Ein Marquess auf der Flucht - Sophia Farago - E-Book

Ein Marquess auf der Flucht E-Book

Sophia Farago

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Beschreibung

Endlich! Lange haben wir darauf gewartet, doch nun erfahren wir, was mit dem verschwundenen Marquess passiert ist! Sebastian Cavendish, der junge Marquess of Beaconsfield, hat Glück im Unglück. Das Unglück: Sein eigener Vormund trachtet ihm nach dem Leben, da er sich nicht nur den hohen Titel, sondern auch das Anwesen und das Vermögen seines Mündels selbst sichern will. Also sieht Sebastian nur einen Ausweg, nämlich die Flucht. Das Glück: Seine Schwester Amabel heiratet Major Harold Westfield, einen der vier tonangebenden Gentlemen Londons, genannt die "Regency Heroes". Die nehmen den jungen Marquess unter ihre Fittiche und bringen ihn inkognito auf einem sicheren Platz als Hauslehrer unter. Außerdem finden sie einen fähigen Verwalter für seinen verwaisten Landsitz. Doch das Unglück im Glück: Auch sie sind ratlos, was man gegen die Gefahr unternehmen könnte, die nach wie vor vom gierigen Vormund ausgeht. Inzwischen quält sich Miss Emily Bradford so lange durch die Londoner Saison, bis sie eines Abends im vornehmen Almack's Club unverhofft dem Mann ihrer Träume gegenübersteht. Sie verliebt sich Hals über Kopf, die beiden kommen sich kurz näher, doch dann ist der Gentleman von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Dafür taucht bei Sebastian ein bildhübsches Mädchen auf, das behauptet, seine Schwester zu sein. Er hat jedoch nur eine Schwester, und Amabel ist diese Fremde mit Sicherheit nicht …

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Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Projektkoordination: Claudia Tischer

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Tatjana Weichel

Vermittelt durch: Michael Meller Literary Agency GmbH, München

ePub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de nach einer Reihengestaltung von Anke Koopmann | Designomicon

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

 

ISBN 978-3-96215-518-6

Sebastian und die Regency Heroes – Wie alles begann

Harold, Elliott, Reginald und Oscar waren seit dem Studium beste Freunde. In Oxford hatte der Hausknecht auf alle Betthäupter im Schlafsaal die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen gemalt: H E R O – damit waren die Regency Heroes geboren.

Mittlerweile waren die vier Ende zwanzig und Seite an Seite erwachsen geworden. Sie standen unmittelbar davor, die Titel und Güter ihrer Vorväter zu erben und Familien zu gründen. Dabei wurden sie durch die zahlreichen Irrungen und Wirrungen des Lebens immer noch enger zusammengeschweißt. Eines Tages hatte Reginald dann den um einiges jüngeren österreichischen Adeligen Emil kennengelernt, der ihm auf seiner unfreiwilligen Reise über den Kontinent zur Seite stand und anschließend in die Freundesrunde aufgenommen wurde. Nur einer fehlte noch, um diese zu ergänzen: Harolds Schwager Sebastian, der junge Marquess of Beaconsfield, denn der war weiterhin auf der Flucht. Sein eigener Vormund trachtete ihm nach dem Leben, um sich selbst den hohen Titel, das Anwesen und Vermögen für sich selbst zu sichern. Gegen diese Gefahr hatten bisher nicht einmal die Heroes ein geeignetes Mittel gefunden …

Anmerkungen

Dieser Roman erzählt Sebastians Geschichte. Sie lehnt sich an die vier Bände der Regency-Heroes-Reihe und an Emils Erlebnisse in Das geheimnisvolle Testament an, kann jedoch auch einzeln gelesen werden. Noch mehr Spaß macht es allerdings, wenn du die Heroes bereits kennst. Am besten tauchst du mit Die skandalöse Verwechslung in ihre spannende Welt ein.

Eine Liste der wichtigsten Personen und Fachausdrücke findest du wie immer im Anhang.

Kapitel 1

Anfang Juni 1812, Hochzeit von Lady Amabel Cavendish mit Major Harold Westfield in der kleinen Kapelle auf Millcombe Castle/Beaconsfield, dem Landsitz von Sebastian Cavendish, dem Marquess of Beaconsfield, kaum dreißig Meilen westlich von London

O Gott, o Gott!, schoss es Sebastian Cavendish, dem jungen Marquess of Beaconsfield, durch den Kopf, während ihm der Schweiß die Schläfen hinunterrann und seine Finger wie von selbst über die Tasten des alten Spinetts glitten. Nun war es gewiss nichts Ungewöhnliches, dass ein gläubiger Christ in der Kirche seinen Herrn anflehte, ungewöhnlich war schon eher der Satz, der sich an dieses Flehen anschloss. Bitte, lass mich diese verdammte Geschichte unbeschadet überstehen! Die Tatsache, dass dieses alte Instrument in Kürze wird dran glauben müssen, ist schlimm genug, ich will mir zudem nicht auch noch sämtliche Knochen brechen.

Als ihn sein neuer Bekannter, Mr Elliot Sandhill-Jones, am Vortag in den waghalsigen Plan eingeweiht hatte, da hatte er noch großspurig verkündet, er würde die ganze Angelegenheit mit Gelassenheit, ja sogar einer gewissen Portion Nonchalance hinter sich bringen. Doch davon war nun keine Rede mehr. Jetzt kam es ihm eher so vor, als wollte sich sein Magen vor Aufregung mehrfach um die eigene Achse drehen und … Da! Das Zuknallen der Kirchentür! Das war das Zeichen, auf das zu warten Elliot ihm aufgetragen hatte, und damit der Beweis, dass die Gefahr unmittelbar bevorstand. Hieß es doch, dass das Brautpaar und alle Gäste die kleine Kapelle verlassen hatten und nur noch er im Raum war. Er – und die skrupellosen Gefolgsleute seines Vormunds Edgar Prestwood, die ihm nach dem Leben trachteten. Trotzdem, er konnte es nicht lassen. Er musste einfach auch noch die letzten paar Töne des Musikstücks fertig spielen. Dann jedoch schob er den Hocker nach hinten und hechtete mit einem Sprung in den engen Geheimgang hinein. Der hatte im 17. Jahrhundert, zu Cromwells unseligen Zeiten, schon manch anderem das Leben gerettet. Sebastian lobte sich selbst dafür, dass er in weiser Voraussicht das Instrument so nah wie nur möglich neben die versteckte Tür geschoben und dann, bevor er zu spielen begann, ebendiese Tür bis zum Anschlag geöffnet hatte, um sich die Flucht zu erleichtern.

Kaum jemand wusste von diesem Korridor, der zum kleinen Friedhof hinter dem Gotteshaus hinunterführte. Sein schmaler Eingang war in der Holzvertäfelung verborgen und so gekonnt in deren kunstvolle Schnitzereien eingearbeitet, dass man, selbst wenn man von ihm wusste, alle Einzelheiten ganz genau abtasten musste, um ihn zu finden. Von diesem Ausgang ahnten seine Häscher zum Glück nichts. Es war nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass er selbst ihn vor einigen Jahren entdeckt hatte. Damals war er zehn oder elf Jahre alt gewesen und hatte sich wieder einmal gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester Amabel auf Erkundungstour durch die Besitzungen ihres Vaters begeben. In jener Zeit konnte er nicht voraussehen, welch lebensrettenden Dienst ihm diese Entdeckung dereinst bereiten würde.

Rasch rappelte er sich auf, streifte sich so gut es ging Schmutz und Spinnweben von den Handflächen und drückte die schmale Tür hinter sich zu. Jetzt war es fast dunkel rund um ihn, und er stolperte die ersten Schritte vorwärts. Der Korridor war eng, die Decke niedrig. Nur mit gekrümmtem Rücken konnte er sich auf das kleine, beinahe blinde Fenster über der schmalen Eisentreppe zubewegen, die ihn hinunter ins Freie führen würde. Ein lautes Krachen von geborstenem Holz ließ ihn auffahren, und sein Kopf stieß an die steinerne Decke. Der Schmerz, der ihn dabei durchzuckte, war nichts gegen die Wut, die er im Herzen empfand. Sie hatten es tatsächlich getan!

Eigentlich hatte Sebastian am Vortag die ärgsten Spinnweben – ganze Netze, die sich in den vergangenen Jahrzehnten im Geheimgang angesammelt hatten – mit einem Besen beseitigen wollen, aber Elliot, sein neuer Freund, hatte ihm dringend davon abgeraten.

„Die Kumpane deines Vormunds sind soeben dabei, die Empore anzusägen“, hatte er erklärt und ihm dabei erst so wirklich die Ernsthaftigkeit seiner Lage vor Augen geführt. „Du sollst nach der Trauung zu Boden stürzen und dir das Genick brechen. Wenn unser waghalsiger Plan, zuerst für Amabel zu spielen und dich dann anschließend zu retten, morgen gelingen soll, darfst du ihnen heute nicht in die Quere kommen.“

Nun hatten die gemeinen Schufte ihr schändliches Werk tatsächlich vollendet. Ein zweihundert Jahre altes hölzernes Meisterwerk war binnen Sekunden zu einem Berg Altholz zusammengebrochen. In einer Kapelle, in der schon seine Vorfahren und seine geliebten Eltern ihre Gebete verrichtet hatten. In einer Kapelle, die ihm gehörte. Ihm ganz allein. Sebastians Herz schlug nun so heftig, dass er tief durchatmen musste, um sich zu beruhigen. Na wartet, dachte er und ballte die Hände zu Fäusten, eswird der Tag kommen, da werdet ihr mir dafür büßen!

Zwei Mäuse querten fiepend seinen Weg und hätten ihn beinahe zum Straucheln gebracht. Er atmete ein weiteres Mal tief durch und zwang sich, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

Das Wichtigste hast du bereits geschafft, versuchte er sich zu beruhigen, während er sich mühsam weiter vorwärtskämpfte. Du warst bei Amabels Trauung anwesend, hast ihr Lieblingsstück gespielt, und du lebst noch.

Bei ihrer Trauung! Während er weiter nach vorn stolperte, schüttelte Sebastian in Gedanken den Kopf. Amabel war nun verheiratet! Mit einem Mann, den er nicht kannte. Einem Major Westfield, von dem er bis zum vorigen Tag noch nie etwas gehört hatte. Dafür hatte er einen von dessen Freunden, nämlich Elliot, kennengelernt, und der war ohne Zweifel ein patenter Bursche. Ihm hatte er nicht nur zu verdanken, dass er noch lebte, sondern auch, dass er den schäbigen Wanderzirkus verlassen konnte, bei dem er sich in den letzten Monaten versteckt gehalten hatte. Es war auch Elliot gewesen, der ihm von der bevorstehenden Hochzeit erzählt hatte. Und es würde Elliot sein, der ihn jetzt am Ausgang des Friedhofs erwartete. Sebastian schickte ein weiteres Flehen zum Himmel, dass das tatsächlich der Fall sein würde, denn er musste dringend von hier verschwinden! Hatte ihn sein Vormund erst wieder in den Fängen, würde ihm kein Flehen zu Gott mehr helfen. Prestwood hatte es sich nämlich zum Ziel gesetzt, sich nicht nur den Titel eines Marquess, sondern auch das damit verbundene, beträchtliche Vermögen zu sichern. Er, Sebastian, war der Einzige, der ihm dabei im Weg stand, und der Mann hatte bereits so einiges versucht, ihn aus diesem Weg zu räumen. Es war nicht davon auszugehen, dass dieser neuerliche Misserfolg ihn von seinem verbrecherischen Vorhaben abbringen würde. Im Gegenteil. Wahrscheinlich war sein Ehrgeiz jetzt erst recht angestachelt.

Vorsichtig öffnete Sebastian die Eisentür, die ins Freie führte, und blickte sich um. Von der anderen Seite der Kirche hörte er das aufgeregte Durcheinanderreden der Hochzeitsgesellschaft und das perlende Lachen einer jungen Frau. Nun aber schnell! Er musste Elliots Kutsche erreichen, bevor sein Vormund bemerkte, dass er nicht unter den Trümmern lag. Gebe Gott, dass Sandhill-Jones tatsächlich am vereinbarten Ort auf ihn wartete! Er duckte sich und lief quer über den Friedhof, den niedrigen, steinernen Grabmälern entlang, die sich auf der Wiese wie einzelne verwitterte Perlen erhoben. Dann wäre er vor Erleichterung beinahe in Tränen ausgebrochen, als er sie da stehen sah: die schwarze Kutsche mit dem geschlossenen Verdeck. Der Schlag war einladend geöffnet. Elliot saß auf dem Bock und grinste zu ihm hinunter.

„Du hast es geschafft!“, rief er erfreut. „Steig ein, Sebu, wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Kapitel 2

„Ich habe zwei Fragen“, begann Sebastian, als er hinter Sandhill-Jones das Extrazimmer eines Gasthauses betrat, das den hochtrabenden Namen MightyKing Henry trug.

„Ich nehme an, zwei werden nicht ausreichen!“ Elliot grinste über die Schulter zurück. „Darum bin ich bereit, dir viel mehr zu beantworten. Aber zuerst brauche ich dringend etwas Herzhaftes zu essen. Überstandene Gefahr macht mich immer besonders hungrig.“ Er wandte sich an den Wirt, der eifrig herbeigeeilt war, um sich nach den Wünschen der vornehmen Gäste zu erkundigen. „Was können Sie uns denn heute Gutes empfehlen?“

Während Elliot mit dem Hausherrn die Auswahl der angebotenen Speisen besprach und sich schließlich für eine Lammbrust im Brot-Kräuter-Mantel entschied, von der der Wirt beteuerte, sie würde in wenigen Minuten frisch aus dem Ofen kommen, betrachtete ihn Sebastian unverhohlen von der Seite her. Sandhill-Jones war ein nicht allzu großer, dafür aber besonders gut aussehender Gentleman mit fein geschnittenen Gesichtszügen, dunklen Locken und einem jungenhaften Lachen. Vom Alter her schätzte er ihn auf Ende zwanzig, also knappe zehn Jahre älter als er selbst. Er kannte ihn noch nicht lange, und doch hatte er schon jede Menge Grund, ihm dankbar zu sein. Wenn ihm der Mann in Kürze nun auch noch etwas Köstliches auf den Tisch stellen ließ, um seinen leeren Magen zu füllen, dann kam ein weiterer Grund dafür dazu.

„Wo sind wir hier eigentlich?“, fragte er, während der Wirt durch einen dunklen Flur zum Extrazimmer vorausging.

„In einer Poststation nahe Ickenham, etwa elf Meilen östlich von Beaconsfield“, antwortete Elliot, wandte sich im Gehen ihm zu und runzelte die Stirn. „Das ist doch weit genug von deinem Zuhause entfernt, sodass dich hier niemand auf den ersten Blick erkennt?“

„Das hoffe ich auch.“ Sebastian zog den Kopf ein, sodass ihm seine etwas zu langen, mittelblonden Haare in die Stirn fielen, als könnte er sich dadurch vor neugierigen Blicken schützen. „Zumindest in diesem Wirtshaus bin ich mit Sicherheit noch nie gewesen.“

„Was hältst du von einem schönen Glas Ale?“, wollte Elliot wissen, während sie den Raum betraten.

„Sehr viel!“, konnte Sebastian nur begeistert zustimmen und vergaß vorübergehend seine nächste Frage. Nämlich die, wohin sie eigentlich unterwegs waren.

Der Wirt schlug mit einem zusammengefalteten Geschirrtuch einige Brösel vom Holztisch, verscheuchte ein paar Fliegen, verkündete „Kommt sofort, meine Herren!“ und zog sich zurück.

„Ist es nicht übertrieben, für uns beide ein Extrazimmer zu mieten?“, wollte Sebastian wissen, als er auf die Eckbank rutschte und den Mantel, den er über seinem Arm getragen hatte, neben sich ablegte. „Hast du gestern nicht erwähnt, du seist pleite … also, ich meine: in Geldverlegenheiten? Ich verfüge derzeit über keinerlei Mittel, um …“

Da lachte der andere auf: „Nenne es ruhig pleite, mein Guter, denn das trifft es auf den Punkt“, sagte er frei heraus. „Doch mach dir keine Sorgen. Zum einen wäre es fatal, dich in einen Schankraum zu setzen, wo dich unter Umständen doch jemand erkennen und dir deinen Vormund auf die Fersen hetzen könnte. Und zum anderen habe ich den Auftrag von deinem neuen Schwager Harold Westfield und den anderen Heroes, dich in Sicherheit zu bringen. Sie sind bereit, mir die nötigen Mittel dafür zur Verfügung zu stellen. Also mach dir keine Gedanken!“

Während Elliot auf dem Stuhl Sebastian gegenüber Platz nahm, dachte der junge Marquess, dass er seinem neuen Freund diesen Wunsch nicht erfüllen konnte. Sein Hirn schwappte regelrecht vor Gedanken über.

Elliot lockerte das Halstuch und streckte seine schlanken Beine von sich. „So, das Ärgste haben wir wohl hinter uns. Ich muss gestehen, dass ich dich für die Ruhe bewundert habe, mit der du die Musikstücke gespielt hast. Damit hast du deine Schwester sehr glücklich gemacht. Ich weiß nicht, ob du es von der Empore aus erkennen konntest, aber sie hatte Tränen der Freude in den Augen.“

Um sich seine Rührung darüber nicht anmerken zu lassen, wechselte Sebastian das Thema: „Mein Schwager, die anderen …“, er malte Gänsefüßchen in die Luft, „Heroes und du, ihr seid enge Freunde, nicht wahr?“, erkundigte er sich anstelle einer Antwort. „Dass ihr Helden seid, habt ihr mir schon allein dadurch bewiesen, dass ihr mich zuerst vom Zirkus befreit und dann zur Hochzeit gebracht habt. Aber warum nennt ihr euch tatsächlich so? Habt ihr es auf eure Fahnen geschrieben, andere zu retten?“

Da öffnete sich knarrend die Tür, die der Wirt mit dem Ellenbogen aufgedrückt hatte, und er erschien, ein Tablett in den Händen. „So, hier hätten wir etwas gegen den ärgsten Durst. Und weil das Lamm noch ein wenig Zeit braucht, habe ich mir erlaubt, eine Schüssel Weiße Suppe mitzubringen, für die meine Frau im ganzen Landkreis bekannt ist.“

Er stellte alles auf dem Tisch ab, und Sebastian griff sofort zu seinem Glas, während sich Elliot über den dampfenden Tontopf beugte. „Mmmh, das riecht gut! Die Bezeichnung Weiße Suppe erscheint mir jedoch etwas vage. Worauf können wir uns denn da freuen?“

„Vor allem auf Huhn, eure Lordschaft“, begann der Wirt zu erklären. „Man kocht es mit den Innereien so lange, bis das Fleisch zerfällt. Dann kommen Schinken, Reis, Sellerie und wohl auch Sardellen dazu. Und Kräuter natürlich, viele Kräuter. Aber fragen Sie mich bitte nicht, welche. Das genaue Rezept gibt die Wirtin nicht preis.“

Er schöpfte jeweils eine ordentliche Portion in zwei tiefe Teller, schnappte sich dann den Topf und ließ seine Gäste wieder allein. Die aßen einige Minuten schweigend, bevor sich Elliot die Mundwinkel mit der Serviette abtupfte.

„Was deine Frage nach den Heroes betrifft, so sind wir vier bereits seit den Studententagen in Oxford enge Freunde“, sagte Elliot und erzählte dann die Geschichte über die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen auf den Betthäuptern. „Der Hausmeister hatte sie mehr oder weniger kunstvoll aufgemalt: H für Harold, deinen neuen Schwager, E für Elliot“, er zeigte auf sich. „Dazu kam R für Reginald Ashbourne – das ist der, dem die schwarze Kutsche gehört, mit der wir unterwegs sind –, und schließlich O für Oscar Bradford. Alles zusammen …“, seine aufgestellte Handfläche malte einen geraden Strich in die Luft, „H, E, R, O – die Heroes waren geboren.“

Das brachte Sebastian zum Lachen. „Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen“, gestand er. „Und ihr vier haltet also zusammen wie Pech und Schwefel?“

„So ist es“, bestätigte Elliot, ohne zu zögern. Er griff zu einer Scheibe Brot, die der Wirt ebenfalls dagelassen hatte, und brach sich ein Stück davon ab. „Wir vier stehen uns bei, was immer auch kommen mag. Irgendwann haben wir uns einen passenden Leitspruch zurechtgelegt: Cum quis vocat, omnes veniunt! Das bedeutet so viel wie …“

„Wenn einer ruft, kommen alle“, übersetzte Sebastian und legte nun auch seinerseits den Löffel in den leeren Teller.

„Du hast Kenntnisse in Latein?“, vergewisserte sich Elliot und klang dabei so übermäßig begeistert, dass sich Sebastian nur wundern konnte.

„Hat dir Amabel denn nichts von unserem Vater erzählt?“, lautete seine Gegenfrage. „Der hatte eine derart große Vorliebe für die alten Römer und deren Sprache, dass es schon fast an Besessenheit grenzte. Daher sind wir Kinder mit Latein aufgewachsen, und meine Schwester verblüfft auch heute noch alle, die sie nicht gut kennen, damit, dass sie lateinische Sprüche in eine Unterhaltung einflicht.“

„So“, sagte der Wirt von der Tür her. „Und da wäre nun auch das Lamm.“

Wieder aßen sie einige Zeit schweigend.

„Die Kruste des Bratens schmeckt ein wenig ungewöhnlich, findest du nicht auch?“, war es Elliot, der die Stille schließlich brach. „Mich würde nun doch interessieren, welche Kräuter die Wirtin hierfür verwendet hat.“

„Und mich würde interessieren“, wechselte Sebastian wieder das Thema, „wie ich in den Genuss eurer Fürsorge komme. Dass ihr Heroes zusammenhaltet, habe ich verstanden, aber warum kümmert ihr euch auch um mein Wohlergehen? Ich bin ein völlig Fremder, den vor wenigen Tagen noch keiner von euch kannte.“

„Du bist ab heute Harolds Schwager“, erklärte Elliot, als sei damit alles gesagt. „Da versteht es sich doch von selbst, dass wir dich nicht in der Luft hängen lassen.“

„Dafür danke ich euch. Glaub mir, dafür danke ich euch von Herzen“, sagte Sebastian, und Elliot zog eine Augenbraue hoch, als er einen Hauch von Spott aus diesen Worten zu vernehmen glaubte. Zu Recht, wie sich gleich darauf herausstellte. „Aber wie wollt ihr das denn bewerkstelligen? Dieses ‚mich nicht in der Luft hängen lassen‘? Ich bin zurzeit mittellos, mein Zuhause wird von meinem schrecklichen Vormund und seinen Kumpanen belagert, und mir sitzt die stete Gefahr im Nacken, von ebendiesen ins Jenseits befördert zu werden.“ Er wartete, bis Elliot nickte, bevor er abwehrend die Hand hob und fortfuhr: „Ich habe nicht vor, mich irgendwo in einer einsamen Hütte zu verstecken, bis ich im Januar einundzwanzig Jahre alt werde. Ebenso wenig werde ich mich auf Kosten anderer durchs Leben schlagen und irgendwelche Almosen annehmen.“

„Tapfer gesprochen“, kommentierte sein Gegenüber diesen Wortschwall, und nun war auch in dessen Stimme leichter Spott unüberhörbar. Ein aufmerksamer Beobachter hätte somit den Eindruck gewinnen können, dass die beiden Männer sich zwar kaum kannten, aber einander gar nicht so unähnlich waren. „Warum erzählst du mir nicht einfach in Ruhe deine ganze Geschichte? Wie du aufgewachsen bist, was mit deinem Vormund vorfiel und wo du die größten Gefahren siehst. Außerdem würde mich interessieren, was du dir für die Monate bis zu deiner Volljährigkeit wünschst. Ich mache mir Gedanken und unterbreite dir anschließend einen Vorschlag. Bist du damit einverstanden?“

Sebastian nickte langsam, und dann begann er zu erzählen. Über die ersten vierzehn Jahre, die er als einziger Sohn und Erbe des Marquess of Beaconsfield gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester glücklich und behütet auf Millcombe Castle verbracht hatte. Seine grünen Augen leuchteten, als er an die unbeschwerte Zeit zurückdachte. „Ich hatte einen großartigen, jungen Hauslehrer, der über ein umfassendes Wissen verfügte und mir viele Freiheiten gestattete. So durfte ich über Wiesen und Felder reiten und mich mit anderen Burschen meines Alters, ja sogar mit Jack, meinem persönlichen Diener, in vielen Sportarten messen.“ Er lachte kurz auf. „Ich war immer schon ein guter Reiter, aber das waren andere auch. Das Einzige, worin ich allen überlegen war, war das Bogenschießen.“

„Du wurdest also umfassend unterrichtet?“, vergewisserte sich Elliot und schien besonders gespannt auf die Antwort zu warten.

„Aber gewiss wurde ich das. Die meiste Zeit geschah das gemeinsam mit meiner Schwester. Das mag dir ungewöhnlich erscheinen, aber Amabel war ein besonders wissbegieriges Mädchen, und weder mein Vater noch mein Erzieher hatten etwas gegen ihre Anwesenheit beim Unterricht einzuwenden. Nur der Pfarrer wollte sie nicht in seinem Haus haben.“

„Der Pfarrer? Was hat denn der dir beigebracht?“

„Vieles über unseren Glauben, natürlich. Doch er hatte überdies großes Wissen, was unsere Kolonien betraf. Wir spielten zusammen Schach und, was am allerwichtigsten war, er gab mir Unterricht auf dem Spinett. Jenem Instrument, das die Verbrecher heute zerstört haben.“ Er schnaufte unwillig und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich schwöre dir, es wird der Tag kommen …“

„Von deinem Vater stammen die Kenntnisse über die Römer und in der lateinischen Sprache“, unterbrach ihn Elliot, ohne darauf einzugehen.

Sebastian nickte. „Sehr richtig. Und über Geschichte allgemein. Selbstverständlich legte er auch Wert darauf, dass wir uns in unserer Muttersprache gekonnt ausdrückten. Er ließ uns Essays schreiben und die grammatikalischen Einzelheiten bestimmen.“ Sebastian lachte auf. „Für meinen Erzieher blieben dann nur noch die Naturwissenschaften und vor allem auch Mathematik übrig. Der arme Mann! Für dieses Fach habe ich mich so gut wie gar nicht erwärmen können. Das wurde erst etwas besser, als ich in Eton war.“

Elliot horchte auf: „Du hast einen Abschluss von Eton?“, fragte er mit unüberhörbarer Begeisterung, die jedoch sofort wieder zunichtegemacht wurde, als Sebastian den Kopf schüttelte.

„Leider nein. Ich war genötigt, vorzeitig von der Schule abzugehen, als meine Eltern bei dem vermaledeiten Kutschenunglück ums Leben kamen. Zum einen fehlte mir ab da dafür das Geld, und zum anderen musste ich mich um das Anwesen und meine Schwester kümmern. Und um die Dienerschaft natürlich, auch wenn deren Anzahl aufgrund fehlender Mittel immer kleiner wurde.“

„Das heißt, dein Vater hat dich, ich meine: euch, unversorgt und in Armut zurückgelassen?“, schloss Elliot daraus voll Mitgefühl und dachte, dass dies das Schicksal sein würde, das ihn in einigen Jahren ebenfalls erwartete. Sehr zu seiner Überraschung schüttelte der Jüngere den Kopf.

„Nein, im Gegenteil, ich bin gut situiert. Neben Millcombe Castle und weitläufigem Grundbesitz habe ich auch ein erhebliches Vermögen geerbt. Über dieses kann ich jedoch nur gemeinsam mit meinem Vormund verfügen. Der war im ersten Jahr nach Vaters Tod auf einer ausgiebigen Reise über den Kontinent unterwegs, was bedeutete, dass wir tatsächlich in bitterer Armut leben mussten. Jetzt, da Edgar Prestwood nach England zurückgekehrt ist, steht es um meine Finanzen keinen Deut besser. Selbst als ich noch nicht auf der Flucht war, wollte er mir kein Taschengeld zugestehen.“ Er schnaufte abermals unwillig. „Aber zumindest habe ich die Gewissheit, dass auch er ohne meine Zustimmung nicht an mein Geld kommt.“

„Wie seid ihr verwandt?“, wollte Elliot wissen.

„Prestwoods Vater war der Cousin meines Großvaters. Du hast ihn und seinen Bruder Lionel kennengelernt. Einer ist schlimmer als der andere. Amabel und ich kannten die beiden nicht persönlich, bis Edgar plötzlich zu unserem Vormund bestellt wurde. Vater hatte ihn stets auf Abstand gehalten.“

„Ich kann nicht fassen, dass die beiden Prestwood-Brüder dir nach dem Leben trachten.“

„Und doch ist es so!“ Sebastian schnaufte abermals unwillig. „Edgar will sich meinen Besitz und vor allem auch meinen Titel unbedingt so schnell wie möglich sichern. Stell dir vor, Lionel hat mir erzählt, dass er seinem römischen Schwiegervater vorgegaukelt hat, er sei bereits der Marquess of Beaconsfield. Nur so hatte er sich die Zustimmung zur Heirat erschleichen können.“

„Das kann doch nicht wahr sein!“, rief Elliot entsetzt, und dann erzählte ihm Sebastian noch so allerhand, was eigentlich auch nicht wahr sein konnte.

Wie man ihm gegen seinen Willen Alkohol eingeflößt hatte, um ihn die Kellertreppe hinunterzustoßen, zum Beispiel. Und wie man es wie einen Unfall aussehen lassen wollte. Wie man Jagdausflüge plante, um ihn „versehentlich“ zu erschießen. Dass er unter einer angesägten Empore begraben werden sollte, hatte Elliot selbst miterlebt. Sebastian schloss mit den Worten: „Ich habe Lord Reeth, den Friedensrichter, um seinen Beistand gebeten, doch der wollte mir nicht helfen, solange ich keine Beweise für Prestwoods Schandtaten vorlegen konnte. Also blieb mir nur eine Möglichkeit, nämlich die Flucht.“

„So bist du als Bogenschütze beim Zirkus gelandet“, verstand Elliot nun diesen drastischen Schritt, worauf Sebastian ein weiteres Mal bitter aufschnaufte.

„So ist es. Glaub mir, auch diese Entscheidung habe ich mehrfach zutiefst bereut. Zwar war beim fahrenden Volk mein Leben nicht länger in Gefahr, doch die Zustände waren schlimm. Der persönliche Diener eines alten, launenhaften Schützenmeisters zu sein, der meinte, mich wegen jeder Kleinigkeit züchtigen zu müssen, war auch nicht das, wie ich mir mein Leben vorgestellt habe.“

„Er hat dich geschlagen?“, vergewisserte Elliot sich entsetzt. „Mein Gott, jetzt bin ich doppelt froh, dass es mir gelungen ist, dich dort aufzuspüren und wegzulocken.“

„Ich wollte zuerst gar nicht mit dir gehen“, gestand Sebastian und grinste. „Dein Hilfsangebot kam mir verdächtig vor. Du hättest ja genauso gut mit Prestwood unter einer Decke stecken können.“ Er hob die Hand, als Elliot etwas einwenden wollte. „Keine Sorge, inzwischen glaube ich das nicht mehr. Doch nun sag, was meinst du, wie das Leben bis zu meiner Volljährigkeit weitergehen soll? Nach Hause kann ich nicht zurück, also brauche ich als Erstes eine sichere Unterkunft.“

Elliot nickte und wollte eben etwas antworten, als Sebastian weitersprach: „Es ist eine große Erleichterung, dass Amabel ab heute in festen Händen, glücklich und abgesichert ist und ich mir keine Sorgen mehr um sie machen muss. Ich selbst habe gewiss gelernt, mit wenig auszukommen, aber dennoch brauche ich etwas, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen …“

„Das ist mir bewusst“, unterbrach ihn Elliot nun doch. „Ich denke, ich habe die passende Lösung gefunden. Also, hör zu. Das Quartier ist … na ja, sagen wir nahezu standesgemäß. Dazu bekommst du Anschluss an eine hochadelige Familie, stets ausreichend zu essen und eine Aufgabe, die deine Tage bis zu deiner Volljährigkeit schnell vergehen lassen wird.“

„Das klingt zu gut, um wahr zu sein“, murmelte Sebastian.

Elliot ergriff ihn am Unterarm. „Dennoch ist jedes Wort wahr. Vertraust du mir?“, fragte er mit ungewohnt ernster Miene.

Sebastian überlegte nicht lange und nickte. „Du bist außer meiner Schwester, meinem Diener Jack und Alli, unserer alten Haushälterin, derzeit der einzige Mensch, dem ich vertraue“, gestand er.

„Das ist gut“, sagte Elliot, „denn du und ich werden die einzigen Menschen sein, die die Wahrheit über deinen Verbleib kennen werden. Um deine Sicherheit bestmöglich zu gewährleisten, wird nicht einmal deine Schwester erfahren, wohin ich dich bringe. Auch die anderen Heroes bleiben ahnungslos. Da sie dich bei der Hochzeit zwar am Spinett gehört, nicht aber gesehen haben, sollten sie dich auch nicht erkennen, wenn du ihnen zufällig über den Weg läufst. Und der Familie, zu der ich dich bringe, werde ich dich am besten mit dem Namen vorstellen, den du bereits im Zirkus getragen hast.“

„Sebu Brown?“

„Ganz genau. An diesen Namen hast du dich schon gewöhnt, also wird es dir nicht schwerfallen, ihn weiter zu tragen. Ach ja, eines noch: Sollte man dich jemals fragen, wofür die Abkürzung Sebu steht, so antwortest du am besten, sie stünde für den alten Namen Sebert. Wir müssen unbedingt vermeiden, dass jemand das Wort Sebastian hört und sofort an dich denken muss.“

Da zuckte der Jüngere mit den Achseln. „Wenn du meinst, dann soll es mir recht sein. Doch nun heraus mit der Sprache. Womit verdiene ich mein Geld?“

„Du wirst Hauslehrer des armen Timmy, des jüngeren Bruders von Baron Helmsbury“, lautete die Antwort. „Der hat sich bei einem Reitunfall vor zwei Jahren die Beine so unglücklich gebrochen, dass er sich nun nur noch mit Mühe fortbewegen kann. Dennoch möchte er sich auf Eton vorbereiten, und du wirst ihm dabei helfen. Was für ein glücklicher Zufall, dass du trotz deines jungen Alters umfassend gebildet bist!“ Elliot lehnte sich vor, um Sebastian in weitere Einzelheiten seines Plans einzuweihen.

Kapitel 3

„Ave Magister, morituri te salutant!”

Was auch immer sich Sebastian unter einem armen Timmy vorgestellt hatte, es war mit Sicherheit nicht dieser junge Adonis gewesen, der da, ganz in Eierschalenfarben gekleidet, das Halstuch geöffnet, wie hingegossen auf der Chaiselongue lag. Außerdem hatte er bestimmt nicht mit diesem spöttischen Empfang gerechnet, bei dem ihm, kaum dass er das sogenannte Studierzimmer betreten hatte, ein lateinischer Ausspruch über Todgeweihte zugeworfen wurde, die ihn als ihren Lehrer begrüßten. In seiner Vorstellung hatte er ein verschüchtertes Kind erwartet und sogar eine Zahnlücke vor sich gesehen, obwohl dies, wenn er es sich genau überlegte, bei einem Vierzehnjährigen wohl doch höchst ungewöhnlich gewesen wäre. Stattdessen sah er sich nun einem jungen Mann mit ebenmäßigen Gesichtszügen gegenüber, dessen glänzende dunkle Locken ihm über die Schultern rieselten, und der über eine tiefe Stimme verfügte, die ihn bei Weitem älter erscheinen ließ.

Es war zwei Wochen nach dem Gespräch im Mighty King Henry, als Sebastian seinem neuen Schützling hier im Studierzimmer zum ersten Mal gegenübertrat. Als Elliot ihm enthüllt hatte, dass er die folgenden Monate als Hauslehrer verbringen sollte, hatte er diesen Plan im ersten Moment für einen Witz gehalten.

„Hauslehrer?!“, hatte er ausgerufen. „Du schlägst mir doch nicht allen Ernstes vor, mich als Hauslehrer zu verdingen?!“

Elliot war über diesen Ausbruch nicht eben erfreut gewesen. „Aber gewiss doch“, fuhr er auf. „Hast du eine bessere Idee, wie wir die Probleme aller Beteiligten lösen könnten?“ Er begann die einzelnen Facetten seines Plans an den Fingern abzuzählen. „Du brauchst bis zum kommenden Januar ein sicheres Heim und eine sinnvolle Beschäftigung. Timmy will in Eton aufgenommen werden. Daher sucht sein Bruder einen Hauslehrer für ihn, vor allem auch deshalb, da der alte abhandengekommen ist.“

Sebastian war für einen Augenblick abgelenkt: „Was soll das heißen, der alte sei abhandengekommen? Wo ist er denn hin?“

„Nun, er hat anscheinend versucht, mit Emily, also Oscars Schwester, nach Gretna Green durchzubrennen. Harold hat sich ihnen an die Fersen geheftet, und dabei kam es zu ebenjener folgenschweren Verwechslung, bei der er deine Schwester kennenlernte. Aber das habe ich dir ja schon auf der Fahrt vom Zirkus nach Beaconsfield in allen Einzelheiten erzählt. Auch wie die Geschichte weiterging, weißt du. Emily ist wieder gut zu Hause. Unverheiratet, wie ich froh bin, betonen zu können.“

„Und der Hauslehrer?“

„Der wurde von Helmsbury mit Schimpf und Schande zum Teufel gejagt.“

Sebastian nickte. „Alles andere wäre auch verwunderlich gewesen“, sagte er und kam dann zum eigentlichen Thema zurück. „Und jetzt soll ich den Hauslehrer ersetzen? Ich? Ganz gewiss nicht!“

„Es gibt wahrlich schlimmere Aufgaben, seine Tage zu füllen, als einen armen Jungen auf Eton vorzubereiten.“ Elliots Stimme klang ungewohnt streng.

„Das stimmt schon“, gab Sebastian freimütig zu. „Aber ausgerechnet ich? Was soll ich dem Kind denn beibringen?“ Er atmete tief durch, presste die Lippen aufeinander und murmelte schließlich mit viel weniger Selbstvertrauen, als er bisher an den Tag gelegt hatte: „Wer bin ich denn? Ein viel zu junger Mann, der noch dazu die Schule abgebrochen und im Zirkus gearbeitet hat und … und …“

Elliots Gesichtszüge wurden wieder weicher. „… der aus bestem Hause stammt und umfassend gebildet ist“, setzte er diese Aufzählung fort. „Der bewiesen hat, dass er sich in schwierigen Lebenslagen zu behaupten versteht und etwas Fröhlichkeit in das Leben eines einsamen Jungen bringen kann. Wolltest du das sagen?“

Sebastian errötete und schüttelte mit unsicherem Grinsen den Kopf. „Nein“, gab er ehrlich zu, „das wollte ich gewiss nicht. Aber wenn du es so ausdrückst, dann klingt es verflixt gut.“

So war es also gekommen, dass er nach anfänglichem Zögern Elliots Vorhaben zugestimmt und begierig alle weiteren Informationen zu seinen zukünftigen Aufgaben und der Familie, bei der er wohnen sollte, in sich aufgesogen hatte.

„Baron Helmsbury ist ein Jugendfreund von Oscar. Die Grundstücke der beiden liegen kaum drei Meilen voneinander entfernt. Ossi wohnt direkt am Ortseingang von Hampstead, die Helmsburys auf einem Hügel etwas weiter westlich. Ihr Landsitz grenzt einerseits an einen Wald und andererseits an große Weideflächen. Der Baron ist mit Lady Clara verheiratet, die wiederum die beste Freundin von Oscars Schwester Emily ist. Das Paar hat eine kleine Tochter, und da der alte Baron und seine Gattin vor etwa drei Jahren von irgendeiner Krankheit dahingerafft wurden, sind sie es, die sich um Timmy kümmern.“

Sebastian überlegte: „Das heißt, ich werde deinen Freund Oscar und seine Schwester ebenfalls antreffen?“

Elliot erwog den Gedanken. „Dass du Emily dort kennenlernen wirst, ist mit Sicherheit anzunehmen“, lautete schließlich seine Antwort. „Denn laut Oscars Aussagen verbringt sie mehr Zeit bei ihrer Freundin als zu Hause.“ Er überlegte kurz und zog dabei die Stirn kraus: „Wahrscheinlich lässt es sich tatsächlich nicht vermeiden, dass du eines Tages auch Oscar über den Weg laufen wirst. Er ist ein kluger Kopf, Sebastian. Es ist zwar nicht anzunehmen, dass er dein Gesicht bei der Hochzeit gesehen hat, und er rechnet auch nicht mit deiner Anwesenheit bei den Helmsburys, trotzdem solltest du ihm, wenn möglich, aus dem Weg gehen.“

Der Jüngere versprach, diesen Rat im Hinterkopf zu behalten.

„Ach ja, noch etwas!“, fiel Elliot ein. „Du verfügst doch neben dem Marquess of Beaconsfield sicher noch über diverse andere Titel. Ist da einer dabei, der nicht allzu geläufig ist, und den man nicht auf den ersten Blick mit dir in Verbindung bringt?“

Sebastian zählte eine Reihe von Namen auf. „Ich denke, die wenigsten Menschen wissen, dass ich mich auch Baron Balcester nennen darf. Warum fragst du?“

„Weil du als Hauslehrer ein Empfehlungsschreiben vorweisen musst“, lautete die Antwort. „Anderenfalls können wir unseren Plan sofort wieder verwerfen.“

Sebastians Einwand, dass Elliot selbst ihn doch ohne irgendwelche Winkelzüge empfehlen könnte, wurde mit einem Handstreich vom Tisch gewischt. „Es stimmt schon, dass Helmsbury mir vertraut“, sagte er. „Dennoch bin ich das, was man gemeinhin einen ledigen Lebemann nennt, mein Guter. Soweit ich weiß, habe ich noch keine Kinder in die Welt gesetzt. Daher habe ich auch noch keinen Grund gehabt, einen Hauslehrer zu beschäftigen. Du brauchst eine Empfehlung von jemandem, der zumindest den Eindruck erweckt, dein ehemaliger Arbeitgeber gewesen sein zu können.“

Gegen diese Worte konnte Sebastian beim besten Willen nichts mehr einwenden.

„Du trägst doch hoffentlich deinen Siegelring bei dir?“, vergewisserte sich Elliot weiter. Sein Blick fiel unübersehbar auf die ungeschmückten Hände seines Gegenübers, worauf Sebastian auf den zusammengelegten Mantel neben sich klopfte. „Selbstverständlich. Ich war nicht so dumm, ihn in Reichweite meines Vormunds zu lassen. Wer weiß, was er alles damit anstellen würde. Der Ring befindet sich wohlverwahrt hier, in den Saum dieses Mantels eingenäht. Aber denkst du wirklich, ich sollte so mir nichts, dir nichts, ein Empfehlungsschreiben fälschen?“

Wie es sich umgehend herausstellen sollte, hatte, was das betraf, Elliot bei Weitem weniger Bedenken. „Du selbst wirst gar nichts fälschen, mein Guter, denn man wird in Kürze im Hause Helmsbury deine Handschrift nur zu gut kennenlernen“, sagte er. „Du wirst also fälschen lassen.“ Ein amüsiertes Lächeln begleitete diese Worte, und Sebastian wusste nicht, ob er schockiert oder amüsiert sein sollte.

„Tatsächlich?“, war alles, was er herausbrachte.

„Aber gewiss! Ich habe einen Diener, Ken, der ist zwar nicht sehr gebildet, aber äußerst bauernschlau. Würde man ihn einen Gauner nennen, täte man ihm unrecht. Aber er hat keinerlei Skrupel, gewisse Aufgaben zu erledigen, wenn die Bezahlung stimmt. Außerdem verfügt er über eine recht ansprechende Handschrift.“

„Ach ja, tut er das?“ Sebastian schüttelte den Kopf über so viel Unverfrorenheit, konnte sich aber auch selbst ein Grinsen nicht mehr verkneifen. „Wo ist er, dieser Diener? Auf Reisen begleitet er dich offensichtlich nicht.“

„Nein, natürlich nicht“, bestätigte Elliot gut gelaunt. „Ich hätte gar nicht die nötigen Mittel, um für seine Unterkunft zu sorgen. Er befindet sich in London, wohin wir uns nun ohne Aufschub ebenfalls begeben werden.“ Dann hob er die Hand und rief durch den offenen Türspalt: „Zahlen, Herr Wirt!“

„London? Wieso denn London?“ Sebastian war alles andere als erfreut. „Muss ich dich daran erinnern, dass Prestwood in London lebt? Ich habe nicht die geringste Lust, ihm dort über den Weg zu laufen und mich nach Millcombe Castle und damit in mein Verderben zurückschleifen zu lassen.“

„Hier schleift niemand niemanden!“, lautete Elliots gelassen vorgebrachte Antwort. „Ich wohne in der City! Das ist eine derart heruntergekommene Gegend, dass kein Adeliger jemals freiwillig einen Fuß hineinsetzt, es sei denn, er ist so knapp bei Kasse wie ich. Glaub mir, dorthin hat es deinen Vormund noch nie verschlagen und wird es auch in Zukunft nicht.“

So hatte Elliot also Sebastian in eben jene Wohnung in London mitgenommen, die die Heroes abfällig das grässliche Loch nannten und nur dann aufsuchten, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Dies zu Recht, wie Sebastian feststellte, als er sich in den Zimmern umsah, die im ersten Stock eines Mietshauses lagen, in dem es nach all dem stank, was man in seinem Zuhause nicht riechen wollte. Wie er mit den kundigen Augen eines Gutsbesitzers feststellte, stammten die großflächigen schwarzen Flecken an den Wänden von Schimmel, die an der Decke von Ruß. Der Holzboden war zwar sauber, aber mehrfach so dilettantisch ausgebessert worden, dass man aufpassen musste, nicht über herausstehende Nägel zu stolpern. Doch zum Glück schien es Elliot gelungen zu sein, die diversen Nagetiere, die ihnen im Treppenhaus begegnet waren, außerhalb der eigenen Wände zu halten. Wäre Sebastian unmittelbar von Millcombe Castle in diese Behausung gekommen, hätte er sich höchstwahrscheinlich geekelt und schnellstmöglich das Weite gesucht. Doch nach vielen Wochen im Zirkuszelt waren schon allein gemauerte Wände für ihn ein Segen, mochten sie auch noch so unappetitlich aussehen.

Als ein weiterer Segen entpuppte sich der Schneider, der ein paar Straßen weiter sein Geschäft betrieb. Der war zwar bestimmt nicht der modebewussteste der Stadt, doch er war seriös und verstand sein Handwerk. Allerdings war er aber auch nicht mehr der Jüngste, und daher blieb Sebastian nichts anderes übrig, als sich von ihm stundenlang geduldig Maß nehmen und mit Stecknadeln in diverse Körperteile piksen zu lassen. Die Preise waren moderat, und der junge Marquess stimmte zu, sich den Betrag von den Heroes mit dem Versprechen vorschießen zu lassen, ihn ihnen umgehend zurückzuzahlen, sobald er volljährig und damit an sein Erbe gekommen sein würde. Aber Elliot hatte recht. Er konnte sich bei seinem neuen Arbeitgeber nicht ohne passende Garderobe sehen lassen.

Als er den Zirkus Hals über Kopf verlassen hatte, hatte er außer dem Mantel nichts weiter mitnehmen können als den geliebten Bogen und ein paar Pfeile. Daher fehlte es ihm tatsächlich am Allernötigsten. Darum nutzte er die Zeit in London nicht nur für den Schneider, sondern auch für verschiedene Einkäufe. Dabei wurde er von Elliots originellem Diener Ken begleitet, der ihm nicht nur die besten Läden zeigte, sondern durch sein Verhandlungsgeschick auch erreichte, dass ihm überall großzügiger Nachlass gewährt wurde.

Elliot folgte währenddessen dem Befehl seines Vaters Baron Sandhill-Jones und reiste nach Hause, wo er zu einem ernsten, wie immer unangenehmen Gespräch erwartet wurde. Und von dort ritt er dann weiter nach Hampstead, um der Familie von Baron Helmsbury die freudige Nachricht zu verkünden, dass er tatsächlich einen passenden Hauslehrer gefunden hatte, der bereit war, aufs Land zu ziehen, um den armen Timmy auf Eton vorzubereiten.

Und nun lag dieser armeTimmy also malerisch auf der Chaiselongue und überraschte Sebastian mit dem Ausruf über die Todgeweihten. Im alten Rom hatte dieses Zitat Caesar gegolten, der Junge hatte es auf seinen Lehrer abgeändert. Das kam so unerwartet, dass Sebastian zuerst fieberhaft überlegte, wie er am besten mit der von einem Lehrer erwarteten Überlegenheit darauf reagieren sollte, bevor ihm die Frage „Wo sind denn die anderen?“ herausrutschte.

Mit einem Schlag saß sein neuer Schützling aufrecht und runzelte die Stirn. Anscheinend hatte nun wiederum er nicht mit dieser Antwort gerechnet. „Die anderen? Welche anderen denn?“

„Nun …“ Sebastian trat ein paar Schritte näher. „Du hast von mehreren Todgeweihten gesprochen, ich sehe aber nur einen. Darum frage ich mich, wo die anderen sind.“

Ein kurzes Auflachen war die Folge: „Also gut: Moriturus te salutat!“, korrigierte sich der Junge. „Nun ist es nur noch ein Todgeweihter. Sind Sie jetzt zufrieden?“

Sebastian grinste, nickte, sagte jedoch kein Wort darauf. Ein kurzes Schweigen war die Folge, und es war Timmy, der es brach: „Wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten, Mr Brown, Sie scheinen mir ein ungewöhnlicher Hauslehrer zu sein.“

„Du bist ja auch ein ungewöhnlicher Vierzehnjähriger“, antwortete Sebastian ohne zu zögern und bemerkte, dass er sich in die neue Rolle als Hauslehrer auch einfinden konnte, ohne deren typische Überlegenheit zu demonstrieren. Ein weinendes kleines Kind hätte ihn mit Sicherheit überfordert. Mit diesem intelligenten Halbwüchsigen die Klingen zu kreuzen, war da schon viel mehr nach seinem Geschmack. Mit einem Schlag sah er den kommenden Monaten mit bedeutend mehr Zuversicht entgegen, als das in Elliots grässlichem Loch noch der Fall gewesen war.

Die Flügeltür, die er hinter sich geschlossen hatte, öffnete sich, und sein neuer Dienstherr betrat den Raum. Es war ein nicht sonderlich großer, stämmiger Mann Ende zwanzig, dessen braune Locken sich an der Stirn bereits deutlich zu lichten begannen. Er hatte nichts von der elfenhaften Eleganz seines Bruders an sich, sondern war in grobem Tweet gekleidet, wie sich das für einen Landedelmann gehörte.

„Ah, Sie beide haben sich bereits miteinander bekannt gemacht, sehr gut!“, sagte er mit wohlwollendem Lächeln und blickte von einem zum anderen. „Timmy, zu meinem Leidwesen müssen wir dich gleich wieder allein lassen …“

„Tim, mein Name ist Tim“, hörte Sebastian seinen Schützling murmeln, aber sein älterer Bruder beachtete diesen Einwand nicht. „… da ich Mr Brown zuerst durchs Haus und dann durch die nähere Umgebung führen werde. Kommen Sie“, eine auffordernde Geste folgte, „wir werden nicht allzu lange unterwegs sein. Eine Stunde sollte für unseren Rundgang ausreichen. Doch es ist schließlich wichtig, dass Sie sich hier auf dem Anwesen zurechtfinden.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank, eure Lordschaft“, antwortete Sebastian mit einem Selbstbewusstsein, das ihn deutlich von einem üblichen Hauslehrer unterschied. Dass sein Dienstherr darauf überrascht eine Augenbraue hob, fiel ihm nicht auf, da sein Blick auf den hölzernen Rollstuhl gerichtet war, der in einer der hinteren Zimmerecken stand. „Doch ich möchte Ihre wertvolle Zeit dafür gar nicht in Anspruch nehmen.“ Er wandte sich zur Chaiselongue um. „Tim, wärst du wohl so freundlich, mir alles zu zeigen?“

„Ich?!“, fuhr der Junge auf und deutete mit der Hand auf seine Brust, als könnte er es nicht glauben.

„Er?!“, stimmte der Baron in diesen Unglauben ein. „Sie wissen aber schon, dass seine Beine kaum zu gebrauchen sind?“ Er wies auf die beiden Krücken, die an der Chaiselongue lehnten.

„Ja, natürlich ist mir das bekannt“, bestätigte Sebastian. „Aber ich nehme doch nicht an, dass Tim seine Tage ausschließlich hier in diesem Raum verbringt.“

„Na ja, doch, so gut wie“, hörte er seinen Schützling murmeln.

„Aber warum denn?“ Sebastian konnte es nicht glauben. „Du hast einen Rollstuhl, wie ich sehe. Und zwei Krücken, die mir recht solide anmuten.“

„Meine Arme sind zu schwach, als dass ich es lange schaffen würde, mich damit auf den Beinen zu halten“, lautete die in bitterem Tonfall vorgebrachte Antwort.

„Tim muss sich schonen“, warf der Baron ein. „Er hat eine zarte Konstitution.“

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, sagte Sebastian reuig. „Ich wusste nicht, dass die Arme beim Sturz vom Pferd ebenfalls Schaden genommen haben.“

„Haben sie ja auch nicht“, gab der Jüngere zu. „Ich bin es bloß nicht gewöhnt, sie für viel mehr zu benutzen, als ein Buch damit zu halten.“

„Nun denn“, Sebastian drehte sich um und griff zum Rollstuhl, „dann haben wir ja schon das Erste gefunden, was wir gemeinsam ändern werden.“

Helmsbury verschränkte die Arme vor der Brust. „Bei allem Respekt, Mr Brown, ich bezweifle, dass ich diesem Vorhaben zustimmen kann“, sagte er. „Ihre Aufgabe ist es, Timmy für Eton vorzubereiten. Nicht ihn vom Lernen abzuhalten, um irgendwelche … irgendwelche Experimente zu versuchen. Ihr Vorgänger …“

„… ist nicht mehr da“, vervollständigte Sebastian den Satz und bewies ein weiteres Mal, dass ihm der unterwürfige Gehorsam eines Dieners völlig fehlte. „Und soweit ich das vernommen habe, ist das auch gut so.“

Das beglückte Strahlen, das über Tims Gesicht glitt, war etwas so Seltenes, dass ihn sein Bruder nur fassungslos anstarren und sich darüber freuen konnte. Bereits bei dessen Eintreffen hatte er von dem überraschend jungen Lehrer mit den vornehmen Manieren einen hervorragenden Eindruck gewonnen. Dass es diesem aber nun schon in den ersten Minuten gelungen war, seinem stets melancholischen Bruder ein so inniges Lächeln zu entlocken, war etwas, das er ihm gar nicht hoch genug anrechnen konnte. Spontan beschloss er, Mr Brown werken zu lassen und sich nur mehr dann in dessen Erziehungsmaßnahmen einzumischen, wenn es ihm absolut notwendig erschien.

„Mit Verlaub, eure Lordschaft“, schränkte Sebastian währenddessen seine Worte ein, da er von den wohlwollenden Gedanken des Barons naturgemäß nichts ahnen konnte. „Es liegt mir fern, an irgendetwas in Ihrem Haus Kritik zu üben. Dennoch darf ich Sie bitten, eines zu bedenken: Je besser sich ihr Bruder allein fortbewegen kann, desto einfacher wird es in Eton für ihn werden.“

„Noch ist es nicht beschlossene Sache, dass sie mich dort überhaupt aufnehmen“, murmelte Timmy bitter. Sein Lächeln war wieder verkniffenen Mundwinkeln gewichen.

„Oh, glaub mir, das werden sie“, antwortete Sebastian leichthin. Das Schuljahr würde im kommenden Februar beginnen. Bis dahin war er selbst volljährig geworden, und wenn er dann erst einmal seinen Titel in die Waagschale werfen konnte, so dachte er bei sich mit der Unbeschwertheit seiner eigenen Jugend, dann würde die Schulleitung gar nicht anders können, als Tim die Aufnahme zu ermöglichen. Er räusperte sich verlegen, als er bemerkte, wie ihn das Brüderpaar entgeistert anstarrte. „Nun denn!“ Er räusperte sich ein weiteres Mal. „Wollen wir?“

Er unterbrach den Blickkontakt, wartete die Antwort nicht ab und schob den Rollstuhl direkt an die Chaiselongue heran. Dann wandte er sich erwartungsvoll zu seinem Schützling um, und es wurde schnell offensichtlich, dass er diesen noch nicht überzeugt hatte.

„Ich möchte gewiss nicht respektlos klingen, Mr Brown, aber welchen Sinn sollte es denn ergeben, dass ich mich ins Freie quälen muss?“, erkundigte der sich nämlich unwillig. „Nehmen Sie lieber das Angebot meines Bruders an und lassen Sie sich von ihm herumführen. Glauben Sie mir, das geht schneller, und Sie haben bedeutend mehr davon.“ Er ließ die Arme in einer resignierten Geste herunter in den Schoß fallen. „Mir können Sie ja inzwischen eine andere Aufgabe zuteilen. Ich könnte zum Beispiel irgendwelche irregulären, lateinischen Verben konjugieren oder mich der nächsten Textaufgabe in der Rechenfibel widmen.“

„Das klingt beides unglaublich spannend“, gab Sebastian zu, und die Ironie war aus diesen Worten unverkennbar. „Leider ist das jedoch nicht möglich.“

Er ergriff den hölzernen Stuhl abermals und schob ihn nun direkt an Timmys Seite.

„Warum denn nicht?“, wollte dieser wissen, rückte aber bereits folgsam an die vordere Kante seines Sitzmöbels und stellte die Beine, eins nach dem anderen, auf den Boden.

„Weil ich mein neues Zuhause mit deinen Augen kennenlernen möchte“, lautete die Antwort.

Der Hausherr lächelte daraufhin zufrieden und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum, während Sebastian seinem Schützling die Hand entgegenstreckte.

Kapitel 4

Von diesem Tag an begann sich das Leben des ehrenwerten Timothy Helmsbury schlagartig zu verändern. Das fing damit an, dass ihn sein Lehrer an vielen Vormittagen in den Garten hinausführte, wo sie sich auf der ausladenden Bank neben der Schaukel niederließen, die Tim in seiner Kindheit geliebt, seit dem Reitunfall aber nie wieder benutzt hatte. Als Sebastian sie bei ihrem ersten Rundgang entdeckte, überzeugte er sich mit kundigem Blick davon, dass sowohl die Seile als auch die Aufhängevorrichtungen noch in einwandfreiem Zustand waren, und dann schlug er seinem Schützling vor, auf dem Holzbrett Platz zu nehmen, das leicht und beinahe lautlos im Wind hin- und herschwang. Er hatte mit vielem gerechnet, aber sicher nicht mit der Vehemenz, mit der sich Tim gegen dieses Ansinnen sträubte.

„Neben Ihnen befindet sich nicht mehr das unbeschwerte Kind, das ich vor meinem Unfall gewesen bin, Mr Brown. Ich mag zwar ein Krüppel sein, aber ich bin immerhin erwachsen und zu alt für solch kindische Späße.“

„Du bist weder das eine noch das andere“, erwiderte Sebastian trocken und nahm dann selbst auf der Schaukel Platz, ohne den Jungen weiter zu bedrängen. „Es gibt so vieles, was einem das Leben erschwert, darum muss man jede Gelegenheit, die sich einem bietet, ausnutzen, es sich leichter zu machen. Und was, frage ich dich, fühlt sich leichter an, als zu fliegen?“ Sprach’s und schwang sich in die Lüfte.

Es war wenig verwunderlich, dass Tim es ihm dann doch gleichtun wollte. Der Jugendliche brauchte nur einen kleinen Schubs seines Lehrers, und dann flog auch er. Sein strahlendes Lächeln erwärmte Sebastians Herz stärker, als er es je von jemandem erwartet hätte, den er kaum kannte.

Von diesem Tag an kamen sie immer, wenn das Wetter es zuließ, hierher in den Park. Meist hatten sie ein Lehrbuch bei sich, denn wer sagte denn, dass man sich nicht Wissenswertem widmen konnte, während man sich auf der Schaukel vergnügte?

Nach einigen Wochen war dieses Gerät allerdings nicht mehr das einzige, das die beiden ins Freie zog. Sebastian hatte einen Stallburschen gebeten, Ringe auf dem Ast einer alten, massiven Rotbuche zu befestigen. An diesen hing Timothy zuerst unbeholfen und erinnerte sich selbst an einen nassen Sack, während Sebastian dicht hinter ihm stand, um ihn aufzufangen, sobald ihn die Kräfte verließen. Nach einem Monat waren seine Arme schon kräftig genug, dass Tim sich damit hochziehen konnte, und als er schließlich die erste Rolle auf den Ringen schaffte, da erschall das gemeinsame Jubeln von Lehrer und Schüler durch den gesamten Park.

Und noch so manch anderes änderte sich. So nahm Timothy nach wenigen Tagen an den Familienessen bei Tisch teil, anstatt hingelümmelt auf der Chaiselongue ein einsames Mahl zu verzehren, wie dies der örtliche Wundarzt zur Schonung angeraten hatte.

„Wie, um Himmels willen, kamst du auf die Idee, auch den Hauslehrer mit zu uns an den Tisch zu bitten?“, erkundigte sich Lady Clara, als sie zu ihrem Gatten unter die Decke des wuchtigen Himmelbetts schlüpfte und den Bettvorhang hinter sich zuzog. „Das wäre dir doch bei seinem Vorgänger niemals in den Sinn gekommen.“

„Das stimmt“, gab der Baron zu. „Ich weiß auch nicht so genau, warum ich das getan habe. Mr Brown hat etwas an sich, das mir nicht in die Gesindestube zu passen scheint. Außerdem musst du zugeben, dass er ein angenehmer Zeitgenosse ist, sich zu benehmen weiß und interessante Geschichten zur abendlichen Unterhaltung beizutragen hat.“

„Timmy scheint unter seiner Ägide regelrecht aufzublühen“, sagte ihre Ladyschaft und lächelte.

„Das ist richtig“, stand der Gemahl nicht an, ihr zuzustimmen. „Ich wünschte mir nur, wir könnten wie durch Zauberhand auch einige passende Burschen herbeischaffen. Mein Bruder braucht dringend Freunde in seinem eigenen Alter. So nett und gebildet Mr Brown auch sein mag, ein Lehrer kann niemals einen Freund ersetzen.“

„Du hast recht, das kann er nicht“, gab ihre Ladyschaft zu. Ihr Lächeln vertiefte sich und bekam jenen verschmitzten Ausdruck, den der Baron so sehr an ihr liebte. „Aber dafür ist er ohne Zweifel eine Augenweide für die Damen. Ich habe noch bei keinem anderen Mann je so leuchtend grüne Iriden gesehen. Sie erinnern mich an Bergseen, in die man versinken möchte!“

„Clara!“, rief ihr Gatte, tat entrüsteter, als er war, und rollte sich auf ihre Bettseite hinüber, sodass er mit dem Oberkörper auf ihr zu liegen kam. „Von wegen Bergsee!“ Er wedelte mit dem Zeigefinger zuerst vor ihren Augen herum, um dann auf die seinen zu zeigen. „Ab heute wirst du ausschließlich in diesen hier versinken, meine Teure. In diesen faszinierenden, warmen, dunkelbraunen …“

„Kaffeebohnen?“, schlug sie vor und kicherte.

„Kaffeebohnen?“, wiederholte er. Dann stützte er sich rechts und links neben ihr auf, tat, als müsste er überlegen, lächelte zärtlich und sagte: „Damit kann ich leben.“ Daraufhin senkten sich seine Lippen auf die ihren.

Timmy und Sebastian saßen sich währenddessen im Studierzimmer gegenüber. Sie hatten völlig die Zeit vergessen, beugten sich ihre Köpfe doch bereits über die dritte Partie Schach. Das erste Spiel hatte der Jüngere mit Bravour gewonnen. Sebastian wusste, dass er selbst ein guter Spieler war und hatte nicht angenommen, dass ihm ein Vierzehnjähriger gefährlich werden könnte. Spätestens seit Timmys Triumphgeheul sollte er dies allerdings nie wieder vergessen. Beim zweiten Spiel wechselten dann die Vorteile hin und her, bis Sebastian schließlich als Sieger feststand. Nun saßen sie über der dritten, alles entscheidenden Begegnung. Timmy war müde, seine Konzentration hatte deutlich nachgelassen, und er gähnte gerade ausgiebig, als sein Lehrer „Schachmatt“ verkündete und mit einem Zug der Dame den König bewegungsunfähig machte.

„Gratuliere, Mr Brown“, sagte er und begann im selben Atemzug die Figuren in die Holzkassette zu räumen. „Das schreit nach einer Revanche. Aber nicht mehr heute. Heute möchte ich nur mehr ins Bett fallen.“

„Du hast verflixt gut gespielt“, lobte ihn Sebastian, während er sich am Einräumen beteiligte. „Wo hast du das gelernt? Hat dich dein Bruder in die Geheimnisse des Spiels eingeweiht?“

„George?“ Tim lachte auf. „Nein, gewiss nicht. Der kann mich in die Geheimnisse von Landwirtschaft und Viehzucht einweihen. Er hasst es jedoch, länger als nötig in den vier Wänden zu verweilen. Schach oder Literatur kann ihn genau so wenig fesseln wie Bälle oder Soireen es können. Wenn Clara Abendveranstaltungen oder Konzerte besuchen will, dann tut sie das zumeist als Anstandsdame für Emily. Emily war es auch, die mir das Schachspielen beigebracht hat. Gegen sie müssen Sie einmal spielen, Mr Brown, da werden Sie Augen machen! Dazu müssen Sie wissen, dass Emily einen verschrobenen alten Großonkel hat. Von dem hat sie für das Spiel miese und gemeine Tricks gelernt, Sie werden staunen, sag ich Ihnen.“ Ein bewunderndes Lächeln trat auf seine Lippen.

„Emily?“, wiederholte Sebastian. „Du meinst, Miss Emily Bradford? Die Schwester von Oscar …?“

Timmy nickte. „Von Oscar Bradford, ja, ganz genau. Kennen Sie ihn denn?“, erkundigte er sich neugierig.

Sebastian beeilte sich, den Kopf zu schütteln. „Nein. Ich habe ihn vielleicht einmal von Weitem gesehen. Sein Name wurde allerdings mehrfach in Gesprächen erwähnt, das ist alles. Wenn Emily Lady Claras Freundin ist und dir das Schachspielen beigebracht hat, wie kommt es dann, dass ich sie hier noch nie gesehen habe? Ich bin nun schon seit Wochen bei euch, und sie kam kein einziges Mal zu Besuch.“

Tim seufzte schwer, woraus deutlich zu erkennen war, wie sehr er die junge Lady vermisste. „Das kommt daher“, sagte er dann und verzog unwillig die Lippen, „dass sie derzeit in London weilt, um unter der Fuchtel von irgendeiner Baronin, von der ich noch nie etwas gehört habe, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Was will sie denn in der Londoner Gesellschaft, frage ich Sie? Sie hat doch hier ohnehin ein schönes Leben.“

„Es ist anzunehmen, dass sie sich dort einen Ehemann sucht“, lautete die nüchterne Antwort. „Das Durchbrennen mit meinem Vorgänger hat schließlich nicht geklappt.“

„Zum Glück“, stellte Tim fest. „Ich glaube auch gar nicht, dass Emily wirklich nach Greta Green hinaufwollte. So gern hat sie meinen Lehrer nämlich gar nicht gehabt.“

Es gab etwas, was Sebastian mehr interessierte: „Wie heißt denn die Baronin, die Miss Emily in die Gesellschaft einführt?“

„Tetbury“, antwortete Tim. „Ich habe keine Ahnung, wo die so plötzlich aufgetaucht ist, denn ich habe, wie gesagt, bevor sie Emilys Duenna wurde, noch nie etwas von ihr gehört.“

Das hatte Sebastian allerdings auch nicht. Oder zumindest glaubte er, dass ihm diese Dame völlig unbekannt war. Hätte er ein wenig länger nachgedacht, so wäre ihm aufgefallen, dass er den Namen Tetbury doch schon einmal vernommen hatte. Bei der Baronin handelte es sich nämlich um die Mutter seines neuen Schwagers, Major Harold Westfield. Sie hatte sowohl seine Schwester Amabel als auch Emily als Anstandsdame zur Hochzeit auf Millcombe Castle begleitet. Apropos Emily: Die war Amabels Brautjungfer gewesen und Sebastian hatte, obwohl er damals nicht wusste, wer sie war, von der Empore aus einen kurzen, bewundernden Blick auf sie werfen können. Aber an all das sollte er sich erst zu einem ganz anderen Zeitpunkt wieder erinnern.

Kapitel 5

Millcombe Castle, Sebastians Landsitz, dreißig Meilen westlich von London und kaum fünfundzwanzig Meilen von Hampstead, seinem derzeitigen Aufenthaltsort, entfernt

Sebastians Zwillingsschwester, Lady Amabel Westfield, konnte vor Aufregung kaum mehr still sitzen.

„Es ist so schön, endlich wieder nach Hause zu kommen! Bei unserer Hochzeit hast du Millcombe Castle viel zu kurz gesehen. Ich kann es gar nicht erwarten, dir nun alles zu zeigen. Sieh nur, da vorn ist schon das große schmiedeeiserne Gittertor!“

Major Westfield lächelte gerührt und drückte seiner Liebsten einen kleinen Kuss auf die Fingerknöchel. Da bog der Wagen auch schon in die breite Auffahrt ein, die zum Zuhause des Marquess of Beaconsfield führte. Amabel presste ihre Nase an die Fensterscheibe, als die Pferde überraschend zum Stillstand kamen. Was sie sah, war … grün. Nichts als dichte Büsche, die bis zum Wagen heranreichten. Wäre das Glas nicht dazwischen gewesen, so hätte die stabile Dornenranke, die in diesem Augenblick gegen das Kutschenfenster klatschte, ihre Stirn getroffen.

„O du lieber Himmel!“ Sie zuckte zurück. „Wie sieht es denn hier aus?“

Harold lehnte sich zu ihr hinüber, um ihr über die Schulter blicken zu können. „Es scheint mir alles reichlich verwildert zu sein. Tut mir leid, Amy, aber dein liebenswerter ehemaliger Vormund hat diese Auffahrt in letzter Zeit offensichtlich verkommen lassen.“

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Major“, meldete sich der Kutscher von dem Türspalt her, den er geöffnet hatte. „Ich muss zuerst den Weg freiräumen, bevor wir weiterfahren können. Anderenfalls gibt es hier kein Durchkommen.“

Er ging zum Kutschenkasten nach hinten und zog dicke Lederhandschuhe und eine Säge heraus, die er sofort zum Einsatz brachte. Bald hörte man nur mehr das Ratsch-Ratsch-Ratsch, mit dem er sich durchs Gebüsch kämpfte. Sollte Amabel gehofft haben, dass damit die bösen Überraschungen ihr Ende gefunden hätten, so wurde sie abermals enttäuscht, als die Kutsche schließlich ihren Weg fortsetzen konnte und dann auf dem Platz vor dem Herrenhaus endgültig zum Stehen kam. Ohne zu zögern, sprang Harold aus dem Wagen, klappte die kleine Treppe hinunter und reichte seiner Gemahlin die Hand hinauf. Die steckte den Kopf ins Freie, verharrte in der geduckten Haltung, mit der sie hatte aussteigen wollen, und konnte nicht glauben, was sie da sah.

„Was ist denn mit Mamas geliebtem Rosenstrauch passiert?“, war das Erste, was sie ausrief. „Warum sind die Zweige abgeknickt und liegen wie ein trauriger Haufen auf dem Boden? Ist da jemand mit schweren Stiefeln mittenhinein getrampelt? Und … sieh nur!“ Ihr Zeigefinger schnellte in die Höhe. „Dahinter ist die Fensterscheibe der großen Eingangshalle zerbrochen! Glaubst du, dass sie absichtlich eingeschlagen wurde?“

„Ich weiß es nicht, halte es leider aber auch nicht für ausgeschlossen!“, antwortete ihr Gatte und geleitete sie sicher auf den Platz hinunter. „Keine Sorge, mein Liebling, ich werde dem sofort nachgehen.“ Sein Blick glitt über die Fassade des weitläufigen Sandsteinbaus und verharrte an den Gardinen, die heruntergerissen schräg über einigen Fenstern im ersten Stock hingen.

Hier ist anscheinend noch einiges anderes im Argen, dachte er, enthielt sich jedoch jeden Kommentars, um seine Liebste nicht noch weiter zu beunruhigen. Stattdessen wandte er sich zum Kutscher um: „William, begeben Sie sich zu den Ställen und kümmern Sie sich um die Pferde. Erstatten Sie uns dann Bericht, wie Sie die Lage dort vorgefunden haben.“ Und dann, an seine Gattin gewandt: „Ich würde vorschlagen, wir begeben uns erst einmal ins Haus … ach, sieh an!“

Der letzte Ausruf galt Jack, dem Diener, der, während William den Befehl ausführte, die Haustür aufgerissen und kurz innegehalten hatte, bevor er mit einem „Lady Amabel! Sind Sie es wirklich?!“ auf seine Herrin zustürzte. Für einen Augenblick hatte es den Anschein, als würde er sie vor Freude umarmen wollen. Im letzten Moment hielt er sich jedoch zurück und verbeugte sich, wie es sich gehörte.

„Jack!“, rief nun auch Amabel aus und klang mindestens ebenso erfreut. „Wie schön, dich zu sehen!“

Sie reichte ihm ihre Hand und überfiel ihn dann gleich mit einem Schwall von Fragen. „Wie geht es dir? Wie geht es Marie? Wie ist es euch in den letzten Wochen ergangen? Hast du etwas von Tante Alli gehört? Warum sieht es hier überall so verwahrlost aus? Sag nicht, dass Mr Prestwood euch schon wieder den Geldhahn zugedreht hat. Weilt er derzeit hier auf dem Anwesen?“

Ein verstecktes Räuspern brachte ihr in Erinnerung, dass sie nicht allein war. Sie fuhr herum, ergriff ihren Gatten am Arm und lächelte zu ihm hinauf. „Harold, erinnerst du dich an unseren treuen Diener? Jack und seine Schwester Marie sind hier im Haus mit meinem Bruder und mir gemeinsam aufgewachsen. Sie haben uns auch in den schwierigsten Zeiten nach dem Tod unserer Eltern nicht im Stich gelassen. Jack kümmert sich um alles, was im Haus anfällt, und Marie um die Küche.“

Harold nickte dem Diener zu, worauf sich Jack ein weiteres Mal verbeugte.

„Willkommen auf Millcombe Castle, Sir, Major!“, sagte er, bevor er sich wieder an Lady Amabel wandte: „Haben Sie Neuigkeiten von Master Seb? Tante Alli, Marie und ich machen uns die größten Sorgen.“