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Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Es war ein herrlicher Tag im Oktober, die Sonne schien und der Himmel war strahlend blau, als der fünfundsiebzigjährige Xaver Demleitner aus Wilhelmshaven im ›Wachnertaler Hof‹, der ›Pension mit Herz‹, eincheckte. Der ältere Herr mit den dünnen, weißen Haaren und den blauen Augen war Angie Hettinger, der Rezeptionistin des Wachnertalerhofs, sofort sympathisch. Vielleicht war es die väterliche und überaus freundliche Apartheit, die er verströmte, vielleicht stimmte auch die Chemie zwischen Angie und Xaver, jedenfalls war Angie ziemlich angetan von Xaver. »Sie bleiben in Vierteljahr«, sagte Angie nach einem Blick auf den Bildschirm ihres Computers. »Sozusagen den Winter über. Normalerweise suchen Langzeiturlauber wie Sie die Wärme. Warm ist es bei uns hier mitten in den Alpen in der Zeit, in der Sie hier sind, allerdings ganz gewiss nicht.« »Mir geht es auch gar nicht darum, dass ich es warm habe und dass ich mich irgendwo auf den Kanaren oder den Balearen während der Winterzeit sonnen kann. Sie müssen wissen, ich hab' früher mal in St. Johann gelebt. Ich bin hier sogar aufgewachsen. Vor mehr als einem halben Jahrhundert aber hat es mich hinausgetrieben. Ich war Berufssoldat, hab' bis zu meiner Pensionierung der Marine angehört, war mit einer Frau aus Wilhelmshaven verheiratet und bin nach meiner Pensionierung in Wilhelmshaven sesshaft geworden.« »Ich hab' mir das doch gleich gedacht, Herr Demleitner«, sagte Angie. »Sie sprechen zwar ein ziemlich perfektes Hochdeutsch, doch ihren bayrischen Dialekt hört man raus.« Angie lachte. »Und jetzt hat es Sie wieder mal in die frühere Heimat zurückgezogen. Ihre Frau ist wohl nicht mitgekommen?
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Seitenzahl: 131
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Es war ein herrlicher Tag im Oktober, die Sonne schien und der Himmel war strahlend blau, als der fünfundsiebzigjährige Xaver Demleitner aus Wilhelmshaven im ›Wachnertaler Hof‹, der ›Pension mit Herz‹, eincheckte.
Der ältere Herr mit den dünnen, weißen Haaren und den blauen Augen war Angie Hettinger, der Rezeptionistin des Wachnertalerhofs, sofort sympathisch. Vielleicht war es die väterliche und überaus freundliche Apartheit, die er verströmte, vielleicht stimmte auch die Chemie zwischen Angie und Xaver, jedenfalls war Angie ziemlich angetan von Xaver.
»Sie bleiben in Vierteljahr«, sagte Angie nach einem Blick auf den Bildschirm ihres Computers. »Sozusagen den Winter über. Normalerweise suchen Langzeiturlauber wie Sie die Wärme. Warm ist es bei uns hier mitten in den Alpen in der Zeit, in der Sie hier sind, allerdings ganz gewiss nicht.«
»Mir geht es auch gar nicht darum, dass ich es warm habe und dass ich mich irgendwo auf den Kanaren oder den Balearen während der Winterzeit sonnen kann. Sie müssen wissen, ich hab‘ früher mal in St. Johann gelebt. Ich bin hier sogar aufgewachsen. Vor mehr als einem halben Jahrhundert aber hat es mich hinausgetrieben. Ich war Berufssoldat, hab‘ bis zu meiner Pensionierung der Marine angehört, war mit einer Frau aus Wilhelmshaven verheiratet und bin nach meiner Pensionierung in Wilhelmshaven sesshaft geworden.«
»Ich hab‘ mir das doch gleich gedacht, Herr Demleitner«, sagte Angie. »Sie sprechen zwar ein ziemlich perfektes Hochdeutsch, doch ihren bayrischen Dialekt hört man raus.« Angie lachte. »Und jetzt hat es Sie wieder mal in die frühere Heimat zurückgezogen. Ihre Frau ist wohl nicht mitgekommen? Ich sehe in der Anmeldung, dass Sie ein Einzelzimmer gebucht haben.«
»Meine Gattin ist leider vor vier Jahren verstorben«, erwiderte Xaver.
»O, das tut mir leid«, murmelte Angie betroffen.
»Nun ja, das ist so. Wir waren sehr glücklich miteinander.« Ein Schatten schien über das Gesicht des Fünfundsiebzigjährigen zu huschen. »Der Tod stellt keine Fragen«, fügte er hinzu. »Dem ist es egal, ob jemand jung oder alt, dick oder dünn, schön oder hässlich, glücklich oder unglücklich ist. Wenn eines Menschen Zeit auf der Erde vorbei ist, dann muss er gehen.«
»Tja, dem steht man machtlos gegenüber«, erwiderte Angie. »Aber das Leben geht weiter, und die Zeit heilt Wunden. Wahrscheinlich bleibt es einem nur, sich mit Optimismus zu wappnen und das Beste aus seinem Leben zu machen.«
»Narben bleiben schon«, entgegnete Xaver. »Aber Sie haben recht: Die Wunden heilen, und man darf nicht in der Vergangenheit verweilen, sondern man muss den Blick nach vorne richten und versuchen, das Beste aus seiner Situation zu machen. - Mir hat es eine unheimliche, innerliche Freude bereitet, als ich oben, vom Pass aus, ins Tal geschaut hab‘ und feststellen musste, dass sich nicht allzu viel verändert hat in all den Jahren, in denen ich nicht hier war. Alles ist noch genauso ursprünglich und natürlich wie damals. Eine Brauerei hab‘ ich gesehen, die hat es damals noch nicht gegeben. Diese Pension hier hat früher mal ›Gästehaus Feilhuber‹ geheißen ... Nun, ein paar Veränderungen gibt es natürlich. Die Zeit ist ja nicht stehen geblieben. Aber im Großen und Ganzen ist alles noch so, wie’s mal war und wie ich es in der Erinnerung hab‘.«
»Dann wünsch‘ ich Ihnen, Herr Demleitner, dass Sie sich bei uns wohlfühlen, und ich heiße Sie sowohl im Gästehaus ›Wachnertaler Hof‹, als auch in Ihrer Heimat, dem Wachnertal, auf das herzlichste willkommen.«
»Danke, vielen Dank.« Es kam fast ein bisschen gerührt aus dem Mund Xavers. Mit einem derart warmen Empfang schien er nicht gerechnet zu haben. Er hatte damals der Heimat den Rücken gekehrt und war jetzt, nach mehr als einem halben Jahrhundert, gewissermaßen als Fremder zurückgekommen. »Ich bin überzeugt, dass es mir gefällt und dass ich mich bei Ihnen wohlfühle«, erklärte er.
Xaver bekam sein Zimmer zugewiesen. Ein Angestellter der Pension half ihm, sein Gepäck vom Auto ins Zimmer zu schaffen. Er bekam von Xaver ein angemessenes Trinkgeld und ließ den Fünfundsiebzigjähren schließlich allein.
Nachdem Xaver seine Habseligkeiten eingeräumt hatte, rief er nacheinander seine beiden Töchter in Wilhelmshaven an und sagte ihnen Bescheid, dass er gut angekommen und überaus freundlich in der Pension aufgenommen worden sei. Seine Töchter wünschten ihm einen angenehmen Aufenthalt im Wachnertal.
Ein Blick auf die Uhr sagte Xaver, dass es auf fünf Uhr zuging. In etwa zwei Stunden würde langsam die Abenddämmerung einsetzen. Er hatte Halbpension gebucht, also Unterkunft, Frühstück und Abendessen. Xaver hatte es sich zum Vorsatz gemacht, sich all die Plätze, die er in seiner Jugend besucht hatte, jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert später, noch einmal aufzusuchen. Mittagessen würde er dort, wo sich ihm eine Gelegenheit dazu bot. Er konnte sich ja auch im Rucksack etwas Essbares mitnehmen.
Er trat an das Fenster heran und sah die Gipfel des Hochgebirges, das die Kulisse für die bewaldeten Berge rund ums Tal bildete. Einige Zweitausender ragten daraus hervor, deren Gipfel den Himmel zu berühren schienen. Sie lagen im grellen Sonnenlicht und muteten an wie vergoldet. In den Schattenfeldern konnte man noch Schneefelder wahrnehmen. Obwohl mehr als fünfundfünfzig Jahre vergangen waren, war ihm der Anblick tief in seinem Innern vertraut. Er spürte, wie ihm um das Herz herum warm wurde.
Xaver verließ sein Zimmer, wechselte noch ein paar unverbindliche Worte mit Angie Hettinger, dann verließ er auch die Pension. Er ging in den Ort. Die Gebäude, die die Hauptstraße säumten, hatte es schon damals gegeben. Xaver erinnerte sich sogar noch an die eine oder andere Lüftlmalerei. Alles war sauber, nichts war dem Verfall preisgegeben. Die Vorgärten wurden mit viel Liebe gerichtet.
Als Xaver an der Bäckerei Terzing vorbeispazierte, entlockte ihm der Gedanke, dass er sich hier als Kind immer wieder mal einen mit Schokolade überzogenen ›Amerikaner‹ genehmigt hatte, der damals zehn Pfennige kostete, ein verträumtes Lächeln.
An der Straße gab es etliche Cafés und Eisdielen sowie Restaurants, die es früher nicht gegeben hatte. Sie alle verfügten über einen Außerservicebereich, der, wenn auch um diese Jahreszeit nicht mehr voll besetzt, dennoch sehr gut frequentiert war. Ein Gewirr aus Stimmen und Gelächter sorgte für eine geradezu südländische Atmosphäre.
Der Fünfundsiebzigjährige erreichte den Pfarrplatz und ging auf den Friedhof. Langsam, geradezu bedächtig, schritt er die Gräberreihen ab. Die Gräber waren mit einheitlichen Holzkreuzen versehen und größtenteils liebevoll geschmückt. An den Kreuzen waren ovale Schilder, auf denen die Namen der Verstorbenen sowie ihr Geburtstag und ihr Sterbetag vermerkt war. Auf der einen oder anderen Tafel war der Verblichene sogar abgebildet. Am Rand des Friedhofs, an der Mauer, standen Totenbretter. Xaver kannte sie von früher. Auf ihnen hatte tatsächlich nie ein Verstorbener gelegen. Sie waren mit Sinn- und Gedenksprüchen versehen, die nicht an eine bestimmte Person erinnerten, sondern allgemein zum Totengedenken aufforderten.
Xaver studierte jedes der Namensschilder an den Kreuzen, nickte manchmal, als wollte er damit kundtun, dass er sich des oder der Verstorbenen erinnerte, nagte hin und wieder nachdenklich an seiner Unterlippe, als versuchte er, den Namen zuzuordnen. An einer ebenen Stelle bei einem Ahornbaum, die kein Grab mehr aufwies, blieb er länger stehen. Auch jetzt wirkte er sehr nachdenklich, und seine Lippen bewegten sich ein klein wenig, als spräche er ein stummes Gebet. Schließlich bekreuzigte er sich sogar, um dann weiterzugehen.
Es waren viele bekannte Namen unter denen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Die Verstorbenen waren jedoch größtenteils viele Jahre älter als er selbst gewesen. Es waren aber auch einige unter ihnen, die mit ihm aufgewachsen und zur Schule gegangen waren. ›Der Tod ist Teil des Lebens‹, sagte er sich. ›Geboren werden, leben, sterben ... Das ist der ewige Kreislauf.‹
Er verließ den Friedhof und wandte sich der Kirche zu.
Hier hatte sich etwas verändert. Es gab jetzt einen Vorraum, der mit Glaswänden vom Kirchenschiff abgetrennt worden war. In dem Vorraum stand auch die Bank mit den Opferkerzen. Einige Kerzen brannten. Die Flammen flackerten im Luftzug, den Xaver verursacht hatte, als er die Tür öffnete. Der Geruch von Kerzenwachs stieg ihm in die Nase. In einem Ständer aus grauem Blech wurden Postkarten und Flyer angeboten. An den Glaswänden klebten Plakate, die auf irgendwelche Events im Wachnertal hinwiesen und zum Erscheinen aufforderten.
Xaver drückte die Glastür auf und betrat das Kirchenschiff. Hier war alles so, wie er es in der Erinnerung hatte. Lediglich die Fresken an der gewölbten Decke und an den Wänden wiesen eine frische Farbe auf, was Xaver sagte, dass sie restauriert worden waren.
*
Im Kirchenschiff war es still – lastend still. Xaver atmete unwillkürlich etwas flacher, als fürchtete er, mit zu lauten Atemzügen diese Ruhe zu sprengen.
Zwei kniende und inbrünstig ins Gebet versunkene Gläubige nahm Xaver in den Bankreihen wahr, außerdem zwei Männer, die schwarz gekleidet waren und sich am Altar zu schaffen machten. ›Wahrscheinlich der Mesner und der Priester‹, sagte er sich. ›Die beiden waren wahrscheinlich noch nicht mal geboren, als ich von hier weggegangen bin. O ja, es ist viel Wasser die Kachlach hinuntergelaufen seitdem ...‹
Ihm wurde es fast ein wenig wehmütig zumute.
Die beiden Männer beim Altar arbeiteten geradezu gespenstisch leise, und wenn sie doch einmal ein Geräusch verursachten, schienen sich das überlaut im Raum zu verteilen, durch die Akustik zu verstärken und von den Wänden zurückgeworfen zu werden.
Xaver begab sich zum rechten Seitenschiff, das durch Kolonnaden vom Hauptschiff abgeteilt war, und schritt langsam in ihm entlang. Die kunstvoll gemalten Bilder des Kreuzwegs hatten damals schon hier gehangen. Der Seitenaltar im Querschiff sah genauso aus wie damals. Neben der Tür zur Sakristei hing das Bild ›Gethsemane‹. Schon als Kind hatte ihn dieses Bild erstaunt und gefesselt. Es zeigt Jesus Christus am Abend, vor der Kreuzigung, voll Inbrunst betend, den Blick zum Himmel gerichtet. Dem unbekannten Künstler war es meisterhaft gelungen, das Wissen um die Unabänderlichkeit seines Schicksals im Gesicht des Gottessohnes zum Ausdruck zu bringen.
Lange schaute sich Xaver das Bild an, dann ging er weiter. Als er den Altarraum passierte, schaute einer der beiden Männer, die den Altar dekorierten - ein großer, sportlich gebauter Mann mit dunklen, leicht gelockten Haaren -, zu ihm her und nickte grüßend. Xaver erwiderte den Gruß, indem er die Hand hob. Er glaubte am weißen Priesterkragen, den der Mann über dem schwarzen Hemd trug, erkennen zu können, dass es sich um einen Pfarrer handelte.
Xaver erreichte den Seitenaltar, bei dem die weithin berühmte Madonnenfigur auf einem Sockel stand, der an der Wand befestigt war. Davor war ein Gebetsstuhl aufgestellt, dessen Polsterung mit rotem Samt überzogen war. Die Madonnenskulptur war der kostbarste Besitz der Kirche. Das Bestechende an ihr war die Schnörkellosigkeit, die Einfachheit, mit der sie gearbeitet war.
Andächtig betrachtete Xaver die Schnitzerei. Das filigrane Gesicht verstrahlte etwas, das den Betrachter verzauberte und mit Worten kaum zu beschreiben war. Der Faltenwurf des Kleides, das Kopftuch, der goldene Strahlenkranz ... Kaum jemand konnte sich der Faszination dieser meisterlich gefertigten Heiligenfigur entziehen.
Xaver war regelrecht in den Anblick der Marienfigur vertieft, als er angesprochen wurde. »Habe die Ehre, der Herr. Sie sind mir vorhin aufgefallen, als Sie am Altar vorübergegangen sind. Ich sehe Sie zum ersten Mal hier in der Kirche. – Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie einfach so von der Seite anrede. Mein Name ist Trenker, ich bin der Gemeindepfarrer von St. Johann. Mir ist nicht verborgen geblieben, dass sie sich ausgesprochen konzentriert und mit Hingabe umschauen.«
Xaver lächelte. »Es freut mich, Herr Pfarrer, dass Sie mich angeredet haben. Mein Name ist Demleitner – Xaver Demleitner. Ich bin gebürtiger Wachnertaler, und zwar hab‘ ich bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr in St. Johann gelebt. Ich habe mich dann zur Bundeswehr verpflichtet, kam zur Marine, und wurde schließlich Berufssoldat. Ich habe, als ich Mitte zwanzig war, eine Frau aus Wilhelmshaven kennengelernt, die ich zwei Jahre später auch geheiratet habe. Aus unserer Ehe sind zwei Töchter hervorgegangen. Mein Lebensmittelpunkt war nach meiner Verehelichung Wilhelmshaven.«
»Und Sie waren kein einziges Mal mehr im Wachnertal, Herr Demleitner«, fragte Sebastian geradezu ungläubig. »Hatten Sie hier denn keine Verwandtschaft?«
So sehr sich Sebastian den Kopf zerbrach, an eine Familie Demleitner konnte er sich nicht erinnern.
»Doch. Aber mein Vater ist verstorben, als ich vierzehn war. Ich war vorhin bei dem Platz, an dem er seine letzte Ruhe gefunden hat. Das Grab ist längst aufgelöst. Meine Mutter ist, bald nachdem ich zur Bundeswehr gegangen bin, zu meiner älteren Schwester nach Innsbruck gezogen. Die hat ein paar Jahre zuvor nach Tirol geheiratet. Die Mama ist auch schon lange tot.« Xaver zuckte mit den Schultern. »Nun hat es mich an den Ort, in dem ich aufgewachsen bin und an dem ich meine Jugend verbracht habe, mit Gewalt zurückgezogen.«
»Und? Sind Sie angenehm oder unangenehm überrascht?«, erkundigte sich Sebastian. Dabei musterte er Xaver ziemlich erwartungsvoll.
»Ich bin angenehm überrascht«, gestand Xaver. »Ich habe nämlich eine Fremdenverkehrshochburg erwartet, einen von diesen Hotspots, wie man es auf Neudeutsch ausdrückt, die vom Tourismus überschwemmt sind. In St. Johann sind zwar auch viele Urlauber, soweit ich das nach der kurzen Zeit, in der ich hier bin, beurteilen kann, es sind jedoch zumeist ältere Leute, die meiner Meinung nach die Ruhe suchen.« Xaver grinste. »Zu denen gehöre ich auch. Meine Frau ist vor vier Jahren verstorben. An Wilhelmshaven bindet mich nicht viel. Meine beiden Töchter haben eigene Familien. Da will ich mich auf keinen Fall hineindrängen. Schließlich kann ich mir immer noch selber helfen.«
»Dass Sie kein Norddeutscher sind, erkenn‘ ich an Ihrem Dialekt, Herr Demleitner«, gab Sebastian zu verstehen. »Wo wohnen S‘ dann während Ihres Aufenthalts in unserer Gemeinde?«
»In der Pension ›Wachnertaler Hof‹«, antwortete Xaver. »Ich hab‘ für drei Monate gebucht.«
»Das ist eine lange Zeit«, erwiderte Sebastian. »Aber in der ›Pension mit Herz‹, so nennen wir in der Gemeinde den ›Wachnertaler Hof‹, sind S‘ sicher gut aufgehoben. Sowohl die Chefin als auch das Personal sind angenehme, freundliche Leute. Und die Unterbringung ist auch erstklassig.«
»Als ich vorhin so durch die Gräberreihen geschlendert bin«, wechselte Xaver das Thema, »hab‘ ich viele Namen von Leuten gelesen, die sich noch bester Gesundheit erfreuten, als ich damals das Tal verlassen hab‘. Sogar einige Klassenkameraden von mir sind schon unter der Erde. Wenn man sich das so überlegt und sich fragt, wo die Jahre geblieben sind, dann ist es fast ein bisschen erschreckend. Ich bin wieder einmal zu der Erkenntnis gekommen, dass es nichts Unerbittlicheres gibt als die Zeit.«
Er begann, einige Namen von Bekannten zu nennen. Die meisten kannte Sebastian, und er konnte Xaver verraten, was aus diesen Leuten geworden war. Einige waren aus St. Johann weggezogen, andere waren verstorben, viele, die zur Generation Xavers gehörten, lebten noch im Tal.
»Da war auch ein Mädchen«, sagte Xaver versonnen. »Schlosser hat es geheißen – Sonja Schlosser. Sie müsste so um die dreiundsiebzig Jahre alt sein. Haben Sie eine Ahnung, Herr Pfarrer, ob die Sonja noch im Tal lebt, oder ob sie vielleicht auch schon verstorben ist?«
Sebastian schaute nachdenklich zu Boden. »Sonja Schlosser«, überlegte er laut. Schließlich legte er den Zeigefinger senkrecht auf seinen Mund. Nach einiger Zeit, in der er angestrengt nachgedacht hatte, schüttelte er den Kopf. »Eine Sonja Schlosser kenn‘ ich net«, murmelte er schließlich. »Tut mir leid.«
»Das ist nicht verwunderlich, Herr Pfarrer«, sagte Xaver lächelnd. »Das war alles vor Ihrer Zeit. Ich muss mich jetzt leider von Ihnen verabschieden, denn es gibt in der Pension Abendessen. Ich hab‘ mir vorgenommen, hier im Tal nach und nach die Plätze aufzusuchen, an denen ich mich schon als Kind und Heranwachsender wohlgefühlt hab‘. Erinnerungen auffrischen, Herr Pfarrer. Einer gewissen Nostalgie frönen. Wenn ich nach Wilhelmshaven zurückkehre, will ich viele Eindrücke mitnehmen, die zum Teil recht verblasst sind und denen ich sozusagen wieder Farbe verleihen möchte.«
»Dass Ihnen das gelingt, wünsch‘ ich Ihnen«, beteuerte der Pfarrer. »Ich wünsch‘ Ihnen das von ganzem Herzen. Sollten wir uns mal wieder begegnen, was bei einem Aufenthalt von drei Monaten gewiss nicht ausgeschlossen ist, dann erzählen S‘ mir, was sie alles unternommen haben.«