Abfolge nur um Tendenzen und Akzentverschiebungen; trennscharfe Grenzen lassen sich nicht ziehen. Weitere Einschränkungen sind erforderlich. Erstens ist zu betonen, dass stets mehrere, wenn nicht alle Systeme zusammenspielen. Zweitens ist davon auszugehen, dass auch andere Systeme als Politik, Religion, Wissenschaft und Kunst den Freundschaftsdiskurs beeinflussen können. So wäre beispielsweise die Wirtschaft hervorzuheben, zumal in den literarischen Freundschaftsgeschichten vielfach Metaphern des Tauschens und Borgens bemüht werden, um das Wesen der Freundschaft zu illustrieren. Drittens liegt auf der Hand, dass alle literarischen Texte aufgrund ihrer Gattung immer schon auf das System der Kunst verwiesen sind. Gleichwohl lässt sich aus den Koppelungen der Intimität mit den genannten Systemen eine Typologie der Freundschaft ableiten, die diesem Buch zugrunde gelegt wird:

Der antike Freundschaftsdiskurs ist vor allem auf die Politik verpflichtet. Bei Cicero steht der Typus der befreundeten Staatsbürger im Vordergrund, in den literarischen Geschichten der Antike der Typus der Waffenbrüder. Die Verpflichtung der Freundschaft auf die Politik trägt zur Moralisierung der Freundschaft bei. Tugend wird als zentraler Wert der Freundschaft hervorgehoben. Dies gilt nicht nur für die antiken Philosophen, sondern auch für die literarischen Freundschaftserzählungen dieser Zeit.

Der mittelalterliche Freundschaftsdiskurs ist verstärkt auf die Religion bezogen. Diese Tendenz setzt bereits in der christlichen Spätantike ein. Aelred von Rievaulx preist das Ideal der mit Christus befreundeten Ordensbrüder. Die literarischen Geschichten des Hochmittelalters profanieren diese Vorstellung, indem sie das mystische Gedankengut der Theologie in weltliche Zusammenhänge übertragen. Die Herzensfreunde, von denen die höfischen Romane und Epen erzählen, sind ohne den mystischen Hintergrund kaum vorstellbar. Die direkte und indirekte Verpflichtung der Freundschaft auf die Religion resultiert in der Emotionalisierung der Freundschaft. Liebe wird als zentrale Dimension der Freundschaft dargestellt, Liebe und Freundschaft sind kaum zu unterscheiden. Die Formel, dass der Freund ein anderes Selbst sei, wird mit affektiv aufgeladenen Metaphern der Einheit illustriert und die Freundschaft auf diese Weise mit Gefühl angereichert.

Der dritte Schritt ist in der frühen Neuzeit die Ausrichtung der Freundschaft auf die Kunst. Dieser Schritt wird bereits in den höfischen Dichtungen des Hochmittelalters, die über ein ausgeprägtes Kunstverständnis verfügen, vorbereitet. Michel de Montaigne vergleicht den Schriftsteller mit dem Maler, und er erklärt die Literatur zum Medium der Freundschaft. Sein Essay über die Freundschaft war nach eigenem Bekunden als Rahmen für den Abdruck der Sonette gedacht, die sein Freund Étienne de la Boétie verfasst hatte. Montaigne propagiert den Typus des Brieffreundes, der auch in den literarischen Freundschaftsgeschichten der frühen Neuzeit weit verbreitet ist. Der Brief soll räumliche Distanzen überbrücken und eine stellvertretende Präsenz des Freundes erzeugen. Im Brief ist der Schreiber gleichsam selbst gegenwärtig. Die Ausrichtung der Freundschaft auf die Kunst geht mit der Individualisierung der Freundschaft einher. Die Freundschaft begründet sich in der Persönlichkeit der Freunde: »weil er er war, weil ich ich war«, sagt Montaigne. In den literarischen Freundschaftserzählungen stehen nicht mehr typenhafte Figuren, sondern Charaktere mit spezifischen Physiognomien im Mittelpunkt. Teils handelt es sich um historische Gestalten, teils um autobiographische Berichte (seien sie fingiert oder nicht).

Der vorerst letzte Schritt wird in der Moderne vollzogen, die eine Koppelung zwischen Freundschaft und Wissenschaft herstellt. Die Theologie, die bis in die frühe Neuzeit hinein für die Bestimmung des Menschen in seinen geistlichen und weltlichen, seelischen und leiblichen Bezügen zuständig war, wird von der Philosophie, Psychologie und Biologie abgelöst. Dies wirkt sich auch auf die Freundschaft aus, die nun einer Psychologisierung unterzogen wird. Sie muss sich erklären, insbesondere auch das Begehren, das ihr innewohnt. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende Sexualwissenschaft fragt nach den Grenzen zwischen homosozialem und homosexuellem Begehren. Der Homosexuelle, von dem sich der Freund zu distanzieren hat, wird als Spezies betrachtet, die eine besondere psychische und physische Disposition aufweist, welche für den Blick des Arztes erkennbar ist. Diese Tendenz ist in allen literarischen Freundschaftsgeschichten zu fassen. Die philosophischen Essays von Maurice Blanchot schotten die Freundschaft gegen die wissenschaftliche Vereinnahmung ab und sind in dieser Geste gewissermaßen ex negativo auf die Wissenschaft bezogen. Der Freund ist für Blanchot der unverfügbar Andere, den man gerade nicht zum Gegenstand der Wissenschaft machen kann. Das ändert freilich nichts daran, dass die Freundschaften, die Blanchot anspricht, zwischen Intellektuellen bestehen und dass in den literarischen Geschichten der Typus des Studienfreundes dominiert.

b)Codes der Intimität: Von der Freundschaft zur Liebe

Wie sich zeigte, legt Luhmann die Vorstellung nahe, dass sich die Freundschaft auf dem Weg zur Moderne zunehmend aus dem politischen Diskurs verabschiedet und in den Diskurs der Intimität zurückgezogen habe. An dieser Stelle setzt Luhmann in seinem Buch Liebe als Passion neu an, um die europäische Geschichte der Intimität zu rekonstruieren.

Luhmann unterscheidet drei epochale Erscheinungsformen der Liebe: die höfische Liebe des Mittelalters, die passionierte Liebe der frühen Neuzeit und die romantische Liebe der Moderne. Jede dieser Epochen brachte nicht nur ein eigenes Verständnis der Liebe, sondern auch eine eigenes Freundschaftskonzept hervor. Das Ideal der höfischen Liebe kommt am deutlichsten in der aristokratischen Liebeslyrik des 12. Jahrhunderts, dem so genannten Minnesang, zum Ausdruck. Luhmann legt nahe, dass die höfische Liebe, verstanden als Werben des Ritters um eine ständisch und moralisch überlegene Dame, ihr Vorbild in antiken Freundschaftskonzepten hat. Zum einen zieht er eine Parallele zu Aristoteles, der sich in der Nikomachischen Ethik über die Freundschaft zwischen Standesungleichen äußert:

Die Art der Zuneigung ist nach der gesellschaftlichen Stellung zu dosieren, auch und gerade, wenn Freundschaft bzw. Liebe an sich wechselseitige Gleichheit voraussetze bzw. herstelle. Die Zuneigung des einen ist sozusagen mehr wert als die des anderen. Und damit ist auch ausgeschlossen, dass Liebe allein genüge, um Liebe zu gewinnen.[25]

Die Liebe des Ritters zur Dame entspricht demnach der Beziehung des unterlegenen zum überlegenen Freund. In beiden Fällen bedarf es eines sozialen und moralischen Wertausgleichs, um die hierarchische Differenz zum Partner zu überbrücken. Zum anderen stellt Luhmann einen Bezug zur amicitia-Tradition her, die sich auf Cicero zurückführen lässt, sowie zur caritas-Tradition, mit der er das christliche Ideal der Nächstenliebe meint:

Mindestens seit dem Minnesang des Mittelalters wird neben der amicitia- und caritas-Tradition auch die Vorstellung gepflegt, dass es im Werben um Liebe darauf ankomme, die Geliebte zur Anerkennung und Förderung der Selbstachtung und der Selbstbeherrschung des Liebenden zu gewinnen.[26]

In beiden Fällen, der antiken Freundschaft und der höfischen Liebe, gründet sich die Zuneigung auf die Tugendhaftigkeit des begehrten Gegenübers. Das Werben um den Freund bzw. um die Dame führt zur Nobilitierung dessen, der sie begehrt. Luhmann nähert sich hier der literaturgeschichtlichen These an, dass die höfische Liebe des Mittelalters als Aneignung und Umwandlung des antiken Konzepts der Tugendfreundschaft zu verstehen sei.[27] Der entscheidende Unterschied besteht freilich im Wechsel der Geschlechterverhältnisse: An die Stelle des Freundes tritt die Dame.

In der frühen Neuzeit, die Luhmann zwischen 1650 und 1800 ansetzt, vollzieht sich ein Wandel, an dessen Ende die romantische Liebe steht. Das Liebeskonzept, das er für diese Übergangsphase veranschlagt, ist die passionierte Liebe. Sie unterscheidet sich insofern von der höfischen Liebe, als sie die Sexualität integriert und die Liebe zur Dame nicht mehr als Ideal, sondern als Paradox konzipiert. Liebe wird nun als Passion geschildert, als selbstgewähltes Leiden und willkommene Leidenschaft. Freundschaft spielt in dieser Epoche des Übergangs eine Doppelrolle. Zum einen wird sie, wie die Liebe, in hohem Maße affektiv aufgeladen, so dass man von passionierter Freundschaft sprechen kann. Zugleich erscheint sie zunehmend verdächtig: »[Die] Literatur des Freundschaftskults des 18. Jahrhunderts […] fügt religiöse Ekstase, moralische Höchstverwertung und Körpersymbolik ineinander in einer Weise, die heute nicht mehr nachvollziehbar ist – es sei denn ›psychoanalytisch‹ oder mit Verdacht auf Homosexualität.«[28] Luhmann führt die prekäre Nähe zwischen passionierter Freundschaft und Homosexualität wie folgt aus:

Man lese nur die Fülle der ekstatischen, Körperliches einbeziehenden Formulierungen im religiösen und weltlichen Kult der Freundesliebe. Dass Freunde einander mit tausend Küssen überschütten; einander in die Arme fallen (und das noch in der Hütte!) und dass sie einander (wie Johannes Christo) an der Brust liegen; dass sie ganz unbefangen von Herzens›ergüssen‹ reden – all das hätte nie so geschrieben werden können, wenn die Schreiber hätten befürchten müssen, dass ihnen unterstellt werden könnte, der Gedanke an ihren eigenen Körper hätte ihnen die Feder geführt. Vielmehr wird das Verhältnis zum Körper hier ganz offensichtlich noch an der alten semantischen Differenz der res corporales und der res incorporales orientiert, und die Emphase gilt der nichtkörperlichen, der seelischen Seite dieser Differenz. Erst im letzten Drittel des [18.] Jahrhunderts wird die Sicherheit dieser Voraussetzung erschüttert.[29]

In der frühen Neuzeit wird passionierte Freundschaft selbst dann als geistige Beziehung verstanden, wenn sie sich in körperlichen Metaphern zur Sprache bringt. Erst wenn man die Rhetorik der Freundschaft beim Wort nimmt, kommt der Verdacht auf, dass die Freundschaft eine sexuelle Beziehung impliziere. Ebendies geschieht, als das Weltbild vom heilsgeschichtlichen zum naturwissenschaftlichen Denken wechselt. Zugleich dient Freundschaft wiederum als Modell der Liebe. Die Institution der Ehe wird zunehmend nach dem Vorbild der Männerfreundschaft konzipiert. Die Anfänge dieser Entwicklung lassen sich am puritanischen Ehekonzept Englands diagnostizieren: »Liebe als Pflicht wird in Liebe als Sympathie umgeformt und dem Freundschaftsideal angeglichen.«[30] Diese Entwicklung weitet sich im 18. Jahrhundert aus:

Das ganze 18. Jahrhundert durchzieht diese Bemühung, den Code für Intimität von Liebe auf ›innige‹ Freundschaft umzustellen. Dieser Versuch schließt auch die ersten Ansätze von Intimisierung der Ehe ein – nicht auf der Basis von Liebe, sondern auf der Basis von Freundschaft, die durch Liebe nur induziert werde.[31]

Folge der doppelten Veränderung – der affektiven Aufladung der Freundschaft und der Angleichung der Ehe an die Freundschaft – ist die zunehmende Konkurrenz zwischen Freundschaft und Liebe: »eine Zeit lang sieht es so aus, dass Liebe und Freundschaft verschmolzen werden könnten […]. Jedenfalls konkurrieren jetzt beide Begriffe um die Anwartschaft, den Code für Intimbeziehungen zu bestimmen.«[32] Der Ausgang des Wettstreits war vorerst nicht absehbar: »Am Anfang des 18. Jahrhunderts sind beide Formeln am Start mit je unterschiedlichen Chancen.«[33] Der Sieg der Freundschaft schien sogar wahrscheinlich zu sein, denn es gab »in der alten Konkurrenz von Liebe und Freundschaft eine deutliche Option für die Freundschaft als Basis von Intimität und als Basis für die Sonderaufgaben der Familie in der Gesellschaft«.[34]

In der Romantik, die Luhmann um 1800 beginnen lässt, entscheidet sich der Wettstreit zugunsten der Liebe: »Aufs Ganze gesehen hat jedoch die Liebe und nicht die Freundschaft das Rennen gemacht und letztlich den Code für Intimität bestimmt.«[35] Die Transformation von der passionierten in die romantische Liebe resultiert in der Dominanz des Liebes- über den Freundschaftscode. Liebe, nicht Freundschaft, stellt das »symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium« für das System der Intimität zur Verfügung. Den entscheidenden Grund für den Sieg der Liebe sieht Luhmann in ihrer Fähigkeit, die Sexualität, nach seiner Technologie der »symbiotische Mechanismus« der Intimität, zu integrieren. Die Option der Sexualität steht »der Freundschaft, denn das gerade unterscheidet sie von Liebe, nicht zur Verfügung«.[36] Luhmann vermutet daher, »dass über die Aufwertung der Sexualität dann auch die Konkurrenz von ›Liebe‹ und ›Freundschaft‹ als Grundformeln für eine Codierung der Intimität entscheidbar wird. Liebe gewinnt.«[37] Die Integration von Liebe und Sexualität sei bereits in der frühen Neuzeit vollzogen worden, die Integration von Freundschaft und Sexualität hingegen nie eine Option gewesen. Vielmehr habe sich die Sexualität für die Freundschaft als »Störproblem«[38] und »heimliche[] Hypothek«[39] erwiesen. Paradoxerweise habe sie gleichwohl als »Aufwertungsfaktor für Sexualität«[40] gedient, nämlich in Bezug auf die romantische Liebesehe. Diese vermochte die Sexualität zu integrieren, weil die Beziehung der Ehepartner nun als Freundschaft aufgefasst und das Begehren diszipliniert wurde. Mit anderen Worten: Sexualität zwischen Freunden ist durchaus möglich – aber nur, wenn die Freunde Mann und Frau und außerdem miteinander verheiratet sind. Freundschaft – und zwar Freundschaft zwischen Männern – diente demnach als Katalysator der romantischen Liebe (wie schon im Mittelalter als Katalysator der höfischen Liebe). Zum ersten Mal konnten Liebe, Ehe und Sexualität vereint werden, und zwar im Zeichen der Freundschaft.

Fassen wir zusammen: Im Zeitalter der höfischen Liebe ist eine gewisse Nähe zwischen Freundschaft- und Liebesdiskurs festzustellen, die mit der Herkunft des höfischen Liebesideals aus dem antiken Freundschaftsideal (Aristoteles, Cicero) zu tun hat. Freundschaft und Liebe sind an den Stand gebunden und dienen in ihrer Ausrichtung auf die Tugend der ethischen Nobilitierung. In der Übergangsepoche der passionierten Liebe wird auch die Freundschaft affektiv aufgeladen. Zugleich wird die Beziehung der Eheleute als Freundschaft konzipiert und auf diese Weise mit Intimität angereichert – durchaus im Widerspruch zum traditionellen Ehekonzept, das heiratspolitisch ausgerichtet war und der Gründung von politischen und ökonomischen Verbindungen diente. Die affektive Anreicherung der Freundschaft und die Angleichung der Ehe an die Freundschaft führen dazu, dass Freundschaft und Liebe in ihrer Anwartschaft auf die Codierung von Intimität zeitweise gleichauf lagen. Diese Konkurrenz wurde in der romantischen Liebe zum Nachteil der Freundschaft entschieden, da diese im Gegensatz zur Liebe die Sexualität nicht zu integrieren vermochte. Andererseits diente Freundschaft insofern als Aufwertungsfaktor für die Sexualität, als sie auf die Eheleute angewendet wurde. Indem die Eheleute zu tugendhaften Freunden wurden, konnte ihre Sexualität diszipliniert und auf einen höheren Zweck verpflichtet werden.

Wiederum gilt, dass sich Luhmanns Darstellung anhand der philosophischen und literarischen Geschichten, die im Folgenden analysiert werden sollen, bestätigen lässt. Doch sind erneut einige Modifikationen und Ergänzungen erforderlich:

Es ist die Frage zu stellen, wie es um das Verhältnis von Liebe und Freundschaft in der Antike bestellt ist. Luhmann gibt nur den einen Hinweis, dass das mittelalterliche Ideal der höfischen Liebe mit der antiken Freundschaftstradition in Verbindung stehe. Ansonsten äußert er sich über die politischen und militärischen Männerbünde und die Geltung der Freundschaft als politisches Gemeinschaftsprinzip. Man wird daraus den vorläufigen Schluss ziehen können, dass in der Antike die Freundschaft den vorherrschenden Code der Intimität darstellte. Nimmt man die Formel des ›anderen Selbst‹ als Inbegriff von Intimität, so kann man festhalten, dass die Antike eher eine Epoche der Freundschaft (zwischen Männern) als der Liebe (zwischen Mann und Frau) war. Liebe galt, man denke an Ovid, eher als Kunst der erotischen Raffinesse denn als Ideal der ethischen Nobilitierung oder sozialen Disziplinierung.

Eine weitere Modifikation betrifft das Konkurrenzverhältnis von Liebe und Freundschaft. Luhmann stellt heraus, dass Liebe und Freundschaft vor allem in der frühen Neuzeit im Wettstreit miteinander standen, sich dann aber in der Wende zur Romantik die Liebe durchsetzte. Das heißt freilich nicht, dass die Konkurrenz zwischen Freundschaft und Liebe damit an ein Ende gelangt wäre. In dem Maße, wie die Liebe in den Vordergrund tritt, ringt die Männerfreundschaft um ihre Geltung. Dies ist in einer patriarchalischen Gesellschaft nicht anders zu erwarten. Die Konkurrenz zeichnet sich schon im Mittelalter ab, und sie bleibt bis in die Moderne bestehen. Freilich wandeln sich die Formen, in denen der Wettstreit in Szene gesetzt wird. Vielfach werden Freundschaft und Liebe triangulär aufeinander bezogen, beispielsweise indem zwei Männer um eine Frau oder auch ein Mann und eine Frau um einen anderen Mann rivalisieren. In dem Maße, wie die Liebe die Sexualität zu integrieren vermag, wird auch die Sexualität in der Männerfreundschaft zum Problem. Ferner ist daran zu erinnern, dass die kategoriale Ausdifferenzierung der Intimität in Freundschaft und Liebe ein neuzeitliches Phänomen darstellt. Das griechische Wort philía meint Freundschaft und Liebe zugleich. Cicero legt großen Wert darauf, dass sich das Wort amicitia (Freundschaft) von amor (Liebe) herleitet. Man sollte sich also davor hüten, die Unterscheidung von homosozialer und heterosozialer Intimität ohne weiteres mit den Begriffen Freundschaft und Liebe zu benennen – wie man sich ebenso davor hüten sollte, Freundschaft und Männerfreundschaft implizit miteinander gleichzusetzen.

Damit hängt der dritte Punkt zusammen. Luhmann erweckt den Eindruck, dass sich die Freundschaft im Laufe der Zeit aus den Diskursen der Politik und Intimität zurückgezogen habe. In der Politik sei sie vom Ideal der Sympathie, in der Intimität vom Code der Liebe verdrängt worden. Freilich führt die Männerfreundschaft auch in der Moderne kein Schattendasein. Noch immer ist das Ideal der passionierten Männerfreundschaft virulent, auch wenn es sich vielfach absichern und verschleiern muss. Solange eine Gesellschaft Männer privilegiert und Frauen marginalisiert, ist nicht mit dem Verschwinden der Männerfreundschaft als Sonderform der Intimität zu rechnen. Die Männerfreundschaft zehrt vom Pathos vergangener Epochen und inszeniert es immer wieder neu. Es findet nur eine Verschiebung statt von der Freundschaft im Zeitalter der Freundschaft zur Freundschaft im Zeitalter der Liebe. Dass die Horizonte wechseln, heißt nicht, dass die Männerfreundschaft als solche in den Hintergrund träte. Noch immer wird, wie Jacques Derrida zeigt, das politische Prinzip der Brüderlichkeit propagiert.[41] Luhmann argumentiert, dass es nur ein »symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium«, kurz gesagt: einen Code der Intimität gebe, nämlich die Liebe. Dagegen wäre eine Sichtweise zu betonen, die zwei Medien oder Codes in Rechnung stellt, die stets miteinander konkurrieren und sich wechselseitig ineinander transformieren können.

Es bleibt zu hinterfragen, ob man tatsächlich von einer historischen Abfolge der drei Liebescodes sprechen kann, die Luhmann veranschlagt.[42] Gewiss trifft es zu, das es epochale Akzentverschiebungen von der höfischen über die passionierte zur romantischen Liebe gibt. Doch bestehen die Grundmuster der Konstellationen von Liebe und Freundschaft, Intimität und Sexualität, die sich in den Liebescodes abbilden, immer auch nebeneinander. Es steht, um nur ein Beispiel zu nennen, außer Frage, dass das Modell der passionierten Liebe schon in den mittelalterlichen Romanen von Tristan und Isolde in Reinkultur anzutreffen ist. Daher sollen die systemtheoretischen Kategorien in diesem Buch historisch gelockert werden. Begriffe wie ›System‹, ›Kommunikationsmedium‹ und ›symbiotischer Mechanismus‹ sollen auf die Vormoderne angewandt werden, ohne jedes Mal darauf hinzuweisen, dass es sich um historische Vorformen handelt und die Differenzierung der vormodernen Gesellschaften nicht funktionaler, sondern segmentärer oder stratifikatorischer Art ist. Flexibel gehandhabt, erweist sich Luhmanns systemtheoretischer Ansatz als überraschend produktiv, um die philosophie- und literaturgeschichtlichen Verhältnisse zu klären.

Schließlich ist Luhmanns Unterscheidung zwischen der homosozialen (Freundschaft) und der heterosozialen (Liebe) Form der Intimität zu hinterfragen, denn sie lässt die Optionen der homosozialen Liebe und der heterosozialen Freundschaft weitgehend außer Acht. Merkwürdigerweise gerät in den Einführungen in Luhmanns Systemtheorie selbst die basale Unterscheidung von Liebe und Freundschaft aus dem Blick. Im Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme (GLU), das zum Klassiker der Luhmann-Exegese avancierte, fehlt das Stichwort Intimität, obwohl die Intimität eines der zentralen sozialen Systeme darstellt. Stattdessen gibt es einen Artikel zum Stichwort Liebe, der aber mit keinem Wort auf die Freundschaft eingeht und die Intimität nur am Rande erwähnt.[43] Auf diese Weise wird die Unterscheidung von Liebe und Intimität verwischt und die Unterscheidung von Liebe und Freundschaft ignoriert. Ähnlich verhält es sich mit der Einführung von Walter Reese-Schäfer. Auch in dieser eigentlich sehr gelungenen Darstellung geraten die Kategorien ins Wanken. Zwar wird deutlich, dass Liebe als kommunikatives Medium der Intimität zu verstehen ist; dass sie aber mit der Freundschaft konkurriert, bleibt unerwähnt.[44] Zu einem Blackout kommt es in der Schautafel, die dem Buch angehängt ist. Sie behauptet, dass die Liebe ein soziales System und ihr Medium die »Erotik« sei.[45] Beides trifft nicht zu. Das System ist vielmehr die Intimität und die Liebe ihr Medium. Von Erotik ist bei Luhmann keine Rede, wohl aber von Sexualität, die jedoch nicht das Medium, sondern den »symbiotischen Mechanismus«, d.h. die körperliche Anschlussstelle für das System, bereitstellt. Luhmanns Thesen zur Intimität lösen, so scheint es, selbst bei Fachleuten ein Unbehagen aus, das durch Missverständnisse bereinigt wird.

 

Folgende Schautafel gibt einen vereinfachten Überblick über Luhmanns Systemtheorie, soweit sich dieses Buch darauf bezieht. Systeme sind die Teilbereiche, aus denen sich die funktional differenzierte Gesellschaft zusammensetzt. ›Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien‹ sind die Codes, auf denen zwischenmenschliche Verständigung basiert. Codes im engeren Sinne sind die Gegensatzpaare, die die Kommunikationsmedien strukturieren. ›Symbiotische Mechanismen‹ sind die körperlichen Anschlussstellen der Systeme. Funktionen sind die gesellschaftlichen Ziele, auf die die Systeme mit ihren Medien, Codes und Mechanismen ausgerichtet sind.

System

Medium

Code

Mechanismus

Funktion

Intimität

Liebe bzw. Freundschaft

Gegenseitigkeit/Einseitigkeit

Sexualität

Herstellung von Paarbeziehungen (Partnerwahl)

Politik

Macht

Regierung/Opposition

Gewalt

Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen

Religion

Glaube

Immanenz/Transzendenz

(Sakramente)

Herstellung bestimmbarer Komplexität (Sinnstiftung)

Kunst

Kunstgeschmack

schön/hässlich

innovativ/-traditionell

(Kunstgenuss)

Produktion, Präsen-tation und Reflexion von Kunstwerken

Wissenschaft

Wahrheit

wahr/unwahr

(Analyse)

Herstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse

c)Das andere Selbst: Freundschaft als Wesenseinheit

Luhmann hat einen technischen Begriff geprägt, um die Intimität zweier Partner, die einander in Liebe oder Freundschaft verbunden sind, zu beschreiben. Er bezeichnet Intimität als Verhältnis der »zwischenmenschlichen Interpenetration«.[46] Damit meint er die wechselseitige Durchdringung zweier Personen, die füreinander jeweils ein anderes Ich (alter ego) darstellen. Luhmann erklärt Intimität also nicht einfach als Einfühlung, Empathie oder Sympathie, sondern als wechselseitiges, verdoppeltes Wahrnehmungsverhältnis. Der eine Partner (Ego) begreift den anderen (Alter) als »individualisiertes Weltverhältnis«: »Dann wird verständlich, dass in seiner Welt der, dem er sich zuwendet, vorkommt und eine für diese Welt spezifische Bedeutung gewinnen kann. Ego, der sich fragt, ob Alter ihn liebt, muss Alter also als alter Ego sehen […]. Erst dadurch ist ein Verstehen möglich, das das eigene Ich in der Welt des anderen und das andere Ich in der eigenen Welt lokalisiert.«[47] Die Formel, dass der Freund ein zweites Ich, ein anderes Selbst sei, lässt sich in der philosophischen Tradition über Cicero und Aristoteles bis Platon zurückführen.

Ein eindrucksvolles Zeugnis bietet Platon im Symposion, einem philosophischen Dialog über die Liebe. Am Gastmahl, das den Gesprächsrahmen bildet, nimmt auch der Komödiendichter Aristophanes teil. Er gibt eine eigenwillige Erklärung für das menschliche Bedürfnis nach Intimität. Aristophanes präsentiert einen Schöpfungsmythos, dem zufolge es ursprünglich drei Geschlechter gegeben habe: ein männliches, ein weibliches und ein gemischtes. Die Menschen seien damals kugelförmig und mit zwei Köpfen, vier Armen und vier Beinen ausgestattet gewesen. Sie seien so fröhlich und übermütig umhergesprungen, dass die Götter sie zur Strafe in der Mitte geteilt hätten. Die aus dem Schnitt hervorgegangenen Hälften strebten seitdem danach, sich wieder zu vereinigen. Folglich lassen sich drei Formen des Begehrens unterscheiden: zwischen Mann und Mann, Frau und Frau, Frau und Mann.[48] Über die Hälften der männlichen Kugelmenschen berichtet Aristophanes Folgendes:

Die aber Teilstück eines Mannes sind, die trachten nach dem Männlichen; solange sie Knaben sind, lieben sie – als Teilstücke des Mannes – die Männer und freuen sich, wenn sie bei Männern liegen und sie umarmen können. Und es sind dies die besten unter den Knaben und Jünglingen, da sie die männlichsten sind von Natur; freilich behaupten einige, sie seien schamlos, aber das lügen sie; denn sie tun das nicht aus Schamlosigkeit, sondern aus Mut und Tapferkeit und Mannhaftigkeit und haben das gern, was ihnen ähnlich ist.[49]

Dreierlei ist an dieser Darstellung bemerkenswert. Erstens geht Aristophanes von exklusiven Paarbeziehungen aus. Die Kugelmenschen werden jeweils in zwei Hälften geteilt, und diese streben fortan nach ihrer Wiedervereinigung. Zweitens versteht er das Begehren als körperliches Phänomen. Die erstrebte Einheit der Paare betrifft nicht nur die Seele, sondern den gesamten Menschen in seiner Leibhaftigkeit. Drittens hebt er die ethische Dimension dieses Mythos hervor. Die männlichen Hälften suchen zwar die Freuden der körperlichen Nähe, doch stehe die moralische Wesensähnlichkeit, die sich in den Tugenden des Muts, der Tapferkeit und der Mannhaftigkeit äußere, im Vordergrund. Das Begehren ist also nicht nur erotischer, sondern auch politischer und ethischer Art:

Dafür zeugt ein großer Beweis: wenn sie völlig erwachsen sind, dann wenden sich einzig Männer dieser Art den Staatsgeschäften zu. Sind sie aber Männer geworden, so lieben sie Knaben und richten ihren Sinn von Natur aus weder auf die Ehe noch auf das Kinderzeugen, sondern lassen sich nur durch das Gesetz dazu nötigen, sie wären es zufrieden, unverehelicht miteinander zu leben. So wird denn so einer ganz und gar ein Liebhaber von Knaben und ein Freund seines Liebhabers und hat allezeit das gern, was ihm verwandt ist.[50]

Die herangewachsenen Männer wenden sich dem Gemeinwesen zu und setzen sich für das öffentliche Wohl ein. Sie heiraten Frauen und zeugen Kinder, tun dies aber nicht aufgrund natürlicher Neigung, sondern gesetzlicher Pflicht. Aristophanes erläutert das Begehren, das die geteilten Hälften aufeinander richten, wie folgt:

Wenn nun auch er, der Liebhaber von Knaben oder jeder andere, seiner eigenen Hälfte begegnet, dann werden sie wundersam ergriffen von einem Gefühl der Freundschaft und Zusammengehörigkeit und Liebe, und sie wollen sich sozusagen nicht mehr voneinander trennen, auch nicht für eine kurze Zeit. Und wenn sie dann ihr ganzes Leben miteinander verbunden bleiben, dann könnten sie nicht einmal sagen, was sie voneinander erwarten. Denn es wird kaum jemand glauben, dass es der gemeinsame Liebesgenuss sei, weswegen sich der eine so leidenschaftlich darüber freut, mit dem anderen zusammen zu sein. Sondern es ist klar, dass die Seele von beiden etwas andres will, das sie nicht nennen kann, sondern sie ahnt nur, was sie will, und lässt es dunkel erraten.[51]

Was die Partner, verstanden als Teile eines Ganzen, miteinander verbindet, ist das Gefühl der Freundschaft (φιλία), Liebe (ἔρως) und Zugehörigkeit (οἰκειότης). Quelle des Begehrens, das sie verspüren, ist etwas Seelisches, das Aristophanes nicht näher erklären kann. Daher verzichtet er auf eine Definition und entwirft stattdessen ein weiteres mythologisches Bild, in dem der Feuergott Hephaistos einen Auftritt hat:

Und wenn nun, während sie beisammen liegen, Hephaistos mit seinen Werkzeugen zu ihnen träte und sie fragte: ›Was wollt ihr denn eigentlich voneinander, ihr Menschen?‹ – und wenn sie dann verlegen wären und er sie wiederum fragte: ›Möchtet ihr etwa das: einander so nah als möglich zu sein, dass ihr Tag und Nacht nicht voneinander ablassen müsst? Wenn ihr das begehrt, so bin ich bereit, euch zusammenzuschmelzen und aneinanderzuschweißen, dass ihr aus zweien einer werdet und, solange ihr lebt, beide gemeinsam als einer lebt und, wenn ihr gestorben seid, auch dort im Hades statt zweien einer seid, in gemeinsamem Tode. So seht denn, ob ihr das wünscht, und ob ihr zufrieden seid, wenn ihr das bekommt.‹ Wenn er das hört, wissen wir, wird keiner ablehnen oder einen anderen Wunsch zu erkennen geben, sondern jeder wäre der festen Meinung, er habe gerade das gehört, wonach er schon längst begehrte, nämlich mit dem Geliebten vereinigt und verschmolzen und aus zweien einer zu werden. Das hat seine Ursache darin, dass unsere ursprüngliche Natur so war und dass wir einmal ganz waren; von dem Verlangen und dem Streben nach dem Ganzen hat Eros seinen Namen.[52]

»Aus zweien einer« (ἐκ δυοῖν εἷς) – so lautet die Formel, die Platon Aristophanes in den Mund legt, um die Einheit zweier Männer zu beschreiben, die eine partnerschaftliche Beziehung eingehen. Nur wenn sie ein Herz, eine Seele und ein Leib sind, empfinden sie sich als Ganzes. Sie sind aufeinander verwiesen, verhalten sich komplementär zueinander. Ihre Identität besteht darin, miteinander identisch zu sein.

Aufschlussreich ist auch der Dialog Lysis, in dem Platon den Philosophen Sokrates ein Gespräch mit einigen Athener Jünglingen führen lässt. Thema ist die Liebe zwischen Freunden, Anlass das einseitige Begehren des Jünglings Hippothales nach Lysis, der bereits mit Menexenos befreundet ist. Das Gespräch endet in einer Aporie. Viele Aspekte werden erörtert, aber eine abschließende Bestimmung der Freundschaft bleibt aus. Die Unterhaltung ist (wie die Rede des Aristophanes) von Ironie geprägt. Sie lebt vom Zusammenspiel der philosophischen Argumentation mit der konkreten Alltagssituation, in der sie geführt wird. Wenn Sokrates die Fragen erörtert, ob Freundschaft einseitig oder gegenseitig sei, zwischen Gleichen oder Ungleichen bestehe und gute oder böse Menschen betreffe, sind stets die persönlichen Beziehungen mitzudenken, die die Gesprächspartner miteinander unterhalten. Sokrates umkreist das Wesen der Freundschaft in immer neuen Schleifen. Dabei fallen ähnliche Stichwörter wie im Symposion. Sokrates bekennt, dass er Freundschaft höher einschätze als jeden materiellen Besitz. Er preist Lysis und Menexenos dafür, dass sie schon in so jungen Jahren miteinander Freundschaft geschlossen hätten:

Indem ich nun euch sehe, dich und den Lysis, bin ich erstaunt und preise euch glücklich, dass euch so jung schon gelungen ist, dieses Besitztum [der Freundschaft] schnell und leicht zu erwerben, und du dir diesen so schnell und sehr zum Freunde erworben hast, und dieser wiederum dich.[53]

Freundschaft beruht auf wechselseitiger Wahl, die sich auf Ähnlichkeit stützt. Sokrates illustriert dies mit dem homerischen Sprichwort: »Wie doch stets den Gleichen ein Gott gesellet zum Gleichen.«[54] Ähnlichkeit als solche ist aber noch kein hinreichendes Merkmal der Freundschaft. Vielmehr muss es eine Ähnlichkeit im Guten sein:

Dieses also, o Freund, wollen jene, wie mich dünkt, andeuten, welche sagen, das Ähnliche sei dem Ähnlichen freund, dass nämlich nur der Gute und nur dem Guten freund ist, der Böse aber niemals weder mit dem Guten noch mit dem Bösen zu einer wahren Freundschaft gelangt. Stimmst du mit ein? […] Das also hätten wir nun, welche Menschen Freunde sind, denn, was wir sagen, zeigt ganz deutlich an, es sind die, welche gut sind.[55]

Platon nimmt auch das Motiv der wechselseitigen Zugehörigkeit der Freunde auf, das bereits im Symposion anklingt. Er legt Sokrates folgende Worte in den Mund:

Ihr beide also, wenn ihr gegenseitig Freunde seid, müsst irgendwie von Natur einander angehören. […] Und auch sonst, ihr Kinder, sprach ich, wo einer des andern begehrt und liebt, er würde ihn weder begehren noch lieben, noch ihm freund sein, wenn ihm nicht der Geliebte angehörig wäre überhaupt der Seele nach oder wegen irgendeiner Gesinnung, Art und Eigenschaft.[56]

Freundschaftliches Begehren erwächst vor allem daraus, dass Freunde einander angehören. Das Adjektiv, das Platon hier und im Symposion benutzt, ist von dem griechischen Wort für das Haus (οἶκος) abgeleitet. Freunde sind einander zugehörig wie zwei Menschen, die in einem Haus miteinander leben und somit in familiärer, man könnte auch sagen: brüderlicher Beziehung zueinander stehen.[57]

Im Unterschied zu seinem Lehrer Platon entwickelt Aristoteles seine Philosophie der Freundschaft in systematischen Reflexionen, die auf Ironien verzichten und Aporien vermeiden. Das Werk, in dem er seine Ansichten über die Wesenseinheit der Freunde entwickelt, ist die Nikomachische Ethik. Darin unterscheidet er zwei Typen der Freundschaft: die zufällige Freundschaft, die sich an Nutzen oder Vergnügen ausrichtet, und die eigentliche Freundschaft, die aus der Tugend erwächst. Allein auf den zweiten Typus, die Tugendfreundschaft, kommt es ihm an. Sie beruht, so führt Aristoteles aus, auf der Wesensähnlichkeit der Freunde im Guten – ein Gedanke, den er mit Platon teilt:

Vollkommen ist die Freundschaft der Tugendhaften und an Tugend Ähnlichen. Diese wünschen einander gleichmäßig das Gute, sofern sie gut sind, und sie sind gut an sich selbst. Jene aber, die den Freunden das Gute wünschen um der Freunde willen, sind im eigentlichen Sinne Freunde (denn sie verhalten sich an sich so, und nicht zufällig).[58]

Aristoteles illustriert die Definition mit einigen Metaphern. Der Freund, sagt er, sei ein anderes Selbst (ἄλλος αὐτός):

Da sich nun jedes einzelne davon bei Tugendhaften im Verhältnis zu sich selbst findet und er sich zum Freund verhält wie zu sich selbst (denn der Freund ist ein anderer er selbst), so scheint auch die Freundschaft darin zu bestehen und Freunde solche, die dies besitzen.[59]

Er fügt eine Reihe von Redewendungen an, die die seelische Einheit der Freunde beschreiben: »Alle Sprichwörter stimmen damit überein: ›eine Seele‹, ›unter Freunden ist alles gemeinsam‹, ›Freundschaft ist Gleichheit‹.«[60] Auch die Motive der Gleichheit, Seeleneinheit und Gemeinschaft sind bei Platon vorgeprägt.

Da Freunde einander wesensgleich sind, können sie mit Brüdern verglichen werden.[61] Dieser Gedanke klingt schon in Platons Aussage an, dass Freunde einander wie in einer häuslichen Gemeinschaft zugehörig, also Angehörige seien. Aristoteles entfaltet den Gedanken der Brüderlichkeit von Freunden unter politischen Gesichtspunkten. Schon Platon hatte vom Engagement der Liebenden für den Staat gesprochen, auch dieser Aspekt spielt für Aristoteles eine zentrale Rolle. Er unterscheidet drei Staatsformen: Monarchie, Aristokratie und Timokratie. Die Monarchie vergleicht er mit der Beziehung von Vater und Sohn,[62] die Aristokratie mit dem Verhältnis zwischen Mann und Frau.[63] Die Timokratie schließlich, d.h. die Herrschaft der vermögenden Bürger, sei mit der Beziehung zwischen Brüdern zu vergleichen:

Timokratisch scheint die Gemeinschaft unter Brüdern zu sein (sie sind nämlich gleich, abgesehen von ihrem Altersunterschied; wo dieser Unterschied sehr groß ist, ist die Freundschaft auch nicht mehr eine brüderliche).[64]

Der Bruder kommt somit in zweifacher Weise zur Geltung: einerseits in der horizontalen Beziehung, die ein Bruder zum anderen unterhält (Timokratie), andererseits in der vertikalen Beziehung, die die Brüder zum Vater unterhalten (Monarchie). Nachdem er die Analogie von Herrschaft und Verwandtschaft erläutert hat, kommt Aristoteles auf das Thema der Freundschaft zurück. Jede Staatsform weist ein spezifisches Prinzip der Freundschaft (philía) auf. Die Monarchie gleicht der Freundschaft des Vaters zu seinen Söhnen, die Aristokratie der Freundschaft zwischen den Geschlechtern, wobei dem Mann ein höherer Rang zugesprochen wird als der Frau. Während Monarchie und Aristokratie hierarchisch strukturiert sind, lässt sich die Timokratie mit der Freundschaft zwischen Brüdern vergleichen, ist also egalitär konzipiert. Entscheidend ist, dass Bruderliebe und Männerfreundschaft in eins gesetzt werden. Die brüderliche Beziehung kommt dem Wesen der Freundschaft deswegen am nächsten, weil sie Ausdruck der Gleichheit ist. Wie die Brüder einander hinsichtlich des Alters, der Erfahrung und des Charakters gleichen, so sind sich die timokratischen Bürger aufgrund ihrer gemeinsamen Ausrichtung auf die Tugend gleich:

Die Freundschaft unter Brüdern gleicht derjenigen unter Kameraden. Denn sie sind gleich und Altersgenossen, und diese haben dasselbe erfahren und haben zumeist dieselbe Art. Dem entspricht auch die Freundschaft in der Timokratie. Denn hier streben die Bürger danach, gleich und tugendhaft zu sein. Sie regieren abwechslungsweise und auf der Basis der Gleichheit. Und so ist auch die Freundschaft.[65]

In der Zuneigung, die Brüder und Freunde miteinander verbindet, kommt die Dimension der Intimität zum Zuge:

Brüder [lieben sich] untereinander, weil sie von denselben Eltern stammen. Denn die Gleichheit jenen gegenüber macht sie auch untereinander gleich. Und so spricht man von ›demselben Blut‹, ›derselben Wurzel‹ und dergleichen. Sie sind auch gewissermaßen dasselbe, nur in getrennten Wesen.[66]

Freunde, die wie Brüder sind, sind wesenseins. Aristoteles illustriert diesen Sachverhalt mit den Metaphern der gemeinsamen Wurzel und des gemeinsamen Blutes, aber auch mit einer Umschreibung des ›anderen Selbst‹, die noch einmal an die geteilten Kugelmenschen denken lässt: »dasselbe, nur in getrennten Wesen«.

Fassen wir zusammen: Platon entwirft im Symposion das mythologische Bild der Kugelmenschen, die von den Göttern geteilt wurden und seitdem wieder einander zustreben. Dieses Bild impliziert, dass Männerfreundschaft als exklusive Paarbeziehung zu verstehen ist, die Leib und Seele umfasst. Im Lysis hebt Platon hervor, dass die Partner einander im Streben nach dem Guten ähnlich sind und dass sie einander in einer Weise zugehörig fühlen, die an eine familiäre Bindung denken lässt. Aristoteles konkretisiert diese Tendenz, indem er unter dem Gesichtspunkt der Politik die Bürger einer Timokratie mit Brüdern vergleicht. Er vertritt zudem die Auffassung, dass Freunde eine personale Einheit bilden. Der Freund ist ein »anderes Selbst«, Freunde haben »eine Seele«.

Ähnliche Vorstellungen finden sich in der biblischen Schöpfungsgeschichte. Diese weist verblüffende Parallelen zum Mythos der Kugelmenschen auf. In beiden Fällen ist das Begehren Folge eines chirurgischen Eingriffs. Auch die ersten Menschen der biblischen Schöpfungsgeschichte gehen aus einem Leib hervor und wollen nach ihrer Trennung wieder »ein Fleisch« sein:

Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu […]. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht. Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, so dass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.[67]

Am Anfang erschafft Gott nur einen Menschen. Dieser ist nicht fröhlich wie die platonischen Kugelmenschen, sondern einsam, da er keinen Gefährten hat. Der erste Versuch Gottes, ihm einen solchen zur Seite zu stellen, schlägt fehl. Gott erschafft die Tiere, doch sie können dem Menschen kein ebenbürtiges Gegenüber sein. Der zweite Versuch ist erfolgreicher. Gott schneidet den Menschen zwar nicht in der Mitte durch, entnimmt ihm aber eine Rippe, aus der er einen zweiten Menschen formt. Von seinem anderen Selbst kann der Mensch nun sagen: »Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.« Aus der Teilung des Menschen geht zugleich die Differenz der Geschlechter hervor, er wird zu Mann und Frau. Die kausale Beziehung, die die Schöpfungsgeschichte behauptet, leuchtet in der deutschen Einheitsübersetzung nicht ein: »Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genommen.« Ein Blick in die lateinische Bibel klärt den Zusammenhang. Dort lautet das Wortpaar vir (Mann) und virago (Frau), die Frau ist also eigentlich eine ›Männin‹.[68] Der biblische Text kennt im Unterschied zum platonischen Schöpfungsmythos nur eine Option, nämlich den Menschen, der sich in Mann und Frau teilt. Die Analogie zu den Kugelmenschen, die sich in zwei Männer beziehungsweise zwei Frauen teilen, ist gleichwohl gegeben. Solange der biblische Urmensch noch nicht geteilt ist, kann von Geschlechterdifferenz ohnehin keine Rede sein.

Die Vorstellung der seelischen und körperlichen Ebenbildlichkeit der Freunde kommt sehr plastisch in einem mittelalterlichen Ritterroman zur Geltung, dem Engelhard Konrads von Würzburg (13. Jh.).[69] Ihm liegt eine ältere Geschichte zugrunde, die im europäischen Mittelalter weit verbreitet war.[70] Es geht um das Schicksal zweier Freunde, die zugleich Doppelgänger sind. Das Motiv der Wesensähnlichkeit wird in der Weise gesteigert, dass die Freunde auch physisch ununterscheidbar sind. Dem Freundschaftsbund, den sie miteinander schließen, geht eine Freundschaftsprobe voraus. Sie besteht in einem Apfelgeschenk. Wenn der Beschenkte die Frucht teilt und eine Hälfte zurückgibt, erweist er sich als vertrauenswürdiger Kandidat: