Ein Hotel und zwei Rivalinnen - Lee Winter - E-Book + Hörbuch

Ein Hotel und zwei Rivalinnen E-Book und Hörbuch

Lee Winter

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Beschreibung

Wenn zwei ehrgeizige Frauen, so verschieden wie Feuer und Eis, das Gleiche wollen, ist die Leidenschaft nicht weit. Ein lesbischer Liebesroman, so vielschichtig, frech und intelligent wie seine Protagonistinnen. Als sie in einer Hotelbar in Las Vegas aufeinandertreffen, ahnen Amelia Duxton und Kai Fisher nicht, dass sie dasselbe Ziel haben: den Deal ihres Lebens zu machen und das luxuriöse Mayfair Palace Hotel zu kaufen. Doch damit enden auch schon die Gemeinsamkeiten. Die eiskalte und scharf kalkulierende Amelia, CEO im Familienunternehmen, braucht den Erfolg, um endlich von ihrem Vater anerkannt zu werden. Und der leidenschaftlichen und höchst manipulativen Kai, angestellt im mächtigsten Konkurrenzunternehmen, geht der Ruf voraus, ohnehin alles zu bekommen, was sie sich vorgenommen hat. Begehrenswerte Frauen inklusive. Schon bald zeigt sich, dass Amelia und Kai nicht mehr als Spielfiguren einer großen Intrige sind. Werden die beiden erfolgsverwöhnten Einzelkämpferinnen es schaffen, alle Gegensätze zu überwinden und gemeinsame Sache zu machen? Es braucht mehr als nur einen glücklichen Zufall, bis beiden klar wird, dass Feuer und Eis nicht nur in der Leidenschaft zusammen so richtig Dampf entwickeln …

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Seitenzahl: 563

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Zeit:13 Std. 18 min

Veröffentlichungsjahr: 2022

Sprecher:Jutta Seifert

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Inhaltsverzeichnis

Von Lee Winter außerdem lieferbar

Widmung

Kapitel 1: Spiel mit dem Feuer

Kapitel 2: Der Rausch der Jagd

Kapitel 3: Vorsicht vor Drachen

Kapitel 4: Sieger und Verlierer

Kapitel 5: Prohibition Bar

Kapitel 6: Flirten

Kapitel 7: Croissants und Charakter

Kapitel 8: Rezeption

Kapitel 9: Faxe und Fakten

Kapitel 10: Zimmerservice

Kapitel 11: Hauswirtschaft

Kapitel 12: Durcheinander

Kapitel 13: Ablenkungen

Kapitel 14: Schein und Sein

Kapitel 15: Kettenreaktion

Kapitel 16: Feinde und Verbündete

Kapitel 17: Grenzen verschieben sich

Kapitel 18: Der Auserwählte

Kapitel 19: Nur die Tatsachen

Kapitel 20: Ein gemeinsamer Nenner

Kapitel 21: Dampf

Kapitel 22: Weckruf

Kapitel 23: Entwirren

Kapitel 24: Setz immer auf Köpfchen

Kapitel 25: Die Rede

Kapitel 26: Ein Nachschlag zum Dinner

Kapitel 27: Die Blase

Kapitel 28: Lunch in London

Epilog

Über Lee Winter

Danksagung

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Von Lee Winter außerdem lieferbar

Happy End am Ende der Welt

Nichts als die ungeschminkte Wahrheit

Aus der Rolle gefallen

Requiem mit tödlicher Partitur

Aus dem Newsroom:

Das Geheimnis der roten Akten

Widmung

Dieses Buch widme ich meiner Mum. Sie hat viele Jahre lang im Nahen Osten gearbeitet, die meiste Zeit in Saudi-Arabien. Ich habe eine Menge Geschichten über die herzlichen, offenen Menschen und die Orte gehört, die sie so geliebt hat. Ich denke, es hätte ihr sehr gefallen, dass mein schwer zu fassender Geschäftsmann Nedal eine so wichtige Rolle in diesem Buch bekommen hat. Tatsächlich erinnern mich Nedal und seine Schwester Mariam an einige ihrer engsten saudi-arabischen Freunde.

Danke für die Inspiration, Mum.

Kapitel 1

Spiel mit dem Feuer

Kai Fisher trank einen großen Schluck Kaffee, denn es war verdammt noch mal viel zu früh. Sie ging auf das wunderschöne Grand Millennium-Hotel zu, ein würdevoll in die Jahre gekommenes Gebäude im Herzen von Manhattan, das bereits länger dort stand als all die umliegenden monströsen Glastürme zusammen.

So müde Kai auch war, der Anblick des Hotels hob immer ihre Stimmung und erinnerte sie daran, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie nie durch seine majestätischen Türen getreten wäre.

Wie an jedem Morgen vor Sonnenaufgang war ihr Ziel jedoch nicht das Hotel selbst, sondern das dazugehörige elitäre Fitnessstudio im Erdgeschoss, das die Reichen, die Einflussreichen und die Mächtigen anzog wie die Motten das Licht.

»Hey, Vince«, sagte Kai und gab sich Mühe, wach zu klingen, als sie den Eingang erreichte.

»Morgen, Ms Fisher.« Der Portier nahm Haltung an.

»Wunderbares Wetter«, sagte sie und fragte sich, ob sich so etwas auch mit reiner Willenskraft heraufbeschwören ließe.

Beide sahen in den düsteren Himmel hinauf, aus dem jederzeit Regen herabprasseln konnte. Die Morgensonne kroch langsam über den Horizont.

Vince grinste und zog dabei skeptisch seine Augenbrauen in die Höhe.

Sie lächelte zustimmend.

»Wissen Sie, was für ein Tag heute ist, Ms Fisher?«, fragte Vince.

Kai runzelte die Stirn. »Äh … Freitag?«

»Ihr Jubiläum im Grand Millennium. Heute sind es fünfzehn Jahre.«

»Was …?« Nein. Sie rechnete nach. Doch, tatsächlich. »Das weißt du auswendig?«

»Oh, ich kann mich sehr gut an Ihren ersten Tag erinnern. Sie haben einen Blick auf mich geworfen und Mr Stein mit völlig ernstem Gesichtsausdruck gefragt, ob es zur Unternehmensstrategie gehört, das Türpersonal erfrieren zu lassen. Und noch bevor der Boss antworten konnte, haben Sie gesagt, er solle mir entweder einen dickeren Mantel zu meiner Uniform dazugeben oder eine Gehaltserhöhung, damit ich mir selbst einen kaufen kann.«

»Wie mutig von mir. Hast du jemals deinen neuen Mantel bekommen?«

Vince lächelte. »Ja, Ms Fisher, ich habe einen neuen Mantel und eine Gehaltserhöhung bekommen. Und ich erinnere mich so gut an den Tag, denn als ich nach Hause kam, hat Aliyah mir gesagt, dass sie schwanger ist.«

»Das ist –«

Ein verschwommen neongrünes Etwas schoss an ihr vorbei. Kai drückte sich an das Gebäude, um nicht überfahren zu werden. Der Fahrradkurier bremste nicht einmal ab.

Der schon wieder!

Es war derselbe Idiot, der die Passanten auf der West 35th Street schon seit Monaten terrorisierte. Ein älterer Zeitungsverkäufer war wegen ihm sogar gestürzt und hatte sich die Hüfte gebrochen.

»Pass doch auf, du Arschloch!«, rief sie ihm nach, während sie sich von der Glasfront löste.

Der Fahrer zeigte ihr über die Schulter den Mittelfinger und lachte.

»Alles in Ordnung, Ms Fisher?«, fragte Vince.

Kai sah an sich herab. »Dieser Mistkerl!« Der Kaffee war ihr über das Handgelenk und ihre Uhr geschwappt. Ihre Designeruhr, deren Glas beim Aufschlag an der Wand einen Sprung bekommen hatte!

Sekundenbruchteile später spürte sie das Brennen ihrer Haut, wo der heiße Kaffee sie verbrüht hatte. Verdammt noch mal! Voller Wut warf sie ihm den Kaffeebecher hinterher. Das Adrenalin hatte ihr gehörigen Schwung verliehen und sie traf den Rücken des Radfahrers, der gerade hatte hart bremsen müssen, weil ein Passant ihm partout keinen Platz machen wollte. Die braune Flüssigkeit spritzte über seinen Hintern, seine Beine und das Rad.

Kai zwinkerte dem Portier zu.

»Autsch«, murmelte Vince und klang beeindruckt.

Der Radfahrer schrie auf, taumelte kurz und stürzte dann in einem Durcheinander aus Mann und Maschine zu Boden.

Kai war zufrieden. Sie ging zu ihm hinüber, um sich die Situation genauer zu betrachten.

Der Mann kam auf die Füße und hob sein Rad auf. »Du hast mein Fahrrad geschrottet!«

»Dein Rad?« Kais verbrannter Arm tat weh, ihre Uhr war kaputt und sie dachte an all die Geschichten von den Fußgängern, die dieser Idiot beinahe über den Haufen gefahren hatte. »Du machst dir Sorgen um dein scheiß Rad?«

Er starrte sie an und erkannte endlich, wie zornig sie war.

»Du hättest mich umbringen können, so schnell, wie du hier entlanggefahren bist!«

»Hättest eben aus dem Weg gehen sollen. Scheiße. Ich glaube, der Lenker ist verbogen.«

»Du hast auf dem Gehweg sowieso nichts verloren. Was zum Teufel ist daran so schwer zu begreifen?«

»Was auch immer.« Sein Blick wanderte über sein Fahrrad. »Schönen Dank, jetzt ist mein Rad kaputt.«

»Mein Rad, mein Rad!«, äffte sie ihn nach und die Wut überkam sie von neuem. Kai riss die Klingel vom Lenker, die nur aufgesteckt war, hielt sie ihm unter die Nase und klingelte drei Mal aufdringlich damit.

Er starrte sie dümmlich an und versuchte, sie ihr zu entreißen.

Kai zog die Hand zurück und warf die Klingel auf die Straße.

Eine Sekunde später rumpelte ein Lieferwagen vorbei und fuhr sie mit einem traurigen Ping platt.

»Zum Teufel, du dumme Kuh! Die brauche ich!«

»Danach sieht es für mich aber nicht aus. Wenn du sie benutzt hättest, würden wir jetzt nicht hier stehen.«

Er richtete sich zu voller Größe auf. »Suchst du Ärger?«

Sie zog eine Augenbraue nach oben. Der Mann war schlank, trug einen Hipsterbart, Ohrringe und starrte sie aus böse dreinschauenden braunen Augen an. »Ach, du meine Güte … jetzt droht er auch noch mit Gewalt? Fällt dir nichts anderes ein?« Kai stieß ungehalten die Luft durch die Nase aus. »Mach dir nicht die Mühe. Ich habe den schwarzen Gürtel.«

»Ich auch.« Er grinste hämisch.

Mist! Kai fragte sich, ob ihr Temperament am Ende nicht doch ein wenig mit ihr durchgegangen war.

Also Plan B. Sie warf einen Blick auf das Logo auf seinem Shirt, nahm ihr Handy heraus und machte ein Foto.

»He, was soll das denn?«

»Ich werde deinen Arbeitgeber darüber informieren, dass mein Arbeitgeber«, Kai wies mit dem Daumen zu den Türen hinter sich, »Couriers Direct USA nicht länger beauftragen wird und dass du der Grund dafür bist.«

Er blickte in die Richtung, in die sie gedeutet hatte, und lachte. »Du glaubst, das schert irgendwen, wenn irgendein Fitnesscenter uns nicht mehr anfragt?«

Kai beugte sich zu ihm und sagte samtweich: »Schau mal höher.«

Sein Blick wanderte zu dem Schriftzug oberhalb des Fitnesscenters. In großen, goldenen Buchstaben stand dort »Grand Millennium Hotel«.

»Es gibt siebenundsechzig Grand Millenniums in den USA«, sagte Kai. »Keins davon wird deiner Firma je wieder einen Auftrag geben. Außer du entschuldigst dich und versprichst, dich in Zukunft vom Gehweg fernzuhalten.«

»Du denkst ich glaube, du könntest ein Unternehmen auf die schwarze Liste setzen?« Er musterte ihre dunkelbraunen, schulterlangen Haare und das Sportoutfit aus schwarzen Leggings, ethisch vertretbar produzierten Sneakers und einer Jacke über ihrem Tank Top. »Ja, klar. Was bist du? Die Rezeptionistin? Die Putzfrau? Irgendeine Tussi, die sich schon immer mal aufspielen wollte und nun greint: ›Ich rufe den Manager‹?«

Kai betrachtete ihn. »Probier’s aus. Nur zu.«

Sein Blick wurde hart.

Hinter ihnen ertönte lautes Gelächter. »Sie muss den Manager nicht rufen, Junge«, rief Vince ihm zu. »Sie ist der Manager.«

Der Kurier riss die Augen auf. Dann kam die Panik. »Äh …«

Endlich. Kai bedachte ihn von oben bis unten mit einem vernichtenden Blick, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte davon.

»Nein, hören Sie«, rief er ihr aufgeregt nach. »Warten Sie, Lady, kein Grund, gleich hysterisch zu werden. Beruhigen Sie sich doch erst einmal, dann können wir darüber reden und …«

Beruhigen? Hysterisch? Oh, sie würde ihn vernichten.

»Warten Sie!« Seine Stimme war jetzt mehr ein Jammern.

Kai überließ ihn sich selbst. Sie hatte Besseres zu tun. Als sie an Vince vorbeiging, murmelte sie: »Du weißt schon, dass ich nicht wirklich die Managerin bin, oder?«

»Aber fast«, antwortete er grinsend. »Hey, Ms Fisher? Haben Sie wirklich einen schwarzen Gürtel?«

»Klar.« Sie grinste zurück. »Einen sehr hübschen, von Donna Karan. Passt hervorragend zu meinen High Heels.«

~ ~ ~

Amelia Duxton musterte den moralisch verdorbenen Angestellten auf ihrem Besucherstuhl und verzog angewidert die Lippen.

Sie strich die Ärmel ihres grauen Sakkos glatt und wartete darauf, dass Douglas’ geistloses Geplapper endlich versiegte. Seine Ausreden prasselten auf sie herab wie der Regen, der am Fenster ihres Londoner Büros hinablief.

Sie blickte zu dem Gelbflecken-Drachenkopf im Aquarium neben ihrem gläsernen Schreibtisch. Insgeheim fand Amelia, sah er für einen gefräßigen Raubfisch ziemlich niedlich aus. Er hatte einen schönen, runden Kopf, war rotorange mit gelben Flecken und hatte riesige Augen. Sie genoss es, Besuchern von seinen tödlichen Eigenschaften zu erzählen. Das sandte eine gewisse Botschaft aus.

Ihre Assistentin Quinn drängte sie seit einem Jahr, ihm einen Namen zu geben. Das erschien Amelia allerdings etwas übertrieben. Der Fisch würde das nicht verstehen, welchen Sinn machte es also?

Amelia rückte das Namensschild auf ihrem Tisch mit einem Finger zurecht. Darauf stand »Amelia Duxton, Vizepräsidentin – Duxton Hotels International«. Man sollte meinen, ein solcher Titel würde sie davor bewahren, sich so ein Gestammel anhören zu müssen.

Anscheinend nicht.

Sie betrachtete den Mann, der ihr gegenübersaß. Chaos in Menschengestalt. Amelia hasste Chaos ungefähr so sehr, wie sie Schwachköpfe hasste, die glaubten, sie hintergehen zu können.

Douglas hielt kurz inne, um Atem zu schöpfen. Sein Gesicht war trotz der Raumtemperatur in Amelias Büro von genau achtzehn Grad Celsius gerötet. Manchen war das zu kalt, nahm sie an. Sie fühlte sich im Eis wohl – ihre Kritiker liebten es, diese Tatsache zu erwähnen.

»Also ist offensichtlich«, verkündete der Mann mit einer überschwänglichen Geste, »dass ich es nicht gewesen sein kann.«

Aha. Amelia hörte Douglas ohnehin nur wegen seines Vaters an. Und weil Quinn sagte, dass Leute weniger dazu neigten, vor Gericht zu ziehen, wenn sie sich erklären konnten, bevor Amelia sie darauf hinwies, dass sie eine Verschwendung von Platz und Sauerstoff waren.

Sie starrte Douglas so durchdringend an, dass er aussah, als würde er jeden Augenblick aus seinem zerknitterten Anzug gleiten und zu einem ängstlichen, verschwitzten Häufchen zerfließen. Die Schuld stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Oh, sehr überzeugend«, sagte sie langsam.

Erschrocken ging Douglas in die nächste Runde. »Hör mal, ich weiß, die Lieferanten haben Mist gebaut. Keine Sorge, ich kümmere mich darum. Ich finde neue Lieferanten für uns.«

Im Ernst? Wenn er dachte, sie würde auch nur ein Wort davon glauben, war er wahnsinnig. »Du bist gefeuert.«

So. Friede wiederhergestellt. Universum neu geordnet.

So sehr Amelia das Chaos auch hasste, sie liebte es, eine Ordnung in Dingen zu erkennen, die auf den ersten Blick ungeordnet erschienen. Sie hatte ein hervorragendes Auge dafür, Rätsel zu lösen. Dieses Talent hatte sie hier an diesen Ort und zu diesem Moment geführt, in dem sie sich in ihrem hohen Herman-Miller-Chefsessel zurücklehnte und ihren Leiter des Einkaufs feuerte.

Vor einigen Monaten hatte sie eine Unregelmäßigkeit in den Rechnungen entdeckt, die von den Lieferanten der IT-Produkte an ihre Buchhaltung geschickt worden waren. Plötzlich wiesen sie viel zu wenige Details zu den neuen Computern und Zubehörteilen auf, die ihr Unternehmen gekauft hatte. Sie verrieten kaum noch, um welches Produkt es sich handelte. Was hatte das zu bedeuten? Hatten mehrere Lieferanten zugleich plötzlich beschlossen, dass Zurückhaltung das neue Schwarz war?

Die meisten Leute hätten mit den Schultern gezuckt und es auf sich beruhen lassen. Nicht Amelia. Sie hatte das Kleingedruckte auf den Rechnungen aller hundertzweiundachtzig IT-Bestellungen gelesen, die Douglas in den letzten vier Monaten getätigt hatte.

Stille trat ein. Sie stand zwischen ihnen, aber Amelia hatte kein Interesse daran, Douglas entgegenzukommen, indem sie ihm sein Unbehagen nahm.

»Wie bist du drauf gekommen?«, fragte er schließlich.

»Ein Sternchen.« Sie blätterte ihre Papiere durch. »Alle Computerteile, die du bestellt hast, waren mit einem Sternchen versehen. Du solltest neue Computer für unsere europäischen Hotelrezeptionen kaufen. Stattdessen hast du überholte Ware bestellt und die Zulieferer angewiesen, das in den Papieren zu verheimlichen. Die Zulieferer haben mir bestätigt, dass diese Ansage von dir kam. Den Preisunterschied hast du selbst eingesteckt.«

»Ein scheiß Sternchen.« Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Mein Auge fürs Detail«, korrigierte sie ihn. »Und du brauchst nicht ausfällig zu werden. Pack deine Sachen.« Sie drehte sich mit ihrem Sessel zum Fenster, um den Anblick des Mannes, der sie so tief gekränkt hatte, nicht länger ertragen zu müssen.

Es waren nicht die Lügen, obwohl die vorhersehbar gewesen waren. Nicht einmal die Unterschlagung. Sie würde ihn auswringen, bis sie das Geld bis auf den letzten Penny zurückbekommen hatte. Nein, es war die Tatsache, dass er genau wusste, mit wem er es zu tun hatte, besser als alle anderen, und trotzdem angenommen hatte, dass sie seinen kriminellen Aktivitäten nicht auf die Schliche kommen würde.

Warum taten die Leute das? Warum unterschätzen sie sie? So viele nahmen an, dass sie ihre Position bloß bekommen hatte, weil sie zur Familie gehörte. Nun, das war zwar richtig, aber sie konnte auch einen Lebenslauf vorweisen, der ihrer Position gerecht wurde.

Amelia hörte nicht, dass er sich bewegte. »Immer noch da?«, fragte sie das Fenster vor sich. Die Aussicht auf Londons Straßen so tief unter ihr war immer wieder fesselnd, auch durch den Regenschleier. Die Stadt war ein geometrisches Puzzle, das gelöst werden wollte. Sudoku in Menschenform. In welche Richtung würden die kleinen Punkte wandern, um einander am effizientesten zu umgehen? Mathematik in der Natur. Das reinste Wunder.

Douglas’ Stuhl knarzte.

Amelia wettete mit sich, was der Mann als Nächstes tun würde. Weiter Leugnen? Nein, sie hatte die Beweise bereits vorgelegt. Dachte er sich einen Rückzug aus, der ihm erlaubte, das Gesicht zu wahren? Möglicherweise. Vielleicht indem er einer Untergebenen die Schuld in die Schuhe schob? Hm.

»Meine Sekretärin …«, begann er.

Bingo. »Ist unschuldig«, sagte Amelia. »Sie habe ich zuerst überprüft. Außerdem ist Betty nicht diejenige, die sechsstellige Spielschulden hat.«

Amelia drehte sich zurück zu dem Mann, der ihren Zeitplan gerade um eine halbe Stunde nach hinten verschoben hatte. Inakzeptabel.

»Sieh dich an, Douglas. Dreiunddreißig Jahre alt und das ist alles, was du kannst? Veruntreuung? Dein Vater wird sehr enttäuscht von dir sein. Du hast diesen Job nur bekommen, weil er mich angefleht hat.«

Douglas warf ihr einen säuerlichen Blick zu. »Du brauchst es Dad nicht zu sagen«, murmelte er wenig überzeugt.

»Ich glaube, er wird es merken, wenn du die nächsten sieben bis zehn Jahre lang Hanukkah verpasst.«

Er wurde bleich. »Du willst die Polizei auf mich hetzen? Ich bin dein Cousin!«

»Ja, das bist du. Bedauerlicherweise.« Sie spielte mit einem silbernen Füllfederhalter auf ihrem Schreibtisch herum, einem Geschenk von Duxton Hotels Finanzchef Joe Duxton. Er war Amelias Lieblingsonkel – obwohl das angesichts der Auswahl von Angehörigen nicht viel zu sagen hatte – und außerdem Douglas’ Vater.

Sie seufzte müde. »Du hast Gelder des Familienunternehmens veruntreut. Meinen Einschätzungen nach hast du 127.553 Pfund gestohlen und vorgehabt, noch viel mehr zu ergaunern.« Um der Kürze willen ließ Amelia die Pennies weg, obwohl es ihr gegen den Strich ging, nicht völlig korrekt zu sein.

»Aber das ist Kleingeld für dich! Komm schon, wir können uns doch irgendwie einigen. Damit es nicht so peinlich für alle Beteiligten ist. Auch wenn ich dir scheißegal bin, denk an die Familie.«

»Ich denke an die Familie. Darum geht es ja gerade. Das Sicherheitspersonal wird dich hinausbegleiten.« Sie drückte einen Knopf auf ihrem Tisch, um die Security zu rufen. »Sie werden dich festhalten, bis die Beamten vom Betrugsdezernat da sind. Und erzähl mir nichts mehr von unserer Familie. Du bist eine Schande für die Duxtons.«

»Du kleine Hure.« Douglas ballte die weichen Hände zu Fäusten.

Amelia kniff die Augen zusammen. »So eloquent wie eh und je.«

»Du bist schon eine hochnäsige Hexe, oder? Behandelst uns alle wie Dreck. Bist ungefähr so warm wie eine Hundeschnauze im Winter. Kein Wunder, dass sie dich hierher verbannt haben.«

»Wenigstens wandere ich nicht ins Gefängnis.« Sie sagte es sanft und leise und untermalte die Worte mit einem spöttischen Lächeln. Sie wollte ihm auf keinen Fall zeigen, dass er einen Nerv getroffen hatte.

Angst stand in seinen Augen, aber offensichtlich war er noch nicht fertig. »Du tust so, als wärst du besser als alle anderen, aber eigentlich bist du nur verbittert. Weil dein Bruder Amerika bekommen hat und nicht du und du dich verziehen musstest.« Douglas’ Augen leuchteten triumphierend.

Sie hob eine Augenbraue. »Das ist Jahre her. Ich bin zufrieden damit, die europäischen Häuser zu führen.« Amelia verschränkte die Arme vor der Brust. »Und die Hauptsache ist, dass unsere Firma floriert. Ich bin sicher, Oliver hat in den USA alles unter Kontrolle.« Als würde sie je irgendetwas anderes zugeben.

Douglas brach in lautes Gelächter aus. »Du glaubst, Oliver hat die Dinge unter Kontrolle? Hast du die Schlagzeilen heute schon gesehen? Sehr unterhaltsam.«

Was zum Teufel hatte ihr kleiner Bruder jetzt wieder angestellt? Sie hoffte, dass es nur ein weiterer lächerlicher, gescheiterter Publicity-Stunt war und nichts Schlimmeres.

»Ich habe keine Zeit für das, was als ›Nachrichten‹ durchgeht, solange es nicht auf den Finanzseiten steht«, sagte Amelia. »Ich habe vierunddreißig Hotels zu leiten. Alles, was mich jetzt interessiert, ist die Tatsache, dass ich mich wegen dir zu den abschließenden Verhandlungen um das Mayfair Palace verspäte. Wenn wir dieses Geschäft wegen dir nicht in trockene Tücher bekommen, werde ich deinen Vater auch darauf hinweisen.«

Douglas klappte sofort den Mund zu, was bewies, dass er doch noch ein Fitzelchen Verstand hatte. Alle bei Duxton wussten, was für eine riesige Sache das Mayfair Palace für sie war. Onkel Joe wartete besorgt darauf, dass sie die Verhandlungen um das begehrte Hotel endlich abschlossen.

Seine ständigen Anrufe deswegen waren ein wenig beleidigend. Wann hatte sie je einen Fehler begangen? Amelia führte ihre Geschäfte effizient, mit sorgfältigem Risikomanagement und einem kleinen Budgetpuffer. Bei ihr gab es keine angeberischen Höhenflüge, wie ihr Bruder sie sich zu Hause gönnte. Um fair zu sein, Olivers marktschreierische Marketingkampagne schien in Nordamerika gut zu laufen. Über Geschmack ließ sich allerdings streiten.

Amelias Handy klingelte, eine unverwechselbare Melodie, die nur zu einer Person gehörte.

Douglas’ Augenbrauen schossen in die Höhe, aber sie würde ihm nicht erklären, warum es gerade Taylor Swifts Shake It Off war … oder zu wem der Klingelton gehörte.

»Darling«, grüßte sie warm und warf Douglas ein langsames, aufreizendes Lächeln zu, während sie antwortete: »Nein, nichts Wichtiges.« Amelia drehte ihren Sessel wieder zum Fenster und hörte ihrer neunjährigen Nichte Imogen zu, die in voller Fahrt war. Nach einer Minute kam auch Amelia endlich zu Wort.

»Nein, ich glaube nicht, dass Eulen Knie haben, aber das ist eine ausgezeichnete Frage. Wir sollten sie gemeinsam recherchieren.« Amelia rechnete die Ortszeit in Sydney nach und hielt inne. »Warum rufst du mich um Mitternacht an?«

Sie hörte geduldig zu, als ein überschwänglicher Wortschwall an ihr Ohr drang. »Na ja, ich verstehe natürlich, dass ein neues Taylor-Swift-Album zu aufregend ist, um nach dem Hören auch nur an Schlafen zu denken, aber du solltest es wenigstens versuchen. Wenn du mir eine Liste mit deinen Fragen schickst, können wir die bald zusammen durchgehen.«

Das Schmollen am anderen Ende der Leitung war beinahe hörbar, als Imogen fragte: »Welche Art von bald? Eines, das niemals Wirklichkeit wird?«

»Nein, bald – wie ein Versprechen von mir.«

»Das ist bald.« Jetzt klang Imogen fröhlich. »Okay.«

»Gute Nacht, Darling.« Amelia drehte sich mit dem Sessel zu Douglas zurück, während sie das Gespräch beendete.

Er hatte einen belustigten Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Entweder du hast einen komischen Geschmack, was deine Partnerinnen betrifft, oder meine Nichte treibt wieder ihren üblichen Unsinn. Warum sagst du der Göre nicht einfach, sie soll den Mist googeln wie alle anderen auch?«

»Wissensdurst ist nie etwas Schlechtes.« Amelia musterte ihn kühl. »Schade, dass du nie dazulernen wolltest, sonst würden wir jetzt vielleicht nicht hier sitzen.«

Seine Miene verdüsterte sich, aber bevor er antworten konnte, kamen die uniformierten Sicherheitsleute herein.

Amelia nickte zu Douglas. Kräftige Hände legten sich auf Ellbogen und Schulter ihres Cousins und schoben ihn Richtung Tür.

Der Anblick seines Maßanzugs – zweifellos aus veruntreuten Geldern bezahlt – machte sie wütend. Sie warf ihm einen bösen Blick hinterher und erst als er weg war, entspannte sie sich wieder etwas.

In einem Punkt hatte Douglas recht. Das würde verdammt peinlich für die Firma werden.

Amelia atmete tief durch und drückte einen Knopf auf ihrem Telefon. »Quinn? Komm bitte kurz rein.«

Ihre Assistentin, eine bezaubernde Frau aus East London, stürzte mit ihrer üblichen jugendhaften Überschwänglichkeit in den Raum. Quinn Hartman war sechsunddreißig und damit knapp zehn Jahre jünger als Amelia, aber an manchen Tagen sah es mehr nach zwanzig Jahren Unterschied aus. In ihrem schicken pflaumenfarbenen Anzug, der fantastisch zu ihrer dunklen Haut passte, war Quinn ein Bündel voller aufgestauter Energie.

Amelia schätzte starke, unabhängige Frauen. Die affektierten Mädchen mit laschem Händedruck und gekünsteltem Lachen, die ihre intelligenten Köpfe vor der Welt versteckten, konnten ihr erspart bleiben. Frauen sollten offen und ehrlich zeigen, wer sie waren.

Leider hatte dieser forsche Ansatz in ihrer eigenen Familie nicht gerade gut funktioniert, aber Amelia konnte und wollte sich ebenso wenig verstellen wie Quinn.

»War es sehr schlimm?«, fragte Quinn und verschränkte die Arme, während ihr Blick auf den jetzt leeren Besucherstuhl fiel.

»Nein. Nur lästig.«

Quinn nickte.

»Ich muss Joe anrufen«, Amelia seufzte, »und meinem lieben Onkel sagen, was sein Sohnemann in den letzten vier Monaten hier getrieben hat. Douglas hat nicht nur seinen Job verloren, diesmal wandert er auch ins Gefängnis.«

»Mist.« Quinn ließ sich auf den Besucherstuhl fallen. »Warum hat er das getan?«

»Douglas ist spielsüchtig, er hat bereits sein ganzes Vermögen durchgebracht. Meine größere Sorge ist, dass er in Kauf genommen hat, der Familie zu schaden.«

»Ich glaube, er ist immer noch beleidigt, weil Simon die Stelle in Sydney bekommen hat, die er immer wollte. Muss verdammt frustrierend sein, wenn dein jüngerer, dümmerer Bruder den Job bekommt, von dem du immer dachtest, du könntest ihn besser machen. Oder wenn du, wie in deinem Fall, tatsächlich weit, weit besser bist.« Quinn sah Amelia vielsagend an.

Nicht das schon wieder. »Hast du nichts zu tun?«, murmelte Amelia und warf ihr einen bösen Blick zu.

Quinn grinste, offenbar überhaupt nicht eingeschüchtert.

»Und?« Amelia trommelte mit den Fingern auf ihren Tisch. »Könnten wir vielleicht aufhören herumzusitzen und Vermutungen über meine zerrüttete Familie anzustellen? Ich muss mit Joe sprechen, bevor Douglas seine Kündigung zu einem harmlosen Missverständnis verdreht.«

Quinn zögerte. »Also, was deinen Onkel betrifft … Joe hat schon angerufen.«

»Wie konnte er so schnell davon erfahren? Douglas sollte immer noch unter Aufsicht unten sitzen.«

»Er hat wegen Oliver angerufen. Und check deine E-Mails. Es ist … na ja, diesmal ist es richtig schlimm.«

»Wie schlimm? Schlimmer als die Sache mit dem Heißluftballon?« Amelia zog ihren Laptop zu sich heran. »Was kann mein Bruder jetzt wieder angestellt haben?«

Quinn verzog das Gesicht. »Die bessere Frage wäre: Was hat er nicht angestellt?«

Kapitel 2

Der Rausch der Jagd

Kais Füße trommelten nur so auf das Laufband, angetrieben vom Adrenalin ihrer Begegnung mit dem Kurier. Heute war sie so verdammt nah dran – die persönliche Bestzeit, der sie seit Monaten nachjagte, war zum Greifen nah.

Der Schweiß trat ihr aus allen Poren, sie spürte die Anstrengung in ihren Muskeln. Sie liebte das, das herrliche berauschende Brennen, die Macht, das Gefühl des Sieges.

Sie starrte auf die Ziffern auf dem Display des Laufbands. Es wäre gut, wenigstens einen Erfolg zu haben – etwas, das sie nach der letzten Woche dringend brauchte.

Kais Chef Benjamin Stein, der CEO der Grand Millennium Hotels, hatte sie gebeten, ein Hotel in Übersee für die Firma zu erwerben.

Das Mayfair Palace in London würde bald fertiggestellt sein und eröffnen. Stein hatte beschlossen, dass es genau das Richtige für sie war: ein so einzigartiges Hotel, dass sein Unternehmen dafür zum ersten Mal den Schritt auf den internationalen Markt wagen würde.

Das Hotel spielte in seiner ganz eigenen Klasse und strotzte nur so vor Opulenz und Eleganz. Von einer Auswahl an Kopfkissen bis zu einem über dem Atrium eingelassenen Swimmingpool und Bäumen, die verkehrt herum über dem Foyer hingen. Architekten, Reisejournalisten und Designer schwärmten davon.

Kai war vor allem neugierig darauf, wie das alles funktionierte. Wie ging das mit den hängenden Bäumen? Warum fiel die Erde nicht aus den Töpfen?

Vielleicht sollte sie ihre Assistentin darauf ansetzen zu prüfen, ob das mit den Bäumen auch in Kais Büro möglich wäre. Allein schon die fragenden Gesichter ihrer Besucher wären das wert. Es würde sie verunsichern – und das war immer eine gute Geschäftstaktik.

»Bitte setzen Sie sich«, könnte sie mit ernster Miene sagen. »Und passen Sie auf, dass Sie nicht mit dem Kopf an den Fikus stoßen, meine Herren. Er ist gerade erst gegossen worden.«

Sie kicherte, bevor sie an den Rest des Meetings mit Stein zurückdachte. Ihr vierundsiebzig Jahre alter Chef hatte sie so vertrauensvoll angesehen, dass ihr schon bei dem Gedanken daran, das Mayfair-Palace-Geschäft nicht zustande zu bringen, leicht übel wurde.

Noch schlimmer war die Tatsache gewesen, dass Mr Stein seinen Stolz riskiert hatte.

»Ich brauche das, Kaida.« Er hatte ihren vollen Namen bittend in die Länge gezogen, sodass er wie Kaiii-da klang. Stein hatte sich über seinen antiken Schreibtisch gelehnt und mit seinen vor Aufregung geröteten Wangen wie die Puppe eines Bauchredners ausgesehen. »Als ich letzten Monat in London war, habe ich den Entwickler des Mayfair Palace getroffen, um mein Interesse deutlich zu machen. Aber dieser Nedal al-Hamadani hat mich nur angegrinst«, knurrte Mr Stein. »Gegrinst. Als wäre Grand Millennium ein kleiner Fisch für ihn! Wie kann er es wagen? Siebenundsechzig Luxushotels überall in den USA, aber der Mann betrachtet uns nicht als einen solventen Käufer!«

Er kniff seine Augen zu Schlitzen zusammen. »Du weißt warum. Die Lügen von diesem Mamser!« Er hob drohend seinen Zeigefinger. »Merk dir meine Worte!«

Dass er das hebräische Wort für »Bastard« gebrauchte, zeigte, wie wütend er über die Abfuhr war. Natürlich war ihr ohnehin leicht paranoider Chef jedes Mal, wenn ein Geschäft ins Wasser fiel, fest davon überzeugt, dass sein Erzrivale seit fünfzig Jahren, Duxton Hotels, dafür verantwortlich war.

Diesmal könnte sein Verdacht aber tatsächlich gerechtfertigt sein. Duxton hatte es mit Sicherheit ebenfalls auf das Mayfair Palace abgesehen. Es war ein Monument der Dekadenz, ganz wie es die protzige Hoteliersfamilie liebte.

Stein hatte seine Tirade mit einem reumütigen Lächeln beendet. »Ich weiß, ich bin nicht gut darin, was Nettigkeiten und das ganze Blabla betrifft. Dafür habe ich ja dich, Kaida, meine Liebe. Du bist die perfekte Frau für Vertragsabschlüsse. Deine Networking-Fähigkeiten und dein Charme sind einzigartig und du hast ein goldenes Händchen für den Umgang mit den unterschiedlichsten Leuten. Na ja, jedenfalls mit den Leuten, die nicht wollen, dass du in der Gosse liegst.« Er kicherte.

Wahnsinnig komisch. Es wäre netter gewesen, wenn er sich den Scherz verkniffen hätte.

»Bring das Geschäft für mich unter Dach und Fach, damit den Duxtons endlich ihr selbstgefälliges Lachen vergeht. Wenn du das schaffst, gebe ich dir zum Jahresende einen Bonus, neben dem der vom letzten Jahr aussieht wie ein trockenes Brötchen.«

Zum Teufel mit ihm. Nur kein Druck. Und wurden Brötchen nicht schnell trocken?

Bei dem Gedanken daran, gegen wen sie anzutreten hatte, legte sie einen weiteren Spurt ein. Ihre Muskeln protestierten, aber sie trieb sie noch härter an. Verglichen mit dem Sieg war der Schmerz hier bedeutungslos.

Kai stöhnte, als sie an den Wochenanfang zurückdachte. Die besten Verhandlungstechniken waren nutzlos, wenn jemand sich weigerte, ihre Anrufe anzunehmen. Warum sollte dieser Mayfair-Palace-Verkäufer sie meiden? Wollte er etwa nicht den besten Deal für sein Projekt? Konkurrenz trieb die Preise nur weiter in die Höhe.

Sie hatte die sozialen Medien durchforstet, in der Hoffnung, eine Veranstaltung zu finden, auf der Nedal al-Hamadani vielleicht auftauchen könnte und auf der sie ihn in eine ruhige Ecke entführen konnte, selbst wenn sie dafür nach London fliegen musste. Aber alles, was sie herausfand war, dass er sich nicht in den sozialen Medien zeigte. Nirgendwo.

Kai hatte das Internet durchsucht wie eine Besessene, auf der Suche nach Fotos von ihm, LinkedIn-Profilen, Businessinterviews, Orten, an denen er gesehen wurde, Leuten, mit denen er feierte. Sie fand nur gähnende Leere.

Wie ungewöhnlich. Es wurde zwar eine Menge über den schwer zu fassenden Geschäftsmann geschrieben, aber nicht ein einziger Artikel war mit seinem direkten Input verfasst worden. Und Fotos gab es überhaupt keine von ihm.

Als sie endlich telefonischen Kontakt mit Hamadanis übereifrigem persönlichen Assistenten aufgenommen hatte, hatte er gesagt, sein Chef wäre nicht interessiert und würde England ohnehin bald verlassen, also könnte sie ihre Bemühungen, ihn zu sehen, getrost aufgeben.

Sie sollte einfach aufgeben? Kannte dieser abschätzige, kleine Frosch ihren Ruf nicht? Kai wurde nicht die »Schließerin« genannt, weil sie Reißverschlüsse verkaufte!

Die Informationen des Assistenten waren beunruhigend. Wenn Hamadani drauf und dran war, das Land zu verlassen, bedeutete das, dass er bereits einen Käufer für das Mayfair Palace hatte. Und dreimal darfst du raten, wer das wohl ist.

Mr Stein würde nicht glücklich sein.

Aber es blieb ein Rätsel. Das Angebot der Duxtons konnte doch nicht so gut sein, dass konkurrierende Gebote komplett ausgeschlossen wurden?

Welche Verhandlungsführer hätten diesen Handstreich durchziehen können? Duxtons Unternehmensanwälte hatten etwa so viel Erfindungsgeist und Charme wie Mistkäfer, während Oliver Duxton, der dafür bekannt war, sich gelegentlich selbst an einem Geschäftsabschluss zu versuchen, immerhin hübsch anzusehen war.

Kai schob die Frage – Wer verhandelt für Duxton um das Mayfair Palace? – in Gedanken an die Spitze ihrer Liste an Dingen, die ihre Assistentin recherchieren sollte, noch vor den hängenden Bäumen.

Lächelnd stellte sie sich Millys gequälte Miene vor, wenn sie sie darum bat. Im Ernst, Milly war viel zu verkrampft. Kais ständig gestresste Assistentin brauchte mehr Spaß im Leben. Vielleicht brauchte die lockenköpfige Rothaarige mit der blassen Haut und den riesigen grünen Augen, die sich immer in cremefarbenen Strickjacken und pflegeleichten Kleidern versteckte, einen heißen neuen Liebhaber, der sie etwas in Schwung brachte. Oder wenigstens überhaupt einen Liebhaber.

Hm. Ob Milly wohl ein Leben abseits der Arbeit hatte? Sie hatte nie etwas dergleichen erwähnt. Na, das klang nicht besonders ausgeglichen, oder? Selbst Kai fand mehr oder weniger regelmäßig Zeit, ihren Motor zum Schnurren zu bringen.

Sie warf einen Blick auf das Display des Laufbands. Noch sechzig Sekunden. Kai lenkte sich von ihren zittrigen Beinen ab, indem sie sich vorzustellen versuchte, wer wohl Milly Valentines Typ war.

Nichts.

Dreißig Sekunden. Kai gab alles. Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrem drohenden Scheitern, Stein sein Traumhotel zu liefern. Mit ihrer Fähigkeit, Informationen aufzuspüren, herauszufinden, was Leuten wichtig war und sie zu bezaubern, entging ihr bei persönlichen Begegnungen nur selten ein Geschäft. Aber es war unmöglich, heiße Luft zu bezaubern.

Das Laufband piepte. Durch den Schweiß, der in ihren Augen brannte, betrachtete sie die blinkenden roten Ziffern. Verdammt. Sie hatte ihr Ziel um zwei Sekunden verpasst.

Kai schaltete in den Erholungsmodus, drosselte ihr Tempo und griff den Saum ihres Tank Tops, um sich damit über das Gesicht zu wischen.

Eine sportliche blonde Frau mit Pferdeschwanz, die auf dem Spinning-Bike gegenüber in die Pedale trat, warf ihr einen langen, anerkennenden Blick zu.

Na, sieh mal an. Das ist schmeichelhaft. Ich bin also immer noch attraktiv für Studentinnen?

Kai sah sich um. Es war noch früh und sie waren allein bis auf einen sehr konzentriert wirkenden Muskelmann am anderen Ende des Studios, der in seiner eigenen Welt versunken war und vor einem Spiegel Bizeps-Curls machte.

Während ihr Blick zu der Frau zurückging, wanderte Kais Fantasie an ziemlich angenehme Orte und zu interessanten Möglichkeiten. O ja. Apropos Motor zum Schnurren bringen …

Nicht heute, tadelte sie sich. Sie hatte zwei mögliche Deals für Hotelübernahmen zu bewerten und einen abgetauchten Mayfair-Palace-Unternehmer aufzuspüren. Daneben war keine Zeit für eine flüchtige Ablenkung, auch wenn sie aussah, als wäre sie direkt einer Nike-Werbung entsprungen.

Ihr Laufband piepte erneut und stoppte. Kai stieg vom Band herunter und dehnte sich träge. Gut, das war eher zur Schau als für ihre Muskeln gedacht, aber ihrem Publikum schienen Kais schweißglänzende Oberarme und das an der Haut klebende Tank Top zu gefallen.

Kais Blick ging zu dem großen Fernsehbildschirm an der Wand hinüber, auf dem die Börsennachrichten zu sehen waren. Gerade lief eine Sondermeldung über den unteren Teil des Bildes. Sie erstarrte.

O nein. Verdammt noch mal. Nein.

Sie marschierte quer durch den Raum. Die Pferdeschwanzfrau lächelte breiter, als Kai auf sie zukam, und ließ dann die Schultern sinken, als Kai an ihr vorbeistürmte.

Sie fand die Fernbedienung und stellte den Fernseher lauter.

Oliver Duxton, Vizepräsident US der Hotelkette Duxton International, wurde verhaftet.

Kurz nach drei Uhr letzte Nacht verfolgten sechs Polizeiwagen den Hotelchef in seinem Porsche Cabrio auf seiner Flucht durch Manhattan. Berichten zufolge fuhr Duxton unberechenbar, streifte geparkte Fahrzeuge und warf Bierdosen auf andere Autos, Busse und Passanten.

Die Polizei trieb Duxton in die Enge und verhaftete ihn wegen Alkohol am Steuer, Unfallflucht, fahrlässiger Gefährdung anderer Personen und mehrerer Verkehrsdelikte.

Seine Begleiterin, die Pornodarstellerin Scarlet Lay-Dee, wurde ohne Anklage freigelassen. Die Polizei beschlagnahmte Tüten mit einer verdächtigen weißen Substanz aus dem Auto. Weitere Anklagen sind abzuwarten.

Oliver Duxton ist bekannt für seine wilden Feiern, Promi-Partnerinnen und gewagten Werbekampagnen für den amerikanischen Teil der internationalen Hotelkette, die er führt.

Handyvideos von Zuschauern zeigten Duxton mit dem Gesicht nach unten auf der Straße liegen, während ihm Handschellen angelegt wurden, und wie er die Polizisten anschrie, dass er sie feuern lassen würde.

Die Polizisten beleidigen, die ihn gerade verhafteten? Das liebten sie besonders.

Kai starrte auf das Foto, das auf dem Bildschirm erschien. Na, sieh mal einer an. Duxtons Auserwählter ging also unter? Konnte ja kein größeres Arschloch treffen.

Sie griff in die Gesäßtasche ihrer Leggins, holte ihr Handy heraus und schickte eine schnelle SMS, um ihren Chef zu benachrichtigen, wobei sie weiterhin ein Auge auf den Fernseher hatte.

Inzwischen berichtete ein Reporter mehr über das Hotelunternehmen Duxton und davon, dass Oliver das gesamte Imperium erben sollte, wenn sein Vater nächsten Monat als CEO in den Ruhestand ging. Aktionäre würden nun sicher abspringen, sobald die Börsen öffneten.

Oh, wenn sie nur als ein Mäuschen im Eckchen dabei sein könnte, wenn Conrad der Konservative heute auf seinen Koksersohn traf. Der Mann hatte seinen launischen Nachwuchs auf seine Rolle als Erbe vorbereitet, seit Oliver fünfzehn Jahre alt war. Das bedeutete eine Menge Zeit und Geld, zu viel, um sie einfach wegzuwerfen. Aber jetzt würde Conrad das bestimmt in Betracht ziehen, oder? Aber wer konnte Oliver ersetzen? Der Rest seiner Familie war zu alt, zu nutzlos, zu unerfahren oder … Moment mal.

Kai tippte auf ihr Handy ein, den Blick fest auf den Fernseher gerichtet.

»Milly?« Sie wartete einen Moment, damit ihre Assistentin wach werden konnte, bevor sie fortfuhr. »Ja, ich weiß, wie spät es ist. Lass das Gähnen und hör zu.« Kai hörte es rascheln, als Milly nach einem Stift suchte. »Okay, ich will, dass du mir ein Dossier zu Olivers Schwester Amelia Duxton zusammenstellst. Sie lebt in London, glaube ich.«

Kai tippte sich mit dem Handy auf die Lippe und versuchte, sich die Frau vorzustellen. Da sie drüben in Europa saß, war Amelia bisher nicht von strategischem Interesse gewesen, daher hatte Kai sie größtenteils ignoriert.

Milly murmelte eine Frage.

Kai konzentrierte sich wieder auf ihr Handy. »Siehst du dir nicht die Nachrichten an? Ja, auch um …«, sie sah auf die Uhr auf ihrem Handy, »fünf Uhr dreiundfünfzig erwarte ich, dass meine leidenschaftliche und beeindruckende Assistentin über alle Eilmeldungen in unserer Branche Bescheid weiß. Oliver wurde gerade verhaftet. Und wenn seine Schwester ihn ersetzt, müssen wir eine Strategie bereit haben. Das könnte unseren Verhandlungsansatz ändern, wenn wir gegen die Duxtons bieten. Ich will in zwei Stunden ihr vollständiges Profil auf meinem Tisch haben.«

»Ja, Ms Fisher.«

»Und wenn du schon dabei bist, unsere Poststelle soll einen Kurierdienst auf die schwarze Liste setzen. Couriers Direct USA.« Sie hielt inne. »Ja, ja, noch ein Firmenboykott. Verurteile mich ruhig, aber ich mag nun mal keine Organisationen, die rücksichtslose Tyrannen beschäftigen. Ich schicke dir ein Foto vom Grund für den Boykott. Die Firma soll wissen, dass ihr Fahrer seit Wochen Passanten über den Haufen fährt. Vielleicht retten wir damit ein Leben.«

»Klar. Foto.« Milly gähnte wieder.

Sie lächelte über Millys Bemühungen, aufmerksam zu klingen. Kai hielt die Frau tatsächlich gern auf Trab. Aber sie zahlte Milly auch doppelt so viel, wie die meisten persönlichen Assistenten von Führungskräften verdienten, damit sie sie aushielt.

»Tut mir leid, Ms Fisher.«

»Wie oft muss ich dich noch bitten, mich Kai zu nennen? Vor allem so früh am Tag.«

»Mindestens noch einmal«, sagte Milly mit einem Lächeln in der Stimme. Es war eine alte Diskussion, die Kai immer wieder verlor.

Kai verabschiedete sich und dachte über ihren nächsten Schritt nach. Stein würde es gern sehen, wenn sie seinem schlimmsten Feind etwas Ärger bereitete. Ganz offensichtlich gab es einiges für ihre Seite herauszuholen, wenn der Duxton-Erbe sich so spektakulär ruinierte. Es wäre so einfach, Olivers Missgeschick von schlecht in apokalyptisch zu verwandeln, und sie wusste, wie sie die Nachrichtenlage zu ihrem Vorteil nutzen konnte.

»Kennst du den Kerl?«

Kai zuckte zusammen.

Das Spinning-Bike hinter ihr hatte aufgehört zu surren. Die Pferdeschwanzfrau stand jetzt neben ihr und schaute zu Olivers Gesicht auf dem Bildschirm hoch.

»Ich habe von ihm gehört«, sagte Kai vage. Man konnte nie wissen, wer auf gutem Fuß mit den Duxtons stand. Sie hatten ihre Tentakel überall. »Kennst du ihn?«

»Nicht persönlich. Er ist ein verzogener Balg.«

Kai entspannte sich ein wenig. »So sieht er tatsächlich aus.«

»Und ein gemeiner Chef. Du solltest den Kram sehen, den Scorched Earth über ihn ausgegraben hat.«

»Scorched Earth?« Kai warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Das sind diese Journalisten, die Führungskräfte aufspüren und öffentlich anprangern, die ihre Mitarbeiter schlecht behandeln. Früher hatten sie eine große Website, jetzt ist es nur noch ein Twitteraccount. So oder so, diesen Duxton kritisieren sie am häufigsten. Sie haben ihn fünf Jahre hintereinander zum schlechtesten Boss New Yorks gekürt.« Sie zeigte auf das Foto von Oliver mit blutunterlaufenen Augen und stoppelbärtigem Kinn.

»Das glaube ich gern.« Kai nickte. »Warum interessierst du dich dafür?«

»Ich finde es gut, auf dem Laufenden zu bleiben. Wissen ist Macht.« Die Frau lächelte und zwei niedliche Grübchen erschienen auf ihren Wangen. »Ich bin Tracy. Tracy Fox.«

Wissen war nicht Macht, Kontakte waren Macht, aber Kai korrigierte sie nicht. Tracy Fox … bei dem Namen klingelte etwas. »Du bist die Fitnessbloggerin.«

»Ich ziehe ›Fit-Sport-Guru‹ vor. Du weißt schon … Fitness-Influencer?«

Ah, ja. Kai hatte hier und da ihre Beiträge gelesen. Fitnesstipps und aufregende Fotos von Tracy und ihren herrlichen, sehnigen Muskeln waren überall in den sozialen Medien zu finden. Sie war unheimlich beliebt und postete ständig motivierende Zitate über Frauenpower. Frauen können es schaffen. Widersteht dem Patriarchat.

»Und, wie viele Follower hast du?«

Tracy reckte sich etwas. »Zweihundertdreiundvierzigtausend.«

Die Zahl war ihr offensichtlich wichtig. Kai merkte sich das und lächelte. »Beeindruckend.« Das stolze Funkeln in Tracys Augen verriet ihr, dass sie genau das Richtige gesagt hatte.

»Gleichfalls. Als ich vorhin auf dem Crosstrainer war …«, Tracy deutete zu den Geräten, die in Richtung auf die großen, getönten Fenster standen, »habe ich deine Begegnung mit diesem Fahrradkurier gesehen. Ich musste laut lachen, als du seine Klingel vor einen Lieferwagen geworfen hast.«

»Was soll ich sagen? Mein Blutdruck war hoch. Und ich habe eine Vorliebe für Gerechtigkeit.«

»Na, das und er hat deinen Kaffee verschüttet«, sagte Tracy. »Wenn mein Cappuccino weg wäre, hätte ich auch den Impuls, irgendjemanden zu erdrosseln.«

»Cappuccino also, hm?« Kai grinste.

»Meine geheime Schwäche.«

»Das ist gar keine schlechte Schwäche. Ist ja nicht so, als würdest du nachts wach bleiben, Chocolate-Chips-Eiscreme aus der Packung löffeln und die Juroren von Dancing with the Stars anschreien, weil sie die falschen Kandidaten rauswerfen.« Kai hüstelte. »Nicht, dass mir das je passiert wäre.«

Tracy lachte. »Also bist du nicht mal ansatzweise cool? Ist es das, was du mir sagen willst?«

»Ich dachte, wir wären uns einig, dass das nicht passiert ist.« Kai heuchelte Unschuld. »Falls irgendjemand fragt, ich habe auf keinen Fall jemals irgendwelche Sachen in Richtung meines Fernsehers geworfen, nur weil Paige VanZant, Göttin des Salsa, verloren hat.«

»Diese Martial-Artist-Kämpferin? War das nicht schon vor Jahren?«

»Zeit ist nicht von Bedeutung, wenn Unrecht geschieht.« Kais Lippen zuckten amüsiert.

»Wenigstens hattest du deine Eiscreme, um dich zu trösten. Sei ehrlich – hast du sie nur gemocht, weil sie richtig heiß war?«

»Wer, ich? Den Kopf von der atemberaubenden Schönheit einer Frau verdreht?« Kais Blick fiel auf Tracys wohlgeformte Figur. »Das klingt überhaupt nicht nach mir.«

»Netter Versuch.« Tracys amüsierter Gesichtsausdruck verriet, dass sie schon jede mögliche Anmache gehört hatte.

»Na ja, zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass du richtig attraktiv bist und mein Gehirn automatisch in den Flirtmodus geschaltet hat. Stört es dich?«

»Das habe ich nicht gesagt. Es ist nur … du kennst mich gar nicht.«

Das war kein Nein zum Thema Flirten. Kai strahlte. »Du hast recht, also lass mich das nachholen. Hi, ich bin Kaida Fisher. Kurz Kai.«

»Ein ungewöhnlicher Name.«

»Es bedeutet ›kleiner Drache‹ auf Japanisch.«

»Warum hast du einen japanischen Vornamen?«

»Also«, Kai lehnte sich vor und vertiefte sich in das Thema, »meine Mom ist Künstlerin, sie hatte gerade ihre Shikki-Phase – das sind Lackarbeiten – und hat beschlossen, von den Besten in Wajima in Japan zu lernen. Während sie dort war, hatte sie eine Affäre mit einem europäischen Rucksacktouristen. Mom weiß nicht mehr genau, aus welchem Land er kam. Sie hat ein hoffnungslos schlechtes Gedächtnis und es ist Jahrzehnte her.« Kai zuckte mit den Schultern.

»Oh.« Bei dieser Offenbarung blinzelte Tracy sie mit leicht geöffnetem Mund an. »Verstehe.«

»Vielleicht mache ich eines Tages einen dieser DNA-Tests«, sagte Kai, winkte beiläufig mit der Hand ab und versuchte, nicht über Tracys verblüffte Miene zu lachen. »Um es herauszufinden.«

»Dann …«

»Aber ich schweife ab. Als ich ein Baby war, hat Moms japanische Nachbarin mich immer Kaida genannt, weil ich gebrüllt habe wie ein Drache. Das hat Mom so gefallen, dass der Name geblieben ist. Mein ›echter‹ Name ist Annabelle.« Sie verzog das Gesicht. »Was noch? Ich bin leitende Angestellte in der Hotellerie, Sternzeichen Löwe, war kurzzeitig Buddhistin und bin wahrscheinlich ein ganzes Stückchen älter als du. Nur damit du es weißt.« Sie lächelte verschmitzt.

Auch Tracy lächelte. »Bist du immer so von dir überzeugt?«

»Das kommt darauf an, mit wem ich zusammen bin.«

»Also bist du nicht bei allen dieselbe Person?«

»Ist das denn irgendjemand?«

»Ich glaube schon, dass ich immer ich selbst bin.«

Kai lächelte. »Also, ich verhandle unter anderem Hotelankäufe. Willst du meinen Schlüssel zum Erfolg hören?« Sie senkte verschwörerisch die Stimme. »Es geht darum, der anderen Partei die optimale Interaktion zu ermöglichen. Wenn jemand sich für lustig hält, liefere ich ihm ein paar Vorlagen, um Witze zu reißen. Manche wollen den zugeknöpften Anwalt spielen, also Zahlen und Fakten herunterrattern, um sich sicher zu fühlen. Andere wollen die Charmeoffensive, also sage ich ihnen, wie schick ihre Krawatte ist, damit sie sich begehrt fühlen können. Egal, was sie wollen, ich biete es ihnen, ob sie es nun merken oder nicht.«

»Du bist ein Chamäleon.«

»Ich ziehe ›heimliche Erfüllerin unausgesprochener Bedürfnisse‹ vor. Na ja, mehr oder weniger – ich erfülle nicht alle Bedürfnisse. Die Kerle mit den schicken Krawatten bekommen Komplimente, mehr nicht.«

»Und sie merken nicht, dass du dich nur daran anpasst, wer sie sind?«

»Wenn sie merken, was ich mache, funktioniert es nicht.«

»Aber mir hast du gerade gesagt, was dein Geheimnis ist.« Tracys Augen funkelten. »Du weißt schon, dass du deine Superkraft bei mir jetzt nicht mehr wirkt, oder?«

»Was das wohl bedeutet?«, meinte Kai betont langsam. »Dass ich meine ganzen Geheimnisse verrate? Ich muss dich wohl mögen.«

Tracy kicherte. »Sehr gut. Du bist sicher großartig in deinem Job.«

»Mein Chef hat mich zumindest noch nicht gefeuert.«

»Darauf wette ich.« Tracy musterte sie. »Würde ich mit der Vermutung, dass du eine der Besten auf deinem Gebiet bist, richtig liegen?«

Ein Lächeln trat auf Kais Lippen. Ja, sie war die Beste. Sie hatte zehnmal mehr Verhandlungen gewonnen als verloren. Sie konnte andere mühelos durchschauen und das half enorm.

Tracy Fox beispielsweise war recht leicht zu knacken. Internetpersönlichkeiten sprachen gut darauf an, wenn ihr Gegenüber private Details mit ihnen teilte. Also hatte Kai eine persönliche Geschichte über ihre Herkunft preisgegeben – zugegeben eine, bei der es sie nicht kümmerte, wer davon wusste.

Als Nächstes hatte sie ein Geschäftsgeheimnis ausgeplaudert. Die Leute fühlten sich besonders, wenn sie Insiderinformationen bekamen. Und da Tracy das Gefühl hatte, Kai hätte sie nah an sich hereingelassen, merkte sie nicht, dass sie gerade ihre eigene optimale Interaktion erlebt hatte.

Normalerweise machte Kai das alles aus Berechnung, aber sie schien auch sonst nicht anders zu können, als Leute mit ganzer Kraft zu bezaubern. Oft merkte sie nicht einmal, dass sie es tat.

Aber Charmeoffensiven und Manipulation beiseite, Kai musste zugeben, dass Tracy genau ihr Typ war: klug, schön und interessiert an der Welt. Schade, dass Kais Leben eine reine Katastrophe war, was Beziehungen betraf.

»Du bist also die Beste, hm?« Tracy blickte sie nachdenklich an.

»Das habe ich nicht gesagt«, bemerkte Kai.

»Deine Augen haben es gesagt.« Tracy wirbelte herum und ging zum Spinning-Bike zurück, wo ein kleines Handtuch über der Griffstange hing. Sie rieb sich damit über die nackten Arme und warf es über eine Schulter. Mit einem verspielten Blick fügte sie hinzu: »Ich glaube es dir gern. Und bist du immer so … leidenschaftlich … in allem?« Tracys Augen funkelten. »Von Verhandlungen und dem Anschreien von TV-Juroren bis hin zur Rache für einen verschütteten Becher Kaffee?«

»Immer. Das Leben ist dazu da, gelebt, geliebt und verschlungen zu werden. Was hätte es sonst für einen Sinn?«

Ein faszinierter Ausdruck huschte über Tracys Gesicht. »Interessant.« Ihr Blick verweilte. »Na ja, Zeit für mich, unter die Dusche zu hüpfen.« Sie rollte die Schultern. »Weißt du, ich könnte vielleicht eine Hand gebrauchen, die mir den Rücken wäscht. Jemand mit deinen Fähigkeiten könnte sich auch in der Hinsicht als nützlich herausstellen.«

Kai zog amüsiert die Augenbrauen hoch. »Wer weiß.« Ein Adrenalinstoß durchfuhr sie, aber sie zögerte. Die blauen Augen der Frau leuchteten etwas zu hell, um sich sicher zu fühlen. »Ich würde liebend gern etwas Spaß mit dir haben. Aber um es gleich zu sagen … ich gehe nie Beziehungen ein. Ist das in Ordnung für dich?«

»Niemals?« Tracy musterte sie neugierig. »Eine schlimme Trennung?«

»Nein, nichts dergleichen. Es ist nur so, dass ich kaum einen Goldfisch am Leben erhalten kann, geschweige denn eine Beziehung«, gestand sie. »Die Arbeit ist mein ganzer, einziger Mittelpunkt. Ich lebe dafür. Ich liebe sie. Träume sogar davon. Und es ist nicht fair, zu erwarten, dass jemand anders sich damit abfindet, dass ich immer dem nächsten Deal hinterherjage.«

»Ich verstehe. Danke für die Erklärung.« Tracy musterte sie einen Moment, bevor sie davonging und Kai ihre hübsch anzusehende Rückseite zeigte.

Na, damit wäre das erledigt. Aber es war besser, ehrlich zu sein – es gab genug gebrochene Herzen auf der Welt. Kai hatte bereits Erfahrung damit und mehr als genug Reue angesammelt. Sie wollte nie wieder der Grund für die Tränen einer Frau sein.

Und so appetitlich Tracy auch aussah, so beeindruckend der Schwung ihrer Hüften, Kai hatte eine Menge Arbeit zu erledigen.

Als Tracy am Ausgang angekommen war, warf sie mit einem verspielten Lächeln auf den Lippen einen Blick zurück über ihre Schulter. »Kommst du?« Die lüsterne Andeutung war unverkennbar.

Kai schluckte hart und lächelte. »Nur, wenn ich nicht die einzige bin.«

Tracy kicherte.

Okay, vielleicht wendete Kais katastrophale Woche sich doch noch zum Guten.

~ ~ ~

Amelia schloss ihre Bürotür ab und stellte eine kleine Schale mit Büroklammern vor sich. Sie wog ihre Alternativen ab. Okay. Zuerst ihr Bruder.

»Rufst du aus Schadenfreude an?« Olivers müde Stimme klang wie üblich seinem sarkastischen Charakter entsprechend, aber statt Übermut lag jetzt Niedergeschlagenheit darin.

Amelia zog die Augenbrauen hoch, als sie nach einer Büroklammer griff. »Ollie, ich mache mir Sorgen um dich.«

»Nun, die kannst du dir sparen. Es geht mir gut. Wie ich Mom und Dad und außerdem meinen Anwälten, dem vom Gericht ernannten psychologischen Gutachter, dem Richter und Isabella gesagt habe. Fuck.« Sein Tonfall wurde düsterer. »Sie hat mich fallen gelassen! So viel zum Thema gegenseitige Unterstützung. So eine Zicke.«

»Aha.« Also hatte Isabella doch einen Funken Selbstachtung.

Oliver seufzte. »Ich schätze, du liegst schon auf der Lauer? Vor allem da ich es nicht zur Krisensitzung des Vorstands schaffe. Meine Anwälte haben mich im Penthouse auf Hausarrest gesetzt als Sicherheit gegen die Freilassung auf Kaution.«

Amelia hörte auf, mit der Klammer zu spielen. »Welche Krisensitzung?«

»Onkel Joe ruft alle in die Firma zurück. Hat er dir das nicht gesagt?«

Sie entspannte sich. »Ich werde gleich mit ihm sprechen.«

»Nun, er wird dir sagen, dass du kommen sollst. Jeder, der bei Duxton etwas ist, wird einbestellt.« Sein Ton wurde ungehalten. »Anscheinend wird die Zukunft der Firma besprochen.«

Sie erstarrte. »Ach ja?«

Oliver brummte. »Ich habe gefragt, ob ich via Skype teilnehmen kann. Sie haben abgelehnt. Es ist nicht schwer zu erraten, warum.«

Oliver würde nicht dabei sein? Dann würden sie darüber sprechen, ihn zu ersetzen. Und wenn Joe sie in New York haben wollte, konnte das bedeuten, dass sie wenigstens als starke Kandidatin galt.

Die Hoffnung regte sich, bevor sie sie niederringen konnte. Nein. Sie war schon zweimal an diesem Punkt gewesen und hatte gedacht, sie hätte eine Chance auf eine der höchsten Stellen bei Duxton Hotels International. Obwohl … das war, bevor Oliver öffentlichen Karrieresuizid begangen hatte.

»… und dann hat der Richter gesagt, dass ich nicht einmal den Bundesstaat verlassen darf! Dieser Mistkerl.«

Was?

»Ich bin in allen verdammten Nachrichtensendungen. Als wäre das in der Geschichte der Menschheit noch nie vorgekommen! Was soll das denn?« Er klang verwundert.

»Begreifst du das wirklich nicht? Es geht darum, dass ein reicher, berühmter, protziger Geschäftsmann sich wie ein drogensüchtiger Student verhält. Die Menschen lieben es, wenn Leute wie du sich selbst zerstören. Sie fühlen sich besser, wenn jemandem, der alles hat, ein Dämpfer versetzt wird.«

»Leute wie wir, meinst du. Du bist auch reich.«

»Aber weder protzig noch berühmt. Und ich bin nicht der rechtmäßige Erbe von Duxton Hotels International.«

»Noch nicht«, murmelte er. »Also … fühlst du dich jetzt besser, Lia? Weil ich einen Dämpfer bekommen habe?«

»Nein.« Sie seufzte. »Das tue ich nicht. Überrascht dich das?«

»Ich schätze schon. Andererseits kenne ich dich ja, also nicht wirklich. Aber ich glaube, dass in der Liebe und im Krieg alles erlaubt ist.«

Sie wusste nur allzu gut, dass Oliver es gefeiert und höhnische Nachrichten hinterlassen hätte, wenn sie diejenige gewesen wäre, die sich in aller Öffentlichkeit blamiert hätte.

»Damit hast du endlich bekommen, was du wolltest, oder?«, fuhr Oliver fort und sein Atem ging stoßweise. »Meine Stelle an der Spitze von Duxton USA. Und du wirst die neue CEO. Du bekommst alles, oder?«

Das erschien ihr überhaupt nicht ausgemacht. »Oliver, komm schon, du bist glatter als Teflon, du rutschst immer irgendwie durch.«

»Diesmal nicht.«

Wenn die Nachfolgepläne geändert würden, hätte sie bereits von ihrem Vater davon gehört. Hatte sie aber nicht. Amelia sackte auf ihrem Bürosessel in sich zusammen. Wie verrückt von ihr, die Idee auch nur in Betracht zu ziehen. »Du weißt, dass Dad mich nie als Option sehen wird. Vor allem nicht, da er dich seit deiner Geburt darauf vorbereitet hat.«

Das Schweigen war lang. »Ja«, sagte er. »Gott, ja, du hast recht!«

Wunderbar. Amelia knickte ihre Büroklammer in der Mitte durch und griff nach der nächsten.

»Hey, tut mir leid. Das war wohl ein bisschen scheiße von mir.«

Nur ein bisschen?

»Ich bin nicht komplett ahnungslos, weißt du. Ich weiß, dass du mich hasst.«

»Warum?«, fragte sie neugierig.

»Weil du viel besser qualifiziert bist als ich. Ich weiß, dass du während der Finanzkrise ein paar schlaue Dinge gedreht hast, um deine Hotels zu retten. Mal ehrlich, ich hätte keine verdammte Ahnung gehabt, was zu tun gewesen wäre. Deshalb verstehe ich, dass du sauer bist, weil ich die Firma bekomme und nicht du.«

Amelia fragte sich, wo dieser seltene Anflug der Selbstreflexion herkam. Allerdings lag er völlig falsch. Sie respektierte ihren Bruder nicht, aber sie würde nicht wegen einer Entscheidung, die jemand anders getroffen hatte, sauer auf Oliver sein. Missgunst war lediglich verschwendete Energie. Amelias einziges Ziel im Leben war, Duxtons beste Managerin zu sein, sodass nicht einmal ihr Vater es übersehen konnte.

»Mist, ich brauche etwas gegen diese Kopfschmerzen.« Ein Plätschern war zu hören. Knackende Eiswürfel. Dann Schluckgeräusche. »Wo war ich? Oh, richtig. Du kannst besser mit Hotels als ich. Blabla. Aber das spielt keine Rolle, oder?« Jetzt klang er geradezu fröhlich. »Es ist ja nicht so, als würde Dad in nächster Zeit seine Meinung über deine … Neigungen ändern. Dein Pech.« Er klang alles andere als betrübt.

Sie seufzte. Ihre Finger drückten fester zu. »Ich weiß nicht, warum ich mir die Mühe gemacht habe, dich anzurufen.«

»Ich auch nicht.« Oliver kicherte.

Amelia warf die verbogene Büroklammer weg. Es war idiotisch von ihr zu hoffen, dass der Vorfall irgendwelche Veränderungen für ihrer beider Verhältnis bewirken könnte. »Ich habe nicht aus Schadenfreude angerufen«, murmelte sie. »Nur damit du es weißt.«

»Das weiß ich jetzt auch.« Er lachte. »Aber ich bin froh, dass du es getan hast. Jetzt geht es mir viel besser.«

Natürlich. »Meinst du, du kannst dich den restlichen Monat lang aus den Schlagzeilen raushalten?«

»Klar. Meine Fußfessel und die spontanen Drogentests garantieren das. Mom bleibt auch bei mir. Meint, sie will mich bis zum nächsten Gerichtstermin auf Kurs halten.«

Natürlich. Ihr Goldjunge musste verhätschelt und gefüttert werden. Für ihre Mutter, die ewige Friedensstifterin, entsprach es der natürlichen Ordnung, die Bedürfnisse der Männer in ihrem Leben zu erfüllen.

»Ach, und danke«, sagte Oliver ernster. »Dafür, dass du meinen Kram übernimmst, während ich außer Gefecht bin.«

»Deinen was?«

»Frag Joe, er wird dir alles erklären.«

»Warum erzählst du es mir nicht?«

»Frag ihn.« Er klang zurückhaltend. »Ich mach jetzt Schluss. Brauch noch ein wenig Schlaf. Aber hey, danke für die Aufmunterung.« Er legte auf, ohne auf ihre Antwort zu warten.

Sie starrte auf ihr Telefon. Was zum Teufel hatte Oliver ihr jetzt wieder eingebrockt? Und wie sehr würde es ihr diesmal das Leben versauen?

Kapitel 3

Vorsicht vor Drachen

Kai setzte sich in den Bürostuhl hinter ihrem Schreibtisch und griff nach dem dampfenden Kaffee.

»Perfektes Timing. Danke, Milly«, murmelte sie und nahm einen großen Schluck. Der Koffeinrausch gab ihr nach dem anstrengenden Workout am Morgen neue Energie. Ganz zu schweigen von all den Muskeln, die sie bei etwas anderem als Sport angestrengt hatte. »Hast du meine E-Mail über die hängenden Bäume bekommen?«

»Habe ich«, sagte Milly, und lediglich ihr Blick verriet ihre Skepsis. »Daran mache ich mich sofort. In der Zwischenzeit sind hier die Informationen über Olivers Schwester, die Sie wollten.« Sie schob eine Mappe über den Tisch.

Sie war verdächtig dünn. Kai stellte den Kaffeebecher ab. »Ist das alles?«

»Es gibt nicht viel über sie. Sie ist gerade sechsundvierzig geworden. War nie verheiratet. Keine Kinder. Keine Hobbys neben der Arbeit, soweit ich sehen kann.«

»Wie langweilig.«

Millys Miene verwandelte sich in ein höfliches Müssen Sie gerade sagen.

Touché.

»Sie ist wie Oliver in New York geboren«, fuhr Milly fort. »Jetzt lebt sie in London und führt die drei Dutzend Duxton-Hotels in ganz Europa. Offenbar hat sie 1995 versucht, Duxton USA zu übernehmen, als das Management umstrukturiert wurde. Zu der Zeit hat eine Branchenzeitschrift einen kleinen Artikel über die Gerüchte gebracht. Sie muss ihren Job gleich nach dem Universitätsabschluss angetreten haben.« Milly tippte auf einen Absatz, um Kais Blick dorthin zu lenken.

Kai pfiff anerkennend. »Sie hat einen Bachelor of Science in Internationalem Hotelmanagement von der École Hôtelière de Lausanne! Das ist die beste Hotelfachschule der Welt.«

»Ja, das hat sie.«

»Die meisten CEOs würden morden, um eine Absolventin der École Hôtelière als Hotelmanagerin zu bekommen.«

»Conrad Duxton ist nicht wie die meisten CEOs. Und er hat nicht nur einmal Nein zu seiner Tochter gesagt. 2002 hat sie wieder versucht, Duxton USA zu übernehmen, kurz bevor Oliver den Job bekam.«

»Zwei Versuche? Sie muss es wirklich gewollt haben.«

»Oder sie hat ihren jüngeren Bruder für eine schlechte Wahl gehalten. Danach ist sie untergetaucht. Sie ist nach Europa gegangen und es wurde ruhig um sie. Keine Aktivitäten in den sozialen Medien, Skandale oder irgendetwas anderes, was ich finden konnte.«

»Wie kann jemand ohne irgendeine Präsenz in den sozialen Medien ein Hotel führen?« Kai runzelte die Stirn. »Ihr Marketingchef sollte erschossen werden. Sogar Mr Stein tweetet ab und zu für das Grand Millennium und er ist vierundsiebzig!«

»Nur weil Sie ihn dazu zwingen«, erinnerte Milly sie. »Vielleicht ist sie einfach ein sehr privater Mensch.«

»Oder sie ist einfach bescheidener als ihr Bruder.«

»Oh, sie ist überhaupt nicht wie ihr Bruder.« Milly legte ein paar weitere Seiten vor Kai. »Sehen Sie sich ihren sonstigen Hintergrund an. Sie wird in einem alten Duxton-Jahresbericht vorgestellt.«

Sieh an. Nach ihrem Bachelor an der École Hôtelière hatte Amelia Duxton noch einen Masterabschluss in Hotelmanagement gemacht. Hervorragende Referenzen, mit denen sie jedes Hotel der Welt leiten könnte. Oliver dagegen hatte keine anerkannten Qualifikationen. Er hatte die Highschool abgebrochen und war seitdem von seinem Vater ausgebildet worden. »Ich verstehe, was du mit ›sie ist nicht so wie er‹ meinst.«

»Es wird noch besser.« Milly schob einen Zeitungsartikelausschnitt rüber. »Während der Wirtschaftskrise in Europa in den späten 2000ern waren ihre Hotels in Spanien, Portugal, Griechenland und Italien unter den wenigen, die nicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Sie hat es sogar geschafft, ein paar gute Häuser, die bankrott waren, zu Schnäppchenpreisen aufzukaufen.«

»Wie um alles in der Welt hat sie es geschafft, in dem Chaos Gewinn zu machen? Eine Menge ausgezeichneter Hotels sind untergegangen.«

»Sie hatte eine riesige internationale Werbeaktion gestartet, bei der Tagungen mit über zweihundert Leuten freie Konferenzräume bekommen haben.«

»Aha. Tagungen bringen Gäste. Gäste zahlen für Zimmer … Schlau«, räumte Kai ein. »Aber typisch für die Duxtons, oder nicht?«

»Was meinen Sie?«, fragte Milly.

»Die haben ein verkanntes Unternehmergenie in ihrer Mitte, also schicken sie sie nach Europa, wo sie von allen vergessen wird, während der idiotische Sohn die Hauptfirma leitet und alles erben soll.«

»Ähm … aber Ms Duxton ist nicht wirklich verkannt.«

»Warum nicht?«

»New Economy hat sie zur Unternehmerin des Jahres 2010 gekürt, weil sie die Wirtschaftskrise so gut gemeistert hat.«

»Das macht es nur noch schlimmer. Es gibt überhaupt keine Entschuldigung dafür, dass sie keine höhere Position in der Firma hat.«

»Ich schätze, sie haben Oliver richtig gern.«

»Das könnte sich bald ändern. Na gut, wie sieht unser Duxton-Geschäftswunderkind aus?«

»Ich weiß nicht.« Milly seufzte. »Sie ist nie auf Familienfotos oder in den Berichten zur Jahreshauptversammlung zu sehen.«

»Nie? Hat sie Komplexe oder etwas? Ist sie so hässlich?«

Milly runzelte missbilligend die Stirn.

»War nur eine Frage.« Kai hob entschuldigend die Hände. »Wären dir ›schlechte Gene‹ lieber?«

Milly seufzte.

»Nein, du hast recht. Jedenfalls ist es unwahrscheinlich. Die Duxtons sind vielleicht Mistkerle, aber ausnahmslos hübsche Mistkerle. Okay, gibt es denn gar