Ein Schwur so mutig und schwer - Brigid Kemmerer - E-Book

Ein Schwur so mutig und schwer E-Book

Brigid Kemmerer

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Beschreibung

Wer wird Emberfall retten? Der Kampf zwischen Prinz Rhen und seinem ehemaligen besten Freund Grey steht vor der letzten Entscheidung. Lia Mara, die ihr Herz an Grey verloren hat, will vermitteln, steckt aber selbst in höchsten Nöten: Ihre Untertanen hassen und fürchten den magisch begabten Grey. Wird Lia Mara die Kraft haben, zu ihm zu stehen, wenn es sein muss auch gegen ihr eigenes Volk? Und plötzlich taucht auch eine mächtige alte Feindin wieder auf, die mit ihrer unendlichen Rachsucht beide Reiche zerstören könnte ...

Das packende Finale der großen Fantasy-Saga

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Das Buch

In diesem Herbst ist Grey nicht bei mir. In diesem Herbst habe ich das gesuchte Mädchen an meiner Seite. In diesem Herbst werde ich wohl zum ersten Mal meinen neunzehnten Geburtstag feiern. Der Fluch ist gebrochen. Doch ich merke nichts davon. Lilith, die Zauberin, die mich in diesem Fluch gefangen hielt, hat nun eine andere Falle für mich erdacht.

Dunkle Schatten liegen über Emberfall und dem Herbst, der Rhens erste Jahreszeit in Freiheit werden sollte: Grey, sein ehemaliger Leibwächter und Bruder, versammelt gemeinsam mit seiner Gefährtin Lia Mara die Streitkräfte einer Armee, um Rhen vom Thron zu verdrängen, sollte er nicht freiwillig weichen. Der innerlich zerrissene Rhen hat die schlechteste Ratgeberin an seiner Seite, die man sich vorstellen kann: die Zauberin Lilith, die ihn einst verfluchte und die ihm nun die tapfere Harper nehmen will. Wird die Kraft seiner Liebe zu Harper ausreichen, um Liliths dunkle Pläne zu durchkreuzen und Rhen mit Grey zu versöhnen?

Die Autorin

Brigid Kemmerer ist eine New-York-Times-Bestsellerautorin. Sie hat bereits mehrere Jugendbücher veröffentlicht. »Ein Schwur so mutig und schwer« ist der Abschluss ihrer neuen Bestseller-Trilogie um das magische Reich Emberfall. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren vier Jungen in der Nähe von Baltimore.

Brigid Kemmerer

Roman

Aus dem Amerikanischen von Charlotte Lungstrass-Kapfer

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel A Vow so Bold and Deadlybei Bloomsbury YA, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Brigid Kemmerer

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany

Redaktion: Diana Mantel

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, nach einem Originalentwurf von © Jeanette Levy (Bloomsbury) und der Illustration von © Shane Rebenschied

Karte: © Andreas Hancock

Vignetten: © Shutterstock (Thoom, ElenaShow)

Herstellung: Mariam En Nazer

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-26885-5V002

1 Grey

Das Wetter schlägt langsam um und schickt kalten Wind aus den Bergen herunter, der sogar in meinen mit Pelz gefütterten Ledermantel kriecht. In Syhl Shallow ist es zu dieser Zeit kälter als in Emberfall, aber nachdem ich diesen schrittweisen Wechsel von Herbst zu Winter seit einer Ewigkeit nicht mehr erlebt habe, habe ich ihn einfach in vollen Zügen genossen.

Die anderen haben sich um den großen Kamin im Hauptsaal des Kristallpalastes versammelt und gönnen sich einen Schluck vom ersten, frisch aufgesetzten Winterwein der Saison, aber Iisak hasst die Wärme, also trotze auch ich der Kälte. Ich habe mich mit dem Scraver auf der dunklen Veranda niedergelassen, um eine Runde zu würfeln. Hier draußen lodert nur die winzige Flamme der Kerze, die in einem Glas zwischen uns auf dem Tisch steht.

Iisak lässt die silbernen Würfel in der Hand kreisen, dann fallen sie klappernd auf den Tisch.

»Silbriger Höllenglanz«, brumme ich, während ich seine Punkte zusammenrechne. Beim Kartenspiel macht mir keiner etwas vor, aber die Würfel scheinen mich zu verabscheuen. Der Aspekt der Strategie, der Entscheidung, der den Karten anhaftet, fehlt hier. Die Würfel werden allein vom Schicksal bewegt. Ich werfe eine Münze auf den Tisch und erkenne damit den Sieg des Scravers wortlos an.

Iisak grinst. Durch die Dunkelheit sind seine schwarzen Augen und seine graue Haut von noch tieferen Schatten überzogen, einzig seine Zähne blitzen im Mondlicht auf.

Lautlos steckt er die Münze ein, sicher wird er sie aber später wohl Tycho schenken. Er verhätschelt den Jungen wie eine nachsichtige Großmutter. Oder vielleicht eher wie ein Vater, der einst seinen Sohn verlor. »Wo steckt denn unsere junge Königin heute?«, fragt er mich.

»Lia Mara speist mit Vertretern der Hohen Häuser.«

»Ohne dich?«

»Sie haben um eine Privataudienz gebeten, und es gehört nun einmal zu ihren Pflichten, diese Leute bei Laune zu halten.« Schon die ehemalige Königin war vor ihrem Tod von den Hohen Häusern unter Druck gesetzt worden, aber Karis Luran hatte sie mit eiserner Faust in Schach gehalten. Nun ist Lia Mara an der Macht, Syhl Shallow muss sich dringend neue Ressourcen und Handelsrouten durch Emberfall erschließen, und der immense Druck scheint sich vervielfacht zu haben – vor allen Dingen, da Lia Mara sich weigert, den Führungsstil ihrer Mutter fortzusetzen.

Achselzuckend sammele ich die Würfel ein. »Manche hier tun sich etwas schwer mit Magie, Iisak.«

»Das konnte ich bereits aus dem Verhalten dieses Haufens hier schließen, Hoheit.« Vielsagend lässt er den Blick über die dunkle Veranda schweifen, die bis auf die Wachen an der Tür vollkommen verlassen ist.

»Es ist ein kalter Abend«, erwidere ich unverbindlich.

Aber er hat natürlich recht. Wahrscheinlich liegt es eher an der Magie als an der Kälte.

Zwar komme ich mit den meisten Wachleuten und Soldaten in Syhl Shallow gut aus, aber zwischen ihnen und mir herrscht eine gewisse Distanz, die ich nicht ganz deuten kann. Eine Art wachsame Vorsicht. Anfangs dachte ich, der Grund dafür sei dar­in zu finden, dass sie mich als Getreuen Emberfalls betrachteten, der noch dazu eindeutig auf Lia Maras Seite stand, als sie ihre Mutter getötet und so den Thron bestiegen hat.

Doch je mehr Zeit verging, desto deutlicher wurde, dass diese Wachsamkeit immer dann zutage tritt, wenn ich eine Verletzung heile oder einen Gegner auf dem Übungsplatz in die Flucht schlage. Oft zeigt sie sich auch, wenn ich die Waffenkammer betrete, um meine Ausrüstung zu ver­stauen. Plötzlich verstummen die Gespräche, Grüppchen lösen sich hastig auf.

Ein Windstoß fegt über die Veranda, lässt die Kerzenflamme flackern und erstickt sie schließlich.

Ich schaudere in der Kälte. »Wie gesagt.«

»Wir sollten dieses bisschen Privatsphäre nutzen«, beschließt Iisak mit gedämpfter Stimme, die nicht einmal mehr bis zu den Wachen dringt.

Ich halte einen Finger über den Kerzendocht und lasse ihn kreisen, bis die Sterne in meinem Blut die Fingerspitze erreichen. Was mir früher einmal unglaubliche Kraft ab­verlangt hat, geschieht nun vollkommen mühelos. Ein zartes Flämmchen erscheint. »Ich dachte, das hätten wir bereits getan.«

»Mir geht es nicht darum, dir noch mehr Münzen abzuknöpfen.«

Lächelnd erwidere ich: »Sehr gut, denn ich habe auch nicht mehr sonderlich viele übrig.«

Als er mein Grinsen nicht erwidert, werde ich schlagartig ernst. Iisak ist ein König, auch wenn er sich durch einen Eid dazu verpflichtet hat, mir ein volles Jahr lang zu dienen. In Emberfall hat man ihn in einen Käfig gesperrt, und Karis Luran hielt ihn an einer Leine. Schon Dutzende Male habe ich ihm angeboten, ihn von seinem Eid zu entbinden, aber er lehnt jedes Mal ab. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine so unzerstörbare Loyalität überhaupt verdiene, vor allem da ich weiß, was er verloren hat: zuerst seinen Sohn, der spurlos verschwunden ist, dann seinen Thron in Iishellasa. Wenn er also meine Aufmerksamkeit verlangt, sollte ich sie ihm besser auch schenken.

»Worum geht es dir dann?«, frage ich deshalb.

»Nicht nur hier in Syhl Shallow fürchtet man die Magie.«

Irritiert runzele ich die Stirn. Das war eine unmissverständliche Anspielung auf Rhen.

Meinen Bruder.

Jedes Mal, wenn ich an ihn denke, zieht sich alles in mir zusammen.

»Du hast einmal gesagt, du wolltest keinen Krieg gegen ihn führen«, fährt Iisak fort.

Ich starre auf die Würfel in meiner Hand, rolle sie zwischen den Fingern hin und her. »Das will ich auch jetzt nicht.«

»Aber du hast angefangen, in Lia Maras Namen die Truppen zu inspizieren.«

Nun schließen sich meine Finger um die silbernen Würfel. »Ja.«

»Die Staatskasse von Syhl Shallow ist so gut wie leer. Vermutlich wirst du nur eine einzige Chance bekommen, ihm entgegenzutreten. Dank Prinz Rhens Monster waren die Verluste in der letzten Schlacht gegen Emberfall extrem hoch. Das macht einen zweiten Angriff quasi unmöglich.« Er unterbricht sich kurz. »Und du hast ihm sechzig Tage Vorbereitungszeit gewährt.«

»Ich weiß.«

»Wie sehr du dich auch bemühst, das Leben dieser Menschen zu schützen – die bevorstehenden Schlachten werden weitere Tote fordern, das ist unvermeidlich.«

»Auch das ist mir bewusst.«

Wieder fegt ein Windstoß über die Veranda, wieder löscht er die Kerzenflamme. Diesmal wurde er von Iisak herbeigerufen. Ich habe gelernt, seine Magie zu erkennen; sie ist in der Luft verankert, so wie meine in meinem Blut verankert ist.

Nachdem ich ihn mit einem Blick abgestraft habe, lasse ich eine neue Flamme auflodern.

Prompt folgt der nächste Windstoß. Gereizt kneife ich die Augen zusammen. Iisak übt ständig Druck aus. Während der ersten Zeit, als ich noch lernen musste, meine Magie zu kontrollieren, fand ich das extrem frustrierend. Inzwischen betrachte ich es als reizvolle Herausforderung. Ich halte den Finger reglos über die Flamme, die tapfer darum kämpft, am Leben zu bleiben. Sterne tanzen vor meinen Augen, als ich die Magie an Ort und Stelle halte. Nun ist der Wind so stark, dass er in den Augen brennt und an meinem Mantel zerrt. Iisaks Flügel rauschen, aber die Flamme brennt weiter.

»Erwähnte ich eigentlich schon, dass es heute Abend ziemlich frisch ist?«, frage ich ihn freundlich.

Ein Grinsen huscht über das Gesicht des Scravers, dann lässt der Wind schlagartig nach.

Seine Magie zieht sich so plötzlich zurück, dass meine Flamme einen Moment lang hoch auflodert und das Wachs über die Ränder der Kerze fließt. Ich lasse sie los.

»Vielleicht solltest du Lia Maras Volk einmal zeigen, wie nützlich Magie sein kann«, schlägt Iisak vor. Sofort muss ich an die Menschen denken, die ich mithilfe von Magie geheilt habe. Daran, wie oft ich auf dem Truppenübungsplatz mit magischen Mitteln meine Gegner auf Distanz gehalten habe – ein Vorteil, den ich nach und nach auch auf all jene auszuweiten versuche, die an meiner Seite kämpfen. »Das habe ich bereits getan«, erkläre ich ihm.

»Ich meinte damit nicht allein die Verstärkung deiner militärischen Kräfte.«

Prüfend sehe ich ihn an. »Du meinst, ich sollte meine Magie gegen Rhen einsetzen.« Nach kurzem Schweigen füge ich hinzu: »Damit würde ich genau das tun, was er am meisten fürchtet.«

»Du hast ihm gesagt, dass du mit einer Armee zurückkehren wirst. Er wird sich also auf einen Gegenschlag vorbereiten. Und er wird sich darauf vorbereiten, dich aus der Ferne zu bekämpfen, wie Könige das immer tun.«

Aber gegen Magie wird er machtlos sein.

Das weiß ich nur allzu gut. Schließlich habe ich es selbst erlebt.

»Rhen kennt dich«, betont Iisak. »Er wird mit Waffen­gewalt rechnen, mit einem effizienten, brutalen Angriff, nicht viel anders als der, den Karis Luran gegen ihn geführt hat. Eine Armee hast du ja aufgestellt, und du magst auch einen Schwur geleistet haben.«

»Du solltest ihn nicht unterschätzen.« Das beweisen die Narben der Peitschenhiebe auf meinem Rücken. Und auf Tychos. »Wenn man ihn in die Ecke drängt, kann Rhen ebenfalls brutal zuschlagen.«

»Das stimmt, Hoheit.« Noch einmal lässt Iisak die Flamme tanzen, die sich in seinen schwarzen Augen spiegelt. »Genau wie du.«

2 Rhen

Wieder einmal hat der Herbst Schloss Ironrose fest im Griff. Kühler Wind weht durch das Fenster her­ein und lässt mich schaudern. In den letzten Monaten habe ich morgens kein Feuer gebraucht, aber heute liegt eine Kälte in der Luft, die den Wunsch in mir weckt, einen Dienstboten zu rufen und den Kamin anzünden zu lassen.

Ich tue es nicht.

Eine gefühlte Ewigkeit lang habe ich den Wechsel der Jahreszeiten gefürchtet, weil das Ende der Herbstzeit ein Zeichen dafür war, dass der Fluch erneut einsetzte. Dass ich ein weiteres Mal achtzehn Jahre alt sein würde, gefangen in der endlosen Wiederholung dieses einen Herbstes. Dass ich ganz allein sein würde, nur mit Grey an meiner Seite, dem ehemaligen Kommandanten meiner Leibwache, auf der Suche nach einem Mädchen, das mir dabei helfen konnte, den Fluch zu brechen, der mich und ganz Emberfall quälte.

In diesem Herbst ist Grey nicht bei mir.

In diesem Herbst habe ich das gesuchte Mädchen an meiner Seite.

In diesem Herbst werde ich wohl zum ersten Mal meinen neunzehnten Geburtstag feiern.

Der Fluch ist gebrochen.

Doch ich merke nichts davon.

Lilith, die Zauberin, die mich in diesem Fluch gefangen hielt, hat nun eine andere Falle für mich erdacht.

Von meinem Fenster aus sehe ich in den Schlosshof hin­unter, wo Harper – das Mädchen, dem es gelungen ist, den Fluch zu brechen; die »Prinzessin von Disi«, die geschworen hat, meinem Volk zu helfen – mit ihrer besten Freundin Zo die Klingen kreuzt. Bis vor Kurzem war Zo auch Teil ihrer persönlichen Wache, aber dann hat sie Grey zur Flucht verholfen. Niemals würde ich Harper die Freundin wegnehmen, aber ich kann natürlich niemanden in meiner Garde dulden, dessen Loyalität zweifelhaft ist.

Dafür ist die Lage schon jetzt zu angespannt.

Harper und Zo treten schwer atmend auseinander, doch Harper geht sofort wieder in Kampfstellung.

Ich muss lächeln. Mit einer Zerebralparese den Schwertkampf zu erlernen ist wahnsinnig schwer – manche würden es sogar als unmöglich bezeichnen –, aber ich kenne niemanden, der es in puncto Entschlossenheit mit Harper aufnehmen könnte.

Hinter mir ertönt eine sanfte Stimme: »Ah, Eure Hoheit. Es ist einfach entzückend, dass Prinzessin Harper tatsächlich glaubt, es in dieser Hinsicht zu etwas bringen zu können.«

Mein Lächeln erlischt, doch ich wende mich nicht vom Fenster ab. »Lady Lilith.«

»Verzeiht, dass ich Euch in Euren Überlegungen stören muss.«

Ich spare mir eine Antwort. Dieser Frau werde ich rein gar nichts verzeihen.

»Mir drängt sich die Frage auf, wie sie wohl in ihrem Disi zurechtkommen wird – auf der Straße –, falls es Euch nicht gelingt, die Invasoren aus Syhl Shallow zurückzuschlagen.«

Vollkommen reglos stehe ich da. Diese Drohung setzt Lilith häufig ein: dass sie Harper zurückschicken wird nach Washington, D.C., wo ich sie unmöglich erreichen kann. Wo Harper vollkommen auf sich gestellt wäre, ohne jede Chance, den Weg zurück nach Emberfall zu finden.

Lilith ignoriert mein Schweigen. »Solltet Ihr Euch nicht den Kriegsvorbereitungen widmen?«

Ja, vermutlich sollte ich das. Grey hat mir sechzig Tage zugestanden, um ihm die Herrschaft über Emberfall zu überlassen. Sonst wird er Lia Mara dabei helfen, sie sich mit Gewalt zu holen. Vermutlich drillt er in diesem Moment die Armee von Syhl Shallow, um gegen mich ins Feld zu ziehen. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, welches Ziel er damit verfolgt: Geht es ihm hauptsächlich darum, Ressourcen für Syhl Shallow zu erschließen – ich weiß sehr wohl, wie dringend das Nachbarreich den Zugang zu den Handelsrouten braucht –, oder hat er es nun doch auf einen Thron ab­gesehen, von dem er einst behauptet hat, er wolle ihn nicht?

So oder so wird er Emberfall angreifen. Mich angreifen.

»Ich habe meine Vorbereitungen getroffen«, antworte ich knapp.

»Und doch sammelt sich nirgendwo die Armee. Nirgendwo stehen Generäle zusammen und beraten sich über die Strategie. Nirgendwo …«

»Seid Ihr nun auch zum Militärstrategen geworden, Lilith?«

»Ich weiß, wie der Krieg aussieht.«

Am liebsten würde ich sie bitten zu gehen, aber das würde nur dafür sorgen, dass sie umso länger bleibt. Als Grey noch mit mir hier gefangen war, habe ich Trost aus der Tatsache gezogen, nicht allein leiden zu müssen.

Nun leide ich allein, und es ist … qualvoll.

Unten im Hof haben Harper und Zo den Kampf wieder aufgenommen.

»Man jagt dem Gegner nicht hinterher, Mylady!«, rufe ich hin­unter.

Sofort unterbrechen die beiden den Kampf, und Harper sieht überrascht zu mir herauf. Ihre braunen Locken sind zu einem widerspenstigen Zopf geflochten, der über eine Schulter nach vorn fällt, und mit den ledernen Armschienen und dem Brustpanzer sieht sie aus wie eine geborene Kämpferin. Als wäre sie durch und durch eine Adelige. Von dem erschöpften, abgerissenen Mädchen, das Grey vor Monaten in den Straßen von Washington, D.C., aufgelesen hat, ist nichts mehr zu erkennen. Heute sieht sie aus wie eine Kriegerprinzessin, sogar die entsprechenden Narben hat sie: Eine zieht sich über ihre Wange, eine zweite über den Bauch. Beide hat sie der grausamen Zauberin zu verdanken, die nun hinter mir steht.

Wie immer, wenn sie mich ansieht, ist ihr Blick prüfend, als hege sie den Verdacht, ich würde etwas vor ihr verbergen. Als würde leiser Zorn gegen mich in ihr schwelen, auch wenn sie ihm nie Ausdruck verleiht.

Lilith hält sich hinter mir im Schatten. Es gab einmal eine Zeit, da hat Harper mich in ihrem Gemach schlafen lassen, um mich vor der Zauberin zu schützen. Könnte sie das doch nur immer noch tun!

Aber ich habe ihr Gemach nun schon seit Monaten nicht mehr betreten. Zu vieles ist zwischen uns unausgesprochen geblieben.

»Ich wusste nicht, dass du uns zusiehst«, stellt Harper fest, während sie leicht irritiert ihr Schwert in die Scheide schiebt.

»Kaum mehr als einen Moment lang«, versichere ich ihr. Nach kurzem Zögern füge ich hinzu: »Verzeih, bitte.«

Sobald die Worte ausgesprochen sind, würde ich sie am liebsten zurücknehmen. So klingt es, als würde ich mich für etwas ganz anderes entschuldigen. Was vermutlich auch der Fall ist.

Offenbar hat sie die Ernsthaftigkeit hinter den Worten bemerkt, denn sie runzelt fragend die Stirn. »Habe ich dich geweckt?«

Als ob ich überhaupt noch Schlaf finden würde. »Nein.«

Sie starrt zu mir hoch, ich starre zu ihr hin­unter. Wenn ich doch nur dieses Gefühlschaos auflösen könnte, das zwischen uns steht. Wenn ich ihr doch nur von Lilith erzählen könnte. Wenn ich doch nur ihre Vergebung erlangen könnte – ihr Vertrauen zurückgewinnen könnte.

So viele, viele »Wenn ich doch …«.

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagt sie schließlich. »Was heißt das: den Gegner jagen?«

»Ich könnte runterkommen und es dir zeigen«, biete ich ihr an.

Für einen kurzen Moment erstarrt sie. Mein Herz macht einen schmerzhaften Satz. Bestimmt wird sie ablehnen. Es wäre nicht das erste Mal.

Aber dann sagt sie: »Okay. Komm runter.«

Diesmal macht mein Herz eine ganz andere Art von Sprung – zumindest bis sich Lilith leise zu Wort meldet.

»Ja«, haucht sie, »geht nur, Hoheit. Zeigt ihr, wie kraftvoll Eure Waffe ist.«

Wütend fahre ich zu ihr her­um. »Lasst die Finger von ihr, Lady Lilith!«, zische ich. »Da Ihr ja so große Bedenken bezüglich meiner Kriegsvorbereitungen hegt, solltet Ihr Euch vielleicht irgendwie nützlich machen, anstatt hier aufzutauchen und mich mit Euren kindischen Spielchen zu quälen, wann immer Ihr Euch langweilt.«

Sie lacht fröhlich. »Wie Ihr wünscht, Prinz Rhen.«

Dann streckt sie die Hand aus, als wollte sie meine Wange streicheln, und ich weiche so hastig zurück, dass ich gegen die Wand pralle. Eine Berührung von ihr kann brennen wie Feuer – oder Schlimmeres verursachen.

Ein feines Lächeln breitet sich auf Liliths Gesicht aus. In­stinktiv balle ich die Fäuste, aber da ist sie bereits verschwunden.

Unten im Hof ruft Harper: »Rhen!«

Mühsam hole ich Luft und gehe zurück zum Fenster. Die aufgehende Sonne zaubert rote und goldene Funken in ihr dunkles Haar.

Ja, eigentlich sollte ich mich auf den bevorstehenden Krieg vorbereiten. Aber für mich fühlt es sich an, als wäre ich bereits mitten in der Schlacht.

»Ich muss mir nur kurz etwas anziehen«, antworte ich ihr. »Bin gleich unten.«

3 Harper

Es überrascht mich, dass Rhen zu mir runterkommt. Ehrlich gesagt überrascht es mich, dass er überhaupt zugesehen hat. Seit Grey ihm dieses Ultimatum gestellt hat, steckt Rhen ständig in Meetings mit Großmarschällen aus irgendwelchen weit entfernten Städten, mit militärischen Beratern oder mit seiner Königlichen Garde.

Was absolut okay ist. Denn wenn er mit mir zusammen ist, drückt immer nur dieser harte Ball aus Wut in meinem Bauch, der sich durch nichts abschütteln lässt.

Und durch diese Wut fühle ich mich dann schuldig. Schließlich tut er das alles nur zum Wohl seines Königreiches. Zum Wohl seines Volkes. Als Prinz – beziehungsweise als König – muss er nun einmal Opfer bringen und harte Entscheidungen fällen.

Aber ganz egal, wie oft ich mir das vor Augen halte: Ich kann einfach nicht vergessen, was er Grey und Tycho angetan hat.

Und ich kann nicht vergessen, dass ich hierher zurückgekehrt bin, anstatt mich meinem Bruder anzuschließen.

Anstatt mich Grey anzuschließen.

Schnell wende ich mich wieder Zo zu, aber die hat ihr Schwert bereits weggesteckt. Eine gewisse Anspannung flackert in ihrem Blick. »Ich sollte in mein Quartier zurückkehren.«

Sie möchte nicht mehr hier sein, wenn Rhen auftaucht. Zögernd sehe ich sie an.

Zo kam vor einigen Monaten zu uns ins Schloss, als Rhen versucht hat, sein Volk zur Einigkeit zu bewegen, um den Angriff von Syhl Shallow abzuwehren. Eigentlich hatte sie beim Musikmeister von Silvermoon Harbour ihre Ausbildung gemacht, verfügte aber auch über Kenntnisse im Schwertkampf und Bogenschießen, weshalb sie sich bei der Königlichen Garde bewarb. Grey wählte sie aus und teilte sie meiner Leibwache zu.

Wir haben uns schnell angefreundet, was für mich nach dem chaotischen Leben, das ich in Washington, D.C., zurückgelassen hatte, etwas völlig Neues war. Sie ist klug und stark und hat einen trockenen Sinn für Humor. Wenn sie nachts vor meiner Tür Wache hielt, bin ich oft bis in die Puppen aufgeblieben. Dann spekulierten wir dar­über, was wohl nach dem Ende des Fluches mit Grey passiert war, oder wir tauschten flüsternd die neuesten Gerüchte über den verschollenen Thronerben aus. Stellten Vermutungen dar­über an, was aus Emberfall werden sollte, falls Syhl Shallow noch einmal angriff.

Aber dann wurde Grey in einer anderen Stadt entdeckt, und es war klar, dass er die Identität des verschollenen Kronprin­zen kannte, er weigerte sich aber, sie Rhen zu verraten. Rhen folterte ihn, um an die Information zu gelangen, die er schließlich auch bekam, allerdings vollkommen anders als erwartet. Grey kannte die Identität des verschollenen Throner­ben, weil er selbst Rhens älterer Bruder war. Außerdem war er ein Magier, hatte Magie im Blut. Er war der wahre Erbe des Throns.

Was er lange nicht gewusst hatte. Ebenso wenig wie Rhen.

Ich verhalf Grey zur Flucht, nachdem Rhen ihn gefoltert hatte.

Und Zo hat mir dabei geholfen.

Wodurch sie ihre Stellung in der Königlichen Garde verloren hat. Grey hat mir einmal erklärt, dass die Mitglieder der Garde aus genau diesem Grund ihren Familien und jeder Art von persönlicher Bindung abschwören. Zo hat sich durch ihren Eid an Rhen gebunden, aber in meinem Sinne gehandelt. Rhen verhält sich ihr gegenüber nie abweisend, dafür ist er zu sehr Politiker. Aber zwischen den beiden herrscht seitdem eine spürbare Spannung. Und wie bei diesem harten, aus Zorn geborenen Knubbel in meinem Bauch bin ich mir nicht sicher, ob sich diese Spannung jemals wieder verflüchtigen wird.

Am liebsten würde ich Zo bitten, bei mir zu bleiben, denn in Rhens Gegenwart fühle ich mich immer so gereizt. Aber das wäre wohl ziemlich egoistisch von mir.

Sie zu bitten, mir mit Grey zu helfen, war vermutlich genauso egoistisch. Zo und ich sind zwar Freundinnen, aber sie war nun einmal auch Teil meiner Leibwache. Hat sie mir nun aus Freundschaft geholfen oder aus Pflichtgefühl? Spielt das überhaupt eine Rolle? Tatsache ist: Sie hat mir geholfen, und nur deshalb hat sie ihren Job verloren. Einen Job, den sie wirklich geliebt hat.

Rhen ist kein herzloser Mensch. Er hat ihr einen vollen Jahreslohn als Abfindung gezahlt und ihr ein Empfehlungsschreiben ausgestellt. Beides verwahrt sie nun in ihrem Quartier. Doch sie hat den Hof nicht verlassen, und er hat sie auch nicht dazu gezwungen.

Sie wollte in der Garde dienen, dafür hat sie ihre Ausbildung hingeschmissen. Heute sagt sie, dass sie mich nicht allein lassen will, solange die Lage hier so heikel ist, aber manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht gar nicht nach Hause zurückkehren will mit der Last dieser Entscheidungen auf den Schultern. Der Last meiner Entscheidungen.

Ich habe zu lange gezögert. Rhen erscheint flankiert von zwei Wachen in dem Torbogen, der vom Schloss in den Hof hin­ausführt. Groß ist er, gut aussehend, blonde Haare, braune Augen, stets korrekt gekleidet. Da legt er Wert auf Details, was sich auch in dem verzierten Schwert zeigt, das er an der Hüfte trägt, oder an den handgemachten Jackenknöpfen. Seinen Bewegungen wohnt athletische Eleganz inne, jeder Schritt wird gezielt gesetzt, ohne das leiseste Zögern. Er bewegt sich wie ein Prinz. Wie ein König. Wie ein Mann, der dazu geboren wurde, über andere zu herrschen.

Aber ich bemerke die subtilen Veränderungen an ihm. Die Ringe unter seinen Augen sind dunkler als früher. Sein Kiefer scheint kantiger geworden zu sein, die Wangenknochen treten deutlicher hervor. Und in seinem Blick hat sich während der letzten Wochen eine qualvolle Unruhe festgesetzt.

Die beiden Wachen nehmen an der Schlossmauer Aufstellung, während er mit großen Schritten auf uns zukommt. Zo stößt einen leisen Seufzer aus.

»Tut mir leid«, raune ich ihr zu.

»Blödsinn.« Obwohl sie ihre Rüstung trägt, sinkt sie in einen Knicks. »Eure Hoheit.«

»Zo.« Er nickt ihr kurz zu, dann wendet er sich an mich. »Mylady.«

Noch während ich Luft hole, um mit ein paar Worten die Spannung zwischen ihnen aufzulockern, sagt Zo: »Wenn Ihr erlaubt, werde ich mich in mein Quartier zurückziehen.«

»Natürlich«, erwidert Rhen.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, während ich ihr hinterherblicke.

»Sie läuft vor mir davon«, stellt Rhen ohne jeden Zweifel fest.

Das geht mir sofort gegen den Strich. »So ist das ganz und gar nicht.«

»Aber ein geordneter Rückzug war das auf jeden Fall.«

Wow. Hier führt sich jemand sehr gekonnt wie ein Arsch auf. »Zo hat jedes Recht, wütend zu sein, Rhen.«

»Genau wie ich.«

Das lässt mich innehalten, obwohl mir bereits eine Erwiderung auf der Zunge lag. Mir war nicht klar, dass er noch immer wütend auf Zo ist. Vielleicht gilt dasselbe ja auch für mich, und ich bin hier nicht die Einzige mit einem drückenden Knoten im Bauch.

Doch bevor ich ihn danach fragen kann, zieht er bereits sein Schwert. »Zeig mir, was du bis jetzt gelernt hast.«

Ich lege die Hand an den Schwertgriff, ziehe aber nicht. Warum ich zögere, weiß ich nicht genau, schließlich habe ich ja selbst gesagt, dass er runterkommen und mir seine Tricks zeigen soll. Vielleicht liegt es dar­an, dass seine Worte wie ein Befehl geklungen haben. Oder dar­an, dass er mir irgendwie streitlustig vorkommt. Egal, was es ist: So will ich ihm plötzlich nicht mehr mit gezogener Waffe begegnen.

Deshalb wende ich mich ab. »Ich mag jetzt nicht mehr.« Ich deute auf den Torbogen, durch den er gerade gekommen ist. »Ist wohl besser, wenn ich mich zum Frühstück umziehe.«

Ein leises Schaben verrät mir, dass er sein Schwert wegsteckt, dann greift er sanft nach meinem Arm. »Bitte.«

So verletzt klingt er. Dieses eine, kleine Wort bohrt ein winziges Loch in die brennende Kugel aus Zorn in meinem Innersten.

»Bitte«, wiederholt er leise. »Bitte, Harper.«

Wenn er meinen Namen sagt, hat das etwas Magisches an sich. Sein weicher Akzent macht aus den Silben eine Art raue Streicheleinheit. Aber das ist es nicht, was mich in diesem Moment fesselt. Es ist das Bitte. Rhen ist der Kronprinz, der zukünftige König. Er bittet nicht.

»Bitte was?«, frage ich vorsichtig.

»Bitte bleib.«

Sicher meint er nur diesen Moment, aber es fühlt sich nach mehr an. Irgendwie allgemeiner.

Plötzlich habe ich eine Szene vor Augen, die schon über ein Jahr zurückliegt. Mom war da bereits krank, der Krebs zerfraß ihre Lunge, und Dad hatte all unsere Ersparnisse ausgegeben, um das zu bezahlen, was die Versicherung nicht abdeckte. Dann traf er in Sachen Geld einige wirklich miese Entscheidungen, durch die unsere ganze Familie in Gefahr geriet. Als Mom dahinterkam, befahl sie Jake und mir, unsere Koffer zu packen. Dad saß weinend am Küchentisch und flehte sie an, bei ihm zu bleiben. Ich weiß noch, wie mein großer Bruder seine Tasche packte, während ich reglos auf seinem Bett hockte und ihn mit großen Augen anstarrte.

»Es wird alles gut, Harp«, ­sagte Jake immer wieder. »Pack jetzt einfach deine Sachen.«

Aber es wurde nicht wieder gut. Gar nichts wurde wieder gut. Damals machte mir der Gedanke, alles zurückzulassen, eine Heidenangst. Ich erinnere mich noch gut dar­an, wie erleichtert ich war, als Mom schließlich nachgab und wir doch blieben. Sie blieb.

Später, als es dann richtig schlimm wurde, wünschte ich mir, sie hätte es nicht getan.

Jetzt sehe ich Rhen ins Gesicht und frage mich, ob ich gerade vor derselben Wahl stehe. Jake ist mit Grey gegangen. In diesem Krieg wird mein Bruder auf der gegnerischen Seite stehen.

Ich hole tief Luft. »Ich will nicht gegen dich kämpfen.«

Womit ich nicht die Lektion im Schwertkampf meine, was er vermutlich auch weiß. Rhen nickt. »Sollen wir stattdessen ein paar Schritte gehen?«

Zögernd nicke ich. »Okay.«

Er reicht mir den Arm, und ich nehme an.

4 Rhen

Meine Wachen folgen uns mit etwas Abstand. Ganz leicht nur liegt Harpers Hand auf meinem Arm, als wäre sie jederzeit bereit, sie wieder wegzuziehen. Grey hat immer gesagt, ich würde stets zwanzig Schritte im Voraus planen, und er hatte recht. Aber heutzutage scheinen all meine Planungen fremdgesteuert zu sein. Ich kann keine zwanzig Züge ausspielen, wenn die Zauberin nach dem zweiten, dritten oder fünfzehnten plötzlich den Kurs ändert.

Alles in mir schreit danach, Harper von Lilith zu erzählen. Aber das könnte so schrecklich schiefgehen.

Ich habe dieses Geheimnis mehr als dreihundert Herbstwiederholungen lang gewahrt. Und ich werde es auch diesmal wahren.

»Du bist wütend auf mich«, stelle ich leise fest.

Harper antwortet nicht, aber ich habe es ja auch nicht als Frage formuliert. Sie ist schon seit Wochen wütend auf mich. Seit Monaten.

Der gepflasterte Weg vor uns wird schmaler, als wir uns dem von Bäumen gesäumten Pfad nähern, der direkt in den Wald führt. Eigentlich rechne ich damit, dass sie kehrtmacht, als wir den Waldrand erreichen, damit unser Spaziergang nicht zu lang ausfällt, doch das tut sie nicht. Und so betreten wir den dämmrigen Wald und lassen uns von der frühmorgendlichen Stille einhüllen. Noch haben die Bäume ihr Kleid nicht ganz gewechselt, doch Rot und Gold beherrschen das Bild, und das bunte Laub fällt lautlos vor uns auf den Pfad.

»In meiner ersten Nacht hier«, beginnt Harper plötzlich, »bin ich durch diesen Wald geritten und von brütender Hitze übergangslos in einem eisigen Schneesturm gelandet. Da habe ich erst wirklich geglaubt, was du mir über den Fluch erzählt hattest.«

Ich werfe ihr einen vorsichtigen Seitenblick zu. »Und die Musik im Schloss, die ganz von allein erklingt?«

»Na ja, das war … eine Art Stupser. Aber vom Frühherbst zu tiefstem Winter, das war durch die auf einmal eiskalte Luft im wahrsten Sinne des Wortes ein Schlag ins Gesicht.« Sie denkt kurz nach. »Und als ich dann Freya und den Kindern begegnet bin …« Kopfschüttelnd verstummt sie.

»Ah. Da hast du erkannt, wie schlecht es um mein Königreich bestellt war. Hast das wahre Ausmaß des Fluches erfasst.«

»Nein! So war das nicht gemeint.«

»Ich weiß. Doch es ist und bleibt nun einmal die Wahrheit.« Auch ich erinnere mich dar­an: Wie Grey und ich losgeritten sind, um Harper bei ihrem Fluchtversuch abzufangen; an die Sorge, was sie dabei entdecken könnte. Ich hatte Schloss Ironrose so lange nicht mehr verlassen, dass nicht einmal mir selbst bewusst war, wie hart das Leben für meine Untertanen geworden war. Dass sie arm waren und Hunger litten, war mir klar, nicht jedoch, in welchem Maße. Und ich hatte geglaubt, sowieso nichts für sie tun zu können, solange der Fluch nicht gebrochen war.

Harper zeigte mir, wie falsch ich damit lag, zeigte mir, dass der Fluch mich keineswegs dar­an hindern musste, mich um mein Volk zu kümmern. Und letztlich hat sie den Fluch dann ganz aufgehoben.

Und doch ist Lilith weiterhin hier. Noch immer macht sie mir das Leben zur Hölle, wenn auch auf andere Art.

Ich lege meine Hand auf die von Harper, halte sie so sanft auf meinem Unterarm fest. Sie wirft mir einen überraschten Blick zu. Im ersten Moment befürchte ich, sie wird mir ihre Hand entziehen, doch das tut sie nicht. Ein winziges Zugeständnis, dem aber so viel Bedeutung innewohnt.

Deshalb hat Lilith so viel Macht über mich. Die Gefühle in meinem Inneren drohen mich zu ersticken. Mühsam hole ich Luft.

»Stimmt etwas nicht?«, fragt Harper sofort.

Überhaupt nichts stimmt mehr. Aber das kann ich ihr nicht sagen. »Uns bleiben nur noch sechs Wochen, bis Syhl Shallow einmarschiert, und egal wie oft ich versuche, eine Strategie für unseren Sieg auszuarbeiten, es kommt mir immer so vor, als wäre es mein Schicksal, dass ich versagen muss.«

Schweigend mustert Harper den Waldweg vor uns. »Du glaubst also, dass Grey gewinnen wird?«, fragt sie dann.

Hoffentlich nicht. Ich will mir gar nicht vorstellen, was Lilith dann tun würde.

Und ich will mir auch nicht vorstellen, was dann aus Emberfall wird.

»Lia Mara kam einst in der Hoffnung auf Frieden hierher«, erkläre ich ihr. »Und Grey hat sich mit ihr zusammengetan. Außerdem hat er sich bei meinem Volk bereits ziemlich beliebt gemacht. Du hast selbst gehört, was in Blindmolde passiert ist.« Dort wollte meine Garde Grey festnehmen, was in einer wahren Schlacht gegen die Dorfbevölkerung endete. Und Grey hat in dem ganzen Chaos seine Magie eingesetzt, um die Verletzten zu heilen. »Sie wissen, dass Emberfall noch immer geschwächt ist. Grey hätte uns seine Absichten gar nicht groß ankündigen müssen.«

»Ich höre da ein verstecktes ›aber‹.«

»Aber … eine Herrscherin, die nach Frieden strebt, ist eine Sache. Untertanen, die nach Rache dürsten, sind hingegen etwas vollkommen anderes. Mag sein, dass sie hier einige Unterstützer haben, aber ich bin mir nicht sicher, wie stark ihr Rückhalt in Syhl Shallow ist. Lia Mara ist eine Frau. Grey ist ein Mann.« Wieder sehe ich vorsichtig zu ihr hin­über. »Ähnlich wie in unserem Fall, Mylady.«

»Du glaubst also, dass es nicht ganz einfach für sie sein wird, an der Macht zu bleiben?«

»Ich glaube, dass sie eine Menge Herausforderungen zu bewältigen haben, unabhängig davon, ob sie in diesem Krieg siegreich sind oder nicht. Ich glaube, dass der Machtwechsel von einer Herrscherin wie Karis Luran, die ihren Thron durch brutale Gewalt und die Verbreitung von Furcht gesichert hat, zu einer Frau wie Lia Mara, die Werte wie Mitgefühl und Barmherzigkeit vertritt, nicht ohne Probleme vollzogen werden kann.«

Noch immer blickt Harper starr nach vorn. »Na ja, das sind auch meine Werte.«

»Ich weiß.«

Der tiefe Graben zwischen uns scheint meine Worte zu verschlucken. Sicherlich hofft sie, dass ich hinzufüge, wie sehr auch mir diese Werte am Herzen liegen – was ja auch der Fall ist. Allerdings nicht auf die Art, wie sie es meint. Nicht auf die Art, die ihr wichtig ist.

Tief und unglaublich breit ist der Graben zwischen uns.

Harper nimmt stirnrunzelnd zur Kenntnis, dass ich nichts weiter dazu sage. »Tja, wir werden mit Mitgefühl und Barmherzigkeit wohl keine Anhänger für uns gewinnen.«

Jetzt wird es heikel. »Trotz allem, was Syhl Shallow in Emberfall angerichtet hat, wird es meinem Volk wohl nicht gerade leichtfallen, sich um mich zu scharen, wenn mein Anspruch auf den Thron allein auf der Erbfolge beruht«, beginne ich zögernd. »Denn da steht Grey eindeutig vor mir. Und wenn seine Magie segensreich zu sein scheint, ist er außerdem nicht bedrohlich. Vor allem wenn meine Versprechungen, dass wir militärische Unterstützung bekommen werden, sich als wenig zutreffend erwiesen haben.«

»Wegen Disi«, ergänzt Harper.

»Genau.«

»Was meine Schuld ist.«

Verbittert klingt sie, verbittert und reumütig. Abrupt halte ich sie fest. Wir bleiben stehen, und ich wende mich ihr zu. »Du kannst dich doch nicht ernsthaft schuldig fühlen, weil es dir nicht gelungen ist, eine Armee aus dem Hut zu zaubern.«

Harper seufzt schwer, wendet sich ab und geht weiter. »Tja. So ist es aber.« Nachdem sie sich kurz nach den Wachen umgesehen hat, senkt sie die Stimme. »Es war eine Lüge, Rhen. Und jetzt sehen mich alle an, als hätte ich sie im Stich gelassen. Oder als würde ich mit dem Feind paktieren.«

»Dein Bruder, der ›Kronprinz von Disi‹, ist zusammen mit Grey nach Syhl Shallow geflohen.« Es gelingt mir nicht ganz, die Anspannung aus meiner Stimme zu verbannen. »Wie könnte es da anders sein?«

Sie sagt nichts, doch ich spüre, wie ihre Finger sich auf meinem Arm verkrampfen.

»Was für ein blöder Mist«, schimpft sie dann.

»Allerdings.«

»Und was können wir tun?«

Wir. Ein kleines Wörtchen nur, doch es sorgt dafür, dass mir die Brust eng wird und ich kaum noch schlucken kann. Dabei habe ich es eigentlich nicht verdient. Ich möchte sie an mich ziehen, mein Gesicht an ihrem Hals vergraben und einfach nur spüren, dass sie am Leben ist. Hier ist. In Sicherheit ist.

Aber sie ist noch immer wütend auf mich. Wegen der Entscheidungen, die ich gefällt habe.

Deshalb muss ich mich mit ihrer Hand auf meinem Arm begnügen. Mit dem kleinen Wörtchen wir.

Harper will, dass ich etwas unternehme. Als Lilith das verlangte, habe ich mich verweigert.

Wenn Harper danach fragt, möchte ich sofort losstürmen.

»Viele Großmarschälle haben ihre Grenzen geschlossen«, erkläre ich ihr. »Sie scheinen nicht bereit zu sein, meinen Herrschaftsanspruch anzuerkennen. Die Rebellion in Silvermoon Harbour konnten wir zwar niederschlagen, aber zu einem hohen Preis. Nur ein Narr könnte glauben, mein Volk wäre zufrieden mit der Situation.« Nach kurzem Zögern füge ich hinzu: »Vielleicht sollten wir einen ähnlichen Weg einschlagen wie Grey.«

»Du willst ihnen den Krieg erklären?«

»Nein. Ich will Einigkeit herbeiführen.«

Schaudernd fragt Harper: »Du willst noch einmal nach Silvermoon Harbour reiten? Es war beim ersten Mal schon gruselig genug.« Als sie schweigt, wird mir klar, dass sie wieder die Bilder von unserem ersten Besuch in der Hafenstadt vor sich sieht, bei dem wir in einen Hinterhalt gelockt und beinahe getötet wurden. Was einzig und allein durch Grey verhindert wurde. »Was, wenn sie dich einfach erschießen, sobald wir vor dem Stadttor auftauchen?«

»Das werden sie nicht tun«, versichere ich ihr.

»Woher willst du das wissen?«

»Weil ich nicht vorhabe, zu ihnen zu gehen.« Langsam nimmt ein Plan in meinem Kopf Gestalt an. »Stattdessen werde ich sie zu uns einladen.«

5 Harper

Meine Kammerfrau Freya schnürt geschickt das Korsett meines Kleides. Das Mieder besteht aus weißer Seide, verziert mit roten Stickereien und goldenen Ösen, die von kleinen Rubinen umgeben sind. Die leuchtend roten Röcke schimmern durch einen in etwas gedeckterem Rot gehaltenen Schleierstoff hindurch. Die Schnürung des Mieders besteht aus glänzenden goldenen Bändern. Der Ausschnitt des Kleides ist so tief, dass ich mich nicht zu weit vorbeugen darf, sonst droht eine bekleidungstechnische Fehlfunktion. Normalerweise bin ich eher der Typ Hose und Pulli – beziehungsweise Wollblouson, wie Freya das nennt. Für schickere Anlässe habe ich zwar ungefähr ein Dutzend toller Kleider im Schrank, aber das hier ist bei Weitem das Prachtvollste, das ich je getragen habe. Selbst meine Stiefel sind aus rotem Leder genäht und haben goldene Absätze.

Rhen hat vor einer Woche Nachrichten an sämtliche Großmarschälle verschickt, und ich fürchte mich vor dieser »Party«, seit er sie das erste Mal erwähnt hat. Aber irgendwie ist es schon angenehm, sich mal für fünf Minuten richtig schön zu fühlen. Auch wenn ich versuche, möglichst wenig dar­über nachzudenken: Die Narbe auf meiner Wange und das leichte Humpeln rufen mir ständig in Erinnerung, dass ich niemals eine klassische Schönheit mit elegantem Auftreten sein werde. Und dass ich mir meiner Stärken bewusst bin, heißt nicht, dass ich meine Schwächen komplett aus meiner Gedankenwelt verbannen könnte.

In letzter Zeit frage ich mich oft, ob die Entscheidung, in Emberfall zu bleiben, nicht auch aus einer solchen Schwäche geboren wurde.

Aber wo sollte ich denn sonst hin? Nach Washington, D.C., kann ich nicht zurück, und selbst wenn es möglich wäre: Was sollte ich dort tun? Wir sind mitten in der Nacht von dort verschwunden, nachdem ein Mann uns eine Waffe vors Gesicht gehalten hatte. Die Wohnung meiner Familie ist inzwischen vermutlich ausgeräumt und neu vermietet worden. Außerdem habe ich keinerlei Ausweispapiere, keine Dokumente, einfach gar nichts.

Ohne jede Vorwarnung taucht das Bild meiner Mutter vor meinem inneren Auge auf, und die Erinnerung an ihren Tod schnürt mir die Luft ab. Sie haben wir an den Krebs verloren, alles andere haben wir durch meinen Vater verloren.

Der Druck auf meiner Brust wird stärker, ich kann kaum noch atmen.

»So, Mylady«, höre ich Freya sagen. »Seht es Euch an.« Sie dreht mich zum Spiegel.

Es sagt einiges über das Kleid, dass sein Anblick mich aus der Negativspirale her­ausreißt. Angezogen sieht es sogar noch besser aus als vorhin, ausgebreitet auf dem Bett. »Freya«, flüstere ich überwältigt. »Wo hast du das denn aufgetrieben?«

»Seine Hoheit hat es extra bestellt.« Sie sucht im Spiegel meinen Blick und fügt mit gesenkter Stimme hinzu: »In den Farben von Emberfall.«

»O.« Diese Erkenntnis wischt das Lächeln aus meinem Gesicht. Das ist nicht einfach nur ein schönes Kleid – es ist ein politisches Statement.

»Wenn ich mich nicht täusche«, fährt Freya fort, während sie meinen Rock glatt streicht, »hat er für Zo ebenfalls ein Kleid bestellt.«

»Wirklich?«

Sie nickt.

Freya ist zehn Jahre älter als ich, und seit ich dabei geholfen habe, sie und ihre Kinder vor den angreifenden Soldaten aus Syhl Shallow zu retten, arbeitet sie als meine Kammerfrau hier im Palast. Aber irgendwie ist sie auch eine Art Ersatzmutter für mich geworden. Sie weiß das mit Zo, weiß, was wir für Grey getan haben. Und sie weiß, dass es einen Keil zwischen Rhen und mich getrieben hat; vielleicht sogar, in geringerem Maße, zwischen mich und Zo.

Zwischen Freya und mir hätte es auch für Spannungen sorgen können, denn mir ist bewusst, wie sie zu Syhl Shallow steht. Die Soldaten des Nachbarreiches haben ihr Haus zerstört, haben sie und ihre Kinder frierend im Schnee zurückgelassen. Rein gar nichts haben sie ihr gelassen, bis Rhen ihr dann die Stelle hier im Palast anbot. Doch an dem Abend, als Rhen Grey und Tycho auspeitschen ließ, war sie ebenso entsetzt wie ich. Niemals würde ihr auch nur ein Wort gegen Rhen über die Lippen kommen, aber ich weiß noch genau, wie krampfhaft sie damals die Zähne zusammengebissen hat, wie gepresst ihr Atem klang.

Ich darf nicht länger dar­über nachdenken. Das ist Monate her. Ich habe meine Entscheidung gefällt, bin geblieben.

Und es ist ja nicht so, als würde Grey nicht gerade seinen Gegenschlag planen.

»Warum hat er ein Kleid für Zo bestellt?«, wundere ich mich laut. Zo wollte nicht auf die Party gehen. Sie meidet Situationen, in denen sie an ihre Zeit in der Wache erinnert wird, und sie meidet vor allem Situationen, die es erforderlich machen, dass sie sich im selben Raum aufhält wie Rhen.

Wie sie wohl reagiert hat, als er ihr das Kleid schicken ließ? Und welche Absicht wohl dahintersteckt? Als Stratege kann Rhen wahrhaft brillant sein, aber er ist auch verdammt gut dar­in, sich wie ein Vollarsch aufzuführen.

Freya zupft die Strähnen zurecht, die locker über mein Dekolleté fallen, und steckt die eine oder andere Haarnadel fest. »Nun ja, vermutlich hofft er, dass sie als Eure Begleiterin auftritt.« Dann fügt sie die Überlegung hinzu: »Vielleicht möchte Seine Hoheit, dass Ihr eine nicht für alle ersichtliche Wache an Eurer Seite habt. Jamison meinte, unter den Soldaten herrsche ziemliche Unruhe, weil der Angriff von Syhl Shallow angeblich jeden Moment erfolgen könne.«

Im Spiegel werfe ich Freya einen fragenden Blick zu. »Wann hast du denn mit Jamison gesprochen?« Der Soldat gehörte zu den Ersten, die Rhen und Grey unterstützt haben, nachdem ich sie dazu gebracht hatte, das Schloss zu verlassen und dem Volk zu helfen. Auch er ist voller Hass auf Syhl Shallow, da er im Kampf einen Arm verloren und der Feind den Großteil des Regiments ausgelöscht hat, bei dem er stationiert war. Heute ist er ein Leutnant des Regiments hier in der Nähe, kommt aber nur noch sehr selten ins Schloss.

»Als ich letzte Woche mit den Kindern bei Evalyn zu Besuch war«, erklärt sie mir. »Wir sind ihm auf dem Rückweg auf der Straße begegnet.« Sie zögert kurz. »Er war sehr freundlich. Er hat uns bis zum Schloss begleitet.«

»O.« Ich bin mir nicht sicher, wie ich das finden soll. Früher habe ich viel Zeit mit den Soldaten verbracht, habe mit ihnen und der Garde trainiert. Damals war ich voll in ihren Tratsch und ihre Scherze involviert. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich nicht wie eine störende Last behandelt. Als wäre ich zu nichts in der Lage. Ich hatte das Gefühl, als würde ich dazugehören.

Jetzt scheint jeder Kontakt von Misstrauen geprägt zu sein. Wie wichtig dieses Zugehörigkeitsgefühl für mich war, wurde mir erst klar, nachdem ich es verloren hatte.

Heute trainiere ich nur noch mit Zo.

Ich räuspere mich krampfhaft. Es wäre schön gewesen, vorher zu wissen, dass Freya zu Evalyn geht, denn dann hätte ich sie begleitet – und sei es nur, um mal mit jemand anderem zu reden. Aber vielleicht wäre ich gar nicht willkommen gewesen.

Wie ich das hasse.

Als es an der Tür klopft, stockt mir kurz der Atem. Da ich davon ausgehe, dass es Rhen ist, rufe ich: »Herein!«

Doch es ist nicht Rhen. Es ist Zo. Die Tür öffnet sich, und sie tritt ein. Ihr Kleid ist in einem dunkleren Rot gehalten als meines, das Mieder wirkt beinahe schwarz, abgesetzt mit kirschroter Stickerei. Ihre durchtrainierten Arme sind nackt, und ihre Zöpfe fallen beinahe bis zu ihrer Taille herab.

»Wow«, kommentiere ich beeindruckt.

Grinsend sinkt Zo in einen Knicks. »Ebenso.«

»Du hast mir gar nicht gesagt, dass du mitkommst.«

Achselzuckend erwidert sie: »Weil ich mir selbst nicht ganz sicher war.« Seufzend streicht sie über ihre Röcke. »Aber es wäre dumm, den Kronprinzen schon wieder zu brüskieren.«

Irritiert runzele ich die Stirn.

»Jetzt schau nicht so«, rügt sie mich. »Außerdem habe ich mir gedacht, du hättest vielleicht gern eine Freundin an deiner Seite.«

Gerührt gehe ich zu ihr und nehme sie in den Arm.

Sie drückt mich fest an sich, protestiert aber gleichzeitig: »Du wirst noch Freyas ganzes Werk zerstören.«

»Du bist eine tolle Freundin«, versichere ich ihr. »Ich habe dich gar nicht verdient.«

Zo löst sich von mir und sieht mich ernst an. »Doch, das hast du.«

Plötzlich taucht Freya neben mir auf und fängt an, mir kleine weiße Blüten ins Haar zu stecken. Sie hat auch ein paar rote in der Hand, doch anstatt sie ebenfalls in meinem Haar festzustecken, dreht sie sich spontan zu Zo um. »Hier. Für den letzten Schliff.«

Zo hält brav still, lässt aber meine Hand nicht los.

In einem anderen Leben würden wir uns für unseren Abschlussball so her­ausputzen, nicht für eine Party, die lediglich als Vorwand dient, um kriegsdienliche Allianzen zu schmieden.

Zitternd hole ich Luft.

Zo lässt mich nicht aus den Augen. »Du hast sie schon einmal auf deine Seite gebracht«, sagt sie leise.

»Aber diesmal habe ich keine Armee im Angebot«, flüstere ich. »Ich habe ihnen nichts zu bieten.«

Nachdem sie mich ernst gemustert hat, beugt Zo sich vor und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Damals hattest du doch auch keine, Prinzessin.«

Stimmt. Irgendwie hatte ich das vergessen. Mein Atem beruhigt sich etwas.

Als ich hierherkam, wusste ich, was richtig war. Ich habe mein Leben für dieses Land riskiert. Genau wie Grey, der das Tausende Male getan hat. Ich hätte mir von niemandem Schuldgefühle einreden lassen, nur weil ich dem Volk von Emberfall helfe. Ich hätte niemals zugelassen, dass ich mich schlecht fühle, nur weil ich Grey geholfen habe.

Und das sollte ich auch jetzt nicht tun.

Als wir zur Tür gehen, sehe ich uns beide noch einmal im Spiegel. Diese Kleider haben zusammen eine wirklich umwerfende Wirkung, sie schreien förmlich her­aus, dass wir auf der Seite von Emberfall stehen.

Rhen hat mich einmal gebeten, als seine Verbündete aufzutreten, vor seinem Volk eine vereinte Front mit ihm zu bilden. An seiner Seite zu stehen. Aber das hier … das ist anders. Ich bin doch keine Reklametafel.

Der altbekannte und diesmal nicht ganz unwillkommene Zorn flammt in meinem Inneren auf und verdrängt alles andere.

»Warte mal.« Ich halte Zo zurück. »Freya?« Noch während ich nach ihr rufe, löse ich die Schleife an meinem Mieder. »Wir brauchen beide ein neues Kleid.«

Rhen hat weder Kosten noch Mühen gescheut, und da die Einladungen zu dieser »Party« erst vor einer Woche erfolgt sind, war das Ganze sicher nicht billig. Die roten Tischtücher, die goldenen Kerzen, aber vor allem das riesige Wappen, das über dem Kamin in der Großen Halle hängt, machen es deutlich: Treue zum Reich von Emberfall, das wird hier gefordert. In einer Ecke sitzen Musiker und spielen lebhafte, fröhliche Melodien, die den Gästen Zuversicht einflößen sollen. Die Schlosstore sind weit geöffnet und lassen die Abendluft her­einströmen. In regelmäßigen Abständen sind Wachen an den Wänden postiert, die Rüstungen und Waffen wurden auf Hochglanz poliert, und Diener tragen voll beladene Tabletts zu den Tischen. Schon oben an der Treppe kann ich das Essen riechen.

Da es noch früh ist, wandern erst ein paar Dutzend Gäste durch den Saal. Wahrscheinlich handelt es sich bei ihnen um die wahrhaft Treuen, die Großmarschälle und Seneschalle jener Städte, die Rhen bereits den Lehnseid geleistet haben. Ihnen wird es wichtig gewesen sein, dass ihre frühe Ankunft bemerkt wird. Vermutlich betrachten sie sich als Teil des engsten Führungskreises ihres Prinzen, auch wenn Rhen selbst sie bislang noch nicht mit seiner Anwesenheit beehrt. Sie haben ebenfalls ihre Wachen mitgebracht, was keineswegs unüblich ist. Allerdings hat eine Party mit einem Haufen Bewaffneter wenig Einladendes an sich, selbst wenn die Männer und Frauen brav an der Wand Aufstellung nehmen.

Oben an der Treppe wartet ein Page, der nun vortritt, um uns anzukündigen. Mit einer knappen Geste halte ich ihn davon ab. Mein Herz rast, und ich streiche immer wieder über meinen dunkelblauen Rock. Das hätte mir noch gefehlt, wenn Rhen hört, wie wir ohne ihn angekündigt werden. Er wäre stinksauer, und ich würde ihn dann wahrscheinlich die Treppe runterschubsen.

Wie ich es hasse, mich so zu fühlen.

Zo mustert mich prüfend, und wie immer scheint sie quasi meine Gedanken zu lesen. »Noch wurden wir nicht angekündigt«, murmelt sie. »Wir können einfach in deine Gemächer zurückgehen. Es bleibt noch genug Zeit, um wieder in die Kleider seiner Wahl zu schlüpfen.«

»Nein.« Ich wünschte, ich könnte genauso leicht ihre Gedanken lesen. »Also, ich meine … wir könnten es tun. Wenn du das willst.«

Sie sieht mich durchdringend an. »Ich wollte die vorhin schon nicht anziehen.«

Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich drücke kurz ihre Hand, dann schreiten wir die Treppe hin­unter.

Da wir nicht angekündigt wurden, erregt unser Auftritt kaum Aufmerksamkeit. Rhen kennt sicher jeden hier mit Namen, aber bei mir sieht das völlig anders aus, vor allem bei den Vertretern der weiter entfernt liegenden Städte. Ich entdecke Micah Rennells in der Menge, den Berater für Handelsangelegenheiten, mit dem Rhen sich einmal pro Woche trifft. Er ist einer der unaufrichtigsten Menschen, die mir je begegnet sind, und wenn ich höre, wie er Rhen umschmeichelt, könnte ich jedes Mal kotzen. Deshalb gehen Zo und ich schnell in die andere Richtung und halten auf einen Tisch zu, auf dem ein Muster aus edlen Kelchen voller Rotwein und golden schimmerndem Champagner arrangiert wurde, mal Rot, mal Gold, immer im Wechsel.

Wow.

»Meinst du, es fällt überhaupt jemandem auf, dass wir nicht Rot-Gold tragen?«, flüstere ich Zo zu, was ihr nur ein Grinsen entlockt. Ich nehme für jeden von uns ein Glas vom Tisch und muss mich mühsam zurückhalten, um meines nicht in einem Zug zu leeren.

Als ich mich umdrehe, stehe ich plötzlich einem nicht sonderlich groß gewachsenen, grauhaarigen Mann mit wettergegerbter Haut und blauen Augen gegenüber, die äußerst besorgt dreinblicken. Wäre ich ihm in Washington über den Weg gelaufen, hätte ich auf Militär a.D. getippt, allein schon aufgrund seiner Statur: schlank, durchtrainiert, aufrechte Haltung. Seine dunkle, gegürtete Jacke, das rote Hemd und die Kalbslederhose sind elegant aber schlicht, die Schnürsenkel seiner hohen, blank geputzten Stiefel etwas abgewetzt.

»Mylady«, begrüßt er mich überrascht. Seine Stimme ist rau, doch der Tonfall freundlich. Er verbeugt sich kurz und braucht einen Moment, bis er mir ins Gesicht sieht. »Verzeiht mir. Mir war nicht klar, dass Ihr Euch den Festivitäten bereits angeschlossen habt.«

Er reicht mir die Hand. Ich ergreife sie und deute einen Knicks an. »Ich bin auch noch nicht lange hier.« Obwohl ich angestrengt mein Gedächtnis durchforste, will mir kein Name zu dem Gesicht einfallen. Nervös beiße ich auf meine Unterlippe, ermahne mich dann aber selbst, es sein zu lassen. »Tut mir schrecklich leid. Ich weiß gerade gar nicht, ob wir uns schon einmal begegnet sind?«

Mit einem schmalen Lächeln antwortet er: »Doch, das sind wir, allerdings war das noch eine andere Zeit. Und seit Karis Luran aus Emberfall vertrieben wurde, war ich überhaupt nicht mehr auf Schloss Ironrose. Mein Name ist Conrad Macon, ich bin der Großmarschall von Rillisk.«

Rillisk. Verdammt. In Rillisk hat Grey sich versteckt gehalten, nachdem er von seinem Geburtsrecht erfahren hatte. Lange Monate, in denen wir dachten, er wäre tot.

Auch aus Conrads Gesicht ist das Lächeln gewichen, und diese leise Sorge kehrt in seinen Blick zurück. »Ich war ein wenig erleichtert, als ich die Einladung Seiner Hoheit erhalten habe. Es gab gewisse Gerüchte, dass Rillisk möglicherweise nicht länger in seiner Gunst steht, nachdem … nachdem der falsche Thronerbe ja in unserer Stadt entdeckt worden ist.« Mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme fährt er fort: »Wir waren der Krone immer treu ergeben, Mylady, ich versichere Euch, wir hatten wirklich keine Ahnung, dass …«

»Aber natürlich«, sage ich schnell. »Daran hat Rhen überhaupt keinen Zweifel.« Denke ich. Hoffe ich.

Erleichterung lässt seine blauen Augen strahlen. »O. Schön. Vielleicht werden sich diese Gerüchte dann bald zerstreuen. Seit der Erbe …« Er stolpert über seine eigenen Worte. »Verzeihung, seit der falsche Erbe in Rillisk festgenommen wurde, tun wir uns etwas schwer mit dem Handel. Wir sind ja auch keine Hafenstadt, da …«

»Silvermoon hingegen ist eine Hafenstadt«, schaltet sich ein weiterer Mann in das Gespräch ein, »und wir tun uns ebenfalls schwer.« Ja, den Typen erkenne ich sofort: Großmarschall Anscom Perry aus Silvermoon Harbour. Er hat dickes Haar, speckige bleiche Haut und einen Leibesumfang, der seiner Jacke so ziemlich alles abverlangt. Bei unserem Besuch in Silvermoon hatte ich seine freundliche Art noch gemocht, aber dann hat er versucht, Rhen aus seiner Stadt auszusperren.

Dass er überhaupt hier ist, überrascht mich doch ziemlich.

»Marschall Perry«, erwidere ich ruhig, »es freut mich, Euch wiederzusehen.«

»Für mich ist es alles andere als erfreulich, hier zu sein«, empört er sich. »Aber die Einladung hat wenig subtil vermittelt, dass ich mit Gewalt hergebracht werde, sollte ich nicht freiwillig kommen. Und mir sind nicht mehr sonderlich viele Soldaten geblieben.«

Verunsichert sehe ich zu Zo hin­über, aber die deutet nur ein Kopfschütteln an. Da sie nicht mehr der Königlichen Garde angehört, hat sie auch keinen Überblick mehr über die Nachrichten, die Rhen verschickt.

»Bestimmt habt Ihr da etwas missverstanden«, setze ich zu einer Erklärung an, werde aber von einer Frauenstimme unterbrochen.

»Seid Ihr Euch da sicher?« Marschall Earla Vail aus … äh … keine Ahnung woher. Sie kommt aus irgendeiner Stadt nördlich von hier, nah an den Bergen, hinter denen Syhl Shallow liegt. Eine Frau in den Siebzigern mit dichtem grauem Haar und dunkler Haut. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters trägt sie ein Schwert an der Hüfte und einen Dolch im Gürtel. »Ebenso sicher wie damals, als Euer Vater seine Armee schicken wollte, um Emberfall zu schützen?«

»Die Armee meines Vaters wurde ja nicht gebraucht«, erwidere ich steif. Inzwischen schlägt mein Herz so heftig, dass es meinen Brustkorb zu sprengen droht.

»Emberfall wurde allein durch Prinzessin Harper zum Sieg geführt«, mischt sich Zo hitzig ein.

»Allerdings nicht ohne Verluste. Vielleicht steht Euer Vater ja nun bereit, um Syhl Shallow zu unterstützen.« Wieder eine neue Stimme, ein Mann diesmal, aber inzwischen bin ich von so vielen Menschen umringt, dass ich den Sprecher gar nicht mehr ausmachen kann.

»Genau«, wettert Conrad. »Hat Disi seine Allianzen etwa neu ausgerichtet? Immerhin hat sich sein Kronprinz ja diesen Monstern hinter den Bergen angeschlossen.«

»Und wer weiß schon, wie es um seine Prinzessin bestellt ist.« Marschall Vail wirft mir einen stechenden Blick zu. »Karis Luran ist tot, aber die Soldaten aus Syhl Shallow haben Tausende Menschen abgeschlachtet …«

Empört schnappe ich nach Luft. »Ich habe ganz sicher nicht …«

»Was für ein Spiel spielt Disi da mit uns?«, will eine andere Frau wissen. »Sollt Ihr vielleicht nur den Prinzen ablenken, während Euer Vater seine Armee zur Unterstützung nach Syhl Shallow schickt?«

»So ist das absolut nicht«, versichert Zo mit gepresster Stimme.

»Oder vielleicht wurde Prinzessin Harper ja ganz gezielt aus den Verhandlungen ausgeschlossen«, mutmaßt Marschall Perry.

»Ich wurde nicht aus den Verhandlungen ausgeschlossen«, fauche ich, was aber nur ein spöttisches Hüsteln irgendwo neben mir auslöst, während zwei der Großmarschälle sich vielsagende Blicke zuwerfen. Die Menge drängt sich immer dichter heran, und plötzlich wünsche ich mir, ich könnte nach der Wache rufen. Aber seit ich Grey geholfen habe, wurde mir von Rhens Garde eindeutig vermittelt, wem sie die Treue geschworen haben: ihm und nicht mir.

»Warum seid Ihr eigentlich nicht in Begleitung des Prinzen?«, bohrt Marschall Perry weiter.

»Ich … na ja … er …«

»Mylady.« Prinz Rhen steht so plötzlich hinter mir, dass ich erschrocken zusammenzucke.

Die Gruppe, die sich um mich her­umgedrängt hat, weicht so synchron zurück, als würde sie von unsichtbaren Schnüren gezogen.

»Eure Hoheit«, raunen sie alle. Die Männer verbeugen sich, die Frauen knicksen.

Rhen beachtet sie gar nicht, sieht nur mich an. Mit einem Schritt schiebt er sich neben mich, greift nach meiner Hand und küsst sie. Seine Miene ist unergründlich. »Verzeiht mir«, sagt er förmlich und zieht mich dichter zu sich heran. Diese Wärme in seiner Stimme habe ich schon seit … einer ganzen Weile nicht mehr gehört. »Mir war nicht bewusst, dass ich Euch warten ließ.«

Plötzlich habe ich einen Kloß in der Kehle. »Schon verziehen.«

Ohne meine Hand loszulassen, wendet er sich den Leuten zu. »Der Abend ist noch jung. Vielleicht sollten wir zunächst einmal einfach die angenehme Gesellschaft genießen, bevor wir uns wieder über Politik streiten?« Er deutet mit dem Kopf auf die Dienstboten, die noch immer das Buffet bestücken. »Zumindest sollten wir damit warten, bis das Essen serviert ist. Es wäre wirklich eine Schande, diese Köstlichkeiten dadurch zu verderben. Anscom, dort hinten werden Liköre ausgeschenkt. Ich erinnere mich noch gut dar­an, dass Ihr gerne mal ein Gläschen mit meinem Vater getrunken habt.«

Der Marschall von Silvermoon räuspert sich verlegen. »Äh … ja. Selbstverständlich, Eure Hoheit.«

Rhen entlässt sie alle mit einem Nicken, bevor er sich mir zuwendet. »Sollen wir, Mylady?«

Sollen wir was? Aber er hat mich gerade gerettet, und er führt sich momentan nicht sonderlich arschig auf, also nicke ich. »Ja, natürlich.«

Er bleibt dicht an meiner Seite, als wir mit langsamen Schritten davongehen.

Unsicher schaue ich zu ihm hoch. »Wo gehen wir hin?«

Statt zu antworten, zieht er mich noch enger an sich. Dann beugt er sich vor, sodass seine Lippen meine Schläfe streifen. Das kommt so unerwartet, dass mir das Blut in die Wangen schießt. Ein wohliger Schauer überläuft mich. Ich hatte ganz vergessen, dass er so sein kann. Und zu dem anderen Kleid hat er auch keinen Ton gesagt.

Dann antwortet er doch noch: »Auf die Tanzfläche.«

Fast wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert. »Moment mal. Rhen, ich …«

»Schhh.« Er führt mich auf die spiegelnde Marmorfläche und legt eine Hand an meine Taille.

Wir sind von Dutzenden Leuten umgeben, von denen einige mich soeben als Verräterin beschimpft haben. Ich hatte absolut nicht damit gerechnet, dass sie … so sein würden, und ich würde jetzt ganz sicher nicht vor ihnen her­umtanzen, als wäre mir das alles völlig egal. Andererseits will ich jetzt auch keine Szene machen. Nicht schon wieder.

»Ich hasse es zu tanzen«, flüstere ich deshalb nur.

»Ich weiß.« Rhen steht nun vor mir und greift nach meiner Hand. »Und ich hasse es, ohne jegliche Vorbereitung in politische Ränkespiele verwickelt zu werden. Aber so ist es nun einmal.«

Frustriert presse ich die Lippen zusammen. Aber die Musik ist langsamer geworden, und eigentlich bin ich auf der Tanzfläche auch keine so totale Katastrophe mehr wie früher. Ich lasse ihn führen. »Du bist sauer.«

»Hat es den Anschein?«, fragt er freundlich.

»Mhm.«

»Und dabei dachte ich, ich würde es bemerkenswert gut verbergen.« Er sieht mich durchdringend an. »Liegt es in Eurer Absicht, einen Streit mit mir vom Zaun zu brechen, Mylady?«

Nun bin ich diejenige, die ihn prüfend mustert. Ihn einzuschätzen versucht. Ein Teil von mir freut sich richtig dar­über, dass er wütend ist. Dass ich nicht die Einzige bin, die gegen diesen Groll ankämpfen muss. Und ein anderer Teil von mir ist unglaublich traurig. Am liebsten würde ich ihm eine kleben und dann weinend wegrennen.

»Sollte das der Fall sein«, fährt Rhen fort, »hätte ich es vorgezogen, wenn du damit direkt zu mir gekommen wärst, anstatt es ganz Emberfall unter die Nase zu reiben.«