Ein Jahr voller Wunder - Clemency Burton-Hill - E-Book

Ein Jahr voller Wunder E-Book

Clemency Burton-Hill

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Beschreibung

Klassische Musik kann Wunder vollbringen. Sie inspiriert zum Genießen, schafft Raum für Emotionen und Schönheit. Das Einzige, was man dazu braucht, sind offene Ohren und ein offener Geist. Die renommierte Musikerin und beliebte Moderatorin Clemency Burton-Hill schafft mit ihrer vielfältigen Musikauswahl und ihren kurzen, prägnanten Texten über Werk und Autor einen unvergleichbaren und persönlichen Zugang zu zeitlos schöner Musik.

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Seitenzahl: 648

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Clemency Burton-Hill

Ein Jahr voller Wunder

Klassische Musik für jeden Tag

Aus dem Englischen von Barbara Neeb, Ulrike Schimming und Katharina Schmidt

Diogenes

365 Stücke zum Innehalten – genießen Sie jetzt die Playlists zum Buch.

Reinhören und mehr auf diogenes.ch/einjahrvollerwunder oder direkt auf Apple Music.

Für James, in Liebe

Einleitung

Wir Menschen sind eine Spezies, die Musik macht – das sind wir immer gewesen und werden es auch immer sein. Durch die Musik können wir erkunden, ausdrücken und vermitteln, was es heißt, Mensch zu sein. Das ist eine unserer größten Gaben. Wir sind aber auch eine Spezies, die sich mittels Musik austauscht: Seit Anbeginn der Zeit haben Menschen mit ihrer Hilfe kommuniziert und eine Verbindung zueinander aufgebaut.

Seit meiner Kindheit gehört die klassische Musik zu meinem Leben, und auch als Erwachsene habe ich das große Glück, sie durch meinen Beruf mit anderen teilen zu können. Als Moderatorin der Breakfast-Sendung auf BBC Radio 3 erfahre ich durch die Rückmeldungen unserer Hörer, wie sehr die Musik unseres Senders ihren Alltag bereichert. Begeisterte Reaktionen wie »Wow, dieses Musikstück hat mir den Tag verschönert« versetzen auch mich in Hochstimmung. Aber andersherum funktioniert es genauso: Ich bin jedes Mal unglaublich dankbar, wenn ein Zuhörer mir ein wunderschönes Stück empfiehlt, das ich noch nie gehört habe. (Wobei sich zu meiner Freude oft eine leichte Empörung darüber gesellt, dass ich so lange ohne dieses Stück gelebt habe; etwa so, als ob man seinen besten Freund erst ganz spät im Leben kennenlernt.) Diese Form des kulturellen Austausches reicht Jahrtausende zurück: Als Menschen haben wir uns weiterentwickelt, indem wir uns jeden Abend um das Lagerfeuer versammelt, Lieder gesungen und Geschichten erzählt haben – beziehungsweise Geschichten durch das Singen von Liedern erzählt haben. So haben es unsere Vorfahren gehalten, es war ihre Art, die Welt und einander zu begreifen. Und das eigene Dasein zu verstehen.

Dieser Drang bestimmt unsere Existenz noch immer. Doch unser modernes Leben ist extrem zerfasert und durchgetaktet. Die meisten von uns fühlen sich wahrscheinlich tatsächlich Jahrtausende von jener täglichen Jam-Session am Lagerfeuer entfernt. Wer kann sich schon den Luxus erlauben, jeden Tag eine Pause einzuschieben, um einfach nur Musik zu hören? Was ist mit all den Bergen schmutziger Wäsche, den vielen unbeantworteten E-Mails, der Spülmaschine, die ausgeräumt werden muss? Musikhören? Ernsthaft? Vielleicht brauchen wir aber gerade in Zeiten wie diesen mehr denn je einen Raum zum Innehalten, Nachdenken und Reflektieren, um mit uns selbst eins zu werden und einfach nur zu sein.

So soll es in diesem Buch auch darum gehen, was passiert, wenn wir uns öffnen und solche Musik in unser Leben lassen. Die wissenschaftliche Forschung zeigt immer deutlicher, dass regelmäßige Selbstfürsorge (bitte legen Sie das Buch jetzt nicht weg!) unserer psychischen Gesundheit und unserem spirituellen Wohlbefinden guttut. Ich persönlich habe es leider nie geschafft, regelmäßig zu meditieren oder Yoga zu machen, doch ich höre immer wieder, wie andere von solch täglichen Ritualen schwärmen, und erkenne, dass sie genau den Effekt beschreiben, der meiner Meinung nach auch Musik auf uns haben kann.

Musik kann ein äußerst wirksames Stärkungsmittel für den Geist sein, das unerklärlicherweise, aber unbestritten einen Tag oder eine Nacht besser machen kann. Die tägliche Dosis Musik kann eine Form akustischer Seelenpflege sein.

»Tägliche Dosis«, »Selbstfürsorge« … Eigentlich mag ich den Zwang und die Verpflichtung nicht, die in solchen Worten mitschwingen. Ich glaube nicht, dass wir allein deswegen etwas Bestimmtes hören »müssen«, weil jemand anderes uns gesagt hat, dass wir das »sollen«. Wir leben in Zeiten, wo klassische Musik einerseits immer weiter aus dem Mainstream verdrängt wird, andererseits unterschwellig die Meinung vorherrscht, dass wir sie hören »sollten«, weil sie uns irgendwie intelligenter, gebildeter und zivilisierter werden lässt. Das hilft jedoch überhaupt nicht weiter. Genauso wenig wie die Behauptung, klassische Musik sei anderen Arten von Musik »überlegen« – das ist schlicht falsch. Auch die Überzeugung, dass sie das Privileg von Menschen mit einem gewissen sozialen und kulturellen Hintergrund oder einer bestimmten Hautfarbe bleiben sollte, ist nichts anderes als Ausgrenzung in ihrer abstoßendsten Form. Zwischen all diesen widersprüchlichen Botschaften, die mit noch größeren Problemen wie der Spaltung der Gesellschaft, der Bildungspolitik und der sich im Umbruch befindlichen Medienlandschaft einhergehen, haben wir den eigentlichen Kern der Sache fast vergessen: die Musik selbst. Musik ist voller Dinge, die uns überwältigen, rühren, anspornen oder beruhigen können. Musik bringt die Menschen zum Weinen, Nachdenken, Lachen oder Staunen. Musik kann uns etwas lehren und bewirken, dass wir Dinge in Frage stellen. Heutzutage ist klassische Musik für so viele von uns in großen Mengen verfügbar und dies, erstmalig in der Weltgeschichte, nicht mehr als einen Mausklick entfernt. Und doch findet nur eine Handvoll Eingeweihter zu ihr.

In diesem Buch geht es also nicht darum, dass irgendeine junge weiße Frau mit einem feinen Namen Ihnen vorschreiben will, dass Sie jeden Tag klassische Musik hören »sollen«, damit Sie besser, klüger oder etwa distinguierter werden. Es muss Ihnen überhaupt nicht peinlich sein, wenn Sie von einigen der Komponisten oder deren Musik noch nie gehört haben – wieso auch? Sie sollen sich davon auch nicht von Ihrer täglichen Fernsehserie (oder was Ihnen sonst am Herzen liegt) abhalten lassen. Bleiben Sie so, wie Sie sind – wieso sollte Ihr bunter Kulturmix nicht auch mit klassischer Musik bereichert werden? Das funktioniert wunderbar.

Ich möchte nämlich all diejenigen auf‌fordern mitzufeiern, die meinen, dass die Welt der klassischen Musik eine exklusive Party ist, zu der sie nie eingeladen wurden. Ich möchte diese riesige Truhe voller musikalischer Schätze für alle öffnen und schlage mit diesem Buch vor, an jedem Tag des Jahres ein klassisches Stück zu hören. Dieses stelle ich in einen Kontext, erzähle etwas zum Leben des Komponisten zusammen mit anderen Geschichten, die in diesem Zusammenhang noch interessant sein könnten. Vor allem aber möchte ich daran erinnern, dass jedes Stück von einem Menschen geschaffen wurde, jemandem, den Ähnliches beschäftigte wie Sie und mich, der dies ausdrücken wollte und dafür diese eine bestimmte Notenfolge gewählt hat. Dabei sollte man immer bedenken, dass Musik nicht in einem Vakuum existiert: Sie benötigt Zuhörer, ein Publikum, Augen- und Ohrenzeugen, um zum Leben zu erwachen, um gehört und gefühlt zu werden. Die Musik braucht Sie!

Klassische Komponisten unterscheiden sich in nichts von anderen Musikschaffenden oder kreativen Künstlern: Sie versuchen auf ihre Art, Gedanken und Gefühle zu Papier zu bringen – und so andere Menschen zum Nachdenken und Mitfühlen anzuregen. Es ist eine Form von menschlicher Kommunikation, die mit all den schwarzen Noten auf einer Seite erst einmal kompliziert aussieht, sich aber letzten Endes als etwas ganz Schlichtes herausstellt. Niemand nimmt sich vor, etwas zu komponieren, das unverständlich oder unzugänglich ist, niemand schreibt Musik in der Absicht, dass diese nicht veröffentlicht wird, oder in der Hoffnung, dass sie nur einem winzigen Kreis von Experten vorbehalten bleibt. Die Daseinsberechtigung von Musik besteht gerade darin, zum Leben erweckt, erlebt und gehört zu werden. Die Komponisten wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen. Und ganz gleich, wie Sie darauf reagieren oder was Sie dabei empfinden – alles ist richtig, unabhängig davon, ob Sie je Klavierunterricht gehabt haben oder etwas mit Begriffen wie »portamento« und »obligato« anfangen können.

Vielleicht inspiriert dieses Buch einige Leser, Zuhörer und Experten, sich weiter mit der Materie zu beschäftigen und mehr über ein Werk, einen Komponisten, einen Stil oder eine Technik zu erfahren. Man kann dabei nichts falsch machen. Sie sind ein Mensch? Sie haben Ohren? Dann sind Sie hier genau richtig.

Denn diese Musik ist für Sie da. Selbst wenn manche sie als exklusives Vergnügen für eine kleine Minderheit bewahren wollen und sie daher oft hinter angeblich unüberwindbaren Hindernissen verbergen. Sie sollen sich mit der klassischen Musik auseinandersetzen und sie auf Ihre Weise erfahren – genau so, wie Sie es mit jeder anderen Musikrichtung machen würden.

Musik verbindet Kulturen und überwindet Grenzen, sie braucht keine Übersetzung, um verstanden zu werden, denn sie ist die universellste Sprache der Welt. Wann immer ich mit Musikern aus dem Nahen Osten, Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa zusammengearbeitet habe, konnte ich nur staunen, wie die Musik die unterschiedlichsten Menschen vereint hat. Genauso, wie Menschen überall Menschen sind und aus den gleichen Grundstoffen bestehen, wird jede Art von Musik aus der gleichen musikalischen DNA geschaffen, aus den gleichen klanglichen Bausteinen, diesen herrlichen Luftschwingungen, die in milliardenfacher Weise zusammengefügt werden, um mal zu einer Bach-Kantate, mal zu einem Beyoncé-Hit zu werden.

Deswegen sind auch Etiketten für Musik so wenig hilfreich. »Popmusik« ist einfach Musik, die viele Leute mögen. Warum sollte die »klassische Musik« nicht ebenfalls in diese Kategorie gehören?

*

Ein Jahr voller Wunder beruht auf Ideen und Lieblingsstücken, die sich über Jahre hinweg in mir angesammelt haben. Ein Buch wurde daraus schließlich nur, weil ich von unzähligen Freunden, Verwandten und sogar völlig Fremden, teils recht schüchtern, gefragt wurde, ob ich ihnen nicht eine Playlist mit klassischer Musik zusammenstellen könnte. Manche hatten ein spezielles Anliegen: Musik, zu der sie lernen oder arbeiten können; Musik, die Babys beruhigt oder zum Einschlafen bringt; Musik, mit der die Eltern der neuen Partnerin, des neuen Partners beeindruckt werden könnten; Musik, zu der man gut trainieren, abschalten, gärtnern, pendeln oder mit der man eine Dinnerparty schmeißen kann. Der Betreiber vom Café um die Ecke bat mich, für ihn einen klassischen Soundtrack für die Schicht am späten Nachmittag zusammenzustellen. Meine Teenager-Nichte suchte etwas, was ihr durch die Examensvorbereitung helfen würde. Und so weiter. Meist kam von diesen Playlist-Jägern noch ein Satz wie: »Ich hab da mal was im Fernsehen/Kino/Radio/Internet/in einer Werbung gehört, das war bestimmt was Klassisches, und ich fand es toll. Ich verstehe nichts von klassischer Musik und würde gern mehr hören, aber ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll …«

Ich freue mich über alle Menschen, die mehr hören wollen, aber die Frage nach dem »Wo-soll-man-anfangen« ist ein echtes Dilemma. Die moderne Technik hat die Musikwelt so zugänglich wie noch nie gemacht: Was für die meisten von uns, zumindest in den technologisierten Gesellschaften, nur einen Mausklick entfernt ist, wäre für unsere Vorfahren unvorstellbar gewesen. Denn die längste Zeit der Geschichte konnte man Musik nur dann erleben, wenn sie irgendwo live aufgeführt wurde und man sich höchstpersönlich dorthin begab. Wie Sie später im Buch noch lesen werden, konnte das auch einen Fußmarsch von 400 Kilometern über verschneite Berge bedeuten. (Hut ab, Johann Sebastian Bach!)

Zweifellos hat die Technologie die Musikwelt so wie jede andere Branche sowohl positiv als auch negativ aufgemischt. So verdienen heute durch den Wegfall traditioneller Finanzierungsmodelle Künstler und Labels deutlich weniger als im goldenen Zeitalter der Plattenindustrie, als sogar die Stars der Klassikszene wie Leonard Bernstein, Yehudi Menuhin, Luciano Pavarotti oder Maria Callas unglaubliche Summen für ein Album verlangen konnten, weil sich ihre Platten tatsächlich millionenfach verkauf‌ten. Auf der anderen Seite aber hat die technologische Revolution der vergangenen zehn Jahre, insbesondere das Aufkommen der legalen Streaming-Plattformen, die Tür zu einer bis dahin exklusiven Party aufgestoßen. Heute kann jeder mit einer halbwegs ordentlichen Internetverbindung in eine Welt eintauchen, die zuvor nur denen vorbehalten war, die wussten, wonach sie suchten, und über die Mittel verfügten, sich das zu kaufen.

Aber die riesigen Datenmengen, die nun gratis zu haben sind, können einen auch völlig überfordern oder gar lähmen. In diesem Fall helfen dieses Buch und die dazugehörenden Playlists weiter. Ein Jahr voller Wunder erhebt nicht den Anspruch, eine allumfassende Enzyklopädie der klassischen Musik zu sein. Viele berühmte Komponisten konnte ich leider nicht berücksichtigen. Es ist auch kein »Führer« in musikwissenschaftlicher Hinsicht. Ich möchte einfach nur, dass Sie nach der Lektüre eine Vorstellung davon haben, wie sich die musikalischen Ausdrucksformen und Schwerpunkte vom Mittelalter über Renaissance, Barock, Klassik, Romantik bis hin zur Moderne entwickelt haben. Ebenso hoffe ich, dass Sie ein Gespür für einige der Verbindungen entwickeln, die quer durch Raum und Zeit geknüpft werden können: Wie bei allen Künsten ist die Geschichte der klassischen Musik eine Abfolge von Bewunderung, Nachahmung und Variationen. Daher habe ich versucht, genre- und generationenübergreifende Verbindungen aufzuzeigen – hier eine musikalische Verbeugung, dort ein kleiner akustischer Gruß. Ich hoffe, dass ich sowohl die Musik wie auch den Kontext, in dem sie geschrieben wurde, entmystifizieren kann. Aber ich fürchte, dass Sie am Ende der Lektüre immer noch keinen Bass vollständig heraushören oder eine Fuge komponieren können.

Stattdessen präsentiere ich Ihnen hier einen persönlich ausgesuchten Musikschatz, den ich von Herzen liebe und der Ihren Alltag hoffentlich so bereichern wird wie den meinen. Ich bin in tausend Jahre klassischer Musik eingetaucht und habe schließlich 366 Stücke von mehr als 240 Komponisten und Komponistinnen gehoben, beginnend bei der mittelalterlichen Hildegard von Bingen, einer ungewohnt klingenden Philosophin, Forscherin, Schriftstellerin und musikalischen Mystikerin aus dem 12. Jahrhundert, bis hin zur Millennial Alissa Firsova, die 1986geboren wurde und zauberhafte Musik schreibt, in der sich die Sorgen einer politisch engagierten jungen Frau aus dem 21. Jahrhundert spiegeln. Neben mehr als vierzig Frauen, die so oft aus der klassischen Musikgeschichte herausgeschrieben wurden, treffen Sie zudem auf Musikschaffende aller Hautfarben, auf schwule wie Transgender-Komponisten und auf solche, die mit den unterschiedlichsten Behinderungen lebten (Beethoven zum Beispiel schrieb einige seiner großartigsten Werke, als er vollständig gehörlos war). Und obwohl klassische Musik oft als ein verstaubtes Museum voller toter weißer männlicher Europäer wahrgenommen wird, stelle ich Ihnen dutzende zeitgenössische Komponisten aus den Achtzigern bis hin zu den Millennials vor. Hoffentlich erkennen Sie am Ende dieser Sammlung, dass klassische Musik eine lebendige, atmende, vielschichtige, vibrierende und herausfordernd globale Kunstform ist. In ihr steckt die Summe allen menschlichen Daseins.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Musik das Mysterium des Lebens birgt. Diese Musikstücke, von denen einige nur ein paar Minuten lang sind, können mit ganz wenig sehr viel bewirken. Sie werden zu Freunden, zu Lehrern, zu fliegenden Teppichen. Mit solch großartiger Musik an meiner Seite fühle ich mich erkannt, wahrgenommen, geborgen. Als Motoren des Mitgefühls erlauben die Stücke uns, in andere Leben, andere Zeitalter, andere Seelen zu reisen, ohne dass wir uns fortbewegen müssen.

Apropos Seelen: Im Laufe der Zeit standen viele der besten klassischen Komponisten oft und gern im Dienst der Kirche, viele von ihnen komponierten zum Lobpreis Gottes. Daher finden Sie hier auch jede Menge Sakralmusik.

Als jemand, die sich selbst allenfalls als verwirrte Agnostikerin bezeichnen kann, habe ich oft mit meinen starken emotionalen (manchmal auch körperlichen) Reaktionen auf solche Musik gehadert, besonders bei Bach, da ich sie nicht durch ein Glaubensfundament rechtfertigen kann. Glücklicherweise konnte ich mit vielen Menschen sprechen, die sich mit diesen Fragen intensiv auseinandergesetzt haben und die mir halfen, damit Frieden zu schließen. Was zählt, ist unsere eigene Interpretation dieser Musik – die oft ein Fenster zum Göttlichen aufzustoßen scheint. Wir alle haben spirituelle Maßstäbe: Mensch sein heißt, Ehrfurcht empfinden zu können. Bestimmte Erfahrungen lassen uns nicht kalt – mitzuerleben, wie ein Kind auf die Welt kommt oder ein Elternteil stirbt, die nächtliche Meeresbrandung oder das sternenübersäte Himmelszelt. Wir alle sehnen uns nach Verzauberung, etwas Ehrfurchtgebietendem und wünschen uns ein Wunder. Für Menschen aller Glaubensrichtungen – oder eben auch gar keiner – kann Musik genau dies sein und noch viel mehr.

Deshalb beginnt unser Jahr voller Wunder mit liturgisch-erhebendem Bach und endet mit Strauss-bewegter Champagnerlaune am 31. Dezember. Ich hoffe, Sie nehmen dieses Buch als eine Art musikalischen Leitfaden durch Ihr Jahr (ganz gleich welches), in dem Sie täglich blättern. Selbstverständlich können Sie sich an all diesen Stücken zu jeder Zeit, an jedem Tag und auch mehrfach erfreuen. Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, für ein übertrieben weihevolles Ambiente zu sorgen, nur weil es sich hier um »klassische Musik« handelt: Sie brauchen kein gedimmtes Licht, keine andächtige Stille oder einen schicken Fummel. Schaffen Sie sich Ihr eigenes aktives Ritual, wenn Sie meinen, dass es Ihr tägliches Hörerlebnis bereichert. Aber glauben Sie mir, diese Stücke halten einiges aus: Meist haben sie Jahrhunderte überdauert, sie kommen damit klar, wenn Sie sie in Ihren Alltag einbauen und nebenher multitasken. Laden Sie sie also auf Ihr Smartphone und hören Sie sie auf dem Weg zur Arbeit, nehmen Sie sie mit ins Fitnesscenter, lassen Sie sie im Hintergrund laufen, wenn Sie den Kindern Pausenbrote schmieren, das Essen kochen, sich mit hochgelegten Füßen einen Drink gönnen, die Waschmaschine vollladen, bügeln oder E-Mails abarbeiten. Ganz gleich wo, Sie müssen nur auf Start drücken. Ich glaube, es gibt nur wenige Momente im Leben, in denen Musik nicht angebracht ist, und ich hoffe, dass Sie sich viele dieser Stücke zu eigen machen. Denn ganz egal, wer Sie sind, woher Sie kommen und wie Sie dort gelandet sind, diese Stücke gehören Ihnen.

Januar

1. Januar

Johann Sebastian Bach (1685–1750) h-Moll-Messe,BWV232h-Moll-Messe (J.S. Bach)Bach, Johann Sebastianh-Moll-Messe»Sanctus«

Beginnen wir das Jahr mit einem vielversprechenden Auf‌takt.

Die Musik von Johann Sebastian Bach wird uns in den kommenden zwölf Monaten nämlich noch öfter begegnen. Denn dieser Komponist ist vermutlich die wichtigste Persönlichkeit nicht nur der klassischen, sondern der Musik überhaupt: Sein Einfluss ist in der Musik von heute genauso zu spüren wie in der aus den Jahrhunderten zuvor.

Bachs Gehirn war eindeutig eine Art Supercomputer: Er schrieb mindestens dreitausend Werke, während er zahlreiche Jobs, einige Ehefrauen und zwanzig Kinder unter einen Hut bringen musste. Er interessierte sich für die Musik aus Italien und Frankreich genauso wie für die seiner Heimat. Er hatte die große Gabe, alles zu absorbieren, daraus die interessantesten Teile herauszufiltern und sie mit seiner – ganz entscheidenden – Geheimzutat abzurunden. Was Bach zum Größten aller Zeiten macht, lässt sich nicht in Worte fassen, liegt aber meiner Meinung nach in seiner Kombination von technischer Präzision und umwerfend großem Gefühl. Bach wird wegen der komplexen Strukturen seiner Musik gern als »mathematisch« beschrieben. Dabei ist er weder steril noch musiktheoretisch: Als Mensch kannte er intensive Freude, aber auch heftigen Kummer, und nie hat ein Komponist oder Songwriter die wechselhaften Launen des menschlichen Herzens besser verstanden.

Bach ist der Big Daddy: Ohne ihn gäbe es keinen Jazz, Funk oder Hip-Hop; keinen Techno, House oder Grime. Im Grunde schrieb er die Vorlage für alles, was nach ihm kommen sollte. Sein Werk ist klug und originell und so umfassend, dass es nicht einfach nur vielschichtig ist – es enthält die Quintessenz von allem.

Und so wollen wir den ersten Tag eines neuen Abenteuers mit großem Paukenschlag und einem Chor beginnen, der sich die Seele aus dem Leib singt. Ganz gleich, woran Sie glauben, wer Sie sind, woher Sie kommen – diese knapp fünf Minuten erfreuen das Herz, erbauen die Seele und sagen: »Okay, neues Jahr, du kannst kommen, fangen wir an.«

2. Januar

Frédéric ChopinChopin, FrédéricÉtude in C-Dur (1810–1849) Étude in C-Dur, op. 10Étude in C-Dur (Chopin), Nr. 1

Der in Warschau geborene, aber in Paris lebende Pianist und Komponist Frédéric Chopin war einer der frühen Superstars der klassischen Musik und ein musikalischer Vordenker, besonders, wenn es um sein Instrument, das Klavier, ging.

In mehr als 230 Werken, alle für Klavier solo oder mit Klavier geschrieben, hat er das Repertoire und das Spektrum dessen, wozu dieses Instrument imstande ist, erweitert und viele neue musikalische Formen entwickelt.

Diese glitzernde kleine Etüde war als Technikübung für Klavierschüler gedacht: Sie verlangt weite Griffe (besonders mit der rechten Hand), die im frühen 19. Jahrhundert wohl als äußerst gewagt galten. Dieses Stück ist aber viel mehr als eine glorifizierte »Hausaufgabe« für Klavierschüler. Chopin verehrte die Musik von Bach und Mozart, und in diesem Meisterwerk in Miniaturform, diesem Feuerwerk aus melodischer Originalität und reicher Harmonik, zeigt er, was er beiden verdankt.

Der 2. Januar kann ein seltsamer Tag sein, manchmal ist die Aufbruchstimmung schon ein wenig verflogen. Aber dieses nur zwei Minuten lange Stück enthält meiner Ansicht nach alles, was ein neues Jahr uns verheißt: Hoffnungen und Träume, Entdeckungen, Entscheidungen und vielleicht sogar Revolutionen.

3. Januar

Hildegard von Bingen (ca. 1098–1179) O virtus sapientiae (O Tugend derWeisheit)O virtus sapientiae (Hildegard von Bingen)Hildegard von BingenO virtus sapientiae

Spätestens seit dem Mittelalter ist bekannt, dass Frauen gut im Multitasking sind. Eine der ersten namentlich bekannten Komponistinnen der westlichen Welt war Hildegard von Bingen – eine Nonne, Schriftstellerin, Wissenschaftlerin, Philosophin, Prophetin und Mystikerin. Sie gründete und leitete zwei Klöster. In ihren vielen Texten befasste sie sich mit Themen wie Theologie bis hin zur Botanik. Zudem galt sie als Expertin für medizinische Heilkunde. (Viele Jahrhunderte später argumentierten frühe Feministinnen mit Hildegard von Bingens Ruf als Heilerin und Volksmedizinerin für das Anrecht von Frauen, Medizin zu studieren.) Zu ihrer Zeit war die Universalgelehrte Hildegard eine hochangesehene Predigerin, die durch ganz Europa tourte und außergewöhnlich viele Texte produzierte. Sie schrieb rund vierhundert Briefe, die die Zeit überdauerten, ebenso Lieder, Gedichte und Theaterstücke, darunter Ordo virtutum, wahrscheinlich das erste geistliche Singspiel der Welt. Nebenbei beaufsichtigte Hildegard die Schaffung aufwendig gestalteter Handschriften, erfand ein neues Alphabet und eine Sprache, die als Lingua ignota bekannt ist – und nach Meinung von Fachleuten die Solidarität unter ihren Nonnen stärken sollte. Zudem gilt sie als die Begründerin der Geschichtswissenschaft in Deutschland.

Irgendwie fand diese außergewöhnliche Frau auch noch die Zeit, mindestens siebzig Werke zu komponieren, meistens auf ihre eigenen Dichtungen. In einem »monophonen« Stil – zur »Polyphonie« komme ich in ein paar Tagen – schuf sie diese aufstrebenden Melodien für ihre Nonnen, die aus einer einzigen Stimmlinie ihren Lobpreis himmelwärts singen sollten. In einer Zeit voller Gewalt und Unsicherheit wie dem Mittelalter muss es besonders tröstlich gewesen sein, ihre Musik vorzutragen.

Vielleicht klingt sie deswegen immer noch so großartig. Dieses Stück wäre in jeder Epoche lebensbejahende und ungewöhnliche Musik, aber dass es vor fast tausend Jahren geschrieben wurde, und zwar von einer sehr umtriebigen Nonne, macht das Wunder umso größer.

4. Januar

Ludwig van BeethovenBeethoven, Ludwig vanStreichquartett Nr. 13 in B-Dur (1770–1827) Streichquartett Nr. 13 in Streichquartett Nr. 13 in B-Dur (Beethoven)B-Dur, op. 1305. Satz: Cavatina: Adagio molto espressivo

Beethoven, einer der komplexesten Köpfe der klassischen Musik, hinterließ Sinfonien, Chorwerke, Instrumentalkonzerte, Kammermusik und Sonaten, die zu den besten ihrer musikalischen Gattung gehören. Gegen Ende seines zeitweise von Krisen überschatteten Lebens schrieb er eine Reihe Streichquartette (für zwei Violinen, Bratsche und Violoncello), die diese Gattung von Kammermusik – nein, eigentlich die Musik selbst – in andere Gefilde hoben. Ihre besondere Form, ihren Ideenreichtum und ihre berauschende Klangwelt hatte man so noch nie erlebt. Schumann schrieb später darüber, er sähe »die äußersten Grenzen der menschlichen Kunst und Phantasie« erreicht.

Das trifft es wohl so genau, dass man die Cavatina als letztes Stück auf die Voyager Golden Record presste, eine vergoldete Langspielplatte mit Daten, die man 1977 in den Weltraum schoss. Die repräsentative Auswahl an Geräuschen, Sprach- und Musikbeispielen von der Erde wurde ins All geschickt für den Fall, dass man in der Zukunft auf außerirdisches Leben treffen sollte.

Beethovens ätherische wie expressive Cavatina scheint Welten zu erreichen, in die andere Musik nie vordringen kann. Beethoven war damals schon vollkommen gehörlos, und doch scheint er hier die Grenzen der musikalischen Ausdruckskraft und unserer Wahrnehmung zu sprengen. Für mich lotet diese gut sechs Minuten lange Cavatina die grundlegendsten Fragen zu menschlicher Zerbrechlichkeit und Wahnsinn, Liebe und Leben aus.

Ich hoffe nur, die Aliens verstehen, wie man den Plattenspieler bedient.

5. Januar

Antonio LottiLotti, AntonioCrucif‌ixus (ca. 1667–1740) Crucif‌ixusCrucif‌ixus (Lotti)

Wo wir gerade vom Überschreiten von Grenzen sprechen …

Antonio Lotti, der am heutigen Tag sowohl geboren wie auch gestorben ist, war ein Zeitgenosse von Johann Sebastian Bach. Doch seltsamerweise klingt seine Musik, als hätte er für ein vergangenes Jahrhundert geschrieben, und scheint mehr dem Geist der Renaissance verbunden zu sein. Seine Vertonung der Zeilen des Crucif‌ixus – »Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben« – ist ein hervorragendes Beispiel für das, was als »Polyphonie« bekannt ist, also eine Musikstruktur von zwei oder mehr voneinander unabhängigen Melodiestimmen. Das Stück ist unglaublich atmosphärisch und dramatisch: Die Bässe beginnen ganz geheimnisvoll wie aus dem Nichts, mit diesen langgezogenen Linien. Und dann, wenn die anderen Sänger allmählich einsetzen, wirft Lotti all diese harten, schmerzenden Dissonanzen in den Ring und lässt uns hängen und quälend lange warten, ehe er sie – aaahhh! – endlich auf‌löst. Diese Hinhaltetaktik ist ein Stilmittel, um immer wieder Momente von Spannung und Erlösung zu erzeugen, in denen unsere Ohren sich unglaublich nach einer musikalischen Auf‌lösung sehnen. Sie wurde seitdem von jedem anständigen Pop-Songwriter eingesetzt.

Ich finde diese Musik strahlend, bewegend und großartig. Wenn Sie sich dreieinhalb Minuten Zeit schenken und alles mal kurz unterbrechen können, dann lassen Sie sich von ihr davontragen!

6. Januar

Max BruchBruch, MaxViolinkonzert Nr. 1 g-Moll (1838–1920) Violinkonzert Nr. 1 in Violinkonzert Nr. 1 g-Moll (Bruch)g-Moll, op. 261. Satz: Allegro moderato

Max Bruch war ein sehr begabter Komponist der Romantik, seine erste Sinfonie schrieb er mit vierzehn und schuf insgesamt mehr als zweihundert Werke. Aber im klassischen Repertoire gilt er heute als so etwas wie ein One-Hit-Wonder: Denn sein Violinkonzert Nr. 1 mit dem sinnlichen Geigenthema überstrahlt alles.

Bruch war in Bezug auf dieses Stück erstaunlich unsicher, als er es mit sechsundzwanzig zu komponieren begann. Er brauchte achtzehn Monate und überarbeitete das Konzert auf Rat seines engen Freundes, des Geigenvirtuosen Joseph Joachim, mehrfach. Es wurde sofort zum Hit. Doch die unglaubliche Beliebtheit des Werkes, die seine anderen Kompositionen zurücktreten ließ, brachte Bruch zur Verzweif‌lung. (Fairerweise muss man sagen, dass er zudem frustriert war, weil er die gesamten Rechte an einen Verleger verkauft hatte und deshalb keine Tantiemen bekam.) Bruch soll sich empört haben: »Nichts gleicht der Trägheit, Dummheit, Dumpfheit vieler deutscher Geiger. Alle vierzehn Tage kommt einer und will mir das 1. Concert vorspielen: ich bin schon grob geworden und habe zu ihnen gesagt: ›Ich kann dieses Concert nicht mehr hören, habe ich vielleicht nur dieses eine Concert geschrieben? Gehen Sie hin und spielen Sie endlich einmal die anderen Concerte, die ebenso gut, wenn nicht besser sind!‹«

Diese Stücke sind natürlich auch sehr hübsch, aber das Violinkonzert ist zu einer Ikone geworden. Gleichermaßen von Publikum und Interpreten geliebt, hält es sich seit Generationen und verliert durch das häufige Spielen nichts von seinem Glanz.

7. Januar

Francis Poulenc (1899–1963) Les chemins de l’amour (Die Wege derLiebe)Chemins de l’amour, Les (Poulenc)Poulenc, FrancisLes chemins de l’amour

Francis Poulenc, der heute Geburtstag hat, stieß als Letzter zu der Komponistengruppe »Les Six«, die in den 1920er Jahren Paris im Sturm eroberte. Seine Musik ist mal originell, mal melancholisch, mal bitter, mal herzzerreißend.

Zu Beginn seiner Karriere hatte Poulenc – der seine Homosexualität offen lebte – den Ruf eines hedonistischen Bonvivant. Doch der Tod eines engen Freundes 1936 und seine Résistance-Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs lenkten seine spätere Musik in eine spirituellere Richtung.

Er war immer ein herausragender Songwriter, ganz gleich, ob er eine Parodie oder eine Tragödie schuf. »Sie werden Nüchternheit und Schmerz in französischer wie deutscher oder russischer Musik finden«, schrieb er 1950, »aber die Franzosen haben einen schärferen Sinn für Proportionen. Wir erkennen, dass Nüchternheit und gute Laune sich nicht gegenseitig ausschließen. Unsere Komponisten schreiben auch tiefgründige Musik, aber wenn sie das tun, ist sie durchdrungen von der Leichtigkeit des Geistes, ohne die das Leben unerträglich wäre.«

In diesem Varieté-Klassiker mixt Poulenc den atmosphärischen Vibe des beliebten Pariser Boulevardiers mit dem valse chantée, dem gesungenen Walzer, von dem er seit seiner Jugend fasziniert war. Er komponierte ihn als Bühnenmusik für das Theaterstück Léocadia von Jean Anouilh, geschrieben 1940, dem Jahr, in dem die deutschen Panzer in Paris einrollten. Das Stück ist von einer bittersüßen Schärfe durchdrungen, der trällernde Charme seiner Melodie wird durch ein Gefühl von drohendem Verlust untergraben.

1941 schrieb Poulenc einer Freundin, dass das Komponieren dieses Liedes seine niedergedrückte Stimmung gehoben habe angesichts der »Bedrohung durch die Besetzung, die über meinem Haus hängt – in was für traurigen Zeiten leben wir doch. Wann und wie wird das alles enden …«

Ich hoffe, das Stück hebt nun auch Ihre Stimmung.

8. Januar

Arcangelo CorelliCorelli, ArcangeloConcerto grosso in D-Dur (1653–1713) Concerto grosso in D-Dur, op. 6Concerto grosso in D-Dur (Corelli), Nr. 12. Satz: Largo

Arcangelo Corelli, heute ist sein Todestag, gilt als ein Genie des Frühbarocks. Sein Werk, wie wir es heute kennen, ist allerdings eher überschaubar. Corellis Ruhm begründet sich auf seinen Beitrag zu einer musikalischen Form, die als »Concerto grosso« bekannt ist: mehrsätzige Stücke, in denen ein kleines Ensemble von Instrumentalsolisten gleichberechtigte Parts hat (anders als im üblichen Konzert, wo der Solist gegen ein ganzes Orchester anspielt). Soweit man weiß, war Corelli ein extremer Perfektionist, der die Concerti grossi op. 6 zwar ständig überarbeitete, aber verbot, sie zu veröffentlichen. Dies geschah erst ein Jahr nach seinem Tod, und seine Zeitgenossen waren verrückt danach. Andere bedeutende Komponisten, zum Beispiel Georg Friedrich Händel, übernahmen diese Form sofort für ihre Kompositionen.

Dass Corellis Concerti grossi so eine Wirkung zeigten, überrascht nicht. Sie sind die reinste Hörfreude: Die Musik ist unendlich einfallsreich, gefühlvoll und weich. Ich bewundere Corellis Fähigkeit, die Ausdrucksmöglichkeiten jedes Instruments in der Gruppe auszureizen – es macht unglaublichen Spaß, diese Stücke selbst zu spielen –, und obwohl sie beinahe architektonisch gebaut sind, lässt er innerhalb dieser Grenzen reichlich Platz für Improvisation. Sie sind so etwas wie eine sehr frühe Form des Jazz.

Ihnen zu lauschen bringt für mich unglaubliche Klarheit. Sie sind Balsam für die Ohren im Chaos unseres Alltags.

9. Januar

Giuseppe Verdi (1813–1901) Messa daRequiemMessa da Requiem (Verdi)Verdi, Giuseppe»Domine Jesu Christe«, Messa da requiem3. Satz: Of‌fertorio: »Domine Jesu Christe»Domine Jesu Christe«, Messa da requiem (Verdi)«

Dies ist eine Geschichte über die Macht der Musik.

Im Januar 1942 konnte ein einziges Exemplar des Verdi-Requiems in das Konzentrationslager Theresienstadt (Terezin, Tschechien) geschmuggelt werden. Obwohl es eigentlich völlig unmöglich ist, beschließt eine Gruppe trotziger jüdischer Gefangener unter Leitung des früheren Dirigenten und Komponisten Rafael Schächter, dieses zeitlose Werk aufzuführen. Die Überlebenden werden es später als einen Akt spirituellen Widerstandes bezeichnen.

Schächter schart hundertfünfzig Gefangene um sich, und mit dieser einzigen zerfledderten Ausgabe studieren sie das Meisterwerk ein. Der Überlebende Edgar Krasa wird sich später daran erinnern, dass die Auf‌führung des Verdi-Requiems in Theresienstadt den Mitwirkenden erlaubte, »in eine Welt aus Kunst und Glück einzutauchen, die Wirklichkeit aus Ghettoleben und Deportationen zu vergessen und Kraft zu sammeln, um den Verlust der Freiheit besser zu ertragen«.

Verdis Messa da Requiem wurde im Lager nicht weniger als sechzehn Mal aufgeführt. Doch als eine immer größere Zahl an Gefangenen nach Auschwitz und in die Gaskammern deportiert wurde, wuchsen die Lücken im Lagerchor, bis schließlich nur noch eine Handvoll Gefangene übrigblieb, die sich das Requiem gegenseitig vorsangen.

Aber sie sangen weiter.

»Wir werden den Nazis das ins Gesicht singen«, sagten sie, »was wir nicht sagen dürfen.«

10. Januar

Giovanni Girolamo Kapsberger (ca. 1580–1651) ToccataarpeggiataToccata arpeggiata (Kapsberger)Kapsberger, Giovanni GirolamoToccata arpeggiata

Ich glaube fest daran, dass Musik Musik ist.

Das klingt zwar wie eine Selbstverständlichkeit, aber so, wie alle Menschen aus den grundsätzlich gleichen Elementen geschaffen sind, gilt das auch für jedes Musikstück, das je geschrieben wurde oder in Zukunft noch geschrieben wird.

Man muss das betonen, weil die Leute oft meinen, sogenannte klassische Musik wäre »etwas anderes«, das sich von der Musik unterscheidet, die sie mögen, oder über das sie etwas »wissen« müssten, bevor sie sich daran erfreuen dürfen. Das stimmt nicht – sie hat die gleichen Wurzeln. Und wenn ich dann ein solches Stück vor mir habe, wie diesen kleinen Sonnenschein aus dem frühen 17. Jahrhundert, der einen sofort in seinen Bann zieht, bin ich einfach nur glücklich. Warum? Weil ich darin schon die Musikentwicklung der nachfolgenden Jahrhunderte hören kann. Und zwar für jede Art von Musik. Kapsberger, ein Komponist, den man außerhalb der Lautenszene kaum kennt, blickt sozusagen mit einem Augenzwinkern in die Zukunft. Dies erinnert mich daran, wie tief unsere gemeinsamen Wurzeln sind, bewusst oder unbewusst.

Diese geniale Toccata lebt auch davon, dass der Interpret schnelle Läufe spielen und gleichzeitig sehr frei mit Rhythmus und Tempo umgehen kann. Das Wort »arpeggiata« im Titel weist darauf hin, dass das Stück auf einem Zupf‌instrument gespielt werden sollte (arpa ist das italienische Wort für Harfe). Kapsberger schrieb eine schlichte Folge von gebrochenen Akkorden (Akkorde, in denen die Töne einzeln nacheinander gespielt werden), über denen der Interpret frei improvisieren konnte – die gleichen »Arpeggios« werden Sie vielleicht in einem Song der Beatles wiederfinden, bei der nordirischen Folkgruppe Divine Comedy – oder bei Adele …

11. Januar

Maurice Duruf‌léDuruf‌lé, Maurice›Ubi caritas et amor‹, Quatre motets sur des thèmes gregoriens (1902–1986) Duruf‌lé, Maurice›Ubi caritas et amor‹, Quatre motets sur des thèmes gregoriensQuatre motets sur des thèmes gregoriens (VierMotettenQuatre motets sur des thèmes gregoriens (Vier Motetten) (Duruf‌lé))»Ubi caritas et amor«»Ubi caritas et amor«, Quatre motets sur des thèmes gregoriens (Duruf‌lé) (Wo Güte und Liebe ist)

Duruf‌lé, der am heutigen Tag geboren wurde, ist ein kleines Mysterium. Eigentlich führte er ein typisches Leben des 20. Jahrhunderts: Er wuchs im Paris voller bahnbrechender Veränderungen in Kunst und Musik auf und erlebte aus erster Hand das Aufkommen von Kubismus, Moderne, Atonalität und Jazz. Und doch war er nicht daran interessiert, neue Wege zu beschreiten oder die Veränderung mitzumachen. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen (wie beispielsweise Igor Strawinsky am 29. Mai) fand er eindeutig keinen Gefallen daran, das Publikum zu provozieren oder zu verstören. Tatsächlich ließ er sich von einer weit zurückliegenden Vergangenheit für seine Kompositionen inspirieren.

Duruf‌lé schrieb eine sehr markante Musik. Sein Werk ist von kristalliner Klarheit geprägt, was bestimmt auch daran liegen mag, dass er sehr wenig schrieb und an jedem seiner Stücke jahrelang herumfeilte. Als Chorknabe sang er mit Freude die Musik von Bach, Haydn, Mozart und seines Landsmanns Gabriel Fauré, doch ganz besonders hatten es ihm Reinheit und Anmut des gregorianischen Chorals angetan, des traditionell unbegleiteten Gesangs der römisch-katholischen Kirche, der auf das 9. Jahrhundert zurückgeht. Duruf‌lé sollte später Aspekte des gregorianischen Gesangs in seine eigene musikalische Palette aufnehmen, besonders in das erhebende Requiem, das er nach dem Tod seines Vaters schrieb. Diese Melodien, so gestand er, basieren »gänzlich auf Themen der gregorianischen Totenmesse. Manchmal habe ich den exakten Notentext übernommen, wobei die Orchesterpartie nur unterstützt oder kommentiert, an anderen Stellen diente er mir lediglich als Anregung.«

Der gregorianische Gesang bildet auch für diese erhebende Vertonung der lateinischen Motette »Ubi caritas et amor« die Grundlage:

Ubi caritas et amor, Deus ibi est.

Wo Güte und Liebe ist, da ist Gott.

12. Januar

Felix Mendelssohn BartholdyMendelssohn Bartholdy, FelixOktett in Es-Dur (1809–1847) Oktett in Es-Dur, op. 20Oktett in Es-Dur, (Mendelssohn Bartholdy)1. Satz: Allegro moderato ma con fuoco

Dieses ausdrucksstarke kammermusikalische Highlight widmete Felix Mendelssohn seinem engen Freund und Geigenlehrer Eduard Rietz. Damals war er erst sechzehn Jahre alt.

Die Besetzung ist ungewöhnlich – zumal für einen Teenager-Komponisten. Obwohl es in der Musikgeschichte schon Oktette gab, ist es eine mutige und ehrgeizige Entscheidung von Mendelssohn, für acht gleichberechtigte Streichinstrumente zu schreiben.

Zudem ist er äußerst innovativ: Er legt das Stück als viersätzige Mini-Sinfonie an, in der die acht Interpreten zu einem exzellenten Ganzen zusammenfinden, gleichzeitig aber auch ihre eigene Stimme behalten.

Mendelssohn lag dieses Werk immer sehr am Herzen – »Ich hatte eine herrliche Zeit beim Schreiben.« Ich selbst liebe daran besonders, dass man, anders als bei manchen Musikstücken, denen man den Schaffensprozess anmerkt, hier in jeder Note diese Freude des Komponisten spürt.

13. Januar

Clara SchumannSchumann, ClaraDrei Romanzen (1819–1896) Drei Drei Romanzen (Clara Schumann)Romanzen, op. 22Andante molto

»Es macht mir großes Vergnügen das Komponieren«, schrieb Clara Schumann einmal. »Es geht doch nichts über das Selbstproduzieren, und wäre es nur, dass man es täte, um diese Stunden des Selbstvergessens, wo man nur noch in Tönen atmet.«

»Selbstvergessen«, »Selbstfürsorge«, »Zeit für sich selbst«, »meine Zeit«. Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber diese Frau hatte all dies dringend nötig. Clara Schumann, geborene Wieck, war ein ehrfurchtgebietendes Talent. Als eine der hervorragendsten Pianistinnen des 19. Jahrhunderts setzte sie neue Standards, indem sie als eine der ersten Konzertkünstlerinnen regelmäßig auswendig spielte – was später allgemein übliche Auf‌führungspraxis werden sollte. Etliche der Großen der damaligen Zeit wie Liszt, Chopin und Brahms verehrten sie. Ein Kritiker schrieb anlässlich einer Konzertreihe, die sie in Wien im Alter von achtzehn Jahren gab: »Das Erscheinen dieser Künstlerin kann als epochal angesehen werden … In ihren schöpferischen Händen gewinnt selbst die gewöhnlichste Passage, ein gängiges Motiv eine Bedeutung, eine Schattierung, die nur solche mit der perfektesten Kunstfertigkeit schaffen können.«

Diese vollkommene Jahrhundertkünstlerin war darüber hinaus achtfache Mutter. Clara schmiss den Schumann-Haushalt in jeder Hinsicht allein: Sie war die Hauptverdienerin, kümmerte sich nach dem Tod ihres Sohnes Felix um ihre Enkelkinder, musste mit verschiedenen Fällen psychischer Erkrankungen in ihrer Familie klarkommen, war eine eifrige und engagierte Lehrerin und vielen Komponisten eine Muse. Und sie schaffte es daneben noch, wundervolle Musik zu schreiben – zwanzig Stücke für Klavier solo, Dutzende Lieder, Kammer- und Instrumentalwerke – darunter auch diese zärtliche und leidenschaftliche Romanze.

(Apropos Romanze: Clara war mit einem gewissen Robert Schumann verheiratet, der ebenfalls Musik schrieb. Mehr zu ihm später.)

14. Januar

Giacomo PucciniPuccini, Giacomo»E lucevan le stelle«, Tosca (1858–1924) ToscaTosca (Puccini)»E lucevan le stelle« (Und es blitzten die Sterne)»E lucevan le stelle«, Tosca (Puccini)

Oper genießt ja – manchmal zu Recht – den Ruf, einen unglaubwürdigen Plot und viel Dramatik zu haben. Puccinis Tosca, die 1900 am heutigen Tag in Rom uraufgeführt wurde, ist da keine Ausnahme, aber sie beinhaltet gleichzeitig auch wahrhafte Momente glühender Gefühle (und insgesamt großartige Musik). Im 3. Akt der Oper singt der Maler Mario Cavaradossi, Geliebter der Sängerin Floria Tosca, diese Arie, nachdem man ihn durch komplexe Verwicklungen (Liebe, Verrat, der übliche Opernkram eben) gefangen genommen hat und er auf seine Hinrichtung wartet. Gerade hat man ihm mitgeteilt, dass ihm nur noch eine Stunde zu leben bleibt.

Svanì per sempre il sogno mio d’amore.

Für immer ist der Traum der Liebe verschwunden.

L’ora è fuggita, e muoio disperato!

Die Stunde ist um, und ich sterbe in Verzweif‌lung!

E muoio disperato!

Ich sterbe in Verzweif‌lung!

E non ho amato mai tanto la vita, tanto la vita!

Und hing doch nie so sehr am Leben, so sehr am Leben!

Wenn die Soloklarinette mit ihrem traurigen Thema einsetzt, ist es um mich geschehen. Puccini war übrigens so etwas wie eine Hitfabrik, er komponierte Arien, die wir heute wohl Popsongs nennen würden. Sein Einfluss reichte weit über die Oper hinaus. 1920 schrieb Al Jolson, Hauptdarsteller des ersten Tonfilms The Jazz Singer und bekannt als »der größte Entertainer der Welt«, einen Song mit dem Titel Avalon. Puccinis Verleger Giulio Ricordi verklagte ihn umgehend wegen Plagiats, weil er den Anfang dieser Arie fast eins zu eins übernommen hatte. Peinlich, oder? Ricordi bekam 25000 Dollar und alle künftigen Tantiemen aus dem Song zugesprochen …

15. Januar

Olivier Messiaen (1908–1992) Quatuor pour la f‌in du temps (Quartett für das Ende derZeit)Quatuor pour la f‌in du temps (Messiaen)Messiaen, Olivier»Louange à l’éternité de Jesus«, Quatuor pour la f‌in du temps5. Satz: »Louange à l’éternité de Jésus« (Lobpreis der Ewigkeit Jesu)»Louange à l’éternité de Jesus«, Quatuor pour la f‌in du temps (Messiaen)

Heute stelle ich Ihnen ein weiteres Beispiel für Musik als Form geistigen Widerstands vor, das so bewegend ist, dass ich innehalten muss. Der französische Komponist Olivier Messiaen war einunddreißig Jahre alt und Kriegsgefangener, während er dieses Werk schrieb. Als Frankreich 1940 fiel, griffen die deutschen Besatzer ihn auf und deportierten ihn in ein Lager nach Görlitz. Unter seinen Mitgefangenen im Stalag VIII-A waren ein Klarinettist, Henri Akoka, ein Violinist, Jean Le Boulaire, und ein Cellist, Étienne Pasquier. Messiaen konnte sich bei einem wohlwollenden Aufseher namens Brüll Papier und Bleistifte verschaffen und schuf unter nicht nachvollziehbaren Umständen dieses Quartett, das viele als sein Meisterwerk ansehen.

Eine ungewöhnliche Kombination – Klarinette, Violine, Klavier, Cello – aber das waren die Instrumente, die Messiaen im Lager zur Verfügung standen. Mit abgenutzten und verstimmten Instrumenten brachten die Musiker das Werk am Abend des 15. Januar 1941 in der Theaterbaracke 27B zur Urauf‌führung. Draußen lag Schnee, und es regnete. Franzosen, Deutsche, Polen und Tschechen aus allen Gesellschaftsschichten drängten sich in ihren abgewetzten Uniformen mit dem aufgenähten »K.G.« für »Kriegsgefangene« dort zusammen. Ein Zuschauer erinnerte sich später: »Wir waren alle Brüder.«

Messiaen war ein Komponist, der niemals seinen Glauben verloren hatte und dessen Werk von der Sprache und dem Geist der Erlösung durchdrungen ist. Ich habe diesen Satz für Cello und Klavier, »Lobpreis der Ewigkeit Jesu«, als Einstieg gewählt.

16. Januar

Alexander SkrjabinSkrjabin, AlexanderÉtude in c-Moll (1871–1915) Étude in c-Moll, op. 2Étude in c-Moll (Skrjabin), Nr. 1

Also, manchmal braucht man Mitte Januar einfach eine Musik, die einem das angenehme Gefühl von einem großen Glas Rotwein gibt.1

Bitte schön.

17. Januar

Tomaso AlbinoniAlbinoni, TomasoOboenkonzert in d-Moll (1671–1751) Oboenkonzert in Oboenkonzert in d-Moll (Albinoni)d-Moll, op. 9, Nr. 22. Satz: Adagio

Die Oboe spielt im Orchester eine privilegierte Rolle: Bevor eine Auf‌führung beginnt, gibt der erste Oboist das eingestrichene a vor, und nach diesem Kammerton stimmen alle anderen Musiker ihre Instrumente. Nichts geht über den ach so süßen Klang einer Oboe mit ihrer fesselnden Kombination aus Reinheit und emotionaler Wucht.

Oboen gehen auf die verschiedensten Pfeifen und Schalmeien zurück, die Schäfer über die Jahrhunderte benutzten. Ihr charakteristischer Klang – der mittels eines Luftstroms durch ein Doppelrohrblatt entsteht – kann Sehnsucht hervorrufen, aber auch rauhere Gefühle ausdrücken. Das technisch ausgefeilte Instrument von heute war im frühen 18. Jahrhunderts eine relativ neue Erfindung, und der italienische Komponist Tomaso Albinoni war einer der Ersten, die ihr Potential als Soloinstrument erkannten. Nachdem er das erste Solokonzert für Oboe überhaupt geschrieben hatte, das erhalten geblieben ist, schuf er noch sieben weitere. Johann Sebastian Bach schätzte ihn dafür sehr und komponierte ebenfalls ein paar fabelhafte Werke für dieses Instrument.

Dieses Stück ist wirklich ein hinreißend schönes Beispiel.

18. Januar

Morten Lauridsen (*1943) Les chansons des roses (Rosenlieder)Chansons des roses, Les (Lauridsen)Lauridsen, Morten»Dirait-on«, Les chansons des roses»Dirait-on« (Es scheint so)»Dirait-on«, Les chansons des roses (Lauridsen)

Musik und Dichtung gehen oft Hand in Hand, und mich fasziniert, wie klassische Komponisten sich der Bedeutung eines Textes nähern. Dieses Jahr bekommen wir eine Menge Gedichte zu hören, darunter Werke von John Donne, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, Paul Verlaine, Wilfried Owen, William Shakespeare und von einem meiner Lieblingsdichter, Rainer Maria Rilke, über den einer seiner Übersetzer sagte: »Rosen klettern durch sein Leben, als wäre er ihr Spalier.«

Als ich herausfand, dass der amerikanische Komponist Morten Lauridsen auch ein Bewunderer Rilkes ist, wollte ich unbedingt hören, wie er dessen leuchtende Verse in Musik umgesetzt hat.

Lauridsen erzählte, dass ihn die Worte der Gedichtsammlung Les Roses und insbesondere Rilkes Darstellung »von liebender Hingabe, die man nicht zurückbekommt« besonders gerührt hatte.

Lauridsen verleiht durch die sehr sensible Art, wie er die Gedichte angeht und sie gleichzeitig zum Strahlen bringt, den Worten Rilkes nur noch mehr von ihrer eleganten Kraft.

19. Januar

Steve Reich (*1936) Electric Counterpoint (ElektrischerKontrapunkt)Electric Counterpoint (Reich)Reich, SteveElectric Counterpoint1. Satz: Fast

Kommen wir nun zu einer der herausragenden Gestalten der modernen Musik.

Einige Komponisten schreiben Musik rein der Musik wegen – Werke, die uns in alle möglichen emotionalen oder intellektuellen Richtungen lenken, die aber keinen anderen Zweck außer ihrer selbst erfüllen sollen. Während ich das hier schreibe, komponiert der achtzigjährige Steve Reich immer noch, nimmt internationale Auf‌träge an, fliegt mal eben für eine Urauf‌führung quer über den Atlantik, testet neue klangliche Möglichkeiten aus und unterläuft immer wieder Erwartungshaltungen. So hat er seit den 1960er Jahren originelle und bahnbrechende Musik geschaffen, die immer auch einen Kommentar zur heutigen Gesellschaft darstellt. Die Musik aus seiner Feder provoziert, reflektiert, fasst nach, verwirrt und begeistert.

Zusammen mit John Adams und Philip Glass gehört Reich zu den amerikanischen Begründern der sogenannten Minimal Music – eine Musikrichtung mit sich wiederholenden, nur wenig veränderten Klangfolgen und treibenden Rhythmen. Er hat zweifelsohne eine Sprache geschaffen, die sich aufregend neu anhörte und -fühlte, und das bis heute.

Doch obwohl alles so ultramodern wirkt, bedient sich Reich oft aus der Trickkiste der klassischen Musik. In diesem hypnotischen Stück für E-Gitarre und Tonband reizt er ständig unsere Erwartungen hinsichtlich Musik und Begleitung auf eine Art und Weise, die Komponisten des 18. Jahrhunderts wohlvertraut war. Und wenn diese mesmerisierenden Muster sich entwickeln und in unserem Ohr festsetzen, dann steht er in direkter Nachfolge von Johann Sebastian Bach.

Nehmen Sie dieses Stück als einen fabelhaften Stimmungsaufheller für trübe Januartage …

20. Januar

Franz Schubert (1797–1828) An dieMusikAn die Musik (Schubert)Schubert, FranzAn die Musik

Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,

Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,

Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden,

Hast mich in eine beßre Welt entrückt!

Damit ist alles gesagt.

21. Januar

Paul HindemithHindemith, PaulTrauermusik (1895–1963) TrauermusikTrauermusik (Hindemith)

Was passiert, wenn ein weltbekannter Bratschist und Komponist gutgelaunt nach London reist, um dort mit dem BBC Symphony Orchestra ein Konzert zu geben, und dann stirbt auf einmal der König von England?

Denken Sie nur, wie der arme Paul Hindemith sich gefühlt haben muss. Dieser deutsche Komponist leistete nicht nur einen faszinierenden Beitrag zur Tonalität des 20. Jahrhunderts (veröffentlicht in den 1940er Jahren als dreibändige Unterweisung im Tonsatz), ihm kam auch eine einzigartige Rolle beim Gedenken eines britischen Monarchen zu. Am 19. Januar 1936 war er nach London aufgebrochen, um dort am 22. die britische Premiere seines neuen Bratschenkonzertes zu spielen. Dann starb kurz vor Mitternacht des 20. Januar König George V. Das Konzert wurde sofort abgesagt, aber man bat Hindemith, aus gegebenem Anlass etwas Angemessenes zu schreiben. Mutig stimmte er zu – bloß keinen Stress! –, und um elf Uhr des nächsten Morgens spazierte er in das Büro, das die BBC ihm dafür zur Verfügung stellte, setzte sich hinter den Schreibtisch und machte sich an die Arbeit.

Es wirkt unglaublich angesichts der Tatsache, dass manche Komponisten Jahre brauchen, um auch nur ein einziges Werk zu schreiben, aber um siebzehn Uhr am 21. Januar war es vollbracht: Hindemith hatte mit seiner Trauermusik ein eindringliches und bewegendes Werk zu Ehren des verstorbenen Königs geschaffen. Glücklicherweise sind britische Musiker auf der ganzen Welt für ihre Fähigkeit bekannt, »vom Blatt zu spielen« (also ohne das Stück vorher gesehen und einstudiert zu haben), und diese Tradition ließ sie auch jetzt nicht im Stich: Am selben Abend wurde die brandneue Trauermusik live aus einem BBC-Radiostudio übertragen, der Komponist spielte die Bratsche, am Dirigentenpult stand der großartige Adrian Boult. Sehr beeindruckend.

22. Januar

Dmitri SchostakowitschSchostakowitsch, DmitriLady Macbeth von Mzensk (1906–1975) Lady Macbeth vonMzenskLady Macbeth von Mzensk (Schostakowitsch)Adagio arrangiert für Streichquartett

Mobbing durch die Medien ist kein Phänomen des aktuellen Jahrtausends. Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk, die am 22. Januar 1934 uraufgeführt wurde, erzählt die Geschichte einer russischen Frau aus dem 19. Jahrhundert, die sich in einen der Arbeiter ihres Ehemanns verliebt und dadurch zum Morden getrieben wird. Ein wilder Cocktail aus Sex, Gewalt und leidenschaftlicher Musik. Schostakowitsch selbst nannte die Oper eine »Tragödie-Satire« und sah in seiner Protagonistin die »tragische Darstellung des Schicksals einer talentierten, klugen und hervorragenden Frau, die zugrunde geht unter den schrecklichen Bedingungen des vorrevolutionären Russland«, und fühlte mit ihr.

Die Oper war ein Sensationserfolg: Zwei Jahre wurde sie fast ununterbrochen gespielt. Doch im Januar 1936 besuchte Stalin eine Auf‌führung. Zwei Tage danach erschien im kommunistischen Parteiblatt Prawda eine anonyme Kritik (man nimmt an, von Stalin selbst verfasst), die die Oper als »Chaos statt Musik« verdammte, sie als »aufgeregt und neurotisch« bezeichnete (was für ein totalitäres Regime schon etwas vollmundig klingt). Von »absichtlich plumpem, verwirrendem Getöse von Tönen« ist die Rede, von »Krachen, Knirschen und Kreischen«. Und der Autor warnt: »Dies ist ein Spiel […], das sehr böse enden könnte.«

Das waren niederschmetternde Nachrichten für Schostakowitsch: Seine Oper wurde aus dem Spielplan verbannt, und seine Musik landete auf dem Index. Er wurde zum Volksfeind erklärt und musste um sein Leben, um das seiner Frau und seines ungeborenen Kindes fürchten. Er war noch keine dreißig, da zog er seine vierte Sinfonie zurück und machte sich an seine fünf‌te, die er linientreu als »schöpferische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechtfertigte Kritik« bezeichnete. Seine spätere Karriere als Komponist war von dem Kampf zwischen künstlerischer Integrität und Wachsamkeit dem Sowjetregime gegenüber geprägt. Erst nach Stalins Tod konnte Schostakowitsch wieder mehr sich selbst treu sein (17. Dezember). Aber er hat nie wieder eine Oper geschrieben.

23. Januar

Carl Maria von WeberWeber, Carl Maria vonKlarinettenkonzert Nr. 1 in f-Moll (1786–1826) Klarinettenkonzert Nr. 1 in Klarinettenkonzert Nr. 1 in f-Moll (Weber)f-Moll, op. 733. Satz: Rondo – Allegretto

Stimmungswechsel – heute dank dieser temperamentvollen kleinen Nummer aus dem Holzbläserrepertoire. Der deutsche Komponist Carl Maria von Weber war in seinem früheren Leben ein ziemlicher Rebell – wurde verhaftet, war Mitglied eines Geheimbundes, all so was –, aber als er 1811 dieses Stück schrieb, erarbeitete er sich gerade seinen Ruf als einer der führenden Begründer der deutschen Romantik. Webers Lieblingsinstrument war die Klarinette, und er schrieb dieses verspielt-virtuose Konzert in weniger als einem Monat für den besten Klarinettisten der damaligen Zeit, Heinrich Joseph Baermann, mit dem er gut befreundet war. Dieser Rondo-Satz ist ein spritziges Feuerwerk, das die ganze Bandbreite dieses Instruments zeigt und belegt, wie sehr sich Musik für Klarinette in den zwei Jahrzehnten seit Mozart (5. September) weiterentwickelt hat.

24. Januar

William ByrdByrd, William»Agnus Dei«, Mass for Five Voices (ca. 1539/40–1623) Mass for Five Voices (Messe zu 5StimmenMesse zu 5 Stimmen (Byrd))5. Satz: »Agnus Dei»Agnus Dei«, Mass for Five Voices (Byrd)Mass or Five Voices (Byrd)«

Diese wunderschöne Quintessenz des »Agnus Dei«, die Anrufung des Lamms Gottes, um 1594/95 komponiert, war lange Zeit in Vergessenheit geraten, bis sie Anfang des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde.

Obwohl Byrds Eltern vermutlich Protestanten waren (und er selbst sehr viel zum anglikanischen Musikrepertoire beigetragen hat), wurde Byrd von einem starken Bekenntnis zum katholischen Glauben geprägt. Wahrscheinlich war diese Messe für die Hauskapellen derjenigen Familien gedacht, die noch treu zum Papst und der katholischen Kirche standen. Dies war ziemlich gefährlich, bedenkt man das Strafmaß für »widerspenstige Papisten«.

Byrd gehört unzweifelhaft zu den Meistern der europäischen Renaissancemusik und war Lehrer von vielen neuen Talenten der nächsten Generation. Seine Musik beeinflusste auch Komponisten der Moderne, wie wir im nächsten Monat sehen werden (10. Februar). Ich schätze an ihm, dass er zwar in seiner Komposition höchst kontrolliert ist, doch gleichzeitig gefühlvoll Barmherzigkeit vermittelt. Achten Sie mal darauf, wie er zum Beispiel jede Anrufung des »Agnus Dei« nahtlos in eine neue Melodie übergehen lässt, als handle es sich um private Unterhaltungen, die sich dann zu einer großartigen, bewegenden Klimax steigern, in dem sich alle Stimmen vereinen.

25. Januar

Traditionelle Volksweise My love is like a red, red rose (Meine Liebe ist wie eine roteRose)My love is like a red, red rose

Es ist Burns Night! An diesem Tag gedenken die Schotten in aller Welt mit Haggis, Steckrüben, Dudelsack und reichlich Whisky ihres Dichters Robert »Rabbie« Burns, der am heutigen Tag 1759 zur Welt kam. Seine herrlichen Verse, die man bei all der Feierei nicht aus den Augen verlieren sollte, haben über die Jahre viele Komponisten, darunter solche Größen wie Beethoven, Schumann, Mendelssohn, Ravel und Schostakowitsch, fasziniert und inspiriert. Ich habe ein Faible für diese traditionelle Vertonung von O Red, Red Rose:

O my Luve’s like a red, red rose,

Mein Lieb ist eine rothe Ros’

That’s newly sprung in June:

Die frisch am Stocke glüht;

O my Luve’s like the melodie,

Eine rothe, rothe Ros’! mein Lieb

That’s sweetly play’d in tune.

Ist wie ein süßes Lied!

Burns beschreibt dies als ein »schlichtes altes schottisches Lied, das ich diesen Sommer auf dem Land aufgesammelt habe«. Schlicht ist es vielleicht, aber es ist auch berührend und stimmungsvoll – und hat seinen Platz in der Musikgeschichte: Als Bob Dylan nach seiner größten Inspirationsquelle gefragt wurde, antwortete er, dass die Verse dieses Lieds den stärksten Einfluss auf sein Leben gehabt hätten.

26. Januar

Elena Kats-CherninKats-Chernin, ElenaUnsent Love Letters (*1957) Unsent Love Letters (Nie abgeschickteLiebesbriefe)Unsent Love Letters (Kats-Chernin)

Heute am Australia Day ist der richtige Zeitpunkt, um eine der aufregendsten zeitgenössischen Komponistinnen von Down Under zu feiern. Elena Kats-Chernin komponiert Opern, Vokalmusik, Orchesterwerke und Filmmusik. Aber was mich am meisten beeindruckt, sind ihre meditativen Werke über die nie abgeschickten Liebesbriefe des französischen Komponisten Erik Satie.

Satie war mit Sicherheit ein echtes Original in der Musik (1. Juni, 1. Juli, 3. September) und führte ein Leben voller scheinbarer Widersprüche. Auf der Bühne lieferte er eine gute Show, doch im Privatleben war er introvertiert und schüchtern. Draußen war er immer elegant in Samt und Seide gekleidet, doch zu Hause versank er im Chaos. Obwohl seine Professoren ihn verspotteten, er sei der faulste Student am Konservatorium, schrieb er einige der großartigsten und einfallsreichsten Musikstücke des 20. Jahrhunderts, die unvergessen bleiben.

Einige Jahre nach Saties Tod 1925 durf‌ten ein paar seiner Freunde endlich sein vollgestopf‌tes Appartement in der Rue Cauchy 22 in Arcueil vor den Toren von Paris betreten, zu dem ihnen Satie siebenundzwanzig Jahre lang den Zutritt verwehrt hatte. In dem Chaos fanden sie unter anderem: zwei aufeinandergestellte Klaviere, sieben Samtanzüge, zahlreiche Regenschirme, einen Tisch und einen Stuhl – und stapelweise Liebesbriefe an seine Muse, Geliebte und Nachbarin, Suzanne Valadon – die er jedoch nie abgeschickt hatte. Diese dienten Elena Kats-Chernin als Inspiration für fünfundzwanzig hervorragende Klavierminiaturen, die einige Elemente aus Saties einzigartiger Kunst, Liebe und Leben spiegeln. Am besten genießen Sie sie mit einem klassischen französischen Cocktail …

27. Januar

Wolfgang Amadeus MozartMozart, Wolfgang AmadeusSinfonie Nr. 41 in C-Dur (Jupiter-Sinfonie ) (1756–1791) Sinfonie Nr. 41 in C-Dur, KV551(Jupiter-SinfonieSinfonie Nr. 41 in C-Dur (Jupiter-Sinfonie) (Mozart)Jupiter-Sinfonie (Mozart))4. Satz: Molto allegro

»Oh happy day!« Was für ein herrlicher Tag, denn heute kam Mozart zur Welt. Das Wort »Genie« ist inzwischen zwar ziemlich abgenutzt, aber ich denke, wir sind uns alle einig, dass es auf ihn wirklich zutrifft – Mozart: ein Wunderkind, wahrscheinlich der begnadetste Melodienschreiber aller Zeiten, ein Komponist von so tiefgehender, so kluger, so origineller, zarter, mitfühlender und menschlicher Musik, dass allein ihre Existenz die Welt ein wenig besser macht.

Wir werden im Laufe des Jahres noch jede Menge Mozart hören, daher hoffe ich, dass Ihnen meine heutige Wahl gefällt. Es wird natürlich nie genug Mozart sein – ich hätte alle 366 Seiten dieses Buches allein mit seinen Werken füllen können –, aber doch eine hinreichend große Menge, damit Sie auf den Geschmack kommen und eine Vorstellung davon erhalten, wie genial er bei allem war, was er schuf. Er schrieb seine erste Sinfonie mit gerade einmal acht Jahren und seine einundvierzigste, als er zweiunddreißig Jahre alt war. Es sollte seine letzte sein, drei Jahre später starb er.

Zu jener Zeit produzierte er fast monatlich eine Sinfonie: Nr. 41 wurde im August geschrieben, der Nr. 39 vom Juni und Nr. 40 vom Juli dicht auf den Fersen. Stets auf der Suche nach Kohle hatte der umtriebige, aber chronisch blanke Mozart eigentlich vor, sie in einem neuen Casino in der Spiegelgasse von Wien aufzuführen, aber aus irgendwelchen Gründen kam es nie dazu. Trotzdem wurde dieses Werk zu einem der glanzvollsten Ecksteine des sinfonischen Repertoires. Besonders der 4. Satz ist etwas Großartiges, und ich hoffe, dass ganz gleich, wo Sie sind, und ganz gleich, was Sie heute vorhaben, er seinen mitreißenden Zauber auch bei Ihnen entfalten kann.

28. Januar

Reynaldo HahnHahn, Reynaldo»Heure exquise, L’«, Chansons grises (1874–1947) Chansons grises (GraueLieder)Chansons grises (Hahn) Nr. 5»L’Heure exquise« (Die herrliche Stunde)›Heure exquise, L’‹, Chansons grises (Hahn)

Lassen Sie uns heute in der poetischen Stimmung der französischen Belle Époque schwelgen, die wir dem in Caracas geborenen Komponisten Reynaldo Hahn verdanken. Er war halb Venezolaner und halb deutscher Jude, wählte aber als ständigen Wohnsitz Paris, wo seine Kollegen Charles Gounod und Jules Massenet ihn unter ihre Fittiche nahmen. Dort wurde er zudem Geliebter und langjährige Muse des großen französischen Schriftstellers Marcel Proust.

In diesem wirklich besonderen Lied vertont Hahn ein Gedicht von Paul Verlaine aus dessen Sammlung Fêtes galantes (Galante Feste). Der Titel bezieht sich auf die Frühwerke des Rokokomalers Antoine Watteau: Stellen Sie sich prächtig gekleidete junge Männer und Frauen vor, die in ländlicher Idylle ihre Scherze treiben. Doch in dieser verträumten Stimmung beschwört eine zarte Gesangslinie, die ab und zu himmelwärts steigt, einen eindrücklichen Hauch von Melancholie. Dies ist wirklich die »erlesene Stunde« …

Rêvons, c’est l’heure …

Es ist die Stunde zum Träumen …

Un vast et tendre

Eine unendliche sanfte

Apaisement

Ruhe

Semble descendre

Scheint herabzusteigen

Du f‌irmament

Vom Firmament,

Que l’astre irise …

das im Mondlicht schimmert …

C’est l’heure exquise.

Dies ist die erlesene Stunde!

29. Januar

Richard StraussStrauss, RichardDer Rosenkavalier (1864–1949) DerRosenkavalierRosenkavalier, Der (Strauss)Terzett aus dem 3. Akt

Die Geschichte der klassischen Musik ist voll von gescheiterten Ehen und stürmischen Liebesaffären. Komponist Richard Strauss war hingegen sechsundfünfzig Jahre lang glücklich mit seiner Frau Pauline verheiratet. Es mag ein Zufall sein, doch Strauss schrieb viele Opern mit starken Frauen als Hauptfiguren: Salome, Elektra, Ariadne, Helena, Arabella, Daphne. In seiner vielleicht großartigsten Oper überhaupt, dem Rosenkavalier, steht eine Marschallin im Mittelpunkt. Diese romantische »Komödie für Musik« spielt in der Wiener Aristokratie und wurde 1913 am heutigen Tag zum ersten Mal in London aufgeführt.

Die unglücklich verheiratete Marschallin hat sich darin den siebzehnjährigen Grafen Octavian zum Liebhaber genommen. Dieser wird später auserwählt, der schönen Sophie von Faninal eine silberne Rose zu überreichen. Mit dem (erfundenen) Ritual soll er für einen Vetter der Marschallin, den lüsternen alten Baron Ochs auf Lerchenau, um Sophies Hand anhalten. Doch ach, Octavian und Sophie verlieben sich auf den ersten Blick unsterblich ineinander. Die Marschallin muss der Jüngeren das Feld überlassen – und der Baron steht als der Genarrte da.

Strauss verkörperte zusammen mit Gustav Mahler den Zenit der deutschen Spätromantik nach Wagner. Im Rosenkavalier zieht er musikalisch rückhaltlos alle Register, und wenn die Marschallin, Octavian und Sophie über ihre Vorstellungen und Ideale der Liebe sinnieren wie in diesem hochaufgeladenen und melodisch vielschichtigen Terzett, vermag uns das zutiefst zu berühren.

Bereits die Urauf‌führung der Oper am 26. Januar 1911 im Königlichen Opernhaus in Dresden war ein unglaublicher Erfolg: Um die große Nachfrage des Publikums zu befriedigen, verkehrte ein Rosenkavalier-Sonderzug von Berlin nach Dresden. Clevere Vermarkter produzierten Rosenkavalier-Artikel, darunter Champagner. Und ein Cartoon in der Zeitschrift The New Yorker zeigte einen Mann auf dem Sterbebett, der nur noch einen Wunsch hat: Er möchte dieses Trio noch ein letztes Mal hören. Ich kann ihn nur zu gut verstehen.

30. Januar

Gabriel FauréFauré, GabrielViolinsonate Nr. 1 in A-Dur (1845–1924) Violinsonate Nr. 1 in Violinsonate Nr. 1 in A-Dur (Fauré)A-Dur, op. 131. Satz: Allegro molto

Ich liebe diese Sonate einfach so sehr dafür, dass sie uns sofort in einen Dialog zwischen der Violine und dem Klavier bringt. Fauré studierte bei Camille Saint-Saëns (25. Februar, 2. Dezember), unterrichtete Maurice Ravel (7. März, 14. Juli) und gilt allgemein als eines der musikalischen Genies des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ein Brückenbauer in der atemberaubenden Zeit zwischen Romantik und Moderne. In der Sonate entwickelt er eine glühende Leidenschaft, die trotzdem das für ihn charakteristische Maß an eleganter Zurückhaltung aufweist. Nach ein paar Minuten verändert sich plötzlich die Stimmung (und die Tonart), und Faurè nimmt uns völlig überraschend in die »Entwicklungsabteilung« mit – und dorthin würde ich ihm, ganz gleich, wie oft ich das Stück auch höre, immer wieder folgen.

Bei der Urauf‌führung der Sonate im Januar 1877 saß Fauré am Klavier, den Geigenpart spielte die junge Violinistin Marie Tayou, die erste Violine in einem rein weiblich besetzten Streichquartett. »Der Erfolg der Sonate heute Abend hat meine kühnsten Erwartungen übertroffen«, schrieb er einem Freund, »Mademoiselle Tayou war perfekt.« Sein Lehrer Saint-Saëns saß im Publikum und verfasste eine enthusiastische Kritik, in der er vor allem den Mut des Komponisten lobte. »Man findet in dieser Sonate all das, was den Feinschmecker verlocken kann«, begeisterte er sich in einer der wichtigsten französischen Musikzeitschriften. »Neue Formen, ausgezeichnete Modulationen, ungewöhnliche Klangfarben, die Verwendung von unerwarteten Rhythmen. Und über allem schwebt ein Zauber, der das ganze Werk einhüllt und der die Menge der gewöhnlichen Zuhörer dazu bringt, die ungeahntesten Kühnheiten als eine ganz normale Sache zu akzeptieren.«