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Andreas Kraß

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Beschreibung

Die Literaturgeschichte der Meerjungfrauen reicht von den Sirenen der Antike über die Melusinen des Mittelalters bis zu den Undinen der Romantik und darüber hinaus. Sie schließt auch die Nymphen der Donau, des Rheins und der Saale mit ein. Im Laufe der Zeit wechseln die Meerjungfrauen Gestalt und Bedeutung: als Vogelfrauen sind sie Verderberinnen, als Schlangenfrauen Gebärerinnen, als Nymphen mit oder ohne Fischschwanz Verführerinnen. Ihre Geschichten erzählen von der Unmöglichkeit der Liebe, aber immer auch von den Möglichkeiten der Dichtung. Ein poetischer Streifzug in sieben Kapiteln zu Texten von Homer und Heine, Fouqué und Fontane, Goethe und Grillparzer, Brentano und Bachmann, Thüring und Tieck, Vulpius und Wilde, Hans Christian Andersen und vielen anderen.

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Seitenzahl: 640

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Andreas Kraß

Meerjungfrauen

Geschichten einer unmöglichen Liebe

FISCHER E-Books

Inhalt

Unsere Zeit aber stößt [...]VorwortI. Sinnbilder: Liebe und Literatur1. Die Meerjungfrau als Sinnbild der Liebea) Herbert James Draper, Odysseus und die Sirenenb) Johann Wolfgang von Goethe, Der Fischerc) Sigmund Freud, Das Motiv der Kästchenwahl2. Die Meerjungfrau als Sinnbild der Literatura) Horaz, Über die Dichtkunstb) Michel de Montaigne, Über die Freundschaftc) Johann Wolfgang von Goethe, Der FischerII. Sirene: Vogelfrau und Verderberin1. Homer, Odysseea) Die Sirene als Sinnbild der Liebeb) Die Sirene als Sinnbild der Literatur2. Variationena) Ovid, Liebeskunst und Metamorphosenb) Gottfried von Straßburg, Tristan und Isoldec) Dante Alighieri, Die Göttliche Komödied) Konrad von Megenberg, Buch der Nature) Heinrich von Kleist, Wassermänner und Sirenenf) Franz Kafka, Das Schweigen der SirenenIII. Melusine: Schlangenfrau und Gebärerin1. Thüring von Ringoltingen, Melusinea) Die Melusine als Sinnbild der Liebeb) Die Melusine als Sinnbild der Literatur2. Variationena) Paracelsus, Buch über die Nymphenb) Ludwig Tieck, Sehr wunderbare Historie von der Melusina[Kapitel]c) Johann Wolfgang von Goethe, Die neue Melusined) Karl Eduard von Bülow, Die neuste Melusinee) Paul Heyse, Melusinef) Theodor Fontane, Der StechlinIV. Donauweibchen: Nymphe und Verführerin I1. Christian August Vulpius, Die Saal-Nixea) Die Saal-Nixe als Sinnbild der Liebeb) Die Saal-Nixe als Sinnbild der Literatur2. Variationena) Christian August Vulpius, Erlinde die Ilm-Nixeb) Karl Friedrich Hensler, Das Donauweibchenc) Christian August Vulpius, Hulda oder die Nymphe der Donaud) Exkurs: Das Nibelungenliede) Ludwig Tieck, Das Donauweibf) Franz Grillparzer, MelusinaV. Loreley: Nymphe und Verführerin II1. Clemens Brentano, Godwia) Die Loreley als Sinnbild der Liebeb) Die Loreley als Sinnbild der Literatur2. Variationena) Clemens Brentano, Rheinmärchenb) Aloys Wilhelm Schreiber, Handbuch für Reisende am Rheinc) Otto von Loeben, Loreleyd) Heinrich Heine, Lore-Leye) Emanuel Geibel, Die Loreleyf) Richard Wagner, Das RheingoldVI. Undine: Nymphe und Verführerin III1. Friedrich de la Motte Fouqué, Undinea) Die Undine als Sinnbild der Liebeb) Die Undine als Sinnbild der Literatur2. Variationena) Friedrich de la Motte Fouqué, Undine. Zauber-Operb) Albert Lortzing, Undine. Romantische Zauberoperc) Jean Giraudoux, Undined) Werner Bergengruen, Undinee) Ingeborg Bachmann, Undine gehtf) Johannes Bobrowski, UndineVII. Meerjungfrau: Fischfrau und Sündenbock1. Hans Christian Andersen, Die kleine Meerjungfraua) Die Meerjungfrau als Sinnbild der Liebeb) Die Meerjungfrau als Sinnbild der Literatur2. Variationena) Bertha Pappenheim, Die Weihernixeb) Oscar Wilde, Der Fischer und seine Seelec) Jaroslav Kvapil, Rusalkad) Edward Sheldon, Der Garten des Paradiesese) Thomas Mann, Doktor Faustusf) Walt Disney, Arielle die MeerjungfrauAnhang1. Literaturverzeichnisa) Anthologienb) Ausgabenc) Darstellungen2. Abbildungsverzeichnis

Unsere Zeit aber stößt alle solche Luft- und Wassergebilde von sich, selbst die schönsten, sie verlangt wirkliche Gestalten des Lebens, und am allerwenigsten verlangt sie Nixen, die in adligen Rittern verliebt sind.

 

Heinrich Heine, Die Romantische Schule (1836)

 

 

I hit on something I believe when I wrote that I meant to be a Poet and a Poem. It may be that this is the desire of all reading women as opposed to reading men, who wish to be poets and heroes, but might see the inditing of poetry in our peaceful age, as a sufficiently heroic act. No one wishes a man to be a Poem.

 

Antonia S. Byatt, Possession (1990)

Vorwort

Hans Christian Andersen erzählt in seiner Autobiographie Meines Lebens Märchen davon, wie wichtig das Donauweibchen, eine Wiener Zauberoper von Friedrich Hensler und Ferdinand Kauer, für seine Karriere als Schriftsteller war. Es zählte zu den ersten Theaterstücken, die er als Kind in seiner Heimatstadt Odense zu sehen bekam, und er spielte es, mit einer Küchenschürze als Ritterumhang, vor dem Spiegel nach. Überhaupt steht das Donauweibchen am Anfang der romantischen Geschichten von »Nixen, die in adligen Rittern verliebt sind« (Heinrich Heine). Zwar geht es auf die Saal-Nixe, einen grandiosen Trivialroman von Goethes Schwager Christian August Vulpius zurück; doch erst der große Erfolg der Bühnenfassung gab den eigentlichen Anstoß für eine literarische Tradition, die in Friedrich de la Motte Fouqués Erzählung Undine kulminierte.

Wien verfügt also über den rechten genius loci, um dort eine Literaturgeschichte der Meerjungfrauen zu schreiben. Das Stipendium, das mir das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften im Winter 2008/09 gewährte, bot mir die großartige Gelegenheit, den Plan in die Tat umzusetzen. In Wien fand ich alles, was ich dafür brauchte. Die nötige Muße bot mir die Schreibstube über den Dächern der Stadt mit dem unvergesslichen Blick auf die Votivkirche. Die nötige Muse begegnete mir in Form des Donauweibchens, dem im Wiener Stadtpark und im Palais Ferstel prächtige Brunnen geweiht sind. Wer das Donauweibchen an seiner Seite weiß, muss sich vor ihren jüngeren und älteren Schwestern nicht scheuen: der Sirene, der Melusine, der Loreley, der Undine und natürlich auch der kleinen Meerjungfrau. Daher gilt mein erster Dank Helmut Lethen, Lutz Musner und ihrem vortrefflichen Team für die intellektuell anregende und atmosphärisch wundervolle Zeit am IFK. Herzlich danke ich auch allen Kolleginnen und Kollegen, die mich beim Schreiben dieses Buchs begleitet und mit wertvollen Hinweisen bedacht haben: Wolfgang Bunzel, Anne Chalard-Fillaudeau, Japhet Johnstone, Karl-Heinz Kohl, Markus Klammer, William Layher, Astrid Lembke, Sylvia Mieszkowski, Jeannie Moser, Michael Ott, Christian Schmitt, Peter Schnyder, Viola Shafik, Robert Seidel, Benjamin Steininger, Regina Toepfer, Juliane Vogel, Christine Vogt-Williams, Mario Wimmer, Ulrich Wyss und vielen anderen. Malte Kleinjung danke ich für seine unermüdliche Hilfe bei der Literaturrecherche. Nicht zuletzt danke ich Alexander Roesler, der die Netze des Fischer-Verlags nach diesem Buch auswarf und es vertrauensvoll an Land zog. Der Abschnitt über Goethes Fischer versteht sich als doppelter Gruß an den Verlag und an die Universität, deren Ruf ich vor sechs Jahren gefolgt bin.

 

Frankfurt am Main, im Februar 2010 Andreas Kraß

I.Sinnbilder: Liebe und Literatur

Geschichten, die von Meerjungfrauen handeln, sind Geschichten einer unmöglichen Liebe. Die Literaturwissenschaft spricht hier vom Erzählmuster der gestörten Mahrtenehe.[1] Mahrten sind Feen. Das Wort ist noch im deutschen Nachtmahr greifbar, dem Dämon, der die Menschen im nächtlichen Alptraum (engl. nightmare) heimsucht.[2] Mit gestörten Mahrtenehen sind tragisch verlaufende Verbindungen zwischen Menschen und Feen gemeint. Die Beziehungen scheitern an der Wesensdifferenz von Mensch und Fee, die nur so lange überbrückt werden kann, wie der Mann ein Tabu wahrt, das die Fee ihm gesetzt hat. Er darf ihr in bestimmten Situationen nicht zu nahe treten. Nun ist seit der Geschichte vom Sündenfall im Paradies bekannt, dass Verbote letztlich nur deshalb aufgestellt werden, damit sie gebrochen werden. Die Überschreitung geht dem Verbot immer schon voraus, sonst müsste es ja nicht aufgestellt werden. Auch die Meerjungfrauen sind den Mahrten zuzurechnen. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Lehre von den Elementargeistern, die am deutlichsten bei Paracelsus zu greifen ist, unterscheidet zwischen vier Typen von Geistern, die den Elementen zugeordnet sind. Die Geister des Wassers heißen Nymphen, die Geister der Luft Sylphen, die Geister der Erde Pygmäen und die Geister des Feuers Salamander. In diesem Gattungssystem entsprechen die Meerjungfrauen den Nymphen, den Geistern des Wassers.

Das deutsche Wort ›Meerjungfrau‹ ist zum ersten Mal in der Mitte des 14. Jahrhunderts belegt. Konrad von Megenberg, Verfasser eines Naturkundebuchs, bezeichnet Skylla – eines der Meerungeheuer, auf die Odysseus nach der Begegnung mit den Sirenen zusteuert – als meriuncfraw. Für die Sirenen benutzt Konrad hingegen das Wort ›Meerfrau‹ (merweip). Als übergeordneter Gattungsbegriff dient ihm der Ausdruck ›Meerwunder‹ (merwunder). Dieselbe Bezeichnung wählt auch Thüring von Ringoltingen für die Protagonistin seines in der Mitte des 15. Jahrhunderts verfassten Romans Melusine. Melusine ist eine Brunnenfee, die sich jeden Samstag in eine Schlangenfrau verwandelt. Das Tabu, das sie vor ihrer Hochzeit mit einem Ritter namens Reymond aufgestellt hat, besteht darin, dass er sie samstags nicht im Bad besuchen darf. Als er es dennoch tut, fliegt sie aus dem Fenster davon. Das Wort ›Meerfrau‹ ist schon in der höfischen Dichtung des 12. Jahrhunderts geläufig. Einer der frühesten und bekanntesten Belege findet sich im Nibelungenlied. Dort ist von zwei Meerfrauen (merwîp) namens Hadeburg und Sieglinde die Rede, denen Hagen an der Donau begegnet. Sie werden als schillernde Gestalten vorgestellt, die sich teils wie höfische Damen, teils wie gefährliche Nymphen gebärden.[3]

Wie Meerjungfrauen nicht nur Geister des Meeres, sondern auch der Seen, Brunnen und Flüsse sind, so umfassen sie auch hinsichtlich ihrer Anatomie ein breites Spektrum. Die Sirenen der Antike imaginierte man als Vogelfrauen, die Melusinen des Mittelalters als Schlangenfrauen und die Nymphen der Romantik als menschenförmige Frauen. Es liegt an Hans Christian Andersens Märchen, dass man sich heute unter einer Meerjungfrau ein Wesen vorstellt, dessen Leib in einem Fischschwanz endet. Andersen war nicht der Erfinder dieser Vorstellung, aber er hat sie so populär gemacht, dass sie auf die antiken und mittelalterlichen Nymphen zurückbezogen wurde. In der Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts wurden auch die Sirenen und Melusinen mit Fischschwanz dargestellt.[4] Wie das Wort reicht auch die bildliche Vorstellung der geschwänzten Meerjungfrau weit ins Mittelalter zurück. Seit dem 13. Jahrhundert sind in Tierbüchern, sogenannten Bestiarien, Darstellungen von Meerjungfrauen mit nacktem Oberkörper und blauem Fischschwanz allgegenwärtig.[5]

Wer eine Literaturgeschichte der Meerjungfrauen schreibt, muss sich beschränken, denn die Zahl der einschlägigen Dichtungen ist uferlos. Die Eingrenzung erfolgt mit Hilfe einer differenzierten Typologie,[6] die sich an den Kriterien der Epoche (Antike, Mittelalter, Romantik, Moderne), des Namens (Sirene, Melusine, Donauweibchen, Loreley, Undine), der Anatomie (Vogel, Schlange, Fisch) und der dominierenden Handlungsrolle (Verderberin, Gebärerin, Verführerin) orientiert. Jedem dieser Typen ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Zunächst wird jeweils derjenige Text besprochen, der die literaturgeschichtliche Tradition der betreffenden Typen eröffnet. Zu nennen sind im Falle der Sirenen Homers Odyssee; im Falle der Melusine der gleichnamige Roman Thürings von Ringoltingen mit seinen französischen Vorläufern Couldrette und Jean d’Arras; im Falle des Donauweibchens (aus Gründen, die noch darzulegen sind) Christian August Vulpius’ Roman Die Saal-Nixe; im Falle der Loreley Clemens Brentanos Ballade Zu Bacharach am Rheine; im Falle der Undine Friedrich de la Motte Fouqués gleichnamige Erzählung und im Falle der kleinen Meerjungfrau Andersens gleichnamiges Märchen. Auf die Analyse der Haupttexte folgt jeweils die Untersuchung von sechs Variationen, anhand derer sich die literaturgeschichtlichen Wandlungen nachzeichnen lassen. Die Metamorphosen reichen jeweils bis in die Moderne hinein. Von der Sirene ist nicht nur bei Homer die Rede, sondern auch bei Kafka; von der Melusine nicht nur bei Thüring, sondern auch bei Fontane; von der Undine nicht nur bei Fouqué, sondern auch bei Bachmann; von der kleinen Meerjungfrau nicht nur bei Andersen, sondern auch bei Thomas Mann. So schreitet das Buch in doppelter Weise durch die Epochen der Literaturgeschichte: einerseits kapitelübergreifend von Homers Sirene bis zu Andersens Meerjungfrau, andererseits innerhalb der Kapitel vom jeweiligen Haupttext bis hin zu den modernen Fassungen. Dass jeweils nur sechs Variationen besprochen werden, ist eine Entscheidung, die dem begrenzten Umfang des Buches geschuldet ist; die Liste ließe sich jeweils beliebig verlängern.

Die Studie erfordert eine komparatistische Perspektive, da die einschlägigen Gründungstexte der Antike, des Mittelalters, der Romantik und der Moderne aus verschiedenen Sprachen und Ländern stammen: die Sirene aus Griechenland, die Melusine aus Frankreich, die romantischen Nymphen aus Deutschland und die kleine Meerjungfrau aus Dänemark. Im Kapitel zur kleinen Meerjungfrau tritt der komparatistische Aspekt am stärksten hervor; hier kommen dänische (Andersen), deutsche (Pappenheim, Mann), englische (Wilde) und amerikanische (Sheldon) Autorinnen und Autoren zum Zuge. Die österreichische Literatur ist in Henslers Donauweibchen, Grillparzers Melusina und Bachmanns Prosa Undine geht vertreten, die französische Literatur in Montaignes Essay Über die Freundschaft und Giraudoux’ Drama Undine, die italienische Literatur in Dantes Göttlicher Komödie, die griechische Literatur in Homers Odyssee und die lateinische Literatur in Horaz’ Dichtkunst und Ovids Metamorphosen. Die kanonische Dominanz männlicher Schriftsteller betrifft auch die Literaturgeschichte der Meerjungfrau. Nur zwei der in diesem Buch behandelten Texte stammen von Autorinnen, diese haben aber jeweils epochalen Rang: Bertha Pappenheims Märchen Die Weihernixe für die Geschichte der Psychoanalyse und Ingeborg Bachmanns Prosa Undine geht für die Geschichte des Feminismus. Auch die Literatur homosexueller Autoren kommt ausdrücklich zur Sprache – nicht, weil der Verfasser dieses Buches großen Wert darauf legte, sie als solche zu identifizieren, sondern weil es eine prominente germanistische Deutungstradition gibt, die vom literarischen Motiv der Meerjungfrau auf die sexuelle Präferenz des Autors schließt (Hans Mayer, Heinrich Detering und Michael Mahr in ihren Studien über Hans Christian Andersen und Thomas Mann). Die ausgewählte Literatur umfasst nicht nur Romane, Novellen und Gedichte, sondern auch Opernlibrettos und Filmskripts. Diese werden als literarische Texte eigenen Rechts behandelt. Wenn Opern zur Sprache kommen, so steht nicht der Komponist, sondern der Librettist im Mittelpunkt. Dies betrifft in chronologischer Reihenfolge Henslers Donauweibchen (Kauer), Fouqués Undine (Hoffmann), Grillparzers Melusina (Kreutzer), Lortzings Undine (Lortzing), Geibels Loreley (Bruch), Wagners Rheingold (Wagner) und Kvapils Rusalka (Dvořák).

Dieses Buch befragt die Meerjungfrau als Sinnbild der Liebe. Die Wesensdifferenz von Mensch und Fee ist letztlich eine metonymische Verschiebung, sie steht für die imaginierte Wesensdifferenz von Mann und Frau. Die Meerjungfrau repräsentiert ein männliches Phantasma des Weiblichen, das die Frau als Fee überhöht. Insofern versteht sich die vorliegende Untersuchung nicht nur als Beitrag zur Literaturgeschichte, sondern auch zur Geschlechtergeschichte.[7] Die epochalen Wandlungen des Motivs der Meerjungfrau verweisen auf kulturgeschichtliche Wandlungen der Bilder und Vorstellungen, die man sich von der Frau und vom Begehren zwischen Mann und Frau machte und immer noch macht. Es sind Bilder und Vorstellungen, die immer irritierender, immer unmöglicher werden, je länger man sie betrachtet. Um den Blick zu schärfen, empfiehlt es sich, ihre epochalen Ausprägungen jeweils mit einer bewährten kulturtheoretischen Sehhilfe zu betrachten. So lässt sich der antike Sirenenmythos mit einem Kapitel aus Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung erschließen. Nach ihrer Lesart thematisiert Homer am Beispiel des Odysseus die Selbstbehauptung des bürgerlichen Subjekts gegen die Verlockung des mythischen Denkens. Den mittelalterlichen Mythos der Melusine erhellt Luce Irigaray in ihrem Essay Göttliche Frauen. Sie weist am Beispiel der Schlangenfrau auf die Ambivalenzen der traditionellen Gleichsetzung von Weiblichkeit und Körperlichkeit hin. Der romantische Mythos der Nymphe in ihren Erscheinungsformen als Undine, Loreley und Donauweibchen wird verständlicher, wenn man Niklas Luhmanns Studie Liebe als Passion gelesen hat. Denn das Problem der Vereinbarkeit von passionierter Liebe und bürgerlicher Ehe, das Luhmann diskursgeschichtlich rekonstruiert, bildet sich im heillosen Begehren des Mannes ab, der zwischen Nymphe und Braut wählen muss. Der moderne Mythos der Meerjungfrau lässt sich mit René Girards Abhandlung Der Sündenbock analysieren. An Andersens Märchen und seinen Bearbeitungen werden die Mechanismen, mit denen Frauen zur Stabilisierung der patriarchalen Ordnung geopfert werden, eindrucksvoll sichtbar.

Die Meerjungfrau ist in ihren historischen Spielarten stets ein Geschöpf der Phantasie. Dies prädestiniert sie dazu, den Ursprung der poetischen Literatur in der Einbildungskraft des Dichters zu symbolisieren. Die Sirenen wurden mit den Musen verglichen. Das Geheimnis der Melusine provoziert hermeneutische Akte. Die romantischen Nymphen sind stets auch Allegorien der romantischen Poesie. Und Andersens kleine Meerjungfrau weist mit dem Verlust ihrer Zunge auf den Sprachverlust einer Figur hin, die aus der Welt des Märchens in das Leben der Menschen eintreten will. So sind Meerjungfrauen nicht nur Sinnbilder der Liebe, sondern immer auch Sinnbilder der Literatur.

Die vorliegende Studie ist nicht die erste, die sich an einer Literaturgeschichte der Meerjungfrauen versucht. Unter den einschlägigen Monographien und Sammelbänden der letzten zwanzig Jahre sind folgende hervorzuheben: Matthias Vogel, »Melusine ... das lässt aber tief blicken«. Studien zur Gestalt der Wasserfrau in dichterischen und künstlerischen Zeugnissen des 19. Jahrhunderts (1989); Theresia Klugsberger, Verfahren im Text. Meerjungfrauen in literarischen Versionen und mythischen Konstruktionen von H. C. Andersen, H. C. Artmann, K. Bayer, C. M. Wieland, O. Wilde (1989); Anna Maria Stuby, Liebe, Tod und Wasserfrau. Mythen des Weiblichen in der Literatur (1992); Irmgard Roebling (Hg.), Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien (1992); Peter Lentwojt: Die Loreley in ihrer Landschaft. Romantische Dichtungsallegorie und Klischee (1998); Beate Otto, Unterwasser-Literatur. Von Wasserfrauen und Wassermännern (2001); Monika Schmitz-Emans, Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelungen innerer und äußerer Fremde (2003); Helena Malzew, Menschenmann und Wasserfrau. Ihre Beziehung in der Literatur der deutschen Romantik (2004); Renate Böschenstein, Verborgene Facetten. Studien zu Fontane (2006); Claudia Steinkämper, Melusine – vom Schlangenweib zur »Beauté mit dem Fischschwanz«. Geschichte einer literarischen Aneignung (2007). Als hilfreich haben sich ferner zwei Anthologien erwiesen, die zahlreiche einschlägige Quellentexte versammeln: Werner Wunderlich (Hg.), Mythos Sirenen. Texte von Homer bis Dieter Wellershoff (2007) und Frank R. Max (Hg.), Undinenzauber. Geschichten und Gedichte von Nixen, Nymphen und anderen Wasserfrauen (22009). Dass dem Dutzend dieser Studien und Anthologien ein weiteres Buch hinzugefügt wird, hat zwei thematische Gründe. Zum einen bietet es erstmals eine literaturgeschichtliche Typologie der Meerjungfrauen, die alle Epochen und Literaturen übergreift; zum anderen unternimmt es erstmals den Versuch, die Literaturgeschichte der Meerjungfrauen als Kulturgeschichte der Geschlechterbeziehungen und zugleich als Geschichte der poetologischen Selbstreflexion zu lesen.

1.Die Meerjungfrau als Sinnbild der Liebe

Zunächst sollen einige Schlaglichter vorausgeschickt werden, die den thematischen Rahmen der Untersuchung erhellen. Inwiefern es sich bei Meerjungfrauen um Sinnbilder der Liebe handelt, lässt sich beispielhaft an einem Bild von Herbert James Draper, einer Ballade von Johann Wolfgang von Goethe und einer Abhandlung von Sigmund Freud illustrieren. Die Bedeutung der Meerjungfrau als Sinnbild der Literatur lässt sich mit Hilfe einer poetologischen Abhandlung von Horaz, eines Essays von Montaigne und wiederum einer Ballade von Goethe beleuchten.

a)Herbert James Draper, Odysseus und die Sirenen

Herbert James Draper, ein heute weithin vergessener Künstler, schuf im Jahr 1909 das großartige Gemälde Odysseus und die Sirenen (Ulysses and the Sirens), das den antiken Mythos im neuromantischen Licht des Viktorianischen Zeitalters interpretiert. Der Maler blickt gewissermaßen durch Andersens Brille auf den Mythos der Sirenen. Diese Verschiebung lässt sich schon daran erkennen, dass Draper die Sirenen nicht, wie in der Antike üblich, als Vogelfrauen, sondern als Meerjungfrauen darstellt, deren Fischschwänze sich in menschliche Beine verwandeln. Die geöffneten Münder der Sirenen verweisen auf den Gesang, mit dem sie Odysseus und seine Gefährten zu verführen suchen. Die Schönheit ihrer Lieder spiegelt sich in der Wohlgestalt ihrer Leiber. Sie erscheinen als junge, schöne Frauen mit nackten Brüsten. Ihre Verführungskünste sind nicht nur ästhetischer, sondern auch erotischer Art. Während die Sirenen, die allesamt in der rechten Bildhälfte angesiedelt sind, nach links blicken, wenden die Männer, die sich in der linken Bildhälfte befinden, ihr Gesicht nach rechts. Der Dreizahl der Sirenen sind sieben Männer zugeordnet. In ihrer Mitte steht aufrecht am Mast Odysseus; um ihn herum sitzen fünf Gefährten am Ruder und ein sechster zieht eine Fessel um seinen Bauch.

Abb.1: Herbert James Draper, Odysseus und die Sirenen (1909)

Die Männer sind braungebrannt und werden vom Schatten des Segels bedeckt, während die weißen Körper der Sirenen im Tageslicht erstrahlen. Mit diesen Mitteln inszeniert Draper die Differenz der Geschlechter. Sie gruppieren sich in getrennten Feldern des Bildes, unterscheiden sich auch durch Licht und Schatten, sind aber durch die Haltung ihrer Körper und Gesichter einander zugewandt. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Männer im Boot sitzen, während die Frauen, aus dem Wasser kommend, das Boot entern. Die Männer halten sich am Boot fest: Odysseus am Mast, die Gefährten am Ruder. Auch die emporstrebenden Frauen suchen Halt am Boot. Die untere Sirene umfasst mit der Linken ein Ruder und legt ihre Rechte auf den Bootsrand. Die mittlere Sirene hat bereits das Boot erklommen; sie stützt sich mit der Linken auf den Bootsrand und erfasst mit der Rechten einen Haltegriff. Die obere Sirene schwingt sich mit beiden Händen am Tau hinauf, das das Segel mit der Vorderseite des Bootes verbindet. So verweisen sie auf die drei Ebenen, in die sich das Bild unterteilt: die untere Ebene des Wassers, die mittlere Ebene des Bootes und die obere Ebene der Luft. Die Sirene, deren Unterleib noch vom Wasser umgeben ist, verfügt über einen Fischschwanz. Den Unterleib der Sirene, die sich am weitesten emporgezogen hat, umhüllt ein wehender Schleier, dessen Transparenz, Farbe und Bewegung auf das Element der Luft verweist. Das Bild legt nahe, dass die Sirenen ihre Fischgestalt in dem Moment verlieren, wenn sie das Wasser verlassen und das Boot betreten. Im Element des Wassers sind sie noch fischförmig; in der Sphäre der Menschen, die hier durch das Boot symbolisiert wird, werden sie selbst zu menschenförmigen Wesen. Draper verweist mit der Zuordnung der drei Sirenen zum Wasser, zum Boot und zur Luft auf die Metamorphosen, die Andersens Meerjungfrau durchläuft. Sie ist zunächst eine Tochter des Meeres, die sich durch einen Fischschwanz auszeichnet, verwandelt sich dann in ein menschenförmiges Wesen, das über Beine verfügt, und steigt schließlich als Tochter der Luft in den Himmel auf. Diese drei Zustände, die an die Elemente des Wassers, der Erde und der Luft gebunden sind, stehen in engem Zusammenhang mit der Lehre von den Elementargeistern, die in der Romantik umfassend rezipiert wurde. Alle romantischen Zugriffe auf das Motiv der Meerjungfrauen beziehen sich auf Paracelsus, der in seinem Buch über die Elementargeister zwischen den Geistern des Wassers, der Luft, der Erde und des Feuers unterscheidet. Die untere Sirene verweist auf die Wassergeister, die er als Nymphen, die obere auf die Luftgeister, die er als Sylphen bezeichnet. Die drei Sirenen korrespondieren mit drei Bereichen des Bootes, das somit seinerseits zu einem Symbol der Elemente wird: der Schiffsrumpf befindet sich unter Wasser, der Schiffsboden ersetzt das fehlende Land, und das Segel nimmt die Kraft des Windes auf.

Das Szenario ist, anders als bei Homer, in hohem Maße erotisiert. Die Begegnung zwischen Odysseus und den Sirenen erscheint hier als Allegorie romantisch geprägter Geschlechterverhältnisse. Die Frau wird als Verführerin vorgestellt, die sich des Mannes zu bemächtigen versucht. Das Weibliche wird dem bedrohlichen Element des Wassers zugeordnet, das das Boot von allen Seiten umgibt. Zwischen Boot und Himmel schiebt sich eine wogende Wasserschicht, was nicht nur mit dem erhöhten Blickwinkel des Betrachters, sondern auch mit dem hohen Wellengang des Meeres zu tun hat. Das aufgewühlte Meer ist ein Symbol für das Begehren, das die Männer angesichts der verführerischen Frauen in Erregung versetzt. Das Verführerische und Bedrohliche der Frau wird im romantischen Bild der Nymphe imaginiert, die den Mann von seiner heimischen Ehefrau zu entfremden sucht. Odysseus ist ja (was Draper auf seinem Bild nicht zeigen kann) auf dem Heimweg zu Penelope, die sich ihrerseits den Verlockungen der Freier widersetzt. Vielleicht darf man noch einen Schritt weiter gehen und mit psychoanalytisch geschultem Blick in den Ruderstangen, die durch die Löcher der Bootswand ins Meer stoßen, phallische Symbole sehen. Dann wäre der Griff der unteren Sirene nach dem Ruder eine Attacke, die den Mann nicht nur im Zentrum seiner sexuellen Potenz, sondern auch im Mittelpunkt seines Machtanspruchs anrührt. Es ist eben diese Ruderstange, die den Blick des Betrachters in das Bild hineinführt, weil sie es sowohl in der Vertikalen (aus der unteren Bildmitte aufragend) als auch in der Horizontalen (in das Innere des Bildes hineinstoßend) erschließt. Das betreffende Ruder wird von zwei Seiten geführt; oberhalb umschließen es die kraftvollen Hände des Ruderers, unterhalb die sanfte Hand der Sirene. Die Blicke der Männer spiegeln die Gefahr, die sie in den Frauen sehen. Der vordere Ruderer blickt auf die Sirenen, der hintere auf Odysseus, dieser wiederum wie vom Wahnsinn erfasst in die Ferne.

b)Johann Wolfgang von Goethe, Der Fischer

Goethes Ballade Der Fischer erschien 1778, anderthalb Jahrzehnte, bevor die Welle der romantischen Begeisterung für die Figur der Nymphe einsetzte.[8] Das Gedicht handelt von der verhängnisvollen Begegnung zwischen einem Fischer und einem »feuchte[n] Weib«, das ihn ins Wasser zieht:

Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,

Ein Fischer saß daran,

Sah nach dem Angel ruhevoll,

Kühl bis ans Herz hinan.

Und wie er sitzt, und wie er lauscht,

Teilt sich die Flut empor;

Aus dem bewegten Wasser rauscht

Ein feuchtes Weib hervor.

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:

»Was lockst du meine Brut

Mit Menschenwitz und Menschenlist

Hinauf in Todesglut?

Ach wüßtest du, wie’s Fischlein ist

So wohlig auf dem Grund,

Du stiegst herunter, wie du bist,

Und würdest erst gesund.

Labt sich die liebe Sonne nicht,

Der Mond sich nicht im Meer?

Kehrt wellenatmend ihr Gesicht

Nicht doppelt schöner her?

Lockt dich der tiefe Himmel nicht,

Das feuchtverklärte Blau?

Lockt dich dein eigen Angesicht

Nicht her in ew’gen Tau?«

Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,

Netzt’ ihm den nackten Fuß;

Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll

Wie bei der Liebsten Gruß.

Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;

Da war’s um ihn geschehn:

Halb zog sie ihn, halb sank er hin,

Und ward nicht mehr gesehn.

Goethe hat jeglichen Tiefsinn dieser Ballade ausdrücklich dementiert. In einem Gespräch mit Eckermann, das er am 3. November 1823 führte, äußert er sich zum Verhältnis von Literatur und Malerei und kommt dabei auf den Fischer zu sprechen:

Die wenigsten Künstler [...] sind über diesen Punkt im klaren und wissen, was zu ihrem Frieden dient. Da malen sie z.B. meinen ›Fischer‹ und bedenken nicht, daß sich das gar nicht malen lasse. Es ist ja in dieser Ballade bloß das Gefühl des Wassers ausgedrückt, das Anmutige, was uns im Sommer lockt, uns zu baden; weiter liegt nichts darin, und wie läßt sich das malen![9]

Diese Äußerung ist, wie die folgende Analyse zeigt, nicht ganz ernst zu nehmen. Die Ballade handelt nicht nur von sommerlicher Badelust, sondern vom Begehren des Mannes nach der Frau. Die Ballade gibt sich als volksliedhaftes Gedicht. Jede der vier Strophen umfasst acht kreuzgereimte Zeilen. Vier- und dreihebige Verse wechseln einander ab. Die Reime sind zum Teil unrein: ihm reimt sich in der zweiten Strophe auf Menschenlist, in der vierten Strophe auf hin. Hinzu kommen weitere Unregelmäßigkeiten. In der zweiten Strophe reimt sich Menschenlist auf die vierhebigen Verse der zweiten Strophenhälfte. Die dritte Strophe verwendet ein Wortpaar doppelt: nicht/Gesicht heißt es in der ersten Strophenhälfte, nicht/Angesicht in der zweiten. Die scheinbare Schlichtheit und Unregelmäßigkeit des Strophenbaus erweist sich als ästhetische Raffinesse. Die Volksliedstrophe, die Goethe verwendet, ist aus der mittelalterlichen Langzeilenstrophe abgeleitet, wie man sie aus der Prologstrophe des Nibelungenliedes kennt:

Uns ist in alten mæren wunders vil geseit

von helden lobebæren, von grôzer arebeit,

von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,

von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.

Die Strophe umfasst vier paargereimte Langverse, die sich jeweils in zwei vierhebige Kurzverse teilen. Die Kurzverse sind durch Binnenzäsur voneinander getrennt. Im Abvers sind nur drei Hebungen durchgeführt, die vierte Hebung ist pausiert. In der elaborierteren Form der Langzeilenstrophe, wie sie in der zitierten Strophe vorliegt, sind auch die Anverse gereimt. Diesem Prinzip folgt Goethe in seiner Ballade. Dies wird deutlicher, wenn man die betreffenden Verse nicht unter-, sondern nebeneinander setzt:

Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, ein Fischer saß daran,

sah nach dem Angel ruhevoll, kühl bis ans Herz hinan.

Und wie er sitzt, und wie er lauscht, teilt sich die Flut empor,

aus dem bewegten Wasser rauscht ein feuchtes Weib hervor.

Im Unterschied zur Nibelungenstrophe lässt Goethe die Anverse regelmäßig mit einer betonten statt einer unbetonten Silbe enden und gestaltet auch die letzten Abverse drei- statt vierhebig. Auf diese Weise erzielt er jenen beständigen Wechsel von Hebung und Senkung über die Vers- und Strophengrenzen hinweg, der das Auf und Ab der Wellen, das Hin und Her des Wassers lautmalerisch umsetzt. Auch die unreinen Reime sind nicht ohne Bedacht gewählt. Einerseits imitieren sie die Unregelmäßigkeiten, die für die frühe deutsche Lieddichtung charakteristisch sind; andererseits werden sie semantisch produktiv gemacht. Dass gerade das Wort ihm keine richtigen Reimpartner hat, verweist auf die Isolation des Fischers, der allein am Ufer sitzt; die Wiederholung des Wortpaars in der dritten Strophe betont das narzisstische Motiv des Fischers, der sich im Wasser bespiegelt (Gesicht/Angesicht) und dabei selbst verliert (nicht/nicht). Weitere Elemente, die der Inszenierung eines altertümlichen Tons dienen, kommen hinzu. Der Ausdruck »singen und sagen«, der im ersten Vers der zweiten Strophe anklingt (»Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm«), ist mittelalterlicher Herkunft; er bezeichnet formelhaft die Darbietung von Dichtung, aber auch den Akt des Dichtens selbst.[10] Damit wird das feuchte Weib der Ballade als Künstlerin ausgewiesen und in die Nähe der Sirenen gerückt, die ja ihrerseits den Mann mit Liedern betören. Auch die vielfache Aufgliederung der Verse in zwei parallele Hälften hat in der Langzeilenstrophe ihr Vorbild. So heißt es beispielsweise im dritten Vers der Prologstrophe des Nibelungenliedes: von weinen und von klagen. Derartige Paarformeln häufen sich in Goethes Ballade: »Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll« (1,1), »Und wie er sitzt, und wie er lauscht« (1,5), »Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm« (2,1), »Mit Menschenwitz und Menschenglut« (2,3), »Halb zog sie ihn, halb sank er hin« (4,7). Die Parallelismen erzeugen einen beschwörenden Ton. Und wenn die Schlussstrophe der Ballade die Anfangsverse der ersten (4,1: »Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll«) und zweiten Strophe (4,5: »Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm«) wiederholt und dabei den Anfangsvers der zweiten Strophe umkehrt, so inszeniert sie nicht nur die narzisstische Spiegelung im Wasser, sondern auch die fatale Umarmung der Meerjungfrau.

Vergleicht man Goethes Ballade mit Drapers Gemälde, so zeichnen sich zwei Parallelen ab: zum einen die Umformung der Sirene von einer Vogel- in eine Fischfrau, zum anderen die erotische Zuspitzung des Szenarios. Draper präsentiert die erste Sirene als junge Frau mit Fischschwanz, die zweite und dritte Sirene hingegen als menschenförmige Jungfrauen. Das Motiv der Vogelfrau ist noch im flatternden Gewand und in der aufsteigenden Bewegung der dritten Sirene fassbar. Goethe gibt keine Auskunft über die Anatomie des »feuchten Weibes«, lässt sie aber von den »Fischlein« (2,5) als ihrer »Brut« (2,2) sprechen. Auf diese Weise wird sie selbst in die Nähe der Fische gerückt. Von einem Fischschwanz, an dem der Fischer Anstoß nehmen müsste, sobald er sich der Verlockung des Weibes hingäbe, ist jedoch keine Rede. Das charakteristische Problem, das Goethe umgeht – wie kann man eine Meerjungfrau lieben, wenn sie einen fischförmigen Unterleib hat? –, löst Draper durch die Suggestion, dass sich der Fischschwanz in menschliche Beine verwandelt, sobald die Sirenen das Meer verlassen. Auch Goethes Wasserfrau lebt im Meer, wie sie selbst sagt: »Labt sich die liebe Sonne nicht, / Der Mond sich nicht im Meer?« (3,1f.). Ebenso soll der Fischer zu ihr ins Meer herabsteigen, um sich an ihm – und ihr – zu laben.

Ob sie nun über einen Fischschwanz verfügen oder nicht: Meerjungfrauen sind hybride Wesen, die sich den Männern zwar als Frauen nähern, jedoch der Welt des Wassers entstammen. Insofern handelt es sich bei der Verbindung, die Mensch und Meerjungfrau miteinander eingehen, um eine Mesalliance. Diese ist für den Fischer bedrohlich. Wenn er dem Lockruf der Meerjungfrau folgt, muss er ins Wasser hinab und somit in ein Element, das nicht das seine ist. Dort erwartet ihn der Tod. Er versinkt, ertrinkt und »ward nicht mehr gesehn« (4,8). Sein Untergang ist die Strafe dafür, dass er seinerseits den Fischen den Tod bringt: »Was lockst du meine Brut / [...] / Hinauf in Todesglut?« (2,2.4). Es handelt sich um eine Spiegelstrafe. Wie der Fischer die Fische aus dem Wasser an Land zieht und in der Sonnenhitze ersticken und vertrocknen lässt, so zieht ihn das feuchte Weib vom Land ins Wasser und lässt ihn ertrinken. Wie der Fischer seine Beute mit dem Wurm am Angelhaken lockt, so angelt die Meerjungfrau den Fischer mit dem Versprechen, dass das Leben unter Wasser schöner und wohliger sei als auf der Erde. Wüsste er es, so verspricht sie ihm, dann »stiegst [du] herunter, wie du bist, / Und würdest erst gesund« (2,7f.). In Wahrheit bringt die Grenzüberschreitung in das fremde Element den Tod. Der Fischer braucht die Luft zum Atmen wie die Fische das Wasser. Dass er dennoch ins Wasser hinabsteigt, hat nicht nur mit dem Glücksversprechen der Meerjungfrau zu tun, sondern auch mit dem Begehren, das den Fischer nach ihr erfasst. Das schwellende Wasser symbolisiert das aufwallende Begehren des Fischers. Bevor die Meerjungfrau in Erscheinung tritt, sitzt er ruhevoll mit kühlem Herzen am Ufer des Flusses. Als sie aus der Flut emporsteigt und seinen Fuß netzt, sinkt er sehnsuchtsvoll in die Tiefe. Das sirenenhafte Lied der Meerjungfrau, das die mittleren Strophen umfasst, erzeugt einen Sog und Schwindel, indem es die Wahrnehmung des Fischers verdoppelt. Der Spiegeleffekt des Wassers gaukelt ihm vor, Sonne und Mond kehrten auf der Oberfläche des Flusses wieder und die blaue Tiefe des Wassers sei ein zweiter Himmel. Blickte der Fischer anfangs nach der Angel, lenkt die Meerjungfrau seinen Blick nun auf das eigene Spiegelbild: »Lockt dich dein eigen Angesicht / Nicht her in ew’gen Tau?« Der Fischer gerät in die verhängnisvolle Lage des Narziss, der an der Fixierung auf das eigene Spiegelbild zugrunde geht.

Die erotische Dimension der Verlockung wird nicht nur durch die Symbolik des anschwellenden Wassers und die gegenläufige Bewegung des Ziehens und Sinkens, sondern auch durch den Vergleich der Meerjungfrau mit der Liebsten des Fischers hervorgerufen: »Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll, / Wie bei der Liebsten Gruß« (4,3f.). Unklar bleibt, ob es die Liebste tatsächlich gibt, ob also der Gruß der Meerjungfrau den Fischer an eine daheim zurückgelassene Geliebte erinnert. Oder ist der Vergleich irreal gemeint, und der Fischer gehorcht dem Gruß der Meerjungfrau, als wenn sie seine Liebste wäre? So oder so deutet sich eine trianguläre Konstellation an, die den Fischer, seine Liebste und die Meerjungfrau umfasst. Somit konkurrieren zwei Formen der Liebe miteinander: die mögliche Liebe an Land mit der Liebsten und die unmögliche Liebe im Wasser mit der Meerjungfrau. Die dritte Form der Liebe, die der ersten und zweiten zugrunde liegt, ist der Narzissmus, die Fixierung des Fischers auf sein eigenes Spiegelbild. Dies ist die liebespsychologische Pointe der Ballade, dass das Ziel des Begehrens offenbleibt. Es vermischen sich die Liebe nach der Liebsten, die Sehnsucht nach der Meerjungfrau und die Befangenheit des Fischers in sich selbst.

c)Sigmund Freud, Das Motiv der Kästchenwahl

Meerjungfrauen treten häufig in der Mehrzahl auf, und oftmals sind sie Schwestern.[11] Dies gilt für die Sirenen der Antike, die Melusinen des Mittelalters und die Nymphen der Romantik in gleicher Weise. Homer spricht von zwei Sirenen, häufiger sind es drei. Bei Hesiod tragen sie die Namen Thelxiepeia, Aglaope und Peisinoe. Bei Timaios heißen sie Parthenope, Leukosia und Ligeia. Häufig werden sie väterlicherseits auf den Flussgott Arecheloos zurückgeführt, mütterlicherseits auf die Musen.

Abb.2: Odysseus und die Sirenen (um 480–470 v.Chr.)

Ein griechisches Vasenbild des 5. Jahrhunderts vor Christus zeigt, wie Odysseus und seine Gefährten von drei Vogelfrauen bedroht werden. Die erste sitzt mit geschlossenem Gefieder auf einem Felsen, die zweite öffnet gerade ihre Flügel, die dritte stürzt sich auf das Schiff herab. Auch Draper zeigt die drei Sirenen im Bewegungsablauf. Die Rothaarige zieht sich am Ruder hoch, die Brünette erklimmt das Deck, die Blonde schwingt sich am Tau empor. Wie die Sirenen erscheinen auch die mittelalterlichen Meerjungfrauen in der Mehrzahl. Im Nibelungenlied treten zwei Nymphen namens Sieglinde und Hadeburg auf. Thüring von Ringoltingen erzählt in seiner Melusine (1456), wie Reymund, der männliche Romanheld, in großer Not an einem Brunnen auf drei schöne Jungfrauen trifft:

REÿmond kam in diser grossen klag zů einem brunnen genant der turst brunn / beÿ dem selben brunne stůnden gar dreÿ schœn junckfrauwen hochgeboren von adelicher gestalt / die er nun von leÿd vnd iamer gancz hett übersehen vnd ir nit acht gehebt hett Vnder den die schœnste vnd die jüngst zů jm gieng [...]. Da Reýmond die schon junckfraw ersach erschrack er / vnd west nit ob er lebendig oder tod was / oder ob das ein gespenst oder fraw wær [...].[12]

Der Erstdruck des Romans (Augsburg 1474) zeigt auf dem zugehörigen Holzschnitt in der linken Bildhälfte den Ritter auf seinem Pferd und in der rechten Bildhälfte die drei Damen hinter einem fließenden Brunnen. Der Holzschnitt deutet die nicht näher bestimmte Dreizahl in der Weise, dass Melusine gemeinsam mit zwei Hofdamen auftritt. Der Roman hingegen scheint eher Melusine und ihre beiden Schwestern zu meinen.[13] Der Zusammenhang klärt sich gegen Ende des Romans auf. Melusines Mutter, die Fee Persina, teilt auf einer Gedenktafel mit, dass ihre Töchter Drillinge sind: »desselben iars gewan ich einer gepurdt dreÿ tœchter / die alle schœn vnd wol gestalt gewesen sein«.[14] Melusine ist »die iüngste vnder den tochtern«, Meliora die mittlere, Palentina »die elteste«.[15] Allein Melusine wird dem Brunnen und somit dem Element des Wassers zugeordnet, doch auch ihre Mutter und Schwestern werden als Meerfeen (merfeÿin) oder, in einem anderen Textzeugen, als Meerfrauen (mer frowe) bezeichnet.[16] Auch in der romantischen Literatur erscheinen die Nymphen zu dritt. So schon im Roman Die Saal-Nixe (1795), der von Goethes Schwager Christian August Vulpius verfasst wurde und am Anfang einer langen Serie romantischer Geschichten über Flussnymphen steht. Vulpius spricht, vermutlich in Kenntnis der Melusine, von drei Schwestern: der Saal-Nixe Hulda, der Ilm-Nixe Erlinde und der Hard-Nixe Garlante. Ihre Mutter ist die Nixe der Elbe. Die Namen zielen auf literarische Orte der Klassik. Die Saale, ein Nebenfluss der Elbe, verweist auf Jena; die Ilm, ein Nebenfluss der Saale, auf Weimar. Clemens Brentano löst sich in den Märchen vom Rhein (1810/12) von der Dreizahl. Zu den Geschwistern der Nymphe Lureley, einer Tochter der Phantasie, zählen Echo, Reim und Akkord. Friedrich Grillparzer, der 1823 ein Drama mit dem Titel Melusina verfasste, hält an der Dreiheit der Schwestern fest, bei ihm heißen sie Melusina, Meliora und Plantina. Hans Christian Andersens Märchen (1836) verdoppelt die Dreizahl, die kleine Meerjungfrau ist die jüngste von sechs Schwestern. Edward Sheldon reduziert in seinem Stück Der Garten des Paradieses (1914), einer Bühnenfassung von Andersens Märchen, die Zahl der Schwestern wieder auf drei: Thora, Lona und Swanhild.

Abb.3: Reymund trifft Melusine am Brunnen (Erstdruck Augsburg 1474)

Welche Schlüsse sind aus der schwesterlichen Dreifaltigkeit der Meerjungfrauen zu ziehen? Diese Frage stellt sich vor allem bei den vormodernen Texten. Dass es Vulpius um literarische Landschaften, Brentano um eine Allegorie der Dichtung und Andersen um die Hervorhebung der Heldin geht, liegt auf der Hand. Aber wie verhält es sich mit den Sirenen der Antike sowie mit der mittelalterlichen Melusine und ihren Schwestern? Einen Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage bietet Sigmund Freud in seinem Aufsatz Das Motiv der Kästchenwahl (1913). Freud beobachtet, dass es viele literarische Beispiele für das märchenhafte Motiv der Wahl zwischen drei Kästchen oder drei Frauen gibt. Mit psychoanalytischem Blick zögert er nicht lange, die Kästchen als weibliches Symbol zu lesen: »Wenn wir es mit einem Traum zu tun hätten, würden wir sofort daran denken, daß die Kästchen auch Frauen sind, Symbole des Wesentlichen an der Frau und darum der Frau selbst, wie Büchsen, Dosen, Schachteln, Körbe usw.«[17] Ein Beispiel für die Gleichsetzung von Kästchen und Frau bietet Goethes Novelle Die neue Melusine. Die Fee vertraut dem männlichen Helden ein Kästchen an, das sich als ›Frauenzimmer‹ im wörtlichen Sinn entpuppt. Freud selbst hatte das Bildnis seiner Verlobten Martha Bernays in einem Kästchen aufbewahrt und in einem seiner Liebesbriefe den Vergleich mit Goethes Neuer Melusine gezogen.[18] Das Motiv der Wahl zwischen drei Frauen zeichnet sich nach Freud dadurch aus, dass in der Regel »die jüngste die beste, die vorzüglichste ist«.[19] Freud entwickelt seine Deutung anhand von Shakespeares Drama König Lear. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Lears jüngste Tochter Cordelia, eine Verkörperung des blühenden Lebens, in Wahrheit den Tod symbolisiere. Freud sieht hier einen geläufigen Mechanismus der symbolischen Substitution am Werke: »Widersprüche von einer gewissen Art, Ersetzungen durch das volle kontradiktorische Gegenteil bereiten der analytischen Deutungsarbeit keine ernste Schwierigkeit.«[20] Shakespeare habe eine »Wunschverkehrung« dargestellt, wie sie für Träume typisch sei: »Die dritte der Schwestern ist nicht mehr der Tod, sie ist die schönste, beste, begehrenswerteste, liebenswerteste der Frauen. [...] So überwindet der Mensch den Tod, den er in seinem Denken anerkannt hat. Es ist kein stärkerer Triumph der Wunscherfüllung denkbar. Man wählt dort, wo man in Wirklichkeit dem Zwange gehorcht, und die man wählt, ist nicht die Schreckliche, sondern die Schönste und Begehrenswerteste.«[21] Wenn am Ende der alte König den Leichnam seiner toten Tochter im Arm halte, so sei das die Inversion seiner Begegnung mit dem eigenen Tod. Aus diesen Überlegungen zieht Freud folgendes Fazit:

Der Dichter bringt uns das alte Motiv näher, indem er die Wahl zwischen den drei Schwestern von einem Gealterten und Sterbenden vollziehen läßt. Die regressive Bearbeitung, die er so mit dem durch Wunschverwandlung entstellten Mythus vorgenommen, läßt dessen alten Sinn so weit durchschimmern, daß uns vielleicht auch eine flächenhafte, allegorische Deutung der drei Frauengestalten des Motivs ermöglicht wird. Man könnte sagen, es seien die drei für den Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe, die hier dargestellt sind: Die Gebärerin, die Genossin und die Verderberin. Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild der Mutter im Laufe des Lebens wandelt: Die Mutter selbst, die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt. Der alte Mann aber hascht vergebens nach der Liebe des Weibes, wie er sie zuerst von der Mutter empfangen; nur die dritte der Schicksalsfrauen, die schweigsame Todesgöttin, wird ihn in ihre Arme nehmen.[22]

Freud entwirft hier eine Typologie der Frauenbilder, wie sie für patriarchalische Gesellschaften charakteristisch sind. Der Mann weist der Frau drei Rollen zu, um seine Beziehung zu ihr zu definieren. Die Gebärerin steht für das Leben, die Genossin für die Liebe, die Verderberin für den Tod. Jede dieser Rollen leitet sich für den Mann aus dem ödipalen Bild der Mutter her. Die Gebärerin ist »die Mutter selbst«, die Genossin »die Geliebte, die er nach deren Ebenbild gewählt«, die Verderberin »die Mutter Erde«, in deren Schoß er zurückkehrt. Wie Freud zeigt, handelt es sich bei diesen Bildern nicht um separate Rollen, sondern um Aspekte des Weiblichen, die simultan auftreten und sich ineinander übersetzen lassen.

Freuds Überlegungen können helfen, die Symbolik der Meerjungfrauen besser zu verstehen. Dies gilt zunächst für die Figur der mittelalterlichen Melusine. Sie ist die jüngste von drei Schwestern. Und sie ist die schönste, beste und begehrenswerteste Frau, insofern sie ihrem Ehemann Reymund Liebe und Glück, Macht und Reichtum zu schenken vermag. Eine bemerkenswerte Umkehrung besteht darin, dass nicht der Mann die Frau, sondern die Frau den Mann wählt. Reymund befindet sich in einer ausweglosen Lage, als er auf Melusine trifft, und es bleibt ihm im Grunde nichts anderes übrig, als ihrem Heiratsantrag zu entsprechen. Melusine verkörpert alle drei Aspekte des Weiblichen in sich, die Freud unterscheidet. Sie ist Genossin, insofern sie Reymund ehelich an sich bindet. Sie ist Gebärerin, insofern sie ihm zehn Söhne schenkt. Sie ist Verderberin, insofern sie ihm den Untergang seines Geschlechts androht für den Fall, dass er ein von ihr gesetztes Tabu bricht. Zugleich verteilen sich die genannten Rollen auf die drei Schwestern. Bei Melusine steht die Mutterschaft deutlich im Vordergrund, denn sie gebiert nicht nur eine Vielzahl von Söhnen, sondern betätigt sich auch als Bauherrin, die auf wundersame Weise Klöster, Burgen und Schlösser hervorbringt. Meliora nimmt die Rolle der Genossin ein. Auch mit ihr verbindet sich ein Tabu. Sie lockt zahlreiche Ritter zu sich, die eine Tugendprobe bestehen müssen; wenn sie erfolgreich sind, dürfen sie alles wählen, nur nicht die schöne Fee selbst. Die Rolle der Genossin ist hier somit in der Umkehrung präsent, dass die verführerische Frau nicht berührt werden darf. Palentina schließlich spielt die Rolle der Verderberin. Sie behütet einen Schatz, und wer ihn gewinnen will, muss gegen Löwen und Drachen kämpfen. Dieses Abenteuer geht für alle, die sich daran versuchen, tödlich aus. Der Schatz liegt im Inneren eines Berges, insofern kann eine Verbindung von Palentina zur Mutter Erde gezogen werden. Wie Melusine alle drei Aspekte in sich vereint, so auch das feuchte Weib in Goethes Ballade. Sie präsentiert sich als Gebärerin, Verführerin und Verderberin. Gebärerin ist sie, wenn sie von den Fischen als ihrer »Brut« spricht. Verführerin ist sie, wenn sie den Fischer wie mit »der Liebsten Gruß« lockt. Verderberin ist sie, wenn sie ihn ins tödliche Wasser zieht und er fortan »nicht mehr gesehn« wird.

Diese Beobachtungen sind nützlich, um die Literaturgeschichte der Meerjungfrauen besser in den Griff zu bekommen. In jedem Fall ist zu prüfen, welche der genannten Aspekte die Meerjungfrau verkörpert und welcher davon im Vordergrund steht. Dies betrifft nicht nur diejenigen Meerjungfrauen, die zu dritt auftreten (wie Melusine), sondern auch diejenigen, die allein auftauchen (wie die Nymphe in Goethes Fischer). Bei den antiken Sirenen steht ganz unverkennbar die Handlungsrolle der Verderberin im Vordergrund. Sie legen es darauf an, die Schiffsleute in den Tod zu ziehen. Odysseus wird vor dieser Gefahr gewarnt, und es gelingt ihm, sich gegen sie zu wappnen. Zugleich spielt das Motiv der Verführung hinein, insofern die Sirenen die Schiffsleute mit ihrem Gesang verlocken. Entsprechend gewinnt in den christlichen Auslegungen der Sirenenepisode der Gedanke der Verführung zunehmend an Bedeutung. Häufig wird die Sirene als Eva stilisiert, die nach christlicher Vorstellung ebenfalls die Rollen der Verführerin und Verderberin in sich vereint. Dass bei den mittelalterlichen Melusinen die Handlungsrolle der Gebärerin dominiert, wurde bereits gezeigt; dies gilt noch für Goethes Melusine, die sich den Mann vor allem deswegen erwählt, damit er ein Kind zeugt, das das Blut ihres Geschlechts auffrischen soll. Bei den romantischen Nymphen steht die Handlungsrolle der Verführerin im Vordergrund. Dies gilt für die drei Haupttypen: das Donauweibchen, die Loreley und die Undine. Sie tragen sirenenhafte Züge, indem sie den Mann mit ihrer Schönheit in den Bann schlagen. Das Thema ist hier stets der Konflikt zwischen passionierter Liebe und bürgerlicher Ehe. In den meisten Fällen konkurrieren die Nymphen mit braven Verlobten und Ehefrauen. Wenn der Mann der Nymphe begegnet, entbrennt seine Leidenschaft für sie, und er ist bereit, die bürgerliche Ordnung um der Liebe willen zu verraten. Am Ende kehrt er hingegen zu seiner Gattin zurück; nun ist er gewillt, die Liebe um der Ordnung willen aufzugeben. Auf Nymphe und Gattin verteilen sich somit zwei Rollen, die in der Melusine noch vereint waren: Sie war Meerfrau und Ehefrau zugleich. Die Gefahr, die von der Nymphe ausgeht, liegt also in der Verführung selbst, in der Entfremdung von der sozialen Ordnung, die aus der passionierten Liebe resultiert. Oft gehen auch diese Geschichten tödlich aus: sei es, dass der Mann stirbt (so in Fouqués Undine und in Brentanos Loreley) oder die Ehefrau geopfert wird (so in Henslers Donauweibchen). Zuweilen zeugt der Mann auch ein Kind mit der Nymphe (ebenfalls in Henslers Donauweibchen). Doch ist die Rolle der Verführerin stets wichtiger als die Rolle der Verderberin. In Fouqués Undine fallen beide Aspekte zusammen, wenn am Ende Mann und Nymphe im Liebestod vereint werden.

2.Die Meerjungfrau als Sinnbild der Literatur

Bei näherer Betrachtung von Drapers Gemälde drängt sich die Vermutung auf, dass es nicht nur ein Sinnbild der Liebe, sondern auch ein Sinnbild der Malerei darstellt. Dann wäre der Bootsmann der Künstler, das Ruder der Pinsel, das Meer die Farbe – und die Meerjungfrau die Muse, die den Künstler inspiriert und ihm die Hand führt. Im Folgenden geht es, wieder anhand von Schlaglichtern, um die Meerjungfrau als Sinnbild der Dichtung. Jedes der Schlaglichter repräsentiert eine Epoche. Der Antike entstammt Horaz’ Abhandlung Über die Dichtkunst, der Renaissance Montaignes Essay Über die Freundschaft und der Neuzeit – noch einmal – Goethes Ballade Der Fischer.

a)Horaz, Über die Dichtkunst

Die im Jahr 14 v.Chr. entstandene Abhandlung Über die Dichtkunst ist der älteste Beleg für die Meerjungfrau als Sinnbild der Dichtung. Bereits in den ersten Zeilen kommt Horaz auf die Sirene zu sprechen. Diese stellt er nicht, wie sonst in älteren Texten und Bildern üblich, als Vogel-, sondern als Fischfrau vor. Als Monstrum, das aus unpassenden Teilen zusammengefügt ist, dient sie ihm als Symbol eines misslungenen Kunstwerks:

Haupt eines Menschen und Nacken des Pferdes zusammenzufügen:

Tät’ dies ein Maler, schüf dazu Flügel mit schillernden Farben,

Glieder von überall her, daß unten ein schwärzlicher Fischleib,

Häßlich zu sehen, doch oben ein herrliches Weib sich uns zeige:

Könntet ihr da beim Betrachten das Lachen verbeißen, o Freunde? (1–5)

Es sind zwei Fabeltiere, die Horaz aufeinander bezieht: zum einen der Zentaur, ein Mischwesen aus Mann und Pferd, zum anderen die Sirene, ein Mischwesen aus Frau und Fisch. Hinzu kommt das Motiv der Flügel, das sich syntaktisch auf beide Monstren beziehen lässt. Das geflügelte Pferd verweist auf die Gestalt des Pegasus, die geflügelte Frau auf die ursprüngliche Gestalt der Sirene. Horaz führt das Bild der Fischfrau näher aus. Oberhalb ist sie ein herrliches Weib (mulier formosa superne), unterhalb gleicht sie einem hässlichen, schwärzlichen Fisch (turpiter atrum desinat in piscem). Die Fischfrau vereint somit Gegensätze hinsichtlich ihres Körpers (Mensch vs. Tier) und Erscheinungsbildes (Schönheit vs. Hässlichkeit). In die Terminologie der Poetik übersetzt, wären dies die Dimensionen des Stoffs und der Gestalt, der materiellen Substanz und der ästhetischen Qualität. Der künstlerische Defekt besteht darin, dass Glieder verschiedener Herkunft vermischt werden: undique conlatis membris. Für Horaz ist dies ein Fehlgriff, der den Betrachter zum Gelächter reizt: »Könntet ihr da beim Betrachten das Lachen verbeißen, o Freunde?« Horaz äußert sich nicht nur als Theoretiker, der über die Komposition von Kunstwerken spricht, sondern auch als Kritiker, der sich ein ästhetisches Urteil bildet. Er bezieht sich zwar auf die Kunst der Malerei; was er über den Maler sagt, ist aber auf den Dichter gemünzt. Das missratene Gemälde ist ein Bild für das missratene Buch:

Glaubt mir, solchem Gebilde gliche aufs Haar wohl ein Schriftwerk,

Dessen Erzählungen wie eines Kranken fiebrige Träume

Hirngespinste nur zeigten, daß weder der Kopf noch die Füße

Jemals zu einer Gestalt sich fügten [...]. (6–9)

Poetologisch bedeutsam ist der Vergleich, den Horaz zwischen Dichtung und Traum zieht. Ein missratenes Buch ist eine Fiktion (fingentur), die nichtig ist wie die Träume eines Kranken. Gelungene Literatur, darf man folgern, ist wie der Traum eines Gesunden. Gegen die Wesensgemeinschaft von Dichtung und Traum hat Horaz grundsätzlich nichts einzuwenden. Problematisch ist nur die Dichtung, die einem Fiebertraum gleicht. In diesem Sinne ist auch der Einwurf zu verstehen, den Horaz an dieser Stelle platziert:

[...] Nur »Malern und Dichtern

War doch jegliche Kühnheit im Werke schon immer gestattet!«

Ja, diese Freiheit erbitten und schenken einander wir gerne;

Nicht aber soll sich Zahmes mit Wildem verbinden, nicht sollen

Schlangen mit Vögeln sich paaren und auch nicht Lämmer mit Tigern. (9–13)

Horaz räumt ein, dass die poetische Freiheit die Montage von Elementen erlaubt, die in der Realität unverbunden sind. Doch muss die Kombination der Elemente die Bedingungen der Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit erfüllen. Die Zusammenfügung von Dingen, die so gegensätzlich sind wie natürliche Fressfeinde, bleibt von dieser dichterischen Lizenz ausgenommen. Nachdem Horaz einige in der Tat humoristische Beispiele für misslungene Literatur angeführt hat, schließt er mit dem Postulat: »Merke: Schaff, was du willst, doch einfach sei’s und ein Ganzes« (23). Poetische Einheit (unum) und Einfachheit (simplex) sind die Gesetze der Dichtkunst.

Horaz’ Ausführungen sind auch deswegen interessant, weil sie sich an die moderne Dichtungstheorie anschließen lassen und somit die Brücke zu einigen theoretischen Überlegungen schlagen, die das Literaturverständnis, auf dem das vorliegende Buch über die Literaturgeschichte der Meerjungfrauen beruht, erhellen sollen. Halten wir fest: Horaz definiert Dichtung als Fiktion, die mit dem Traum verwandt ist. Der Dichter verfügt über die poetische Freiheit, Elemente zu kombinieren, die in der realen Lebenswelt nicht miteinander verbunden sind. Dabei hat er gewisse Prinzipien der Wahrscheinlichkeit zu beachten; das Dargestellte muss in sich konsistent und plausibel sein. In ähnlicher Weise beschreibt Wolfgang Iser das Wesen der fiktionalen Literatur. In seinem Buch Das Fiktive und das Imaginäre (1991) plädiert er dafür, die traditionelle Opposition von Realität und Fiktionalität durch eine Triade zu ersetzen.[23] Er schlägt ein dreistelliges Modell vor, das nicht nur das Reale und das Fiktive, sondern auch das Imaginäre in den Blick nimmt und somit den herkömmlichen Status der Fiktionalität entscheidend modifiziert. Die alte Gegenüberstellung, die dem stummen Wissen des literaturtheoretisch nicht versierten Lesers entspricht, verdankt sich antiken und mittelalterlichen Traditionen. Schon Platon verwarf Dichtung als unnütz, weil sie Lüge sei; und ein mittelalterlicher Didaktiker wies darauf hin, dass die Ritterromane seiner Zeit zwar erlogen seien, aber immerhin im besten Fall moralische Wahrheiten vermitteln könnten.[24] Iser bricht den Gegensatz auf, indem er betont, dass die fiktive Literatur in einem bestimmten Sinne welthaltig sei und daher nicht in Opposition zur Realität gesehen werden könne. Für Iser ist das Fiktive der Umschlagplatz zwischen Realem und Imaginärem. Das Fiktive partizipiert am Realen, insofern es Elemente der empirischen Lebenswelt, zu der übrigens auch die Gesamtheit der bereits geschriebenen Literatur zählt, auswählt, neu zusammensetzt und mit einer Signatur versieht, die den fiktionalen Charakter des Textes markiert. Diese Akte des Fingierens, die Iser als Selektion, Kombination und Selbstanzeige bezeichnet, erschaffen eine Anschaulichkeit, die der Evidenz der natürlichen Welt entliehen, aber nicht auf diese reduzibel ist. Die Anschaulichkeit des Fiktiven ist weniger als die Anschaulichkeit des Realen, weil es nicht mehr auf Materielles verweist; sie ist aber auch mehr als die Anschaulichkeit des Realen, weil es ein Imaginäres zur Anschauung bringt, das selbst – eben weil es imaginär ist – sich jeglicher Anschaulichkeit entzieht.

So verhält es sich auch mit den Meerjungfrauen. Sie sind, wie Horaz bemerkt, aus Teilen zusammengesetzt, die in der Wirklichkeit nichts miteinander zu schaffen haben. Die Sirene der älteren Tradition besteht aus Mensch und Vogel, die Sirene der jüngeren Tradition aus Mensch und Fisch, die mittelalterliche Melusine aus Mensch und Schlange. Was Horaz als monströse Anatomie schilt, kann ebenso gut als symbolische Verkörperung eines Gedankens aufgefasst werden, der als solcher keine Anschaulichkeit gewinnt. Die Unmöglichkeit des grotesken Körpers verweist auf die Unmöglichkeit der Liebe und markiert zugleich den fiktionalen Charakter der Geschichte, die darüber erzählt wird. Dabei verweisen die wechselnden Gestalten der Meerjungfrauen auf verschiedene imaginäre Aspekte, die es zu analysieren gilt.

b)Michel de Montaigne, Über die Freundschaft

Auch Michel de Montaigne kommt in seinem Versuch Über die Freundschaft, der im Jahr 1580 als Teil des ersten Buchs der Essais erschien, auf die Meerjungfrau als Sinnbild der Literatur zu sprechen. Seinen Ausführungen über die Freundschaft schickt er poetologische Überlegungen voraus, die er, nach Horaz’ Vorbild, aus dem Vergleich zwischen Dichter und Maler entwickelt. Montaigne berichtet, wie er einmal einem Künstler bei der Arbeit über die Schulter geschaut habe:

Als ich einem Maler, der für mich tätig ist, bei der Verrichtung seiner Arbeit zuschaute, überkam mich die Lust, es ihm nachzutun. Im mittleren Teil jeder Wand wählt er die jeweils günstigste Stelle, um dort ein mit seiner ganzen Meisterschaft ausgeführtes Gemälde anzubringen; den leeren Raum rundherum jedoch füllt er mit Grotesken aus, das heißt: bizarren Phantasiegebilden, deren einziger Reiz in ihrem Variationsreichtum und ihrer Absonderlichkeit liegt.[25]

Das Fresko, mit dem der Künstler die Wand schmückt, umfasst zwei Bereiche. Im Zentrum steht das kunstvolle Gemälde, in der Peripherie rankt sich schmückendes Beiwerk. Letzterem schenkt Montaigne besondere Aufmerksamkeit. Es handelt sich um groteske Gebilde, die der Phantasie entsprungen sind. Damit zielt Montaigne auf die eigenen Essais, die jenen bizarren Figuren gleichen, mit denen der Maler die Ränder füllt:

Was aber sind diese Essais hier in Wahrheit anderes als auch nur Grotesken und monströse, aus unterschiedlichsten Gliedern zusammengestückelte Zerrbilder, ohne klare Gestalt, in Anordnung, Aufeinanderfolge und Größenverhältnis dem reinen Zufall überlassen?[26]

Angeblich fehlen ihnen planvoll bemessene Gestalt (figure), Ordnung (ordre), Abfolge (suite) und Proportion (proportion). Sie sind, wie Montaigne in Anlehnung an Horaz formuliert, »aus unterschiedlichsten Gliedern zusammengestückelt«. Als Beispiel für die Grotesken des Malers – und somit als Emblem für seine Essais – führt Montaigne die Meerjungfrau an. Wörtlich zitiert er den betreffenden Vers aus Horaz’ Poetik: Desinit in piscem mulier formosa superne.

Abb.4: Montaigne, Essais, ›Bordeaux-Exemplar‹ (1590)

Nicht auf den Zentaur fällt seine Wahl, sondern auf die Sirene. Die Fischfrau – »Des Weibes Leib: verführerisch / zwar oben, unten aber Fisch« lautet Hans Stiletts hübsch gereimte Übersetzung – illustriert die zufällige Missgestalt, die Montaigne seinen Essais attestiert. Auf groteske Gebilde verstehe er sich, nicht aber auf Gemälde, die nach allen Regeln der Kunst komponiert sind:

Im zweiten Teil halte ich mit meinem Maler also durchaus Schritt, im ersten und beßren jedoch bleibe ich auf der Strecke, da mein Können nicht so weit geht, daß ich mir zutraute, ein ansehnliches und nach den Regeln der Kunst formvollendetes Gemälde in Angriff zu nehmen.[27]

Wenn nun die Essais den Grotesken entsprechen, womit lässt sich dann das Gemälde vergleichen? Welches literarische Werk ist so kunstgerecht (selon l’art) wie das Hauptstück des Malers? An diesem Punkt kommt Montaigne auf seinen Freund, den früh verstorbenen Schriftsteller Étienne de La Boétie, zu sprechen:

So bin ich darauf verfallen, mir von Étienne de La Boétie eins auszuleihn, das dem ganzen Rest dieser Arbeit hier zur Zierde gereichen wird. Es ist ein Traktat, dem er den Titel gab: Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft; aber Leute, die das nicht wußten, haben es später sehr zutreffend Gegen Alleinherrschaft getauft. Er schrieb es in seiner frühen Jugend als eine Art Essai wider die Tyrannen, zum Lobpreis der Freiheit.[28]

Die Abhandlung Über die freiwillige Knechtschaft, obwohl ein Jugendwerk und ihrerseits »als eine Art Essai« geschrieben, nennt Montaigne als Muster jener literarischen Meisterschaft, auf die er sich selbst angeblich nicht versteht. Demnach hätte Horaz an La Boétie Gefallen gefunden, über Montaigne aber nur gelacht.

An diesem Punkt verlässt Montaigne die poetologische Betrachtung und wendet sich dem eigentlichen Thema seines Essays zu: dem Wesen der Freundschaft, das er am Beispiel seiner Beziehung zu La Boétie illustriert.[29] Daher ist alles, was Montaigne über die Opposition von Kunstwerk und Groteske sagt, noch einmal auf die Freundschaft hin zu beleuchten. Auf der einen Seite steht Étienne, der Schöpfer eines geschlossenen Kunstwerks, das dem Meisterstück des Malers gleicht; auf der anderen Seite Michel, Verfasser zufälliger Versuche, die dem grotesken Beiwerk gleichen, mit dem der Maler das Gemälde umgibt. Étienne steht im Zentrum, Michel rankt sich um ihn. Étienne ist der Meister, Michel die Meerjungfrau. Die Sirene, von Horaz als poetologisches Symbol eingeführt, dient nicht nur als Emblem der Essais, sondern auch als Emblem der Freundschaft, die Montaigne mit La Boétie verband. In diesem Zusammenhang wird auch der Titel jener Abhandlung, die Montaigne als überlegenes Kunstwerk präsentiert, transparent auf die Freundschaft: Über die freiwillige Knechtschaft. Freiwillige Selbstunterwerfung ist Thema eines politischen Traktats, zugleich aber auch Pose des überlebenden Freundes, der sich dem literarischen Rang des verstorbenen Freundes unterordnet. Die Subordination wird freilich an allen Ecken und Enden wieder unterlaufen. Das Meisterwerk sei nur ein Jugendwerk, und als solches habe es durchaus seine Schwächen: Es »stellt bei weitem noch nicht das Beste dar, was ihm möglich gewesen wäre«, zumal »das Thema von ihm in seiner Jugend lediglich als eine Art Übung abgehandelt wurde«.[30] So stößt Montaigne seinen Freund von jenem Sockel, auf den er ihn zuvor gehoben hat. Diese Ambivalenz widerspricht dem geradezu mystischen Ideal passionierter Männerfreundschaft, das Montaigne im Laufe des Traktats entwirft: »Bei der Freundschaft hingegen, von der ich spreche, verschmelzen zwei Seelen und gehen derart ineinander auf, daß sie sogar die Naht nicht mehr finden, die sie einte«; daher seien Freunde »nach der höchst treffenden Definition des Aristoteles nur noch eine einzige Seele in zwei Körpern«.[31] Auf der einen Seite steht das Wunschbild des Freundespaars, das zwei Körper, aber nur eine Seele hat; auf der anderen das Angstbild der Fischfrau, deren seelenloser Leib aus zwei disparaten Körpern zusammengestückelt ist. Es scheint, dass das Phantasma der Meerjungfrau auch bei Montaigne auf zweierlei verweist: die Möglichkeiten der Literatur und die Unmöglichkeit der Liebe – in diesem Fall der Freundesliebe zwischen zwei Männern.

c)Johann Wolfgang von Goethe, Der Fischer

Die doppelte Rolle der Meerjungfrau als Sinnbild der Liebe und der Literatur lässt sich noch einmal an Goethes Ballade Der Fischer