Ein schöner Traum - Toni Waidacher - E-Book

Ein schöner Traum E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Pfarrer Trenker und Sonja Tafelmeyer näherten sich dem Pfarrhaus. Schon, als sie von der Hauptstraße auf den Pfarrplatz abgebogen waren, hatten sie im Licht der Laternen Xaver Demleitner und Sonjas Tochter Gabriele ausmachen können. Sonja spürte, wie ihre Knie weich wurden, sie stockte im Schritt, und ein Laut, der sich wie trockenes Schluchzen anhörte, brach aus ihrer Kehle. Für sie war die Stunde der Wahrheit angebrochen. Ihr Herz raste, das Blut jagte wie mit fiebrigen Schauern durch ihren Körper, sie war aufgewühlt bis in ihren Kern und erbebte innerlich. Sebastian griff nach ihrem Arm. »Da müssen S' jetzt durch, Frau Tafelmeyer«, murmelte er. Er hatte auf dem Weg in den Ort Sonja darüber informiert, dass ihre Tochter bereits die Wahrheit ahnte, Xaver hingegen völlig unbedarft war. Nun sah es so aus, als wäre auch er über alles informiert, denn Gabriele dürfte ihn, während sie vor dem Pfarrhaus gewartet hatten, eingeweiht haben. Sonja war dem Zusammenbruch nahe. Ihre Beine wollten sie kaum noch tragen. Sebastian hatte ihr zugeredet, ihr Mut gemacht, aber nun, da sie ihrer Tochter in die Augen schauen und ihr die Wahrheit gestehen musste, drohten ihre Nerven zu versagen. »Mama ...«, stieß Gabriele mit versiegender Stimme aus, als sie zusammentrafen. »Warum?« Sie begann zu weinen. Die Fassade, die sie bis jetzt zur Schau getragen hatte, bröckelte, sie wurde von ihren Empfindungen überwältigt. »Reden wir drin«, sagte Sebastian.

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Seitenzahl: 133

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Bergpfarrer – 530 –Ein schöner Traum

… oder doch eher ein Albtraum?

Toni Waidacher

Pfarrer Trenker und Sonja Tafelmeyer näherten sich dem Pfarrhaus. Schon, als sie von der Hauptstraße auf den Pfarrplatz abgebogen waren, hatten sie im Licht der Laternen Xaver Demleitner und Sonjas Tochter Gabriele ausmachen können.

Sonja spürte, wie ihre Knie weich wurden, sie stockte im Schritt, und ein Laut, der sich wie trockenes Schluchzen anhörte, brach aus ihrer Kehle.

Für sie war die Stunde der Wahrheit angebrochen. Ihr Herz raste, das Blut jagte wie mit fiebrigen Schauern durch ihren Körper, sie war aufgewühlt bis in ihren Kern und erbebte innerlich.

Sebastian griff nach ihrem Arm. »Da müssen S‘ jetzt durch, Frau Tafelmeyer«, murmelte er. Er hatte auf dem Weg in den Ort Sonja darüber informiert, dass ihre Tochter bereits die Wahrheit ahnte, Xaver hingegen völlig unbedarft war. Nun sah es so aus, als wäre auch er über alles informiert, denn Gabriele dürfte ihn, während sie vor dem Pfarrhaus gewartet hatten, eingeweiht haben.

Sonja war dem Zusammenbruch nahe. Ihre Beine wollten sie kaum noch tragen. Sebastian hatte ihr zugeredet, ihr Mut gemacht, aber nun, da sie ihrer Tochter in die Augen schauen und ihr die Wahrheit gestehen musste, drohten ihre Nerven zu versagen.

»Mama ...«, stieß Gabriele mit versiegender Stimme aus, als sie zusammentrafen. »Warum?« Sie begann zu weinen. Die Fassade, die sie bis jetzt zur Schau getragen hatte, bröckelte, sie wurde von ihren Empfindungen überwältigt.

»Reden wir drin«, sagte Sebastian. »Hier ist nicht der richtige Ort. Mir wär’s eh lieber gewesen, wir hätten erst morgen alles besprochen. Deine Mama ist psychisch am Ende, Gabi. Ich hab‘ die Frau Tappert angerufen und sie gebeten, das Fremdenzimmer im Pfarrhaus für deine Mama herzurichten. Es ist besser, wenn sie die Nacht hier verbringt.«

»Sag‘ mir nur eins, Mama«, murmelte Gabriele mit brüchiger Stimme. »Ist der Herr Demleitner mein leiblicher Vater?«

Voll zitternder Anspannung wartete sowohl sie als auch Xaver auf die Antwort. Gabriele war sich fast sicher, doch letzte Sicherheit konnte ihr nur die Antwort ihrer Mutter verschaffen.

»Ja«, gestand Sonja aufweinend. »Ja, er ist dein Vater.«

»O mein Gott!« Obwohl sie diese Antwort erwartet hatte, war Gabriele total erschüttert. »Das - das ist ja ...«

Sie brach ab, setzte sich in Bewegung und ging, wie von Schnüren gezogen, in Richtung Straße davon. Es war, als hätte sie nach diesem Geständnis den Anblick ihrer Mutter nicht mehr ertragen können.

»Du – du hast dieses Wissen fünfundfünfzig Jahre mit dir herumgetragen?«, entsetzte sich Xaver. »Du hast die Lüge aufrechterhalten und allen Sand in die Augen gestreut? Deinem Mann, deinen Kindern, den Menschen hier ...«

»Es ist nicht der Ort und die Zeit, um mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen aufzuwarten«, mischte sich Sebastian an. »Ich schlage vor, Herr Demleitner, Sie gehen jetzt in die Pension und schlafen eine Nacht über all das, was im Moment wahrscheinlich auf Sie einstürmt.«

Vorne, wo der Pfarrplatz endete, verschwand soeben Gabriele um die Ecke eines Gebäudes aus dem Blickfeld des Pfarrers. Sie hatte jetzt die Gewissheit, dass sie nicht die Tochter von Karl Tafelmeyer war. Sebastian konnte nachvollziehen, was für ein Aufruhr in ihr tobte. Mit Worten war das kaum zu beschreiben. Für Gabriele musste eine Welt zusammengebrochen sein.

Xaver gab sich einen Ruck. »Sie haben recht, Herr Pfarrer«, stieß er hervor. »Ich bin ja auch nicht ganz unschuldig an dem Ganzen. Hätte ich damals nicht nach kurzer Zeit den Kontakt abgebrochen, wär‘ wahrscheinlich alles ganz anders gekommen. Ja, ich gehe in die Pension, lege mich ins Bett und versuche, mit der Situation klarzukommen.«

»Ich kann mir vorstellen, wie sehr Sie das alles emotional fordert, Herr Demleitner«, sagte Sebastian. »Es wär‘ aber gut, wenn S‘ versuchen würden, kühlen Kopf zu bewahren, sich mit der Situation abzufinden und sich sachlich und nüchtern und in aller Ruhe sowohl mit der Frau Tafelmeyer als auch mit der Gabriele auseinanderzusetzen.«

»Das dürfte nicht alles sein, was auf mich zukommt«, murmelte Xaver. »Ich werde meinen beiden Töchtern gestehen müssen, dass sie eine Halbschwester haben. Sie werden aus allen Wolken fallen. Wie sie darauf reagieren werden, steht in den Sternen.«

Jetzt wurde die Haustür geöffnet, Lichtschein flutete ins Freie, und die Stimme Sophies erklang: »Ich hab‘ alles vorbereitet, Hochwürden. Die Frau Tafelmeyer kann das Zimmer sofort beziehen.«

»Gehen wir hinein«, murmelte Sebastian. »Gute Nacht, Herr Demleitner. Versuchen S‘, die Frau Tafelmeyer zu verstehen, akzeptieren S‘, dass Sie der Vater der Gabi sind, und ergehen S‘ sich keinesfalls in Vorhaltungen. Die Frau Tafelmeyer weiß, dass sie falsch gehandelt hat. Sie fühlt sich schuldig, und es ist nicht notwendig, ihre Schuldgefühle noch zu steigern.«

»Nein, das hab‘ ich nicht vor«, erwiderte Xaver. »Es ist so, wie es ist, und ändern kann man daran nichts. Ich, für meinen Teil, bin dabei, es zu akzeptieren. Ich kann dich sogar ein bisschen verstehen, Sonja. Und – sei versichert: Ich stehe zu dir, was immer auch kommt.«

»Das ist lieb von dir«, kam es leise von Sonja. Ihre Stimme war wie ein Windhauch; ihr fehlte jegliche Frische, sie war kraftlos und klang müde.

»Gute Nacht«, verabschiedete sich Xaver, dann machte er sich auf den Weg zur ›Pension mit Herz‹.

Sebastian sagte an Sonja gewandt: »Kommen S‘, Frau Tafelmeyer, gehen wir hinein. Die Frau Tappert wird sich um Sie kümmern.«

Sie betraten das Pfarrhaus, Sophie schloss die Tür und folgte dem Pfarrer und Sonja ins Wohnzimmer. »Haben S‘ Hunger und Durst, Frau Tafelmeyer?«, fragte die herzensgute, mütterliche Haushälterin.

»Nein, danke, Frau Tappert. Mir hat das alles auf den Magen geschlagen. Ich fühle mich so – so minderwertig, so verlogen und schäbig. Gibt es eine Buße, die für mein Vergehen angemessen ist? Ich – ich ...«

Sonjas Stimme brach.

»Sie sehen Ihren Fehler ein«, erklärte Sebastian, »und Sie versuchen nicht, ihre Verfehlung zu beschönigen oder zu rechtfertigen, sondern bereuen sie. Und diese Reue, das spüre ich, ist echt; sie ist kein Lippenbekenntnis, sondern kommt von Herzen. Die Tatsache, dass Ihnen die Tragweite Ihres falschen Handelns voll und ganz bewusst ist, ist Sühne genug.«

»Wird Gabi es mir je verzeihen können? Wie wird es Joachim aufnehmen. Er hat mich am Abend gefragt, und ich hab‘ gewissermaßen bis zuletzt gelogen. Er – er wird mich verachten. Meine beiden Kinder werden mich verachten.«

Es klang kläglich, und Sonjas Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte das Gefühl, vor den Trümmern ihres Lebens zu stehen.

»Sie sollten jetzt versuchen, zur Ruhe zu kommen, Frau Tafelmeyer«, riet Sophie. »Kommen S‘, ich zeig‘ Ihnen das Gästezimmer. Legen S‘ sich schlafen. Die Nacht ist nimmer lang. Morgen schaut die Welt schon wieder ganz anders aus.«

*

Sebastian las am folgenden Morgen die Frühmesse, dann frühstückte er, und dann begab er sich zur Wohnung Gabrieles. Als er das Haus verließ, schlief Sonja noch. Er bat Sophie, sie nicht zu wecken. Der Körper Sonjas fordere sein Recht, meinte er.

Gabriele und ihr Mann besaßen ein eigenes Haus in St. Johann. Es befand sich inmitten eines wunderschön angelegten Gartens in einer Seitenstraße des Ortes. Sebastian läutete an der Hoftür. »Ja, bitte«, kam Gabrieles Stimme aus dem Lautsprecher der Sprechanlage.

»Guten Morgen, Gabi. Ich bin’s, der Pfarrer. Kann ich dich sprechen?«

Ein Summen erklang, Sebastian drückte leicht gegen die Hoftür und sie sprang auf. Er schritt über den gepflasterten Weg, der parallel zur Einfahrt zur Haustür führte, die jetzt aufging und in deren Rahmen sich Gabriele zeigte. Sie sah bleich und übernächtigt aus. Ihre Augen lagen in dunklen Höhlen, in ihre Mundwinkel hatte sich ein herber Zug von Verbitterung eingekerbt.

»Guten Morgen«, erwiderte sie den Gruß des Pfarrers. »Schickt Sie meine Ma ...« Sie verschluckte sich fast und verbesserte sich: »Schickt sie meine Mutter? Ist sie selber zu feige? Kann sie mir nicht in die Augen schauen, wenn sie mir gesteht, dass sie mich Zeit meines Lebens angelogen hat?«

»Geh nicht so hart mit deiner Mama ins Gericht, Gabi«, mahnte Sebastian. »Darf ich kurz reinkommen. Zwischen Tür und Angel sollten wir das, was ich dir sagen will, nicht besprechen.«

»Bitte, Herr Pfarrer, treten S‘ näher.«

Gabriele ließ Sebastian an sich vorbei, schloss die Haustür und geleitete ihn ins Esszimmer, wo sie sich setzten.

»Dein Mann ist in der Arbeit?«, fragte Sebastian.

»Ja. Ich hab‘ ihn eingeweiht. Er meint, er könne es verstehen, dass die Mama ...«, Gabrieles Stimme sank herab, » ... dass meine Mutter damals geschwiegen hat. Sie wollt‘ als Siebzehnjährige nicht allein dastehen mit einem Säugling und von jedem in der Gemeinde schief angeschaut werden. Man hätt‘ wahrscheinlich mit Fingern auf sie gezeigt, man hätt‘ sie regelrecht an den Pranger gestellt. Sie hat sich schließlich nicht in München oder Berlin oder einer anderen großen Stadt befunden, wo die Leute im Großen und Ganzen in der Anonymität leben, meint mein Mann. Da wär’s kein großes Problem gewesen, wenn eine Heranwachsende in Kind gekriegt hätt‘. Hier, in der Provinz, hätt‘ zunächst die Mutter, und später dann sogar das Kind einiges auszuhalten gehabt. Vor fünfzig und mehr Jahren haben die Leute hier noch ganz andere Anschauungen gehabt als heutzutage. Ich, so mein Mann, hab‘ den Karl Tafelmeyer als meinen Vater im Herzen. Ob er nun tatsächlich mein Erzeuger ist oder nicht, spielt im Endeffekt doch keine Rolle.«

»Dein Mann hat eine sehr vernünftige Einstellung, Gabi«, anerkannte der Pfarrer, »der ich mich nur anschließen kann. Es ist ja auch nicht so, dass dich deine Mutter belogen hat. Oder hast du sie irgendwann einmal gefragt, ob der Karl Tafelmeyer tatsächlich dein Vater ist?«

Gabriele schaute den Pfarrer ziemlich verblüfft an. »Nein, natürlich nicht? Wie hätt’ ich dazu kommen sollen, so eine Frage zu stellen. Daran hat es für mich doch nie etwas zu rütteln gegeben.«

»Na siehst du. Hättest du gefragt, und deine Mutter hätte behauptet, dass der Karl dein Vater ist, dann wäre das eine Lüge gewesen. So aber hat sie lediglich geschwiegen. Und warum hat sie geschwiegen?« Sebastian beantwortete die Frage sogleich selbst, indem er sagte: »Sie hat geschwiegen, weil sie den Frieden in der Familie aufrechterhalten wollt‘. Und wäre jetzt, nach fünfeinhalb Jahrzehnten, nicht plötzlich Xaver Demleitner aufgekreuzt, dann hätte niemals etwas den familiären Frieden gestört.«

»Sie hat den Papa belogen, sie hat ihm das Kind eines anderen Mannes untergeschoben«, wandte Gabriele ein.

»Der Not gehorchend, Gabi. Natürlich ist das keine Entschuldigung. Aber für deine Mama war es damals der einzige Ausweg, um nicht in der ganzen Gemeinde verpönt zu sein. Du musst bedenken, wie jung sie war. Sie wäre daran zerbrochen. Davon hätt‘ sie nix gehabt, und – du auch nicht.«

Gabriele senkte den Blick. Die Worte des Pfarrers schienen sie nachdenklich zu machen.

Sebastian ergriff nach einer kurzen Pause, in der er das Gesagte wirken ließ, wieder das Wort, in dem er zu verstehen gab: »Deiner Mama tut das alles bis in die Seele leid. Vor allem, dass sie’s dir nicht ersparen konnte, auf diese Art und Weise vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, schmerzt sie. Es ist echte Reue, die sie zeigt. Es ist ja auch nicht der Fall, dass sich an deinem Leben nunmehr etwas ändern würd‘. Du führst dein Leben weiter wie bisher. Die Sonja ist und bleibt deine Mutter. Denk‘ mal drüber nach, Gabi. Vielleicht kannst du Verständnis für sie aufbringen und ihr vergeben.«

Gabriele schniefte. »Wenn der Papa es wüsste, würd‘ er sich im Grab umdrehen«, murmelte sie.

»Er weiß es nicht, und das ist gut so«, versetzte Sebastian. »Ob er der Sonja verzeihen könnt‘, ist in der Tat fraglich. Denn ihm hat sie etwas vorgemacht, ihn hat sie belogen. Er ist tot, und deine Mama ist ihm keine Rechenschaft mehr schuldig. Sie muss es nur noch mit ihrem eigenen Gewissen ausmachen. Damit fertig zu werden wird ihr sehr, sehr schwer fallen. Mach‘ du es ihr nicht noch schwerer, Gabi. Ich bitte dich ...«

»Eigentlich haben S‘ ja recht, Herr Pfarrer«, erklärte Gabriele. »Ändern kann man eh nix mehr. Für die Mama dürft‘ das alles sowieso schon ausgesprochen schwer sein. Warum sollte ich es ihr noch schwerer machen?«

»Ja, warum? Sie leidet. Als sie gestern Abend bis zum Kreuzigungsmarterl bei den Rotäckern gelaufen ist, hat sie Gott inbrünstig gebeten, sie sterben zu lassen. Sie hat genug durchgemacht. Das, denk‘ ich, ist Strafe genug. Reich‘ du ihr wieder die Hand, Gabi, und verzeih‘ ihr. Du willst doch nicht, dass sie jetzt, nach mehr als einem halben Jahrhundert, an den damaligen Ereignissen zerbricht.«

»Nein!« Gabriele schüttelte den Kopf. »Das will ich bei Gott nicht.«

»Deine Mutter ist noch bei mir im Pfarrhaus. Als ich weggegangen bin, um mit dir zu reden, hat sie noch geschlafen. Ich nehme an, dass sie im Laufe des Tages in ihre Wohnung zurückkehrt. Vielleicht gehst du zu ihr und sprichst mit ihr. Sie wird dir, ohne sich rechtfertigen zu wollen oder gar entschuldbare Gründe für ihr Verhalten zu suchen, erzählen, was sie bewogen hat, ihre Ehe mit einer Lüge zu beginnen. Der Karl könnte es möglicherweise nicht entschuldigen, aber du kannst es, Gabi. Dich hat sie nicht belogen, dich hat sie nur nicht aufgeklärt. Dass die Wahrheit nach einer derart langen Zeit ans Licht gekommen ist, ist ausschließlich dem Zufall zuzuschreiben. Unabhängig davon hat das – so schätze ich es jedenfalls ein -, deine Mama von einer großen Last befreit.«

»Ja, ich werde ihr verzeihen«, murmelte Gabriele. »Sie haben mich überzeugt. Man sollt‘ ihr nicht gram sein, man sollt‘ wohl eher Mitleid mit ihr haben. Ob das der Joachim auch so sieht, weiß ich allerdings nicht. Es war schließlich sein leiblicher Vater, dem die Mama Sand in die Augen gestreut hat.«

»Er weiß es wohl noch gar nicht?«, fragte Sebastian.

»Nein. Ich hab’s noch nicht übers Herz gebracht, es ihm mitzuteilen. Ihm gegenüber hat es die Mama ja gestern Abend noch vehement abgestritten; sie hat regelrecht hysterisch reagiert.«

»Es war die Panik, weil sie gespürt hat, dass ihr akribisch gehütetes Geheimnis Gefahr lief, gelüftet zu werden.«

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn die Mama in ihre Wohnung zurückgekehrt ist, Herr Pfarrer?«

»Ja.« Sebastian erhob sich. »Willst du denn gar nicht wissen, wie der Herr Demleitner reagiert hat?«, erkundigte er sich.

»Mit dem habe ich schon drüber gesprochen, ehe Sie mit meiner Mutter angekommen sind«, antwortete Gabriele. »Er war ziemlich schockiert. Jetzt hat er die Gewissheit, ebenso wie ich auch.«

»Ich habe mich noch kurz mit ihm unterhalten«, sagte Sebastian. »Er war ziemlich gefasst und hat erklärt, dass er die Tatsache zu akzeptieren bereit ist. Es sei so, und niemand könne es ändern. Darüber hinaus hat er beteuert, dass er immer zu deiner Mama stehen wird. Das einzige Problem, das er sieht, sind seine beiden Töchter. Er muss ihnen eröffnen, dass sie eine Halbschwester haben. Wie sie darauf reagieren werden, steht in den Sternen. – Ich geh‘ dann mal wieder, Gabi. Dir bin ich dankbar, dass du jetzt bereit bist, deiner Mutter zu verzeihen. Dadurch wird es auch für deine Mama leichter, alles das, was im Moment auf sie einstürmt, zu bewältigen.«

»Ich habe eine Bitte an Sie, Herr Pfarrer«, murmelte Gabriele, und Verlegenheit prägte ihre Züge.

»Ich glaub‘, ich weiß, worum du mich bitten willst, Gabi«, erklärte der Bergpfarrer. »Du möchtest, dass ich dabei bin, wenn deine Mama dem Joachim eingesteht, dass sie die Ehe mit seinem Vater mit einer Lüge begonnen hat.«

»Ich wäre Ihnen dankbar, Herr Pfarrer. Er hat den Versicherungen der Mama, dass an der Geschichte nix dran, eh nicht so recht geglaubt. Ihr Verhalten hat ihre Beteuerungen mehr oder weniger Lügen gestraft. Dass sie ihm ins Gesicht gelogen hat, das wird er ihr besonders anlasten.«

»Ich denk‘, ich such‘ ihn auf und bereit ihn darauf vor«, gab Sebastian zu verstehen. »Irgendwie werden wir das Kind schon schaukeln. Wirst du dich mit dem Herrn Demleitner, deinem leiblichen Vater, kurzschließen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist«, murmelte Gabriele. »Die Frage wird auch sein, wie sich das Verhältnis zwischen ihm und der Mama in Zukunft gestaltet. Zwischen den beiden hat sich was angebahnt. Die alte Liebe scheint wieder erwacht zu sein.«