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Wenn du erzählst, erblüht die Wüste. In seinem epischen Werk erzählt Rafik Schami einerseits die Geschichte einer von Melancholie geplagten Prinzessin und wie sie durch Geschichten gerettet werden soll. Andererseits berichten zahlreiche Erzählerinnen und Erzähler ihre Alltagsgeschichten, Fabeln und Märchen zu den Themen Mut und Feigheit, Vernunft und Aberglaube, Freundschaft und Feindschaft sowie von der Liebe und der Weisheit des Herzens. Dieser Band aus der Reihe märchenhaft enthält Märchen, die von Menschen inspiriert oder für Menschen erfunden worden sind.
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Seitenzahl: 180
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für Oma Minchen
„Der Mensch besitzt nichts Edleres und Kostbareres als die Zeit.“
Ludwig van Beethoven
Vorwort
Silkes Märchen oder Granoliens Rettung
Warum die Briefmarken Zacken haben
Muschelsuche
Raubritter Radobert
Das Wölkchen
Rolli, das Detektiv-Cabrio
Silberling
Zwielicht
Danke
Über den Autor
„Wenn du erzählst, erblüht die Wüste.“
In seinem epischen Werk erzählt Rafik Schami einerseits die Geschichte einer von Melancholie geplagten Prinzessin und wie sie durch Geschichten gerettet werden soll. Andererseits berichten zahlreiche Erzählerinnen und Erzähler ihre Alltagsgeschichten, Fabeln und Märchen zu den Themen Mut und Feigheit, Vernunft und Aberglaube, Freundschaft und Feindschaft sowie von der Liebe und der Weisheit des Herzens.
„Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“ gibt uns einen märchen- und zauberhaften Einblick in die Perlen arabischer Erzählkunst. Diese ehrbare Tätigkeit voller Magie und Poesie zog die Menschen in den Kaffeehäusern und auf den Marktplätzen in ihren Bann.
Stets enthielten die Berichte der Erzählenden neben der Flucht in eine Traumwelt ein Körnchen Wahrheit, Lebensweisheit und Lebenswirklichkeit, erinnerten sie doch an wahrhafte Menschen aus ihrem Umfeld, aus ihrer Region oder aus ihrer bekannten Welt.
So lenkte die meisterhafte Erzählkunst die Menschen aus ihrem bisweilen tristen Alltag ab oder brachte ihnen ferne Wunder dar. In jedem Fall regten sie ihre Phantasie und Lebensgeister an. Gefesselt und begeistert lauschten sie den faszinierend vorgetragenen Geschichten. Dabei war es gleichgültig, ob diese wahr oder ausgedacht waren.
Hauptsache gut und glaubhaft vorgetragen, um für ein paar Minuten der harten Realität zu entfliehen und Hoffnung aus der Märchenwelt zu schöpfen. Alles konnte gut werden.
Dieser Band aus der Reihe „märchenhaft“ enthält Märchen, die von Menschen inspiriert oder für Menschen erfunden worden sind.
Für verliebte Menschen, die doch nicht miteinander verbunden blieben, ihre Liebe festigen konnten oder sich auf ewig zu halten vermochten.
Für Freundinnen und Freunde, die unsere Herzen besonders berührten und berühren, aber leider an schweren Krankheiten verstorben sind.
Für uns selbst, um durch Märchen und Träume zu sich selbst zu finden.
„Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“ oder die Phantasie und damit das Leben.
Zentralmoschee in Fujairah (VAE) - Jochen Nagel
Es war einmal, so fangen alle Märchen an und so soll auch Deines beginnen. Ich weiß zwar nicht, ob Du ein modernes, futuristisches oder ein ganz normales haben willst, aber allein Dein Wunsch war mir Befehl und Idee genug.
Es war einmal ein kleines Königreich mit ebenso winzigen Bewohnern. Granolien, so heißt der Ort unserer Handlung, war von solch geringen Ausmaßen, dass die Menschen in ihrem hektischen und schnellen Leben diesen Platz der Ruhe und Abgeschiedenheit noch nicht entdeckt hatten. Zum Glück der Granolier, doch zum Leidwesen der Menschen.
Hier hätte jeder gern sein Dasein gefristet. Schier endlose Wälder (natürlich alles in granolischen Maßen gemessen), die Schatten, Sauerstoff und Leben spendeten, umschlossen das gesamte Königreich. Im inneren Ring teilten sich saftige Wiesen mit bebauten Feldern friedlich den übrigen Raum auf. Du wirst jetzt sicher fragen: „Wo leben denn die Granolier?“ und „Was tun sie den ganzen Tag?“
Das ist schnell erzählt. Wenn man das kreisförmige Land, durch Wälder, Felder und Wiesen, bis zur Mitte durchquert, kommt der Besucher zu einem Hügel, auf dem die Stadt Granolistan liegt ist. Hier wohnen die Granolier in den vielen bunten, runden Häuschen, die sie mit viel Liebe und geschickten Händen erbaut hatten. Unterschiedliche Farben kennzeichneten die verschiedenen Familien, sodass schon von weitem ein farbenprächtiges Bild entstand.
Tja, und trifft man die Granolier nicht gerade auf dem Feld an, wo sie die Granollers ernten, im Übrigen das einzige Nahrungsmittel, dann sitzen sie auf dem Marktplatz ins Gespräch vertieft, nehmen gerade eine der sechs Mahlzeiten zu sich oder spielen ihr liebstes Spiel: Grallowen.
Dabei stehen die Granolier um einen hohen Pfahl, den man mit einem Maibaum vergleichen kann, der jedoch innen hohl ist. Jeder versucht, mit einer Kugel von oben in diesen Hohlraum zu treffen, denn dann erzeugt die herabfallende Kugel eine Melodie. Immer wieder versuchen die Spieler neue Lieder zu finden, worüber sie ganz die Zeit vergaßen.
Sobald sich jedoch ihr Magen meldete, unterbrachen sie ihr Spiel und aßen von der Wunderfrucht Granollers. Die Menschen hätten sie wohl als Rübe bezeichnet, da die Granollers diese Form besaß, doch der Geschmack war nicht mit einer Rübe zu vergleichen. Jede Mahlzeit beinhaltet ihre eigene Überraschung, denn die Granollers besaß die Fähigkeit, alle möglichen Geschmacksrichtungen annehmen zu können, die man sich wünschte. Um solche Vielfalt in der Einfachheit musste man die Granolier beneiden.
Und so lebten sie glücklich und zufrieden mit ihrem Spiel und ihrer Nahrung jahrein - jahraus.
Schützend über ihr Treiben wachte das Schloss des Königs, welches sich drohend und einladend zugleich, in golden glänzender Pracht über der Stadt erhob. Das Banner des Königs wehte im Wind auf dem höchsten Turm des Gebäudes. Zwölf Ritter in goldener Rüstung standen zur Bewachung des Monarchen und seiner hübschen Tochter, der Prinzessin Catherine immer bereit, obwohl sie noch niemals eingreifen brauchten.
Granolier waren außerordentlich friedfertige Leute. Kein lautes Wort war auf den Straßen oder in den Häusern zu hören. Nicht einmal die Türen wurden verschlossen, da niemand auf den Gedanken des Stehlens oder anderer Missetaten gekommen wäre. Eigentlich könnte nun schon der berühmte Satz ... „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich und zufrieden“ ... folgen.
Leider ist es nicht so. Seit kurzer Zeit hatte der König Grantus III die Stirn mit Sorgenfalten überzogen. Ein alter Widersacher war wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht und sehnte sich nach Vergeltung. Im Gruselwald, dem dunkelsten Teil des granolischen Waldes (die Granolier gingen nie hinein, denn sie fürchteten sich), schmiedete der Zauberer Knorbalg seine Ränke.
Geschützt von tausenden und abertausenden Spinnweben vermochte er seinen Turm wieder zu erbauen. Anschließend legte er einen Zauber auf sein Heim, sodass kein Wesen ungeschoren in unmittelbare Nähe kommen konnte. Es war der ideale Ort, um mit alter Tücke, Raffinesse und Hinterlist einen Plan auszuarbeiten, der König Grantus III bis zur Vernichtung schlagen würde.
Erste Anzeichen machten sich schon bald bemerkbar. Die Granollers schmeckten nicht mehr so wie früher. Oftmals hinterließen sie sogar einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge.
Immer häufiger rannten die Granolier zum Schloss hin, um ihrem König von dem Unglück zu berichten. Eines Tages stürzte gar ein Bewohner Granoliens mit blau angelaufenem Gesicht vor dem geliebten Monarchen zusammen.
Nun war es an der Zeit zu handeln, denn schnell hatten die Bürger ihre Schlüsse gezogen. Seit Knorbalg wieder über den Turm herrschte, stiegen dunkle Wolken zum Himmel und machten den Regen, welchen die Granollers zum Wachsen brauchten, zu einem sauren Regen. Dieses musste die Ursache für den hässlichen, ja abartigen, faden Geschmack der heißgeliebten Frucht sein.
Man drängte den König zur Tat. Schon bald sandte Grantus III Boten nach Glutzburg, dem Domizil des Zauberers. Er wollte, wie bislang immer in der Geschichte Granoliens, eine friedfertige Lösung herbeiführen. Daher sollte Knorbalg zu einem Gespräch gebeten werden. Unruhig und ungeduldig wartete der König auf seine Boten.
Schon bald kehrten die ersten zurück. Überzogen mit hässlichen Spinnweben, denen sie nur mit Mühe entrinnen konnten, aber ohne Nachricht vom Magier trafen sie wieder im Schloss ein.
Den nächsten, die in die heimatlichen Gefilde kamen, stand das Entsetzen förmlich ins Gesicht geschrieben. Diese Boten hatten den Ring der Spinnweben durchbrochen und den Turm Glutzburg beinahe erreicht, als ihnen ein abscheuliches Wesen den Weg versperrte. Das war Grindbär, der gefährlichste und schlimmste seiner Art. Die Schuppen hatte er von seinem Vater, der ein Drache war, geerbt. Seine Mutter aus der Familie der Grizzlybären vermachte ihm alle gefährlichen Eigenschaften ihres Charakters. Somit war Grindbär der ideale Wachhund für den Zauberer.
Von panischer Angst gepackt, flohen die königlichen Boten vor diesem Ungeheuer. Mit Mühe gelang ihnen die Flucht, doch traten sie unverrichteter Dinge den Heimgang an.
Der König saß traurig auf seinem Thron. Es lag ihm fern, gegen den Zauberer zu kämpfen. Nein, dieses fröhliche Volk durfte nicht mit Krieg überzogen werden. Welche Lösung blieb noch? Grantus III musste selbst in die Höhle des Löwen gehen. Ein schwerer und weitreichender Entschluss musste gefasst werden. Die Gedanken schossen nur so durch seinen Kopf.
Da geschah es, dass der letzte der Boten im Schloss eintraf. Als erstes fiel allen auf, dass er vollkommen teilnahmslos aus den Augen schaute. Er sprach mit
Niemandem und murmelte nur: „Ich muss zum König.“
Auf schnellstem Weg brachte man ihn zu Grantus III.
„Hast du Knorbalg gesehen?“ wollte der Monarch wissen. Der Bote nickte zustimmend.
„So rede doch. Was verlangt er? Wie kann ich Granolien retten?“ fragte der König ungeduldig.
Monoton und nur für ihn vernehmbar flüsterte der Gesandte: „Catherine. Er will Catherine! Sonst verseucht er alles mit seinem Regen.“ Dann brach er vor den Augen des Königs tot zusammen. Der Zauber hatte seine Wirkung erfüllt.
Tief getroffen sank der König in seinen Thron. So eine unverschämte Forderung. Doch was konnte er schon gegen einen Magier unternehmen. Prinzessin Catherine war sein einziges Kind. Sie erfreute mit ihrem Wesen alle Granolier. Dennoch bewahrte sie immer ihre königliche Grazie, wo sie auch hinkam. Die blonden Engelshaare unterstrichen ihr wunderschönes Gesicht. Ihre tiefblauen Augen hielten den Beobachter gefangen. Niemand war es möglich, seine Blicke von ihr zu wenden. Ja, wenn man dieses Wesen ein Leben lang in seiner Nähe wissen könnte, dann bräuchte man an das Wort „traurig“ keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Wie eine Silvesterrakete versprühte die Prinzessin Lebensfreude. Alle waren in sie verliebt und beneideten denjenigen, der sie einmal ehelichen würde.
Und dieses fröhliche Kind sollte an den Erzfeind Knorbalg ausgeliefert werden. Ein - Nein! - hätte jedoch Krieg bedeutet. Zwischen Hoffen und Bangen schwankte der König. Vier Tage schritt er jetzt schon im Thronsaal auf und ab. Noch immer hatte er keine Entscheidung getroffen. Die Zeit drängte zur Tat.
Grantus III schaute aus dem Fenster. Der Regen hatte eingesetzt. Knorbalg machte also ernst. Der Monarch fasste nun seinen Entschluss, denn verhungern sollten seine Untertanen nicht. Er wollte selbst zu dem Zauberer gehen, denn seine heißgeliebte Catherine wollte er nicht opfern.
Sofort wurde Sausewind, des Königs Pferd, gesattelt. Die Ritter blieben als Wache für die Prinzessin zurück. Grantus III wollte diese Angelegenheit allein regeln. Auf seinem Ritt durch Granolien erkannte er schon die ersten Schäden, welche der Regen angerichtet hatte. Er trieb Sausewind zu noch größerer Geschwindigkeit an. Ohne aufgehalten zu werden erreichte er Gruselwald, wo er hoffte, auf Knorbalg zu treffen.
Alles ging glatt; zu glatt könnte man meinen. Ungehindert passierte der König den Gürtel von Spinnweben und setzte den Weg nach Glutzburg fort, ohne dass Grindbär oder sonst ein Ungeheuer die Reise erschwert hätte.
So erreichte er in Kürze den Turm des Zauberers. Hatte der alte Magier sein Kommen nicht bemerkt? Ließ seine magische Kraft nach? Grantus III bekam keine Antwort auf sein Fragen. All sein Rufen, Klopfen oder Schreien verhallte wirkungslos im dunklen Wald. Wie eine Geisterstadt, so verlassen schien dieser Ort. Hier war niemand. Wo war Knorbalg? Für einen Augenblick schien der König ratlos, doch dann schoss ihm ein Gedanke, wie ein Blitz im Gewitter durch den Kopf - die Prinzessin!
In größter Eile trieb er Sausewind an. Zum Schloss, er musste zum Schloss. Einem Vogel gleich überflog das königliche Pferd Felder und Wiesen Granoliens. Kein Ross im Lande vermochte eine solche Geschwindigkeit zu laufen.
Binnen kurzer Zeit traf der König in Granolistan ein. Doch die sonst fröhliche Stadt bot ein Bild des Schreckens. In panischer Angst hatten sich die Granolier in ihren Häusern verkrochen. Die Furcht stand allen ins Gesicht geschrieben. Niemand wollte sprechen. Nochmals beschleunigte Grantus III seinen Ritt zum Hof.
Auch hier herrschte ein heilloses Durcheinander. Sofort lief Grantus III zu den Gemächern der Prinzessin. Sie waren verweist. Knorbalg hatte seine Abwesenheit ausgenutzt. Niedergeschlagen sank er vor Catherines Himmelbett auf die Knie.
Weinend fanden die Wachen ihren Monarchen. Nicht einer vermochte ihn über seinen Verlust zu trösten. Zwei Tage trauerte Grantus III. Der Regen hatte aufgehört. Was konnte man jetzt noch tun? Bedeutet das Krieg für Granolien? Völlig ungeübt im Kampf würde bald ein Blutbad unter den Granoliern angerichtet sein. Nein, das konnte nicht im Sinne des Monarchen sein. Der König wollte sein Land nicht ins Unglück stürzen. Gab es jedoch sonst noch Hoffnung?
Ständig grübelte man am Hof über eine mögliche Lösung. Berater sprachen bei Grantus III vor, doch immer wieder dachten sie an eine gewaltsame Befreiung. Widerstrebend lehnte der König ab. Gewalt war ihm fremd. Nie in der Geschichte Granoliens war ein Problem unter Anwendung von Gewalt gelöst worden. So sollte es bleiben. Im Augenblick beeinträchtigte auch kein Regen das Hauptnahrungsmittel.
Trotzdem war die Situation unerträglich. Die Granollers behielten ihren faden Geschmack, die Bewohner mochten nicht mehr spielen und Catherine war in den Händen Knorbalgs.
Ein letzter Ratschlag wurde gesucht. Zwei Wochen vergingen und niemand war in der Lage, dem König eine Lösung anzubieten. Plötzlich erschien Grisoweng im Schloss. Er war der älteste Bewohner Granoliens und man sagte ihm unerschöpfliche Weisheit nach. Welche Hilfe konnte ein so alter Mann in dieser Situation geben? Grisoweng war eingefallen, woran niemand mehr gedacht hatte: der Armreif Garbus.
Seit ewig langer Zeit vererbte ihn die Königsfamilie an ihre Nachfahren. Bislang wurde er noch nicht benötigt. Kein Wesen kannte die Macht oder Wirkungsweise von Garbus. Es war die letzte Hoffnung.
Schweren Herzens stieg Grantus III hinab in die Schlossgewölbe, um den wertvollen Schatz und zugleich die gefährlichste Waffe ans Tageslicht zu holen. Mittlerweile hatte sich die ganze Bevölkerung im Schlosshof versammelt. Alle waren gespannt, was nun geschehen würde. Der König stieg auf die Empore, streifte den Armreif über sein Handgelenk und - nichts geschah. Lähmendes Entsetzen breitete sich aus. Die Enttäuschung stieg in dem Monarchen hoch. Sollte Catherine für immer verloren sein?
Als bei keinem der Anwesenden auch nur noch ein Fünkchen Hoffnung in der Seele keimte, geschah etwas wunderbares. Angeregt durch das königliche Blut begann Garbus hell zu leuchten. Die Augen der Granolier glänzten vor Freude und alsbald brachen sie in Jubel aus. Grantus III verlangte nach Ruhe, denn auf dem strahlenden Band erschien für kurze Zeit ein Vers, der Hilfe versprach:
Granolien, Land der Granollers Frucht,
hast mich soeben um Hilfe ersucht.
König, du bist die rettende Hand
für das gelobte Heimatland.
Greife den Reif, dreh ihn dreimal nach Westen,
bald steht es für alle wieder zum Besten.
Doch denk an mich nur in äußerster Not,
denn eine Rettung, ist mein sicherer Tod.
Alsbald verglühte Garbus und war wieder der einfache, schmucklose Armreif. Zweifel breitete sich aus. War dies die Ausnahmesituation? Wieder vertieften sich die Granolier ins Gespräch. Die Zeit raste dahin. Brauchbare Lösungen wurden nicht gefunden.
Ein unerwartetes Ereignis vereinfachte die Entscheidungsfindung. Erneut setzte Regen ein. Und dies mit bisher nicht dagewesener Heftigkeit. Knorbalg hatte die Macht von Garbus gespürt und sehr zornig reagiert. Blitzschnell war eine Entscheidung getroffen. Der König sollte den Armreif benutzen. Mit zitternden und feuchten Händen griff Grantus III nach dem Band der Macht. Es fühlte sich kalt und unpersönlich an, doch man spürte kaum, dass es das Gelenk umspannte. Zögernd bewegte der König den Metallreif.
Erste Drehung: Ungewissheit. Was würde geschehen? Zweite Drehung: Noch konnte man stoppen. Sollte man nicht lieber kämpfen?
Dritte Drehung: Nebel umhüllte den Monarchen. Minutenlang geschah nichts. Unruhe bewegte die Granolier.
Unendlich langsam löste sich der Nebel auf - doch Grantus III stand immer noch allein, wenn auch gewachsen, majestätischer als vorher. Die Menge jubelte ihm zu. Sie hoffte und vertraute auf seine Taten. Urplötzlich schlug ein Blitz ein, der die Menge blendete und für kurze Zeit mit Blindheit schlug. Wieder mit dem Augenlicht gesegnet, traute man kaum zu glauben, was sich abgespielt hatte.
Neben dem geliebten König stand ein blonder junger Mann mit strahlenden, stahlblauen, entschlossenen Augen. Doch war er ohne Waffe und Rüstung. Maurice, aus der Welt der Menschen nach Granolien geholt, sollte die Prinzessin erretten und den Zauberer in die Knie zwingen.
Wie würde er diese hohe Aufgabe angehen? Würde er sie überhaupt annehmen?
Vielfaches Vertrauen brachten ihm die Granolier entgegen. Sie liebten ihn vom ersten Augenblick an, dabei hatte er weder eine Handlung in Angriff genommen noch ein Wort gesagt.
Als Zeichen der Freundschaft und des Willens, Granolien zu helfen, reichte Maurice dem König die Hände. Kraft und Stärke durchflossen Grantus III Körper. Er spürte die Entschlossenheit des Menschen. Selbstbemitleidung und Trauer wichen aus seinem Wesen als Maurice fragte: „Wann soll ich beginnen? Wohin soll ich meine Schritte lenken?“
Das Gesicht des Monarchen wurde von lang vermisster Freude erhellt. Eine Woge der Begeisterung erfasste die Granolier, als der Monarch und Maurice im Schloss verschwanden, um die Rettung vorzubereiten.
Sofort wurde der blonde Jüngling zur Waffenkammer geführt, denn er sollte mit Rüstung und Schwert ausgestattet werden. Zumindest dachte der König, dass nur ein Krieger dem Zauberer wiederstehen könnte. Gelbing, der Waffenmeister, öffnete die ihm unterstellten Räume und präsentierte voller Stolz seine Sammlung.
Anerkennend lobte Maurice die gute Arbeit. Zum Schrecken von Gelbing und Grantus III lehnte er jegliche Bewaffnung ab. „Gebt mir ein gutes Pferd, so will ich zufrieden sein. Erlaubt mir noch zwei Fragen: Existiert ein Geheimgang zum Turm des Magiers? Wie erkenne ich die Prinzessin?“, wandte sich der Mensch an den König.
Sogleich ordnete dieser an, das beste Reitpferd zur Verfügung zu stellen. Mit sorgenvoller Miene erklärte er sodann, dass vom Rand des Gruselwaldes ein unterirdischer Gang nach Glutzburg führt.
„Aber, niemand hat ihn seit Jahren benutzt,“ wandte der König sein. „Außerdem vermuten wir dort den Schlupfwinkel von Grindbär und wer weiß, welche Untiere noch dort hausen. Willst du wirklich keine Waffe?“
„Nein“, antwortete der Blondschopf, „die einzige Bewaffnung trage ich in mir. Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe geben mir den Mut, diese Aufgabe anzugehen.“
Eine späte Mahlzeit wurde eingenommen. Dann zog Maurice sich in seine Gemächer zurück. Er wollte früh aufbrechen.
Die aufgehende Sonne streichelte unseren Helden und erweckte ihn aus dem tiefen, erholsamen Schlaf. Unruhe und Hektik beherrschte Granolistan. Diener versorgten den Jüngling. Schnell nahm er die Granollers Frucht zu sich. Dann wandte er seine Schritte in den Schlosshof, wo Morgentau, ein wunderschöner Apfelschimmel bereitstand, seinen Reiter an jeden Ort Granoliens zu tragen.
Tränen in den Augen und gute Wünsche auf den Lippen verabschiedeten sich der König und Maurice. Die Bewohner bildeten ein Spalier und die „Hoch-Rufe“ begleiteten ihn bis weit vor die Tore der Stadt. Nun war die Hoffnung Granoliens auf sich allein gestellt. Er hatte keinerlei Unterstützung zu erwarten. Doch Hilfe kommt oft in den trübsten Stunden oder Momenten größter Angst.
Geduldig trug Morgentau seine Last von Feld zu Feld und Wiese zu Wiese, die allesamt ihre leuchtenden Farben verloren hatten. Knorbalgs Regen hinterließ seine Wirkung. Maurice sprach oft mit seinem Reittier und es schien ihn zu verstehen. Darum stieg er zeitweise aus dem Sattel, um das Pferd zu entlasten und sich an der Natur erfreuen zu können. Leider konnte er die volle Pracht nur erahnen, doch als menschliches Wesen war er Schlimmeres gewöhnt und so war der grüne Reiter (grün als Farbe der Hoffnung) beeindruckt von der Schönheit Granoliens. Trotzdem verlor er seinen wichtigen Auftrag nicht aus den Augen und begab sich zielstrebig zur Grenze des Gruselwaldes. Nun brauchte er nur noch den Eingang zum Geheimgang zu finden.
Bereits zwei Stunden wanderte er suchend am Rand des Forstes entlang, ohne auch nur die Spur eines Schlupfwinkels zu entdecken. Unzufrieden schlenderte Maurice weiter. Er musste hinein. Darum setzte er die Suche fort. Der Zufall stand unserem Blondschopf als Pate zur Seite.
Gerade wollte er sich auf den direkten Weg nach Glutzburg machen, da offenbarte sich ihm folgendes Schauspiel. Einige fledermausähnliche Vögel, Flärgusse genannt, stießen in rasend schnellem Flug vom Himmel herab und verschwanden scheinbar in einem Felsen.
Erstaunt und neugierig zugleich steuerte der grüne Reiter in Richtung des betreffenden Steinblocks. Dort angelangt, kam ein Freudenschrei über seine Lippen. Vor ihm tat sich die Öffnung zu einem unterirdischen Gang auf. Das erste Ziel war geschafft. Jetzt trennten sich die Pfade von Maurice und Morgentau, dem geduldigen Begleiter, denn der dunkle Weg begann. Schweren Herzens verabschiedete sich der Reiter von seinem Ross. Welche Gefahren lauerten jetzt auf ihn? Der erste Schritt in die Dunkelheit des Ganges war ein Schritt in die Ungewissheit. Doch ohne Zögern, mit einem festen Ziel vor Augen und dem Mut seines Herzens wandte er sich in das Erdinnere.
Für eine Weile waren seine Augen nicht in der Lage, das Umfeld zu erblicken. Die tiefe Schwärze schluckte sämtliches Licht. Es hätte zwar sowieso nichts gegeben, was anschauungswürdig gewesen wäre, aber Maurice wollte ja die Orientierung nicht verlieren und dazu benötigte er das Augenlicht. Schnell gewöhnte er sich an das Wandern unter Tage und er konnte seinen Schritt beschleunigen. Geschärfte Sinne ermöglichten ihm ein gutes Vorankommen.
Wie lange er nun schon marschierte, wusste er nicht, aber ein beklemmendes Gefühl ließ ihn nicht mehr los. Es war plötzlich dagewesen. Wurde er verfolgt? Grindbär - sofort schoss ihm dieser gefährliche Gegner in den Kopf. Nochmals erhöhte er die Schrittzahl. Aber nur für einen Augenblick. So ein Unsinn, dachte er bei sich, hier gibt es kein Entrinnen. Er musste sich dem Gegner stellen, komme was wolle. Vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein. Dunkelheit und Einsamkeit taten ihr übriges zu den bestehenden Gefahren.
Maurice verlangsamte seine Geschwindigkeit wieder, blieb jedoch nicht stehen. Prinzessin Catherine musste befreit werden. Darauf richtete er sein ganzes Handeln und setzte seinen Marsch nach Glutzburg fort.
Gut eine Stunde war vergangen, als auf einmal - „Roar“ - ein gewaltiges Brüllen die Stille zerriss. Eine helle Flamme blendete den blonden Helden. Kein Zweifel, das war Grindbär.
Er zuckte vor diesem furchterregenden Wesen zusammen. Über und über mit Schuppen bedeckt, die starken Arme in zottiges Fell gehüllt, auf die zwei kräftigen Hinterbeine aufgerichtet, so stand das Monstrum vor ihm.