Trotze der Nacht - Brigid Kemmerer - E-Book
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Trotze der Nacht E-Book

Brigid Kemmerer

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Beschreibung

Das Königreich Kandala wird von einer mysteriösen Krankheit heimgesucht. Der einzige Schutz ist ein Elixier aus Mondflor. Doch die seltene Pflanze ist so teuer, dass sich nur die Reichsten die Medizin leisten können. Deshalb schleicht sich die junge Apothekergehilfin Tessa nachts aus dem Haus und schmuggelt das kostbare Elixier in die Armenviertel – auch wenn es gegen das Gesetz ist. Prinz Corrick ist der Bruder des Königs und der heimliche Herrscher Kandalas. Gnadenlos verfolgt er jeden, der die Privilegien des Adels bedroht. Vor allem die Person, die heimlich die Armen mit Mondflor-Elixier versorgt. Als sich die Rebellin und der Prinz eines Tages begegnen, sprühen sofort die Funken und die einstigen Todfeinde müssen eine Entscheidung treffen: Wollen sie weiter gegeneinander kämpfen oder miteinander für Kandala – und ihre Liebe?

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DASBUCH

Das Königreich Kandala wird von einer mysteriösen Krankheit heimgesucht. Der einzige Schutz ist ein Elixier aus Mondflor. Doch die Pflanze ist sehr selten und so teuer, dass sich nur die Reichsten die Medizin leisten können. Deshalb schleicht sich die junge Apothekergehilfin Tessa nachts aus dem Haus und schmuggelt die kostbare Arznei in die Armenviertel – auch wenn es gegen das Gesetz ist.

Prinz Corrick ist der Bruder des Königs und der heimliche Herrscher Kandalas. Corrick weiß, dass er seine Rolle als gnadenloser Vollstrecker des Königs erfüllen muss, denn von allen Seiten dringt das Wispern von Rebellion an die dicken Palastmauern. Verliert er die Unterstützung des Adels, sind die königlichen Brüder dem Untergang geweiht. Und so verfolgt Corrick jeden, der die Privilegien des Adels bedroht. Vor allem die Person, die heimlich die Armen mit Mondflorelixier versorgt. Als sich die Rebellin und der Prinz eines Tages begegnen, sprühen sofort die Funken und die einstigen Todfeinde müssen eine Entscheidung treffen: Wollen sie weiter gegeneinander kämpfen oder miteinander für Kandala – und ihre Liebe?

DIEAUTORIN

Brigid Kemmerer wurde 1978 geboren und arbeitete im Finanzwesen, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Mit ihren düsteren, magischen Geschichten eroberte sie sich eine riesige Fangemeinde und wird von Millionen von Leser*innen auf TikTok gefeiert. Ihr großes Fantasy-Abenteuer Trotze der Nacht stieg auf Platz 3 der New York Times-Bestsellerliste ein. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Baltimore.

BRIGID KEMMERER

TROTZE DER NACHT

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Vanessa Lamatsch

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe: DEFYTHENIGHT

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe: 08 / 2023

Redaktion: Babette Mock

Copyright © 2021 by Brigid Kemmerer

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung des Originalentwurfs von Sasha Vinogradova

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30427-0V001

www.heyne.de

Für Mrs. Pat Bettridge und Mrs. Nancy Vaughan.

Zwei fantastischen Lehrerinnen, die mir gezeigt haben, wie mächtig das geschriebene Wort sein kann.

Personen

Die politische Führung von Kandala

Name – Amt – Sektor

King Harristan – König – Königlich

Prinz Corrick – Königlicher Vollstrecker – Königlich

Barnard Montague – Konsul – Händlershalt*

(verstorben)

Allisander Sallister – Konsul – Mondscheinebene

Leander Zunft – Konsul – Stahlstadt

Jonas Buching – Konsul – Artis

Lissa Marpetta – Konsulin – Glutkamm

Roydan Pelham – Konsul – die Trauerlande

Arella Kirsch – Konsulin – Sonnenfeste

Jasper Gold – Konsul – Moosquelle

*  manchmal auch Hinterhalt genannt, nachdem der frühere König und seine Königin von Konsul Montague ermordet wurden. Dadurch kamen Harristan und sein jüngerer Bruder Corrick an die Macht.

Die Rebellen

Tessa Cade – Pharmazeutin

Weston Lark – Stahlarbeiter

Lochlan – Rebell

Die Wohltäter – unbekannt

Das Heilmittel

Das einzig bekannte Heilmittel für das Fieber ist ein Elixier aus getrockneten Blütenblättern des Mondflors, einer Pflanze, die nur in zwei Sektoren heimisch ist: in der Mondscheinebene und in Glutkamm. Mondflorblütenblätter werden streng rationiert an die Sektoren verteilt, und die zur Verfügung stehende Menge ist begrenzt.

Vermögende können sich ihren eigenen Vorrat kaufen.

Arme können das nicht.

1  Tessa

Das Schwerste an meiner Aufgabe ist nicht das Stehlen – sondern das Entkommen. Im besten Falle kostet es mich zwei Minuten, über die Mauer zu klettern und aus dem königlichen Sektor zu verschwinden, aber die Nacht ist kalt und meine Finger werden langsam taub. Die Lichtkegel von Suchscheinwerfern gleiten in unregelmäßigen Abständen über die Wände, das erste Sonnenlicht wird den Himmel erst in einer Stunde erhellen. Ich halte die alte Apothekertasche meines Vaters fest unter dem Arm, verberge mich in der Dunkelheit, warte auf eine Gelegenheit.

In mehreren Sektoren sind die wohlhabenderen Viertel mit Elektrizität ausgestattet – zumindest habe ich das gehört –, aber die Scheinwerfer hier leuchten heller als jede Kerze. Sogar heller als die großen Scheiterhaufen, auf denen die Städte ihre Fiebertoten verbrennen. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, habe ich sie angestarrt wie eine Närrin … bis mir klar wurde, dass diese Lichter gefährlich sind. Ich habe Tage damit verbracht, ein Muster zu erkennen. Irgendwann habe ich es Weston gegenüber einmal erwähnt. Er hat nur geschnaubt und gemeint, es gäbe kein Muster, sondern nur gelangweilte Männer, die eine Lampe an einem Pfahl drehen.

In der letzten Stunde haben sie die Lichter recht ausdauernd geschwenkt.

Ich bewege nervös die Finger und veranschlage für das Klettern über die Mauer zur Sicherheit drei Minuten – dann kaue ich nachdenklich auf der Unterlippe. Diesen Mauerabschnitt trifft der Lichtstrahl spätestens alle zwei Minuten.

Wes wartet wahrscheinlich bereits in der Werkstatt auf mich. Er kann die hohe Steinmauer in einer halben Minute überwinden. Dank seiner Körpergröße kann er hochspringen, mit seinem Enterhaken die hohen Spieße darauf erreichen und dann quasi an der Wand nach oben laufen, um auf die andere Seite zu springen. Ich wäre eifersüchtig, wäre es nicht so faszinierend zu beobachten.

Nicht, dass ich ihm das jemals erzählen würde. Das würde er mich nie vergessen lassen.

Faszinierend, Tessa? Es ist nur eine Mauer. So was hier ist viel anstrengender. Und dann würde er auf einen Baum klettern oder in einem Salto vom Werkstattdach springen oder auf den Händen laufen.

Und dann müsste ich ihn schlagen, weil das immer noch besser wäre, als zuzulassen, dass er die Röte bemerkt, die unter meiner Maske aufsteigt. Denn all das fasziniert mich ebenfalls.

Ich muss aufhören, an Wes zu denken. Die Suchscheinwerfer müssen aufhören, sich zu bewegen. Ich muss meine Runden drehen, oder wir werden wertvolle Zeit verlieren. Manchen Leuten bleiben keine Tage mehr. Ein paar von ihnen bleiben wahrscheinlich nicht mal mehr Stunden.

Aber zuerst muss ich hier verschwinden. Wenn ich mit einer Tasche voller Mondflorblüten erwischt werde, werden mich König Harristan und sein Bruder, Prinz Corrick, auf dem Rasen der Palastgärten festbinden lassen, damit die Vögel meinen Körper zerpicken.

Plötzlich stoppt der Lichtkegel an der Ecke, an der die Mauer wegen eines Abhangs im Schatten liegt. Der beliebteste Fluchtpunkt für Amateure.

Diese Gelegenheit darf ich mir nicht entgehen lassen. Ich springe aus meinem Versteck wie ein aufgeschrecktes Kaninchen und schwinge gleichzeitig meinen Enterhaken. Ich kann ihn nicht zu den Zacken hochwerfen, wie Wes es kann, aber ich kann die Vorsprünge in der Mitte erreichen. Der Haken schießt an der Wand nach oben und ich springe schon, bevor sich das Seil spannt. Meine Stiefel kratzen beim Klettern über das Gestein und gleiten kurz ab. Ich erreiche den winzigen Vorsprung. Er ist gerade breit genug, um mich darauf zu halten, während ich den Haken löse und weiter nach oben werfe. Er trifft einen der Spieße, und schon klettere ich weiter.

Das Licht setzt sich wieder in Bewegung.

Ich schnappe nach Luft und treibe mich zu Höchstleistungen an. Die Tasche schlägt gegen meine Rippen, als meine Füße für einen Moment den Halt verlieren. Meine Hände am Seil brennen. Das Licht kommt näher, wird immer heller.

Dann habe ich den höchsten Punkt erreicht, lasse mich auf der anderen Seite fallen, benutze das Seil nur zum Bremsen. Schwer wie ein Hafersack lande ich auf dem Boden. Ich schüttle das Seil und der Haken landet mit einem leisen Klirren neben mir. Erde und Zweige hängen im groben Wollstoff meines Rocks, aber ich wage nicht, mich zu bewegen. Das Blut rauscht mir in den Ohren, als ich mit angehaltenem Atem darauf warte, dass die Wachposten Alarm schlagen.

Aber nein. Das Licht gleitet an mir vorüber und folgt seinem Pfad.

Ich schlucke schwer und wickle das Seil am Haken auf. Der Halbmond steht noch hoch am Himmel, doch am Horizont ist der erste Streifen Rot erkennbar, um mich daran zu erinnern, dass ich zu lange gezögert habe; dass die Zeit knapp wird. Ich gleite mit routinierter Leichtigkeit durch den Wald, meine Schritte lautlos auf dem Bett aus Kiefernnadeln. Gewöhnlich rieche ich jetzt bereits den Rauch des Holzofens, weil Wes immer schneller ist als ich. Wir haben ein System: Er setzt den Kessel auf und zerstößt die Blütenblätter, damit wir das Elixier anfertigen können, während ich das Pulver abwiege und dosiere. Dann füllt er die fertige Flüssigkeit in Phiolen, ich packe sie in unsere Taschen, und gemeinsam drehen wir unsere Runde.

Aber heute gibt es keinen Rauch.

Ich erreiche die Werkstatt, aber Weston ist nirgendwo zu entdecken.

Ich denke zurück an den verweilenden Lichtstrahl an der Mauer. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

Wes ist nicht dumm. Er hätte es nicht an dieser Ecke versucht. Und außerdem habe ich keine Alarmglocken gehört.

Aber er ist immer noch nicht da … und ich bin schon spät dran.

Ich entzünde das Feuer und versuche, mir keine Sorgen zu machen. Ich höre seine Stimme, die mich ermahnt, ruhig zu bleiben. Tief durchatmen, Tessa. Das waren die ersten Worte, die er mir gesagt hat … in der Nacht, in der er mein Leben gerettet hat. Seitdem hat er sie mindestens ein Dutzend Mal wiederholt.

Es geht ihm gut. Es muss ihm gut gehen. Manchmal können wir uns gar nicht treffen. Wir warten eine Viertelstunde in der Werkstatt, bevor wir allein losziehen. Manchmal behält Mistress Solomon mich länger im Laden, um die Mischungen aus Kräutern abzumessen und zu brauen, die sie ihren Kunden als wirksame Heilmittel verkauft – auch wenn sie diese Erwartung selten erfüllen. Manchmal braucht Westons Meister ihn früher in der Schmiede, weil irgendein anspruchsvoller Mann aus der Elite ein neues Schwert braucht oder weil ein Pferd ein Hufeisen verloren hat. Das ist schon öfter vorgekommen.

Aber Wes war vorhin bereits hier. Und er kehrt immer als Erster zurück.

Die Werkstatt ist winzig, sodass sich die Wärme des Feuers schnell ausbreitet. Hier draußen gibt es keinen Strom, daher liegt der Innenraum im Halbdunkel. Aber ich brauche kein Licht für das, was ich tue. Ich beschäftige mich, um mich von meinen Sorgen abzulenken – zerstoße die Blütenblätter zu Pulver und achte darauf, noch den letzten Krümel auf meine Waagschale zu kratzen. Selbst getrocknet verströmen die Blütenblätter ihren Duft. Die Elite zahlt gut für jeden Bruchteil einer Unze, aber dann verschwenden sie Ressourcen, indem sie das Elixier dreimal täglich trinken – selbst diejenigen, die keine Symptome der Krankheit zeigen. Vorbeugende Maßnahmen, so nennt es der König. Einmal am Tag reicht gewöhnlich vollkommen aus, das kann ich mit meinen Notizen beweisen. Selbst Wes hat zu Beginn zu viel verwendet, bis ich ihm gezeigt habe, dass wir mit weniger viel mehr Leuten helfen können. Mein Vater hätte es Verschwendung genannt. Eine Verschwendung von wertvoller Medizin, während diejenigen sterben, die es sich nicht leisten können.

Andererseits wurde mein Vater wegen Verrats und Schmuggelei getötet, also spare ich es mir, die Dinge beim Wort zu nennen. Ich tue einfach nur, was ich kann.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Das Rot am Horizont geht langsam in Rosa über.

Ich schaue zur Tür, als könnte ich Wes damit beschwören.

Doch er taucht nicht auf. Der Kessel pfeift. Ich fülle das Wasser in die winzigen Messbecher und füge jedem eine halbe Unze zerstoßene Blütenblätter hinzu, anschließend zwei Tropfen Rosensamenöl gegen den Husten. Ich messe das Öl fast genauso sorgfältig ab wie die Mondflorblätter selbst. Ich versuche, nicht zu stehlen, was ich auch auf ehrlichem Wege erwerben kann – aber Rosensamen kosten mich fast einen Wochenlohn, also erlaube ich nicht einmal Wes, das Öl abzumessen.

Sobald sich die Blütenblätter und das Öl aufgelöst haben, wiege ich ein wenig Gelbwurz ab. Mit diesem Zusatz gelingt es oft, das Fieber ausreichend zu senken, sodass das Heilmittel besser wirkt, aber ich muss zusätzlich einen Zweig Minze und ein wenig Zucker hinzufügen. Erwachsene schlucken die Tinktur normalerweise fraglos, aber wir können nicht riskieren, dass Kinder sie ausspucken.

Im königlichen Sektor erklingen Glocken und Rufe. Ich zucke so heftig zusammen, dass ich einen Messbecher umstoße. Sie haben jemanden erwischt.

Wes.

Ich sollte loslaufen und schauen. Nein, ich sollte wegrennen und mich verstecken.

Meine Muskeln verweigern mir den Dienst.

Immer mit der Ruhe, Tessa.

Ich muss mich bewegen. Ich muss das Elixier fertigstellen. Wenn Mondflor mit den anderen Zutaten vermischt ist, wirkt das Elixier besser – aber nur für ein paar Stunden. Ich muss unsere Runde drehen, notfalls allein.

Ich höre immer noch Alarmglocken und Schreie in der Ferne. Sie werden noch den halben Sektor aufwecken. Ich atme flach und stoßweise. Stelle mir vor, wie Prinz Corrick gerufen wird, um sich um den Verräter zu kümmern. Die Wachleute gehen hart vor. Westons Lächeln wird einer schmerzerfüllten Grimasse weichen. Sie werden ihn mit winzigen Messern in Stücke schneiden. Werden seinen Mund mit glühenden Kohlen füllen. Ihn lebendig an die königlichen Löwen verfüttern. Sie werden ihm Arme und Beine verbrennen, nacheinander, bis er vor Schmerzen das Bewusstsein …

»Himmel, Tessa. Du brauchst mich gar nicht mehr.«

Ich kreische auf und stoße aus Versehen einen weiteren Becher um. Wes steht im Türrahmen. Seine Augen leuchten hell hinter der Maske, als er mich anlächelt.

Weston sieht das Chaos, das ich angerichtet habe, und verdreht die Augen. »Oder vielleicht doch.« Er tritt vor und richtet den Becher wieder auf. »War da schon Puder drin?«

Ich weiß nicht, ob ich ihn umarmen oder schlagen will. Vielleicht beides. »Du bist spät dran. Ich habe den Alarm gehört. Ich dachte … ich dachte, sie hätten dich erwischt.«

»Nicht heute.« Er zieht einen Beutel voller Blütenblätter aus seiner Tasche, dann drei Äpfel und einen gezuckerten Teigzopf, noch warm vom Ofen. »Hier. Der Bäcker war damit beschäftigt, an der Hintertür seine Tochter auszuschimpfen, also habe ich dir etwas zu essen gestohlen.«

Er war spät dran, weil er mir Frühstück mitgebracht hat. Und nicht einfach irgendein Frühstück. Essen aus dem königlichen Sektor dürfte so ziemlich das Leckerste sein, was es gibt. Sie füllen dort die Äpfel mit Honig. Und der Teig wird mit echter Butter angefertigt und mit Sahne und Zucker gewürzt.

Ich öffne den Mund. Schließe ihn wieder. Wende mich stirnrunzelnd ab. Jetzt ist meine Kehle aus einem ganz anderen Grund wie zugeschnürt. »Das ist wirklich nett von dir, Weston.«

»›Das ist wirklich nett von dir‹?«, spottet er. »Du bist heute Morgen sehr sittsam.«

»Ich muss die Elixiere fertig machen.«

»Ich mache das. Iss etwas.«

»In einer Minute.« Auf der anderen Seite der Mauer sind weiter Glocken zu hören, aber jetzt kann ich das Geräusch ignorieren. Wahrscheinlich ein weiterer Schmuggler. Wahrscheinlich hängt sein Körper morgen neben dem Tor … sobald der König und sein Bruder mit ihm fertig sind.

»Schön.« Weston nimmt einen Apfel, lässt sich in den einzigen Stuhl fallen und stemmt die Füße gegen den Arbeitstisch. Über seiner Maske trägt er einen schwarzen Hut mit breiter Krempe, die seine Augen halb verdeckt. Aber jetzt, hier in der Werkstatt, schiebt er den Hut nach hinten. Ich habe ihn bisher nur bei Feuerschein gesehen, also weiß ich nicht genau, welche Farbe sein Haar hat. Aber gewöhnlich braucht er um diese Uhrzeit eine Rasur … und der Bartschatten leuchtet im Kerzenlicht rötlich braun, passend zu den Sommersprossen, die hinter seiner Maske hervorspähen. Die Haut um seine Augen ist mit Kohle oder Ruß bedeckt, sodass sie im hellsten Blau leuchten, das ich je gesehen habe. Meine eigenen Augen sind grün, mein braunes Haar in einem straffen Zopf gebunden unter der Kappe verborgen. Wes erklärt immer wieder, dass ich mit meiner Maske und der schwarzen Jacke wirke wie eine Katze. Einmal habe ich ihm in einem Anfall von Übermut erklärt, er solle mich ohne die Verkleidung sehen, um zu wissen, wie eine anständige junge Frau aussieht, aber da wurde er sofort ernst.

»Niemals«, hat er gesagt. »Das ist zu gefährlich. Wenn wir wissen, wie der andere aussieht, kann man diese Information aus uns herausfoltern. Das will ich dir nicht antun.« Er hielt inne. »Und ich will auf keinen Fall, dass du es mir antust.«

Da wurde mir zum ersten Mal klar, dass Weston Lark wahrscheinlich nicht sein richtiger Name ist. Er vermutet wahrscheinlich, dass auch Tessa Cade ein Alias ist … aber es ist mein richtiger Name. Als wir uns vor zwei Jahren getroffen haben, waren meine Eltern gerade direkt vor meinen Augen getötet worden und ich war zu tief in meiner Trauer versunken, um mir einen falschen Namen auszudenken.

»Du bist still«, sagt Wes. Er kaut so lautstark seinen Apfel, dass ich ihm die Frucht aus der Hand schlagen will. »Was ist los?«

»Nichts.« Ich fülle das Elixier, das ich bereits angefertigt habe, in Phiolen – gewöhnlich ist das seine Aufgabe – und gieße neues Wasser in die Messbecher, um von vorne zu beginnen.

Ich höre, wie er sich hinter mir aus dem Stuhl erhebt. Er tritt nah genug an mich heran, dass ich seinen Duft wahrnehmen kann – Wald und Zimt aus der Bäckerei, mit etwas Schwererem darunter, das nur Wes gehört. »Tessa.«

Ich ramme ihm den Ellbogen in den Bauch und nehme befriedigt sein Grunzen zur Kenntnis.

»Wofür war das?«, will er wissen.

»Du hast mir Sorgen bereitet.«

»Aber ich habe dir Frühstück mitgebracht«, erklingt seine volltönende Stimme hinter mir.

Ich ignoriere ihn.

Er beugt sich vor, bis sein Atem über den dünnen Streifen Haut zwischen meinem Haaransatz und dem hohen Kragen meiner Jacke gleitet. Gleichzeitig erscheint der zweite Apfel vor meinen Augen, den er mir mit langen Fingern entgegenhält. »Es ist ein wirklich gutes Frühstück«, zieht er mich auf.

Ich nehme den Apfel, dessen Schale mit Zucker bestäubt ist. Er liegt warm in meiner Hand, und ich frage mich, ob der Honig darin auch warm ist.

Fast gegen meinen Willen beiße ich in die Frucht. Der Honig ist warm. »Ich hasse dich«, verkünde ich mit vollem Mund.

»Das dürfte das Beste sein.« Er schiebt seinen Hut noch weiter nach hinten und grinst. »Und beeil dich mit dem Essen«, meint er. »Wir müssen unsere Runde drehen.«

2  Corrick

Ich lausche seit Stunden auf die Atemzüge meines Bruders. Jedes Mal, wenn er einatmet, ist da ein neues Geräusch, ein leises Flattern seiner Lunge. In der Wildnis nennt man es das Todesröcheln … weil es bedeutet, dass das Ende nahe ist.

Hier in seinen Gemächern will ich das Wort Tod nicht aussprechen. Ich will es nicht mal denken.

Er hat kein Fieber. Es gibt keinen Grund zur Sorge.

Es gelingt mir nicht einmal, mich selbst zu überzeugen.

Sonnenlicht strahlt durch das offene Fenster und die Vögel zwitschern in den Bäumen. Harristan sollte nicht so lange schlafen, aber ich will ihn auch nicht wecken. Für alle außerhalb dieses Zimmers beschäftigen wir uns schon den gesamten Vormittag mit Papierkram. Ich habe zweimal Essen liefern lassen, genug, um ein Dutzend Leute zu verpflegen, aber das meiste steht unberührt herum. Die ersten Fliegen haben sich auf dem aufgeschnittenen Obst niedergelassen und Wespen summen über den süßen Pasteten.

Harristan hustet leicht, dann beruhigt sich seine Atmung. Vielleicht spürt er einfach einen Hustenreiz. Mir wird leichter ums Herz. Aber als ich mir den Nacken reibe, stelle ich fest, dass er feucht ist.

Eine leise Brise wirbelt meine Papiere auf, beharrlich genug, dass ich einen Großteil davon unter eine Lampe klemme, bevor sie sich über dem Tisch verteilen können. Einer von uns muss arbeiten. Ich habe ein Finanzierungsgesuch einer der östlichen Städte bearbeitet, habe Notizen am Rand gemacht, auf der Suche nach Auslassungen und Ungenauigkeiten in den Berechnungen der Kosten für eine neue Brücke. Ich hatte erwartet, nur ein paar Seiten weit zu kommen, bevor Harristan aufwacht, aber inzwischen habe ich den gesamten Bericht durchgeackert. Es muss fast Mittag sein.

Ich ziehe meine Taschenuhr heraus und mustere die glitzernden Diamanten auf dem Ziffernblatt. Es ist Mittag. Wenn er nicht zu dem Treffen mit den Konsuln der Sektoren erscheint, wird es Gerede geben. Das lässt sich niemals vollständig verhindern.

Als hätten meine Gedanken ihn geweckt, rührt sich mein Bruder und blinzelt ins Sonnenlicht. Stirnrunzelnd setzt er sich auf, sein Oberkörper nackt, dann reibt er sich das Gesicht. »Es ist schon spät. Wieso hast du mich nicht geweckt?«

Ich lausche intensiv, aber ich höre keinen rauen Unterton in seiner Stimme. Er atmet normal. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. »Das wollte ich gerade tun.« Ich gehe zum Sideboard und hebe die Kanne. »Der Tee ist kalt geworden.« Ich gieße ihm trotzdem eine Tasse ein und bringe sie ihm, zusammen mit einer verkorkten Phiole Mondflorelixier, deren Inhalt dunkler ist als gewöhnlich. Der Pharmazeut des Palastes hat seine Dosis letzte Woche verdoppelt, als der Husten wiedergekommen ist. Vielleicht beginnt die Medizin zu wirken.

Harristan öffnet das Röhrchen, trinkt den Inhalt und verzieht das Gesicht.

»Wird schon«, sage ich ohne jedes Mitgefühl.

Er grinst. Das tut er nur, wenn wir allein sind. Außerhalb dieser Räumlichkeiten lächelt keiner von uns oft. »Was hast du den gesamten Vormittag getrieben?«

»Ich habe das Gesuch aus Artis bearbeitet. Und eine Ablehnung formuliert, die du unterschreiben musst.«

Sofort wird er ernst. »Eine Ablehnung?«

»Sie verlangen das Doppelte von dem, was eine neue Brücke kosten sollte. Sie haben sich geschickt angestellt, aber irgendwer ist gierig geworden.«

»Du brauchst mich kaum noch.«

Unbeschwerte Worte, die mich trotzdem treffen wie ein Pfeil. Kandala braucht seinen König. Ich brauche meinen Bruder.

Ich verdränge meine Sorgen und verschränke die Arme. »Du musst dich anziehen – und rasieren. Ich werde nach Geoffrey schicken. Ich habe behauptet, du wärst vorhin zu beschäftigt gewesen. Quint hat zweimal um eine Audienz gebeten, aber er wird bis nach dem Abendessen warten müssen, außer …«

»Cory«, sagt er sanft, und ich erstarre. Er nennt mich nur Cory, wenn wir allein sind – eine der wenigen Erinnerungen an unsere Kindheit, die uns geblieben ist. Ein Spitzname aus der Zeit, als ich ihm – klein und eifrig – überallhin gefolgt bin. Ein Name, den meine Mutter oft mit sanfter Zuneigung oder mein Vater in aufmunterndem Ton ausgesprochen hat – damals, als wir noch glaubten, unsere Familie wäre allgemein beliebt. Damals, als noch niemand von dem Fieber wusste oder der Mondflorblüte. Als niemand ahnte, dass sich unser Königreich auf ungeahnte Weise verändern würde.

Damals, als alle noch damit rechneten, dass Harristan den Thron erst in Jahrzehnten besteigen würde; dass er mit freundlicher Bestimmtheit und nachdenklicher Fürsorge regieren würde, so wie unsere Eltern es getan haben.

Aber vor vier Jahren wurden unsere Eltern direkt vor unseren Augen ermordet. Ihnen wurde im Thronsaal in die Kehle geschossen. Die Pfeile hatten sie aufrecht auf den Stühlen festgehalten, während ihre Köpfe sich seitlich neigten. Ihre Augen weit aufgerissen und glasig, als sie an ihrem eigenen Blut erstickten. Manchmal verfolgt dieser Anblick mich in meine Träume.

Harristan war neunzehn Jahre alt. Ich fünfzehn. Ein Pfeil hatte ihn in die Schulter getroffen, als er sich schützend über mich warf.

Eigentlich hätte es andersrum sein müssen.

Ich starre in seine blauen Augen und suche nach jeglichem Hinweis auf die Krankheit. Doch da ist nichts. »Was?«

»Die Medizin wirkt wieder«, sagt er leise. »Du musst nicht Krankenschwester spielen.«

Ich lächle schief. »Der grausame Cory spielt Krankenschwester? Niemals.«

Er verdreht die Augen. »Niemand nennt dich grausam.«

»Zumindest nicht, wenn ich sie hören kann.« Nein, wenn sie mir gegenüberstehen, bin ich Eure Hoheit, oder Prinz Corrick oder manchmal, wenn mein Gegenüber besonders förmlich sein möchte, der Königliche Vollstrecker.

Hinter meinem Rücken werde ich mit schlimmeren Namen bedacht. Viel schlimmeren. Und dasselbe gilt für Harristan.

Das macht uns nichts aus. Unsere Eltern wurden geliebt – und waren im Gegenzug immer freundlich. Das hat zu Verrat und Mord geführt.

Furcht leistet uns bessere Dienste.

Ich gehe zum Schrank und ziehe ein Spitzenhemd heraus, das ich meinem Bruder an den Kopf werfe. »Du willst keine Krankenschwester? Dann hör auf, faul im Bett zu liegen. Du hast ein Königreich zu regieren.«

Das Mittagsmahl ist bereits auf der langen Kommode angerichtet, als wir den Raum betreten. Gebratener Fasan, gewürzt mit Honig und Beeren, in einem Bett aus Grünzeug und Wurzelgemüse. Am Rand der Servierplatte sind kunstvoll ein paar Federn drapiert, gehalten von Tropfen aus kristallisiertem Honig. Die Bediensteten stehen an der Wand aufgereiht, bereit, zu servieren, aber die acht anderen königlichen Konsuln stehen in angeregtem Gespräch am Fenster. Ich bin der neunte Konsul, doch ich habe keinerlei Interesse an einem angeregten Gespräch.

Früher gab es einmal zehn Konsuln, aber Konsul Barnard war Anführer der Verschwörung gegen meine Eltern. Er hätte auch uns getötet. Nachdem Harristan mein Leben gerettet hatte, habe ich gesehen, wie Barnard sich mit einem Dolch auf ihn gestürzt hat.

Mein Bruder lag auf mir, und ich hörte seine schmerzerfüllten, panischen Atemzüge neben meinem Ohr. Ich habe diesen Pfeil aus Harristans Schulter gezogen und ihn Barnard in den Hals gerammt.

Ich blinzele gegen die Erinnerung an. Die Konsuln verstummen, als wir den Raum betreten. Sie verbeugen sich kurz vor meinem Bruder, dann gehen sie zu ihren Stühlen, auch wenn niemand sich setzen wird, bevor Harristan sitzt. Und niemand wird etwas essen, bevor wir nicht beide einen Bissen genommen haben.

Der Tisch ist an einem Ende rechteckig, verengt sich aber am anderen Ende, wie eine Pfeilspitze. Harristan lässt sich auf den Stuhl am Kopfende des Tisches sinken, und ich nehme meinen Platz zu seiner Rechten ein. Die acht Konsuln setzen sich ebenfalls. Ein Stuhl bleibt leer. Es ist der Platz direkt neben meinem, wo Konsul Barnard früher gesessen hat. Der Sektor Händlershalt hat bisher keinen neuen Konsul … und Harristan hat es auch nicht eilig damit, einen zu ernennen. Die Leute nennen den Sektor, nach dem, was Barnard getan hat, oft Hinterhalt, auch wenn niemand dieses Wort vor uns ausspricht. Niemand will dem König oder seinem Bruder in Erinnerung rufen, was geschehen ist.

Sie respektieren meinen Bruder – wie es sein sollte.

Mich dagegen fürchten sie.

Und es macht mir nichts aus. Das erspart mir eine Menge nervtötende Unterhaltungen.

Wir kennen jeden in diesem Raum schon seit unserer Geburt, doch wir haben bereits vor langer Zeit jede aus vertrauter Bekanntschaft erwachsene Freundlichkeit hinter uns gelassen. Wir haben gesehen, welches Schicksal Vertrauen und Selbstzufriedenheit unseren Eltern eingebracht haben und wissen genau, was solches Verhalten uns bescheren könnte. Harristan hat sein erstes Treffen in diesem Raum mit neunzehn Jahren geführt, eine blutbesudelte Kompresse an seiner Schulter. Wir waren beide wie betäubt von Trauer und Schmerz, doch ich bin ihm gefolgt, um meinen Platz hinter seinem Stuhl einzunehmen. Ich erinnere mich daran, dass ich damals nach dem Tod unserer Eltern Mitgefühl und Verständnis von den Konsuln erwartet hatte. Ich erinnere mich, dass ich gedacht habe, wir würden alle gemeinsam trauern.

Aber wir hatten uns kaum eine Minute im Sitzungssaal aufgehalten, als Konsul Theadosia bereits einen bissigen Kommentar darüber abgab, dass ein Kind keinen Platz in einem Treffen des königlichen Rats hätte. Ihre Worte bezogen sich auf mich – aber ihr Tonfall implizierte, dass sie auch über Harristan sprach.

»Dieses Kind«, sagte Harristan, »ist mein Bruder, Euer Prinz.« Seine Stimme grollte wie Donner. Ich hatte meinen Bruder noch nie so gehört. Das verlieh mir die Stärke, stehen zu bleiben, obwohl ich mich am liebsten unter dem Bett versteckt und vorgegeben hätte, meine Welt wäre nicht auf den Kopf gestellt worden.

»Corrick hat mir das Leben gerettet«, sagte Harristan. »Das Leben Eures neuen Königs. Er hat seine Gesundheit riskiert, als keiner von Euch dazu bereit war. Euch eingeschlossen, Theadosia. Ich habe ihn zum Königlichen Vollstrecker ernannt, und er wird an Sitzungen teilnehmen, wie es ihm beliebt.«

Ich erstarrte bei diesen Worten. Königlicher Vollstrecker zu sein hieß, der wichtigste Berater des Königs zu sein. Es war die höchste Position nach dem König. Unser Vater hatte einmal gesagt, dass ihm die Gunst des Volkes nur deswegen sicher war, weil der Königliche Vollstrecker alle … unangenehmen Aufgaben übernahm.

Ein anderer Konsul zu dieser Zeit, ein Mann namens Talec, hatte sein Lachen mehr schlecht als recht als Husten getarnt, bevor er sagte: »Corrick soll Königlicher Vollstrecker sein? Mit fünfzehn?«

»Habe ich mich unklar ausgedrückt?«

»Welche gerechten Strafen will er anordnen? Kein Abendessen? Keine Spielstunde für die Verbrecher von Kandala?«

»Wir müssen stark sein«, hatte Theadosia voller Verachtung verkündet. »Ihr entehrt Eure Eltern. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die Herrscher von Kandala dem Spott preiszugeben.«

Ihr entehrt Eure Eltern. Diese Worte ließen mich innerlich gefrieren. Unsere Eltern wurden getötet, weil sich in den Reihen des königlichen Rats ein Verräter verborgen hatte.

»Er wirkt, als wolle er gleich weinen«, sagte Talec, »und Ihr erwartet, Euren Thron mit ihm an Eurer Seite zu halten?«

Ich wollte weinen. Aber nach diesen Aussagen wagte ich nicht, auch nur einen Anflug von Schwäche zu zeigen. Meine Eltern waren von jemandem getötet worden, dem sie vertraut hatten. Wir durften nicht zulassen, dass uns dasselbe zustieß.

»Kein Abendessen und keine Spielstunde«, sagte ich. Und weil Harristan so unbeugsam geklungen hatte, sprach auch ich mit harter Stimme, auch wenn ich mich dabei fühlte, als würde ich eine Rolle spielen, die ich nie geübt hatte. »Ihr werdet dreißig Tage auf den Erntefeldern verbringen. Und ihr werdet von mittags bis zum nächsten Morgen fasten.«

Für einen Moment herrschte Schweigen, dann sprangen Theadosia und Talec auf. »Das ist lächerlich!«, riefen sie. »Ihr könnt uns nicht verurteilen, mit den Bauern auf den Feldern zu arbeiten.«

»Ihr habt um eine Demonstration meiner Rechtsprechung gebeten«, sagte ich. »Und achtet darauf, zügig zu arbeiten. Ich habe gehört, die Vorarbeiter tragen Peitschen.«

Talecs Augen brannten förmlich. »Ihr seid beide Kinder. Ihr werdet den Thron niemals halten.«

»Wachen«, hatte ich ausdruckslos gesagt.

Ich erinnere mich an die Sorge, dass die Wachen nicht gehorchen würden; dass der Rat uns beide stürzen würde. Dass wir unsere Eltern tatsächlich entehren würden. Nach Barnards Tat schien jeder geheime Motive zu verfolgen, die auf unseren Tod ausgerichtet waren.

Doch dann traten die Wachen vor und packten Talec und Theadosia. Die Türen schlossen sich hinter ihnen und der Raum blieb in absoluter Stille zurück. Die Augen aller waren weit aufgerissen und unverwandt auf meinen Bruder gerichtet.

Harristan deutete auf den Platz zu seiner Rechten – den Platz, auf dem gerade noch Talec gesessen hatte. »Prinz Corrick. Nehmt Platz.«

Das tat ich. Und niemand wagte, ein Wort zu sagen.

Heute sind wir später dran als gewöhnlich. Das Essen ist wahrscheinlich schon kalt, aber Harristan hat es nicht eilig. Als mein Vater die Sitzungen leitete, herrschte eine jovial freundschaftliche Atmosphäre, doch unter Harristans Herrschaft gibt es so etwas nicht.

Er wirft mir einen Blick zu. »Hast du die Antwort für Artis?«

Ich lege einen ledergebundenen Folianten vor ihn, zusammen mit einem Füller. Er gibt vor, das Dokument zu studieren, auch wenn er wahrscheinlich seinen eigenen Hinrichtungsbefehl unterschreiben würde, wenn ich ihm das Dokument vorlege. Harristan besitzt nur wenig Geduld für lange, umständliche Dokumente. Ihm geht es um eindrucksvolle Pläne und das große Ganze. Ich bin derjenige, der sich in Details vergräbt.

Er unterzeichnet mit Schwung, legt den Füller zur Seite und schiebt die Lederhülle zu Jonas Buching, einem älteren Mann, der fast genauso breit wie hoch ist. Ich wette, er giert nach dem angerichteten Essen, aber zuerst öffnet er eifrig den Einband. Er rechnet mit einer Zustimmung, das sehe ich genau. Er sabbert förmlich bei der Vorstellung, Kisten voller Gold zurück nach Artis zu karren.

Er zieht ein langes Gesicht, als er die Ablehnung liest, die ich formuliert habe. »Eure Majestät«, sagt er vorsichtig. »Diese Brücke würde die Reisezeit von Artis in den königlichen Sektor um drei Tage verkürzen.«

»Aber sie sollte auch nur die Hälfte kosten«, gebe ich zurück.

»Aber … aber meine Ingenieure haben Monate an diesem Antrag gearbeitet.« Er sieht sich am Tisch um, bevor er den Blick wieder auf uns richtet. »Sicherlich könnt Ihr ihn nicht innerhalb eines Tages abschätzen …«

»Eure Ingenieure haben sich geirrt«, antworte ich.

»Vielleicht können wir einen Kompromiss aushandeln. Es muss … einen Fehler in den Kalkulationen geben …«

»Wollt Ihr einen Kompromiss aushandeln, oder vermutet Ihr einen Fehler in den Berechnungen?«, fragt Harristan.

»Ich …« Jonas starrt ihn mit offenem Mund an. Er zögert, dann sagt er mit rauer Stimme: »Beides, Eure Majestät.« Er hält inne. »Artis hat viele Menschen an das Fieber verloren.«

Bei diesen Worten will ich Harristan ansehen. Ich will mich versichern, dass es ihm gut geht und dieses Rasseln heute Morgen wirklich nur meiner Einbildung entsprungen ist.

Doch ich bleibe stark und halte die Augen auf Jonas gerichtet. »Artis erhält eine Ration von Mondflorblütenblättern, wie jeder andere Sektor auch. Wenn Eure Leute mehr brauchen, dann werden sie sie wie alle anderen kaufen müssen.«

»Ich weiß. Ich weiß.« Jonas räuspert sich. »Es scheint, als würde das warme Wetter eine Ausbreitung der Krankheit unter den Dockarbeitern begünstigen. Wir haben Schwierigkeiten, die Schiffe zu beladen und Matrosen zu finden. Diese Brücke würde unsere Abhängigkeit von den Wasserstraßen reduzieren und uns erlauben, den Handel wieder zu intensivieren.«

»Dann hättet Ihr um eine angemessene Menge Gold bitten müssen«, sage ich.

»Artis kann ohne gesunde Arbeiter keine Brücke bauen«, wirft Arella Kirsch ein, die am anderen Ende des Tisches sitzt. Sie hat den Posten von ihrem Vater übernommen, als er sich vor einem Jahr zur Ruhe gesetzt hat. Sie stammt aus Sonnenfeste, dem Sektor weit im Süden. Dieser Sektor grenzt im Westen an den Fluss Loder und im Süden und Osten ans Meer. Ihre Leute leiden am wenigstens unter dem Fieber. Man vermutet, dass die feuchte Hitze in Sonnenfeste sie schützt – aber gleichzeitig ist es dort so unerträglich schwül, dass Sonnenfeste von allen Sektoren die niedrigste Bevölkerung aufweist. Arella spricht mit sanfter Stimme, hat rostbraune Haut und trägt ihr hüftlanges Haar in einem aufgesteckten Zopf am Hinterkopf. »Medizinkosten sollten in Hinsicht auf den Antrag bedacht werden.«

»Jede Stadt braucht gesunde Arbeiter für alle Projekte«, entgegnet Harristan. »Was der Grund ist, warum jede Stadt eine Ration Heilmittel für seine Bevölkerung erhält. Ihr ebenfalls, Arella.«

»Ja, Eure Majestät«, sagt sie. »Und daher geht es meinen Leuten gut.« Sie hält inne. »Aber meine Leute versuchen auch nicht, in der größten Sommerhitze eine Brücke über den Königinnenfluss zu bauen.«

Ihr Tonfall ist respektvoll, doch ich erkenne stählerne Entschlossenheit hinter ihren sanften Gesichtszügen und ihrer freundlichen Stimme. Ginge es nach ihr, würde Harristan Allisanders Ländereien genauso einziehen wie alle anderen Gebiete, in denen die Pflanze wächst … und würde mit beiden Händen Mondflorblütenblätter verteilen. Das würde uns allerdings auch in einen Bürgerkrieg stürzen, weil sich die anderen Konsuln weigern würden, ihre Gebiete aufzugeben. Aber diese Seite des Arguments hat sie nie anerkannt. Abgesehen davon, gehört Arella zu den wenigen Leuten an diesem Tisch, mit denen ich mich hin und wieder gerne mal unterhalte.

Unglücklicherweise hat die letzte Frau, die meine Gedanken gefesselt hatte, auch versucht, mich und Harristan beim Abendessen zu vergiften. Das war nicht der erste Mordanschlag, aber es war der Gefährlichste seit der Ermordung unserer Eltern.

Also kann ich jede Art von Romanze vergessen.

Allisander Sallister räuspert sich. Er sitzt mir quasi gegenüber. Sein Gesicht ist fahl, mit pinken Flecken auf den Wangen, die aufgemalt wirken. Haar und Brauen sind dicht und braun. Er trägt einen Ziegenbart, in den er offensichtlich ganz vernarrt ist, der meiner Meinung nach aber einfach lächerlich aussieht. Allisander ist nur ein Jahr jünger als Harristan. Als Kinder waren sie befreundet. Mein Bruder hatte in unserer Kindheit nur wenige Gefährten, aber Allisander gehörte zu den wenigen, die bereit waren, geduldig in der Bibliothek zu sitzen und Schachfiguren über ein Brett zu schieben. Oder zuzuhören, wie die Tutoren Gedichte vorlasen.

Doch dann, in ihren Jugendjahren, hat Allisanders Vater, Nathaniel, zusätzliche Ländereien von einem benachbarten Sektor gefordert. Er hat behauptet, seine Farmen würden bessere Ernten einbringen – und damit bessere Profite und mehr Steuern für die Krone. Unser Vater, der König, hat das Gesuch verweigert. Daraufhin hat Allisander die Bitte Harristan vorgetragen, hat ihre Freundschaft beschworen, um Harristan dazu zu bringen, sich für die Sallisters einzusetzen – und trotzdem hat unser Vater, ein fairer, gerechter Herrscher, den Antrag abschlägig beschieden.

»Wir können keinen Sektor zwingen, Ländereien an einen anderen abzugeben«, hat er uns beim Abendessen erklärt. »Die Gebiete sind durch das Gesetz aufgeteilt. Wir werden nicht unrechtmäßig dem einen etwas nehmen, um es dem anderen zu geben.«

Anschließend hat er Harristan gezwungen, Allisanders Bitte persönlich zurückzuweisen. Öffentlich. Bei einem Abendessen, bei dem alle Konsuln anwesend waren.

Im Rückblick betrachtet glaube ich, dass Vater damit eine Botschaft vermitteln wollte – dass es unfair war, seine Kinder in politische Spielchen zu verwickeln; dass er solche Spielchen nicht akzeptieren würde.

Aber Allisander hat die Zurückweisung persönlich genommen. Danach haben wir ihn nicht mehr oft im Palast gesehen.

Zumindest nicht bis letztes Jahr, als sein silbersüchtiger Vater zurückgetreten ist. Harristan hat gehofft, Allisander würde seinem Sektor eine neue Stimme verleihen; wäre der Schlüssel, um mehr Mondflorblütenblätter im Volk verteilen zu können.

Stattdessen ist dieser junge Mann noch schlimmer als sein Vater. Unter Nathaniel Sallister waren die Mondflorpreise hoch, aber stabil. Allisander lässt keine Gelegenheit aus, um mehr Silber zu fordern. Harristan will nicht glauben, dass ihr Konflikt in Jugendtagen etwas mit Allisanders heutigem Handeln zu tun hat, aber ich zweifle keinen Moment daran.

Ich verbringe viel Zeit in diesen Sitzungen damit, mir auszumalen, wie ich ihn brüskieren könnte.

»Eine neue Brücke zusammen mit zusätzlichen Blütenblätterrationen würde Artis einen unfairen Vorteil verschaffen«, sagt Allisander.

»Einen unfairen Vorteil!«, stößt Jonas hervor. »Du und Lissa kontrolliert die gesamte Mondflorernte, aber du wirfst mir vor, mir einen unfairen Vorteil verschaffen zu wollen?«

Allisander presst nur schweigend die Fingerspitzen aneinander.

Jonas hat recht. Allisander Sallister repräsentiert die Mondscheinebenen, und Lissa Marpetta vertritt Glutrücken – die beiden Sektoren, in denen Mondflor wächst, das einzige bekannte Heilmittel für das Fieber, das Kandala heimsucht.

Daher sind das die reichsten Sektoren. Die mächtigsten.

Und das ist der Grund, warum ich mir all meine bissigen Kommentare gegenüber Allisander verkneife. Ich kann ihn gleichzeitig hassen und ihn als Verbündeten brauchen. »Davon einmal abgesehen«, sage ich, »waren die Motive für Euer Gesuch betrügerisch, Jonas.«

Allisander sieht über den Tisch zu mir und nickt anerkennend.

Ich erwidere die Geste, auch wenn ich ihm am liebsten meinen Füller an den Kopf werfen will.

Am anderen Ende des Tisches räuspert sich Roydan Pelham. Er kratzt an den achtzig. Sein Gesicht ist wettergegerbt, und seine Haut hat einen undefinierbaren Farbton zwischen beige und teigig bleich. Er sitzt bereits seit den Tagen der Herrschaft meines Großvaters in diesem Rat. Die meisten anderen scheinen ihn lediglich widerwillig zu tolerieren, aber ich mag den alten Mann. Er mag in seinen Gewohnheiten festgefahren sein … aber er ist auch der einzige Konsul, der sich nach dem Tod unserer Eltern scheinbar wirklich Sorgen um uns gemacht hat. Niemand kümmert sich um Harristan – oder auch mich – aber Roydan sorgt sich wohl noch am meisten um unser Wohlbefinden.

»Die Bevölkerung meines Sektors leidet genauso sehr wie die von Artis«, sagt er leise. »Wenn ihr seinen Antrag bewilligt, werde ich einen ebensolchen stellen.«

»Du hast gar keinen Fluss, der überbrückt werden müsste!«, sagt Jonas.

»In der Tat«, meint Roydan. »Aber die Bevölkerung meines Sektors ist genauso krank.«

Meine Gedanken beginnen zu wandern. Das ist eine wiederkehrende Diskussion. Wäre sie nicht wegen des Finanzierungsgesuchs aus Artis geführt worden, hätte sich ein anderer Grund gefunden. Das Fieber kann nicht geheilt werden. Unser Volk leidet. Allisander und Lissa werde die Macht und Kontrolle, die ihnen ihre Ländereien und ihr Besitz garantieren, nicht abgeben – und so gerne Harristan ihr Eigentum auch einziehen würde, die anderen Konsuln würden das niemals zulassen.

Harristan lässt sie ein paar Minuten streiten. Er ist geduldiger als ich. Vielleicht ist er auch nur ausgeruhter. Ich habe ihn bis Mittag schlafen lassen, während ich schon vor Sonnenaufgang aufgestanden bin.

Irgendwann verlagert mein Bruder sein Gewicht und holt Luft. Mehr ist nicht nötig, um alle zum Schweigen zu bringen.

»Euer Antrag wurde zurückgewiesen«, sagt Harristan zu Jonas. »Ihr könnt gerne eine verbesserte Version einreichen, bevor wir uns nächsten Monat treffen.«

Der Mann schnappt nach Luft, als wolle er widersprechen, doch dann huscht sein Blick zu mir und er schließt den Mund wieder. Die Geduld meines Bruders hat Grenzen und niemand hier will sie ausloten.

»Wenn das Volk leidet«, erklärt Arella furchtlos, »wäre es nicht unangemessen, wenn die Krone hilft, die Menschen dort zu heilen.«

Harristan sieht über den Tisch zu ihr. »Zu welchem Preis? Ganz Kandala leidet. Es gibt nur eine gewisse Menge an Mondflorblütenblättern. Wie würdest du entscheiden, Arella? Würdest du deine Rationen zur Verfügung stellen? Die deiner Familie?«

Sie schluckt schwer. Das würde sie nicht tun. Keiner von uns wäre dazu bereit.

Ich denke an Harristans Husten heute Morgen – an sein Fieber letzten Monat – und kann es ihnen nicht einmal übel nehmen.

Ich würde es auch nicht tun.

»Wir werden jetzt essen«, sagt Harristan. Sofort lösen sich die schweigsamen Bediensteten von den Wänden und beginnen zu servieren. Für eine Weile ist im Raum nur das Klappern von Geschirr und Besteck zu hören. Doch irgendwann höre ich, wie sich Jonas leise an Jasper Gold wendet, den Konsul von Moosquelle.

»Sie sind herzlos«, zischt er.

Ich erstarre. Im Augenwinkel sehe ich, wie auch Harristans Hand mit der Gabel innehält. Es könnte Zufall sein. Ich warte ab, um zu sehen, ob er auf die Worte reagieren wird.

Das tut er nicht.

Und weil ich nicht herzlos bin, reagiere auch ich nicht.

3  Tessa

An einem guten Tag gelingt es Weston und mir, über hundert Dosen des Elixiers auszuliefern. Ich dachte lange, es wäre besser, unabhängig voneinander loszuziehen, weil wir auf diese Weise doppelt so viele Familien beliefern könnten. Aber Wes besteht darauf, dass einer von uns immer Wache steht – und ehrlich, die verschlossenen Phiolen sind so schwer, dass ich bezweifle, dass ich den Vorrat für hundert Haushalte allein tragen könnte.

An manchen Tagen fühlt sich unsere Aufgabe unmöglich an. Tausende Menschen leiden. Vielleicht sogar Zehntausende. Wir bewirken kaum etwas – und manchmal kommen wir zu spät, oder wir können nicht genug Blütenblätter stehlen, oder die Krankheit überwältigt jemanden so schnell, dass auch die Medizin nicht mehr wirkt.

Das sind die schlimmsten Fälle – wenn Kranke an einem Tag nur leichte Gliederschmerzen haben und am nächsten Tag tot sind.

Heute konnten wir unsere Runden schon früh beginnen, weil wir gestern einen guten Vorrat an Blütenblättern gestohlen haben und deswegen keine Zeit auf einen Beutezug verschwenden müssen. Natürlich erzähle ich Wes nichts davon, aber sein Zuspätkommen wühlt mich immer noch auf. Wes würde mich das nie vergessen lassen. Im Moment wandern wir durch den Wald, und Wes pfeift leise vor sich hin. Er denkt wahrscheinlich, ich würde die Melodie nicht kennen – ein frivoles Kneipenlied über einen Soldaten, der eine Jungfrau umwirbt. Aber mein Vater hat ständig solche Lieder gesungen, um meine Mutter zum Erröten und Kichern zu bringen, während er Wurzeln zerstoßen und Tränke zusammengestellt hat.

Erinnerungen an meine Eltern schnüren mir immer noch die Kehle zu, also versuche ich, sie zu verdrängen, und trete gegen einen Stein auf unserem Pfad.

»Du solltest dieses Lied nicht pfeifen«, sage ich. »Es ist vulgär.«

Wes sieht zu mir, dann zieht er mir spielerisch den Hut tiefer ins Gesicht. »Liebe ist niemals vulgär, Tessa.«

»Oh, du denkst, bei dem Lied geht es um Liebe?«

»Nun, ich bin mir sicher, dass die Jungfrau irgendwas für den Matrosen empfindet. Wieso sonst sollte sie ihre Unterwäsche abstreifen?«

Jetzt brennen meine Wangen. Ich bin glücklich über die Dunkelheit und meine Maske. Aber ich werde ihm nicht die Befriedigung gönnen, mich kichern zu hören. »Du bist unverbesserlich.«

»Ganz im Gegenteil. Ich bin total verbesserlich.« Er zieht einen Apfel aus seiner Tasche und bietet ihn mir an. »Frühstück?«

Ich blinzle. Wir hatten heute Morgen keine Zeit, in den königlichen Sektor einzudringen. Und mir gefällt der Gedanke nicht, dass Wes das ohne mein Wissen tut. An manchen Tagen frage ich mich, was ich anstellen würde, falls er einfach verschwände.

Ich sollte nicht so anhänglich sein. Das weiß ich. Aber seit meine Eltern getötet wurden, ist Wes die einzige Konstante in meinem Leben. Ich kann den Gedanken kaum ertragen, dass mir das Schicksal auch ihn nehmen könnte.

Selbst im Halbdunkel des Waldes scheint er meine Miene deuten zu können, weil er hinzufügt: »Ich habe ihn von gestern aufgehoben.«

»Oh.« Ich zögere. Mein Magen ist noch leer, aber die Männer, die in den Schmieden arbeiten, bekommen kaum Gelegenheit zum Essen. Ich bin mir sicher, das gilt auch für Wes. »Nein – nimm du ihn.«

Er widerspricht nicht, sondern beißt in die Frucht. Das saftige Knacken hallt durch die Morgenluft. »Bist du dir sicher?«, fragte er und hält mir den Apfel vor die Nase. »Der Honig ist kalt, aber es schmeckt immer noch.«

Als ich wieder zögere, hebt er meine Hand und drückt den Apfel hinein. »Himmel, Tessa. Lass uns den Apfel einfach teilen.«

Seine Finger liegen warm an meinen. Ich versuche, nicht darüber nachzudenken, dass seine Lippen die Frucht gerade berührt haben, aber ich drehe sie trotzdem, um in eine andere Stelle zu beißen.

Er beginnt erneut, dieses alberne Trinklied zu pfeifen. Ich verdrehe die Augen und gönne mir einen weiteren Bissen.

Viele der Sektoren in Kandala haben offene Grenzen, abgesehen von dreien: dem königlichen Sektor, in dem der König, sein Bruder und die Oberschicht lebt, sowie die Mondscheinebene und Glutrücken, wo die Mondflorpflanze wächst. Diese Sektoren werden schwer bewacht und sind von Mauern umschlossen und haben die gesündeste – und reichste – Bevölkerung. Der königliche Sektor liegt im Zentrum von Kandala, begrenzt von fünf anderen Sektoren. Moosquelle im Norden ist hauptsächlich für Vieh- und Landwirtschaft bekannt. Artis im Osten für den Holzhandel, weil der Sektor an den Königinnenfluss angrenzt. Die Trauerlande sind ein riesiger Sektor im Westen und bestehen hauptsächlich aus Wüste.

Südlich des königlichen Sektors liegt Stahlstadt, dank der Nähe zu den Eisenminen das Heim von Schmieden und Maschinisten, und Händlershalt, in dem sich geschäftige Märkte kilometerweit am Loder entlangziehen. Seitdem der dortige Konsul das Königspaar ermordet hat, nennt man den Sektor auch Hinterhalt.

Das Land um den königlichen Sektor ist dicht bewaldet und behindert mit seinem nahezu undurchdringlichen Unterholz und den dornigen Rankpflanzen Reisende – der beste Ort für unsere Werkstatt, vor allem, nachdem sie weit von den Haupttoren entfernt liegt und unser kleines Holzfeuer kaum Rauch erzeugt.

Jenseits der Wälder liegen die Gebiete, in denen die Sektoren aufeinandertreffen, die den königlichen Sektor wie die Speichen eines Rades umgeben. Dieser Bereich ist aufgrund der Nähe zum königlichen Sektor dicht besiedelt – und voller Armut, Krankheit und bewaffneten Wachen, die nach Schmugglern und Aufrührern Ausschau halten. Mein Vater hat immer behauptet, dass die Eliten diese Gegend herablassend als Wildnis bezeichnet haben – eine Verunglimpfung der Menschen, die gezwungen sind, dort zu leben und zu arbeiten. Aber die Leute haben sich den Namen zu eigen gemacht. Inzwischen sind sie fast stolz darauf, in der Wildnis zu wohnen, wo die Sektorengrenzen verschwimmen und die Menschen in ihrer Verzweiflung vereint sind.

Wir starten immer im Teil der Wildnis, die zu Stahlstadt gehört, weil er unserer Werkstatt am nächsten ist. Und ich glaube, Wes macht sich Sorgen, er könnte von jemandem dort erkannt werden. Wir stehen abwechselnd Schmiere, weil wir die Phiolen nicht einfach abstellen und in der Dunkelheit verschwinden können. Wir wecken alle einzeln auf, stellen sicher, dass sie noch den letzten Tropfen trinken, dann nehmen wir unsere Phiolen wieder mit und verschwinden. Keine Beweise zurücklassen, sagt Wes immer.

In diesen dunklen Morgenstunden sind die Straßen leer, aber Wes pfeift nicht mehr. Wir gleiten durch die Schatten von Haus zu Haus.

Am fünften Haus bin ich gerade auf die Schwelle getreten, als ich ein leises Stöhnen aus dem Innenraum höre. Ich zögere, die Hand nur Zentimeter von der Holztür entfernt.

Sofort taucht Weston aus der Dunkelheit auf und tritt neben mich. »Tessa? Stimmt etwas nicht?«

Wieder erklingt das Stöhnen. Er erstarrt.

Hier lebt Mistress Kendall mit ihrem Sohn Gillis. Kendalls Ehemann ist vor zwei Jahren gestorben, aber seitdem haben sie und Gillis keine Symptome des Fiebers gezeigt. Sie gehören zu den Leuten, denen wir meines Erachtens wirklich geholfen haben. Gillis ist dreizehn und arbeitet als Bote für eine Schmiede in der Nähe. Er arbeitet hart, hat uns oft wissen lassen, dass er sich mir und Wes anschließen will, sobald er alt genug ist. Wir haben ihn seit einer Woche nicht gesehen, weil er laut seiner Mutter die morgendlichen Lieferungen abholen musste – was bedeutet, dass er nicht von der Medizin profitiert hat, die wir bringen.

Wes klopft leise an die Tür. Eine Moment lang herrscht Stille. Dann erklingt ein leises Schluchzen.

Wes sucht meinen Blick. Ich schlucke schwer.

Er greift nach dem Riegel und schiebt langsam die Tür auf. Mistress Kendall kniet im Dunkeln auf dem Boden, einen in Decken gewickelten Körper auf dem Schoß. Keuchend reißt sie den Kopf hoch.

Gillis. Ich schnappe ebenfalls nach Luft. Wes hebt den Finger an die Lippen und schüttelt den Kopf, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob die Geste mir oder der anderen Frau gilt. Wahrscheinlich uns beiden.

»Tessa«, ruft Mistress Kendall trotzdem. Es ist mehr ein Schluchzen. »Wes. Er stirbt.«

Stirbt.

Er ist nicht tot. Noch nicht.

Eilig betrete ich den Raum und sinke neben ihr auf die Knie. Gillis’ Augen sind geschlossen und sein dunkles Haar schweißnass. Das ist gewöhnlich ein gutes Zeichen, weil es heißt, dass das Fieber nachgelassen hat, aber ich fürchte, diesmal hat es mehr mit den Decken zu tun, in die er gewickelt ist. Fast überrascht mich, dass wir seine schwere Atmung nicht durch die Tür gehört haben. Das Todesrasseln ist deutlich wahrzunehmen.

Meine Brust wird eng. »Kannst du ihn aufsetzen?«, flüstere ich. »Wir haben Medizin dabei.«

Aber wir kommen zu spät, das weiß ich bereits. Er ist nicht mal mehr bei Bewusstsein. Auf keinen Fall kann er seine Dosis trinken – und selbst dann wäre es unwahrscheinlich, dass das Elixier noch wirkt.

Mistress Kendall nickt eilig. Wes sucht meinen Blick. Er wirkt resigniert, aber er schiebt einen Arm unter die Schultern des Jungen, um seiner Mutter zu helfen. Gillis’ kleiner Körper ist schlaff. Sein Kopf rollt an Wes’ Schulter. Ich ziehe eine der Phiolen aus meiner Tragetasche und öffne den Korken. Meine Finger zittern.

»Gillis«, sagt Wes, sehr leise und sanft. »Gillis, mach die Augen auf.«

Wir halten alle den Atem an. Hoffen. Beten. Warten.

Am Anfang, als das Fieber begann, Leben zu nehmen, dachten viele Leute, es würde durch engen Kontakt übertragen – vor allem, weil die Krankheit sich zuerst in der Wildnis ausgebreitet hat, bevor sie auf die Eliten im königlichen Sektor übergesprungen ist. Die Tore zum königlichen Sektor wurden wochenlang geschlossen gehalten. Aber mein Vater hat Aufzeichnungen zu den Erkrankten angefertigt und das Verteilungsmuster war mehr oder minder zufällig. Das Fieber brach auch unter denjenigen aus, die sich isoliert hatten. Bald schon wurde klar, dass enger Kontakt bei der Übertragung keine Rolle spielt. Ich habe die Aufzeichnungen meines Vaters bewahrt, und es gibt kein Muster. Die Krankheit fordert ein Leben – oder ein Dutzend.

Manchmal bleiben ganze Familien unversehrt – oder aber gleich sechs Tote müssen dem Scheiterhaufen übergeben werden.

Mistress Kendall schluchzt erneut. Gerade, als ich die Hoffnung aufgeben will, hustet Gillis heftig und blinzelt. »Ma?«, krächzt er.

Sie schnappt nach Luft. »Gillis! Oh, Gillis!« Sie presst die Hand an seine Wange. Wieder blinzelt er schwach.

»Shhh«, sagt Wes. »Die Nachtwache wird uns hören. Tessa?«

Ich atme zum ersten Mal seit unserer Ankunft tief durch. »Hier.« Ich hebe die Phiole. »Gillis, du musst das trinken.«

Er hustet rasselnd. »Ja, Miss Tessa.«

Während Wes ihm beim Trinken hilft, grabe ich in meiner Tasche herum, schiebe die Phiolen mit dem Elixier auf der Suche nach meinem Fläschchen mit Morgenholzöl zur Seite. Ein paar Tropfen können Betrunkene oder Menschen mit Kopfverletzungen wecken, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es auch die Wirkung des Mondflorelixiers beschleunigt.

Mistress Kendall küsst Stirn und Wangen ihres Sohnes, ihr Atem flach. Ihre Hände zittern. »Oh, Gillis«, flüstert sie an seiner Schläfe.

Er hebt schwach die Hand, als ich das Fläschchen öffne. »Das hier auch«, flüstere ich.

Er öffnet die trockenen Lippen und ich träufele drei Tropfen in seinen Mund. Er schluckt schwer.

»Das war’s«, sagt Wes. Er ergreift Gillis’ Hand und drückt sie leicht. »Bald schon wirst du mit uns durch die Schatten gleiten.«

Gillis blinzelt, dann lächelt er leise. »Versprochen?«

»Versprochen.«

Mistress Kendall drückt ihm erneut einen Kuss auf die Wange und murmelt sinnlose, beruhigende Worte. Die Liebe in ihrer Stimme ist deutlich zu hören. Ich lege eine Hand auf ihre Schulter. Sie sieht mich mit tränenverhangenen Augen an.

Gillis hustet, heftig, dann versucht er einzuatmen. Die Muskeln seines Halses treten hervor, als er um Luft ringt. Seine Finger graben sich in Wes’ Arm.

»Langsam«, sagt Wes, doch ich höre die Sorge in seiner Stimme. »Langsam, Gillis. Atme.«

Der Junge beißt die Zähne zusammen. Sein Rücken versteift sich und seine Finger greifen ins Leere.

Dann sinkt er schlaff gegen Wes’ Schulter.

Mistress Kendall sitzt wie erstarrt da. Ich sitze wie erstarrt da.

Wes bewegt sich als Erstes wieder. Er legt den Jungen sanft auf den Boden und löst die Decken um ihn. Presst die Finger an Gillis’ Hals, drückt das Ohr auf seine Brust.

Gillis bewegt sich nicht.

Wes sieht auf, seine blauen Augen voller Trauer.

»Nein!«, kreischt Mistress Kendall, voller Wut und Schmerz und Angst – Gefühle, die auch in meiner eigenen Brust toben. »Nein!«

Irgendwo in der Ferne beginnt ein Hund zu bellen.

Sie kreischt weiter. »Das ist ihr Fehler! Dieser schreckliche König und sein schrecklicher Bruder. All diese anderen schrecklichen Leute, die auf der anderen Seite dieser Mauer leben. Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich hasse …«

Weston packt sie am Arm und presst ihr eine Hand auf den Mund, dann zischt er: »Frau! Reiß dich zusammen.«

»Wes«, flüstere ich.

»Das ist Hochverrat«, blafft er. »Wenn die Nachtwache sie hört, werden sie Mistress Kendall ebenfalls töten.«

»Das ist mir egal«, stöhnt sie und sackt in sich zusammen. »Sollen sie mich doch töten. Sollen sie doch sehen, was sie meinem Jungen angetan haben.«

Ich schnappe zitternd nach Luft. »Kendall – es tut mir so leid.«

»Er war nur ein Junge.« Sie atmet tief durch und scheint sich zu wappnen, dann streichelt sie sanft das Gesicht ihres Sohnes. »Es ist ihre Schuld.« Ich höre die Wut in ihrer Stimme. »Sie sitzen gesund herum und kümmern sich nicht darum, ob wir leben oder sterben.«

Wir haben das alles schon Hunderte Male gehört. Wir werden es noch Hunderte Male hören.

Deswegen tun wir das alles. Weil sie recht hat.

Wes zieht eine Phiole aus seiner Tasche und streckt sie Mistress Kendall entgegen. »Du musst deine Portion trinken, Kendall.«

Mit zitternder Hand ergreift sie die Phiole. Ich rechne damit, dass sie den Korken herauszieht und die Flüssigkeit darin trinkt, doch stattdessen schleudert sie den Glasbehälter in die Dunkelheit. Ich keuche.

Blitzschnell wie immer fängt Wes die Phiole aus der Luft, bevor sie am Boden zerschellen kann. »Lass nicht zu, dass Kummer und Schmerz dir das Hirn vernebeln.«

Sein Tonfall ist freundlich, aber Mistress Kendall zuckt trotzdem zusammen, bevor sie sich über den Leichnam ihres Sohnes beugt. »Gebt es jemandem, der leben will. Für mich gilt das nicht mehr.«

Ich zögere, dann lege ich die Hand auf ihre. »Kendall«, flüstere ich. »Kendall, es tut mir so leid.«

Sie dreht die Hand, um ihre Finger mit meinen zu verschränken. »Du weißt, wie es ist«, sagt sie. »Du hast auch jemanden verloren.«

»Ja«, antworte ich. Meinen Vater. Meine Mutter. Ich werde den Moment ihres Todes niemals vergessen. Ungewollt steigen Tränen in meine Augen.

»Jemand muss sie aufhalten«, sagt Kendall zitternd. »Jemand muss sie aufhalten, Tessa.«

»Ich weiß«, antworte ich. »Für den Moment tun wir, was in unserer Macht steht.«

Sie nickt, dann presst sie einen Kuss auf meine Knöchel.

»Du solltest deine Medizin trinken«, sagt Wes sanft. »Gillis würde das wollen.«

»Gillis kann nichts mehr wollen.« Sie atmet schaudernd ein. »Geht. Ihr beide. Verschwendet eure Tränke nicht an mich.«

Ich will ihr gerade widersprechen, da schreit sie wütend: »Geht! Verschwindet! Ihr erinnert mich an ihn. Verschwindet!«

Ich zucke zurück.

»Tessa«, sagt Wes und berührt meinen Ellbogen.

Ich will nicht gehen. Wir sollten sie nicht so zurücklassen, eine am Boden zerstörte Frau, die über den Leichnam ihres Sohnes gebeugt weint.

Aber Wes hat recht.

»Wir werden Jared Sexton davon erzählen«, flüstere ich Kendall leise zu, womit ich mich auf einen Holzarbeiter beziehe, der ein paar Türen entfernt lebt. Er ist groß und breit gebaut – und gewöhnlich derjenige, der die Leichen zum Scheiterhaufen schleppt. »Ich werde morgen nach dir sehen.«

Sie antwortet nicht, sondern schluchzt in die Handflächen.

Wir gleiten in die Schatten, bewegen uns mit geübter Lautlosigkeit. Weston muss allerdings etwas gehört haben, weil er mich schon ein Haus weiter eilig in eine dunkle Nische zieht. Ich stehe mit dem Rücken am Gebäude, und er presst sich fest an mich, den Kopf vorgebeugt, sodass er mir die Sicht nimmt.

»Was …«, setze ich an, doch er sieht mir tief in die Augen und schüttelt fast unmerklich den Kopf.

Ich spähe an ihm vorbei. Es ist immer noch dunkel, aber jetzt höre auch ich die schweren Schritte der Nachtwache. Wes hatte recht – wahrscheinlich haben sie Kendalls Schreie gehört und wollen nachsehen. In der Finsternis kann ich nichts erkennen. Vielleicht werden sie nichts bemerken und einfach vorbeigehen.

Aber nein. Kendall stürzt aus ihrer Tür. »Ihr habt ihn umgebracht!«, kreischt sie. Sie hält einen Stein in jeder Hand, wirft einen davon. Ein Mann grunzt. »Ihr könnt diesem Schwein von König und seinem bösartigen Bruder sagen, dass sie für ihre …«

Ich höre den Schuss einer Armbrust, dann das widerliche Geräusch, als der Bolzen sein Ziel findet. Kendall verstummt und ihr Körper fällt zu Boden.

Ich wimmere und spüre, wie Wes erstarrt.

Einer der Wachmänner tritt gegen ihren leblosen Körper.

»Lass gut sein«, sagt einer der anderen. »Sie werden sie schon finden.«

Ein anderer Mann spuckt aus. Vielleicht spuckt er auf Kendall. »Sie lernen es nie.«

»Tessa.« Westons Stimme ist ein kaum hörbares Flüstern neben meinem Ohr. »Immer mit der Ruhe, Mädchen. Sonst töten sie dich auch noch.«

Er drängt sich enger an mich, presst mich gegen die Wand, drückt die Hand auf meinen Mund. Erst als meine Bewegungen verklingen, wird mir bewusst, dass ich mich gegen seinen Griff gewehrt habe. Ich suche seinen Blick. Als ich blinzle, verschwimmt meine Sicht.

»Ich weiß«, flüstert er.

Ich atme zitternd, schließe fest die Augen. Er löst die Hand von meinem Mund.

Ich vergrabe das Gesicht an seiner Schulter und heule wie ein Kleinkind.

Nach einem Augenblick drückt er seine Hand an meine Wange unter der Maske, wischt mit dem Daumen die Tränen weg, die über mein Gesicht rinnen. »Ich weiß«, sagt er wieder. »Ich weiß.«

Irgendwann verklingen meine Tränen und mir wird klar, dass Wes mich im Arm hält. Ich will in der Geborgenheit seiner Umarmung bleiben, weil alles andere mir zu schrecklich erscheint. Das ist ein selbstsüchtiger Gedanke angesichts dessen, was Kendall und Gillis geschehen ist, aber ich kann nicht anders. Wes steht für Wärme und Sicherheit und Freundschaft.

Genau in diesem Moment zieht er sich zurück, lässt die Arme sinken. Er späht in die Ferne, hält Ausschau nach Ärger. »Wir sollten jetzt nach Westen gehen. Die Nachtwache ist alarmiert. Ich will kein Risiko eingehen. Wenn wir noch Zeit haben, können wir zurückkommen und die Runde hier vollenden.«

Ich schlucke schwer und bemühe mich, meine Gedanken zu ordnen. »Ja. Sicher.« Ich schniefe ein letztes Mal und wische mir die Tränenspuren vom Gesicht. Trauer erfüllt mich, aber ich weiß aus Erfahrung, dass sie schon bald in Wut umschlagen wird. »Sollen wir … irgendetwas wegen ihrer Leiche unternehmen?«

»Nein«, antwortet er, dann hebt er die Hand, um meinen Hut zurechtzurücken. »Sie haben recht. Jemand wird sie finden.«

»Weston!«

»Shhh.« Er drückt einen Finger an meine Lippen und schüttelt den Kopf. »Ich bin nicht gefühllos. Aber wir können Mistress Kendall nicht mehr helfen, Tessa.« Er rückt seine Tasche zurecht. Die Phiolen darin klirren. »Wir müssen unsere Runde drehen.«

»Richtig.« Ich schlucke schwer. »Unsere Runde.«

Wir tauchen erneut in die Dunkelheit ein, gleiten lautlos durch die Nacht. Westons übliche Unbeschwertheit hat sich in Luft aufgelöst. Er pfeift nicht. Die Atmosphäre ist angespannt, als lasteten die Geschehnisse auf uns.

»Ich hasse den König«, flüstere ich. »Ich hasse den Prinzen. Ich hasse, was sie tun. Ich hasse, was aus Kandala geworden ist.«

Ich spreche so leise, dass es mich wundert, dass er mich überhaupt hören kann, aber nach einem Augenblick ergreift Wes meine Hand. Er drückt meine Finger, eine Sekunde länger als nötig – der einzige Hinweis, dass auch er getroffen ist.

»Ich auch«, sagt er.

Dann gibt er meine Finger frei und nickt in Richtung Horizont, wieder kühl und kontrolliert. »Der Tag bricht an. Wir müssen uns beeilen.«

4  Corrick

I