Ein sinnliches Geheimnis - Stephanie Laurens - E-Book

Ein sinnliches Geheimnis E-Book

Stephanie Laurens

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Beschreibung

»Christian, ich brauche deine Hilfe. Es gibt sonst niemanden, an den ich mich wenden kann … L.« Diese Worte stellen Christians Welt auf den Kopf. Niemals hätte er damit gerechnet, die Frau, deren süße Lippen er seit Jahren nicht vergessen kann, jemals wiederzusehen – und nun bittet Lady Letitia Randall ihn um Hilfe. Letitia hat geschworen, den Namen ihres Bruders reinzuwaschen – selbst wenn sie dafür Christian Allardyce verführen muss, der sie vor Jahren so schmählich im Stich ließ. Sie ahnt nicht, dass Chr istian eine eigene Mission verfolgt – eine Mission der reinen Lust und der süßen Rache, die sie beide in einen Strudel der Leidenschaft zieht.

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Seitenzahl: 752

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Buch

Lady Letitia Randall ist verzweifelt: Ihr Bruder Justin steht in Verdacht, ihren Ehemann ermordet zu haben. Die Beweislast scheint erdrückend. Um die Unschuld ihres Bruders zu bewiesen, wendet Letitia sich widerwillig an den einzigen Mann, der ihr in dieser ausweglosen Situation helfen kann: Christian Allardyce – ihre Jugendliebe und gleichzeitig die größte Enttäuschung ihres Lebens.

Zwölf Jahre ist es her, dass Letitia und Christian sich zum ersten Mal begegneten und sofort unsterblich ineinander verliebten. Für alle schien klar, dass sie irgendwann heiraten würden. Doch dann begab Christian sich in den Dienst des Königs, zog in den Kampf gegen die Feinde Englands und ließ Letitia allein zurück. Nun sehen die beiden sich wieder – und Christian muss entsetzt feststellen, dass Letitia in seiner Abwesenheit einen anderen geheiratet hat.

Gemeinsam versuchen sie nun herauszufinden, was in der Mordnacht wirklich passiert ist. Dabei kommen sie sich näher, und die ungezügelte Leidenschaft, die Letitia und Christian einst verband, kehrt zurück. Doch Letitia will nicht schon wieder von Christian enttäuscht werden. Kann er sie von seiner ungebrochenen Liebe überzeugen?

Autorin

Stephanie Laurens begann mit dem Schreiben, um etwas Farbe in ihren wissenschaftlichen Alltag zu bringen. Ihre Bücher wurden bald so beliebt, dass sie ihr Hobby zum Beruf machte. Stephanie Laurens gehört zu den meistgelesenen und populärsten Liebesromanautorinnen der Welt und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in einem Vorort von Melbourne, Australien.

Von Stephanie Laurens bei Blanvalet lieferbar:

Ein feuriger Gentleman, In den Armen des Spions, Eine stürmische Braut, Ein süßes Versprechen, Ein widerspenstiges Herz, Stürmische Versuchung

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Stephanie Laurens

Ein sinnlichesGeheimnis

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Jutta Nickel

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel»The Edge of Desire« bei Avon Books,an imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung August 2015bei Blanvalet, einem Unternehmen derVerlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © der Originalausgabe 2008 bySavdek Management Proprietory Ltd.Published by arrangement with Avon,an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesignUmschlagmotiv: © Chris CocozzaRedaktion: Eva SeifertBS · Herstellung: cbSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-15829-3www.blanvalet.de

1

August 1816London

Er sollte sie warten lassen.

Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich, als Christian Michael Allardyce, sechster Marquis of Dearne, langsam die Treppe hinunterstieg. Er hatte sich gerade einem Brandy und seiner Niedergeschlagenheit gewidmet, als Gasthorpe, der Diener des Bastion Clubs, ihm eine Nachricht überbrachte.

Eine Nachricht, die ihn zwang, seiner Vergangenheit ins Auge zu sehen.

Besagte Vergangenheit erwartete ihn im vorderen Empfangszimmer des Hauses. Dieses Zimmer hatten er und die anderen sechs Clubmitglieder – allesamt ehemalige Angehörige der erlesensten Geheimabteilung der Streitkräfte Seiner Majestät, die den Bastion Club als Unterschlupf gegen die heiratswütigen Ladys der Londoner Salons gegründet hatten – zum einzigen Ort im Haus auserkoren, den auch Damen betreten durften. In den Monaten nach der Eröffnung des Clubs war diese Regel ohnehin schon immer mehr aufgeweicht worden, aber diese besondere Lady hatte Gasthorpe ganz richtig in das offizielle vordere Empfangszimmer gebeten.

Wirklich, er sollte sie warten lassen.

Denn zwölf Jahre zuvor hatte sie versprochen, dass sie genau dies tun würde – warten. Aber dann war ein anderer aufgetaucht … während er mit Leib und Seele gegen Napoleon gekämpft hatte, hatte sie das ihm gegebene Versprechen leichtfertig gebrochen, sich in Mr. George Randall verliebt und ihn geheiratet.

Mittlerweile war sie Lady Letitia Randall.

Anstatt Marquise of Dearne.

Ganz tief im Herzen, wo ihn sonst nichts und niemand mehr berühren konnte, fühlte er sich immer noch betrogen.

Seit acht Jahren schon hieß sie Lady Letitia Randall. Obwohl er vor zehn Monaten nach England zurückgekehrt war und sie sich in demselben, sehr kleinen Kreis bewegten, hatten sie bisher kein Wort miteinander gewechselt. Hatten einander noch nicht einmal zugenickt. Angesichts ihrer Vergangenheit wäre das auch zu viel von ihm verlangt, was sie aber zu verstehen schien. Kühl und unverbindlich, hochmütig und distanziert – so als ob sie sich niemals geliebt hätten – blieb sie hartnäckig auf Abstand.

Bis jetzt.

Christian …

Ich brauche Deine Hilfe. Es gibt niemanden außer Dir, an den ich mich wenden könnte.

L.

Mehr gab die Nachricht nicht her, aber zwischen ihnen sprachen selbst diese dürren Worte Bände.

Stufe für Stufe schritt Christian die Treppe hinunter. Ja, er sollte sie warten lassen, konnte sich aber nicht vorstellen, was sie zu ihm geführt hatte oder warum die Dienerschaft in Allardyce House am Grosvenor Square seinen Aufenthaltsort preisgegeben hatte. Percival, der Butler, war ein mustergültiges Beispiel seines Berufsstandes. Praktisch nichts außer einer Naturgewalt hätte ihn dazu bewegen können, gegen den ausdrücklichen Befehl seines Herrn zu handeln.

Andererseits war es aber auch so, dass die Dame, welche jetzt das vordere Empfangszimmer belagerte, sich schon vor vielen Jahren als Naturgewalt zu erkennen gegeben hatte.

Nachdem er die letzte Treppenstufe hinter sich gelassen hatte, betrachtete er die Tür zum Empfangszimmer – sie war geschlossen. Christian hätte kehrtmachen und Letitia mindestens zehn Minuten lang warten lassen können. Vielleicht sogar eine Viertelstunde. Denn die Verzweiflung in ihrer Bitte bewies, dass sie tatsächlich warten würde. Nicht widerspruchslos – denn Widerspruchslosigkeit gehörte nicht zu ihrem Repertoire – aber sie würde die Zähne zusammenbeißen und ausharren, bis er sich herabließ, sie zu empfangen.

Irgendetwas in ihm wollte sie verletzen – genauso, wie sie auch ihn verletzt hatte, genauso, wie er immer noch verletzt war. Trotz all der Jahre, die inzwischen verstrichen waren, war die Wunde immer noch nicht verheilt, blutete immer noch.

Schwacher, schwer fasslicher Jasminduft lenkte seine Aufmerksamkeit wieder zur Tür.

Es ist die Neugier, beschwor er sich, die mich nach dem Türknauf greifen lässt. Nein, es war nicht etwa die unglaubliche, unwiderstehliche Anziehung, die sie vom ersten Augenblick an füreinander empfunden hatten und die nach zwölfjähriger Vernachlässigung und achtjähriger Ernüchterung ihren Bogen immer noch quer durch einen überfüllten Ballsaal schlagen konnte.

Und ihn den Schmerz spüren ließ.

Er stählte sich innerlich, öffnete die Tür und trat ein.

Die erste Überraschung war ihre Trauerkleidung. Noch auf der Türschwelle blieb er stehen und bemühte sich, die Lage blitzschnell zu erfassen.

Mit dem Rücken zur Tür saß sie in einem der Armsessel in der Nähe des Kamins und war in düsteres Schwarz gekleidet … das an jeder anderen Lady dumpf ausgesehen hätte. An ihr dagegen … sie war voll verschleiert, aber selbst dieser deprimierende Schatten konnte ihre Lebendigkeit nicht trüben. Diese Lebendigkeit schrie ihm aus jeder Faser ihrer schlanken Gestalt entgegen, sie war wie eine summende, brummende Energie, in gewissem Maße gebändigt, aber immer in der Gefahr zu entweichen … zu explodieren … es reichte, dass sie die behandschuhte Hand bewegte, und schon hatte sie die Aufmerksamkeit eines beliebigen Mannes in ihren Bann geschlagen.

Seine ganz bestimmt.

Just in diesem Moment stellte sie es unter Beweis … hob die langen, schlanken Hände, deren zarte Finger in Handschuhen aus feinem, schwarzem Schweinsleder steckten, ergriff den Saum ihres schwarzen Schleiers und schlug ihn nach hinten über die hochgetürmte Frisur.

So, dass er ihr Gesicht sehen konnte.

Zart geschwungene Konturen, rosige Lippen wie von Meisterhand geformt, wobei die untere üppig und saftig und verführerisch war.

Große, mandelförmige Augen, deren Farbe in einem unergründlichen Wechselspiel aus Grün und Gold bestand, über hohen, fein ziselierten Wangenknochen. Dichte, dunkle Wimpern, eine gerade aristokratische Nase und all das in einem Oval von perfekter Porzellanhaut.

Nicht einmal diese Aufzählung konnte ihrem Gesicht gerecht werden. Denn es war einfach der Inbegriff weiblicher, adliger Schönheit, aber nicht nur wegen der Struktur, sondern auch wegen der Lebhaftigkeit. Im Schlaf waren ihre Gesichtszüge von heiterer Schönheit, wenn sie wach war, waren sie auf geradezu erschütternde Weise lebendig.

An diesem Nachmittag jedoch wirkten sie … verschlossen.

Er runzelte die Stirn. Trat ins Zimmer und schloss die Tür. »Dein Vater?«

Die Trauerkleidung musste zu bedeuten haben, dass ihr Vater, Earl of Nunchance, verstorben war. Wenn aber das Oberhaupt des Hauses der Vaux’ verstorben war, wären die Salons förmlich geborsten vor Klatsch und Tratsch. Stattdessen war ihm noch nicht einmal ein Wispern ans Ohr gedrungen, und in Letitias normalerweise blassem Gesicht war nicht die geringste Spur von Gram zu erkennen. Womöglich schien sie ihr Temperament sehr zu zügeln.

Also nicht ihr Vater. Ungeachtet familiärer Zerrüttungen, die bei den Vaux’ nicht unüblich waren, war sie doch aufrichtig stolz auf ihren exzentrischen Vater.

Die perfekt geschwungenen dunklen Brauen hatte sie leicht gewölbt, um ihm zu verstehen zu geben, dass er schwer von Begriff war.

»Nein. Nicht Papa.«

Ihre Stimmlage erschütterte ihn. Beinahe hätte er vergessen, wie lange es her war, dass sie ihm zu Ohren gekommen war. Leise und mit der zarten Andeutung einer natürlichen Rauheit rief diese Stimme sündige Visionen in ihm wach.

Davon abgesehen lag heute eine gewisse Anspannung in diesem Tonfall. Sie atmete tief durch und platzte heraus: »Randall wurde ermordet.«

Als ob ihre Worte sie aus einer Art Bann erlöst hätten, fing sie endlich seinen Blick auf. »Letzte Nacht in seinem Büro. Randall ist zu Tode geprügelt worden. Die Diener haben ihn heute früh gefunden. Und diese idiotischen Ermittler haben sich heute darauf festgelegt, dass nur Justin der Mörder sein kann.«

Christian kniff die Augen zusammen. »Verstehe.« Er kam weiter ins Zimmer hinein, langsam, weil er Zeit brauchte, ihre Nachricht zu verdauen, und ließ sich in den Armsessel ihr gegenüber sinken. Lord Justin Vaux war ihr jüngerer Bruder. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, fast neunundzwanzig, Justin musste also sechsundzwanzig sein. Bruder und Schwester hatten sich schon immer sehr nahegestanden. »Und was sagt Justin?«

»Das ist es ja gerade … er ist nicht auffindbar. Wir können ihn also nicht befragen. Aber anstatt nach ihm zu suchen und genau das zu tun, halten die Behörden ihn für den Sündenbock, der ihnen am besten in den Kram passt. Bestimmt schreien sie gerade Zeter und Mordio, während wir uns hier unterhalten«, stieß Letitia in ätzendem Tonfall aus. Da sie die größte Hürde bereits überwunden hatte – nämlich Christian zu bewegen, mit ihr zu sprechen – konnte sie sich jetzt auf die Sache konzentrieren.

Was eindeutig besser war, als sich auf ihn zu konzentrieren.

Es war falsch gewesen, sich zu erlauben, ihn dabei zu beobachten, wie er mit unbeschreiblicher Eleganz quer durch das Zimmer bis zu ihr schlenderte. Diese gezügelte Kraft, die sich in einem einzigen männlichen Wesen ballte – in einem männlichen Wesen, das jeder, der Augen im Kopf hatte, für brandgefährlich halten musste – war der Garant dafür, dass jede lebendige, atmende Frau vollkommen durcheinandergeriet. Am allermeisten sie. Trotzdem galt es heute, den Zauber zu durchbrechen und sich mit diesem Mann auseinanderzusetzen.

An seiner Miene ließ sich kaum etwas ablesen. Die harten Konturen seines Gesichts, die kantigen Wangenknochen, die flächigen Wangen und seine Strenge wirkten nicht weicher durch die großen, grauen Augen unter der breiten Stirn, die überraschend dichten Wimpern, die dünn ziselierten Lippen und den starken Nasenbogen. Das quadratische Kinn bewies eine Sturheit, die er für gewöhnlich unter seinem lässigen Charme verbarg.

Es war ihm immer leichtgefallen, charmant und elegant aufzutreten, was sie – als Vaux, die in dieser Hinsicht ebenfalls jedes Register ziehen konnte – immer zu schätzen gewusst hatte.

Und immer noch zu schätzen wusste; womöglich war seine Wirkung auf sie sogar noch stärker geworden, als sie es in Erinnerung hatte. Ihr war sehr wohl bewusst, wie tief ihre Liebe zu ihm immer noch wurzelte, hatte aber vergessen, wie sie sich anfühlte, hatte den körperlichen Ausdruck vergessen, der sich mit dieser tief in der Seele liegenden Verbindung einstellte.

Zwölf lange Jahre war sie ihm nicht mehr so nahe gewesen. Es war eindeutig eine kluge Entscheidung gewesen, auf Abstand zu gehen, als er wieder in den Salons aufgetaucht war. Denn selbst auf mehr als zwei Meter Entfernung konnte sie noch spüren, wie ihr Brustkorb sich so weit anspannte, dass ihr das Atmen schwerer fiel.

So schwer, dass sie sogar einen Hauch Benommenheit verspürte. Dass ihre Nerven sich vielsagend und erwartungsvoll anspannten.

Eine Erwartung, die sich niemals erfüllen würde.

Jetzt nicht mehr.

Nicht, nachdem sie Randall geheiratet hatte.

Christian hatte die grauen Augen zwischenzeitlich von ihr abgewandt, schaute sie jetzt aber wieder konzentriert an. »Warum haben sich die Behörden auf Justin fixiert? Hat er sich am Tatort aufgehalten?«

Letitia spürte Erleichterung in sich aufkeimen. Es war ein gutes Zeichen, dass er Fragen stellte. »Offenbar war er gestern Abend bei Randall zu Besuch. Randalls dummer Butler, dem wohl alle Vaux’ zuwider sind und ganz besonders Justin, hat sich nur allzu glücklich geschätzt, mit dem Finger auf ihn zeigen zu können. Aber du weißt ja genauso gut wie ich, dass Justin allem Anschein zum Trotz niemals in der Lage wäre, jemanden umzubringen.«

Christian fing ihren Blick auf, in dem er sowohl ihr Temperament als auch ihre Sorge erkannte. Ihre Ängste. »Du glaubst nicht, dass er zu einer solchen Tat fähig ist. Und ich glaube das nicht. Aber das heißt natürlich noch lange nicht, dass er es nicht getan hat.«

Es war gefährlich, eine Vaux zu drängen, aber diesmal schnappte sie nicht zurück.

Was ihm wiederum vor Augen führte, wie tief ihre Besorgnis reichte.

Und trotz des Hangs zu hysterischen Anfällen, den sie von den Vaux’ ererbt hatte – die Familie war nicht ohne Grund als »die überspannten Vaux’« berüchtigt – gehörte sie nicht zu jenen Frauen, die sich grundlos in Sorgen stürzten.

Womit erklärt war, warum sie ausgerechnet ihn um Rat bat.

Ihn, den Mann, den sie einst in ihm gekannt hatte.

Jemand, der es nie fertiggebracht hatte, ihr irgendetwas zu verweigern. Noch nicht einmal sein Herz.

Unverwandt hielt sie seinen Blick fest. Und dann fragte sie ganz schlicht, leise und mit rauer – verführerischer – Stimme: »Hilfst du mir?«

Als er ihr in die Augen schaute, musste er feststellen, dass sie tatsächlich keine Ahnung hatte, wie er antworten würde. Dass sie keine Ahnung hatte, wie sehr sie ihn immer noch in den Bann geschlagen hatte … was wiederum bedeutete …

Er zog die Brauen hoch. »Was ist dir meine Hilfe wert?«

Sie kniff die Augen zusammen, erforschte sein Gesicht und seine Augen und blickte ihn noch eindringlicher an. Nach einer vielsagenden Pause, in der sie die wahre Bedeutung seiner Worte zu ergründen versuchte, erwiderte sie: »Du weißt nur zu gut, dass ich zu allem bereit bin – zu allem – um Justins Namen reinzuwaschen.«

Bedingungslose Überzeugung und rückhaltlose Hingabe waren aus ihren Worten herauszuhören.

Er senkte den Kopf. »Sehr gut.«

Christian hörte sich höflich zustimmen, womit er nicht gerechnet hatte. Und noch weniger hatte er darüber nachgedacht, welche Gegenleistung er fordern würde. War sich noch nicht einmal sicher, was ihn eigentlich trieb, ihr solch einen Handel abzuverlangen; aber ihr »zu allem« eröffnete ihm natürlich praktisch alle Möglichkeiten.

Rachegelüste jeglicher Art für die erlittenen Schmerzensjahre konnten jetzt befriedigt werden.

Der Gedanke wühlte ihn innerlich auf, ohne dass er sagen konnte, ob es an seiner Unbehaglichkeit oder an der Vorfreude lag. »Erzähl mir, was geschehen ist … der Reihe nach alle Ereignisse, die zu Randalls Tod geführt haben. So, wie sie dir persönlich bekannt sind.«

Letitia zögerte und griff dann nach dem schwarzen Retikül in ihrem Schoß. »Wir sollten uns den Tatort ansehen. Im Haus.« Sie schlug sich den schwarzen Schleier wieder vor das Gesicht. »Dort ist es einfacher zu erklären.«

Letitia hatte tatsächlich angenommen, dass es ihr leichter fallen würde, ihm im Haus in der South Audley Street alles zu erklären, da sie dort ja Dinge zu zeigen hatte, womit sie ihn ablenken konnte. Aber dass er an ihrer Seite war, versetzte ihre Nerven in einen Zustand beständiger Alarmbereitschaft. Bereit, auf jede Berührung zu reagieren, wie leicht auch immer sie sein mochte, bereit, in der Wärme zu schwelgen, die sein großer Körper gleichmäßig ausstrahlte und sie in seine Nähe lockte.

Entschlossen riss sie sich zusammen und zeigte auf die Stelle auf dem Fußboden des Arbeitszimmers. Man hatte ihr mitgeteilt, dass ihr toter Ehemann genau dort gelegen hatte. »Die Blutflecken sind noch zu erkennen.«

Die fragliche Stelle befand sich zwischen Kamin und dem großen Schreibtisch.

Eigentlich war sie nicht besonders zimperlich, aber beim Anblick des rötlich braunen Flecks wurde ihr übel. Es spielte keine Rolle, was sie für Randall empfunden hatte. Niemand hatte es verdient, auf solche Weise zu sterben – mit dem Feuerhaken des Kamins brutal zu Tode geprügelt zu werden.

Christian trat näher und bückte sich zu dem Fleck hinunter. »In welche Richtung hat er geblickt – zum Kamin oder zum Schreibtisch?«

Christian kam ihr vor wie eine Flamme, die an einer Seite ihres Körpers hinaufzüngelte. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie stirnrunzelnd, »das hat man mir nicht gesagt. Und sie wollten mich nicht reinlassen, ich sollte es nicht sehen … mir wurde gesagt, er sei zu … blutig.«

Sie hob den Kopf und kämpfte darum, sich auf die Besprechung mit Christian zu konzentrieren … und nicht etwa die Augen zu schließen und es zuzulassen, dass ihre übrigen Sinne sich ihm förmlich entgegenreckten und streckten. Letitia hatte ganz vergessen, wie groß und breit er war – hatte vergessen, dass er zu den wenigen Männern in den Salons gehörte, die sie überragten und dafür sorgen konnten, dass sie sich geborgen fühlte, bewehrt … beschützt. Das war zwar nicht der Grund, weshalb sie sich an ihn gewandt hatte, aber in diesem Moment blieb ihr nichts anderes übrig als dankbar zu sein für seine Größe, seine Nähe, für die Erinnerung an das kräftige Leben in der nackten Gegenwart des Todes.

»Sie haben den Feuerhaken mitgenommen.« Letitia atmete angespannt ein, drehte sich um und deutete auf den Tisch neben einem der Armsessel am Kamin. »Und den Tisch abgeräumt. Zwei Gläser sollen darauf gestanden haben, wurde mir gesagt. Mit Brandy in beiden.«

»Sag mir, was du weißt. Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«

Seine Frage gab ihr etwas, worauf sie ihre Aufmerksamkeit lenken konnte. »Gestern Abend. Ich bin zum Dinner bei den Martinsdales gegangen und anschließend zu einer geselligen Runde in das Cumberland House. Kam ziemlich spät nach Hause. Randall war hier im Haus geblieben. Das hat er manchmal getan, wenn er noch etwas zu arbeiten hatte. Er hat mir in der Halle aufgelauert und mich hier ins Arbeitszimmer gebeten. Wollte etwas besprechen …« Sie hielt inne. Als sie in härterer Tonlage fortfuhr, war ihr klar, dass ihre Stimme sie verraten würde, »… eine Familienangelegenheit.«

Randall und sie waren acht Jahre verheiratet gewesen, allerdings ohne Kinder geblieben. Mit ein bisschen Glück würde Christian sich ausmalen können, dass ihr Gespräch sich um dieses heikle Thema gedreht hatte, dessen Erwähnung sie so geflissentlich aussparte.

Christian hatte den Blick auf ihr Gesicht gerichtet – und wusste, dass sie darauf hoffte, ihn auf den Holzweg führen zu können. Wusste es einfach. Er war geneigt, ihr zu folgen, merkte sich aber, dass er später noch einmal auf dieses nächtliche Gespräch mit ihrem Ehemann zurückkommen wollte. Im Moment … »Besprechung?« Sich mit einer Vaux zu besprechen, konnte auch bedeuten, sich auf ein wahrhaft kriegerisches Wortgefecht einlassen zu müssen.

»Wir haben gestritten.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Ich weiß nicht, wie lange es hin und her ging, aber irgendwann bin ich rausgerannt«, mit einer Geste gab sie zu verstehen, wie stürmisch sie gerannt war, was Christian sich ohnehin mühelos vorstellen konnte, »und habe ihn hier allein zurückgelassen.«

»Ihr habt also gestritten. Lautstark.«

Sie nickte.

Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen und schließlich zu ihr zurückkehren. »Keine zerbrochenen Vasen? Kein Zierrat, der durchs Zimmer geflogen ist?«

Letitia verschränkte die Arme unter der Brust und hob arrogant das Kinn. »Nein, es war nicht diese Art Streit.«

Also ein kalter Schlagabtausch, ohne Hitze oder Leidenschaft. Merkwürdig, dachte er, das passt gar nicht zu ihr.

Wieder ließ er den Blick durch das Zimmer schweifen. In Wahrheit wandte er allerdings den Blick von ihr ab, um ihr nicht ständig auf die Brüste starren zu müssen. Brüste, die er bestens kannte – oder zumindest einst gekannt hatte. Dass er seinen Geist mit aller Kraft von den schmutzigen Bildern der Vergangenheit losreißen musste – die als Erinnerung noch mächtiger waren als jede Fantasie –, kostete ihn so viel Mühe, dass er keinen weiteren Gedanken daran verschwenden wollte. Unruhig trat er hin und her. »Du hast Randall also heil und unversehrt hier zurückgelassen. Was ist dann passiert? Was geschah als Nächstes?«

»Überhaupt nichts, bis meine Ankleidezofe heute Morgen in mein Schlafzimmer gestürmt kam und mir berichtet hat, dass es eine Leiche gibt.« Letitia wandte sich vom Blutfleck ab.

Er war neben ihr, als sie zum Fenster schritt, das zur Straße hinauszeigte, und stehen blieb.

»Als ich mich angezogen hatte und nach unten gegangen war, hatte unser Butler Mellon … was für eine Plage dieser Mann ist … Mellon hatte es schon selbst übernommen, die Behörden zu informieren, die wiederum einen Ermittler aus der Bow Street beauftragt hatten. Einen wieselartigen, engstirnigen Mann, dessen einzige Sorge offenbar darin besteht, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen, ganz egal, wie es um die Wahrheit bestellt ist.«

Sie verfiel in Schweigen, aber ehe er seine nächste Frage formulieren konnte, warf sie ein: »Meine Ankleidezofe hat noch irgendwas gebrabbelt, sie war völlig aus dem Häuschen. Die Tür zum Büro soll an diesem Morgen geschlossen gewesen sein, der Schlüssel soll innen im Arbeitszimmer gelegen haben. Mellon und der Lakai haben versucht, die Tür aufzubrechen. Es ist ihnen aber nicht gelungen.« Christian und Letitia wandten sich um und betrachteten die Tür – eine schwere, mehrere Zentimeter dicke Eichentür mit einem ebenso schweren Schloss. »Glücklicherweise haben wir im Haus jemanden, der verriegelte Schlösser öffnen kann. So sind sie ins Zimmer gelangt … und haben ihn schließlich gefunden.«

Christian verließ den Platz an ihrer Seite und streifte zur Tür. Obwohl seine Sinne unverändert abgelenkt blieben, war er geistig voll und ganz bei der Sache. »Wie weit drinnen? Schätze es nach dem Gebrabbel der Zofe.«

»Nicht ganz einen Meter, mehr nicht. So hat es sich jedenfalls bei ihr angehört.«

Er starrte auf die Stelle auf dem Boden und grübelte noch, was es wohl zu bedeuten hatte, dass dort ein Schlüssel lag, als ein junges Mädchen in der Tür auftauchte. Er hob den Kopf, schaute sie an – und lächelte beim Anblick ihres Haares. »Hermione.«

»Lord Dearne.« Sie knickste. »Ich hatte keine Ahnung, ob du dich wohl an mich erinnern würdest.«

Christian sorgte für ein charmantes Lächeln, so als hätte er das Schlamassel nicht vergessen, in dem sie sich bei ihrer letzten Begegnung alle befunden hatten. Glücklicherweise sprach ihr Haar Bände; es war, soweit er es gehört hatte, das gemeinsame Erkennungszeichen aller, die in das Haus Vaux geboren waren. Auf ihrem Kopf prangten die üppigen, dunklen Locken, die trotz ihrer dunklen Tönung nur als Rot durchgehen konnten. Das und ihre Gesichtszüge machten aus ihr eine sanftere, mildere Version von Letitia, weshalb es nicht schwierig war, sie einzuordnen.

Hermione konzentrierte sich auf ihre ältere Schwester und trat weiter ins Zimmer. Christian bemerkte, dass sie dem Blutfleck keine Beachtung schenkte; ihr Augenmerk lag auf Letitia.

Er schaute Letitia an; wie abwesend hatte sie den Blick nach unten gerichtet. Es schien sie nicht zu stören, dass Hermione sich zu ihnen gesellte.

»Das ist alles, was ich aus eigener Anschauung weiß«, fuhr sie mit Blick auf Christian fort, »von diesem Kundschafter habe ich erfahren …«

»Nein.« Er streckte ihr die erhobene Hand entgegen. »Ich möchte nicht, dass du es mir erzählst. Ich will es von ihm selbst hören.«

Sie musterte ihn eindringlich. »Ohne meine Deutungen?«

Christian unterdrückte ein Grinsen. »Ohne deinen Fremdeinfluss.«

Letitia stieß ein undefinierbares Geräusch aus, was die weiblichen Vaux’ zu einer wahren Kunstform erhoben hatten, und schaute Hermione an. »Geht es dir gut?«

Hermione blinzelte. »Natürlich. Ich mache mir Sorgen um dich.«

Letitia zuckte die Schultern. »Sobald Justin auftaucht und diese Dummköpfe, die sich selbst als Behörden bezeichnen, eingestehen, dass er es nicht gewesen ist, und sobald sie sich auf die Suche nach dem wahren Mörder machen, bin ich wieder in Ordnung.«

Christian blinzelte kaum merklich. Aus ihren Worten war kein Sarkasmus herauszuhören – bei einer Vaux hätte man da auch nicht lange raten müssen –, aber hatte sie nicht gerade den Mann, mit dem sie acht Jahre lang verheiratet gewesen war, unter entsetzlichen Umständen verloren?

Er schaute genau hin. Sie hatte den Blick auf Hermione gerichtet, aber in den beiden Frauen war nichts anderes als schwesterlicher Trost zu erkennen. Gegenwärtig konnte Hermione noch als weniger strahlende Version von Letitia bezeichnet werden; aber wenn die Zeit gekommen war, würde sie sich zweifellos eindrucksvoll entwickeln. Die Schwestern schienen sich miteinander wohlzufühlen; der einzige echte Unterschied zwischen ihnen lag offenbar im Alter. Der Eindruck, dass sie noch Zuwendung brauchte, der Blick auf Hermione als schutz- und aufsichtsbedürftiger Person färbte Letitias Blick.

Christian kannte diese Empfindung. Stellte fest, dass sie ihm nur allzu vertraut war. Er rührte sich. »Wenn du bitte den Butler rufen würdest … Mellon … ich würde gern mit ihm sprechen.«

Ihn verhören. Er musste sich auf die Sache konzentrieren, um die es hier ging, anstatt sein verruchtes Weib auf der Klaviatur des Mitleids spielen zu lassen, wenn auch unbewusst.

Letitia zerrte an der Klingelschnur. Die Dienstfertigkeit, mit der reagiert wurde, sorgte für ein sarkastisches Lächeln auf ihren Lippen – und für einen Blickwechsel mit Christian. Offenkundig hielt Randalls Dienerschaft Christians Anwesenheit für so bemerkenswert, dass es notwendig war, sich in nächster Nähe aufzuhalten.

Trotzdem hatte Mellon den Blick pflichtbewusst auf sie gerichtet und schenkte Christian keine Beachtung. »Sie haben geläutet, Ma’am?«

»In der Tat, Mellon. Lord Dearne …«, sie deutete auf Christian, »möchte Ihnen ein paar Fragen stellen. Bitte antworten Sie nach bestem Wissen und Gewissen.«

Zögernd wandte Mellon sich Christian zu, der so ungezwungen und charmant lächelte wie immer.

Sie hätte ihn warnen sollen; Mellon versteifte sich und wurde frostig.

Christian registrierte es auch, schenkte der Reaktion des Butlers aber keine Beachtung. »Wie lange sind Sie Butler bei Mr. Randall … gewesen?«

»Zwölf Jahre, Mylord.«

Also lange vor Letitias Ehe mit Randall. Christian schaute sie an, konnte in ihrem Gesicht und in ihrer Haltung aber nicht mehr erkennen als eine Art schicksalsergebener Gleichgültigkeit gegenüber Mellon. Offenkundig mochte sie den Mann nicht, hatte ihn aber als Oberhaupt der Dienerschaft gewähren lassen; Christian fragte sich, warum. »Wie sind Sie mit Ihrem verstorbenen Herrn zurechtgekommen?«, wollte er wissen.

Mellon blähte den Brustkorb auf. »Es war …« Er brach ab, kniff die Augen zusammen und straffte das Kinn. »Es war ein Vergnügen, für Mr. Randall zu arbeiten, Mylord.«

»Und das übrige Personal?«

»Empfindet auch so, Mylord. Niemand aus der Dienerschaft hatte jemals Schwierigkeiten mit dem Herrn.« Mellons Blick schwenkte zu Letitia, hielt aber inne, bevor er auf sie traf.

Die Feindseligkeit des Mannes war unübersehbar, und wieder stellte Christian sich die Frage, woran das wohl liegen mochte. Die Letitia, die ihm vertraut war, verhielt sich den niederen Dienstgraden gegenüber ausnahmslos freundlich; diese Regung war ihr angeboren, ganz und gar instinktiv und nichts, was sie ohne Weiteres verändern konnte. Für Mellons offenkundige Abneigung musste es also andere Gründe geben.

»Sehr gut«, stieß er mit entspannter Stimme aus. »Wenn Sie mir bitte erzählen würden, was Ihnen über den Vorfall bekannt ist. Bitte teilen Sie mir nur das mit, was Sie gestern Nacht persönlich beobachtet haben. Fangen Sie an dem Punkt an, an dem Lady Randall nach Hause gekommen ist.«

Mellon spitzte die Lippen wie ein altes Weib, gehorchte aber nur zu bereitwillig. »Die Herrin kam nach Hause, und der Herr wünschte mit ihr zu sprechen. Hier, im Arbeitszimmer. Die Tür wurde geschlossen, sodass ich nicht verstehen konnte, was gesprochen wurde, aber es ging hoch her.« Sein Blick fiel auf Letitia und fixierte anschließend wieder einen Punkt hinter Christians rechter Schulter. »Wir konnten das Gezeter Ihrer Ladyschaft hören, so wie wir es von ihr gewohnt sind.«

Ah. Da haben wir es ja. In seiner Ergebenheit nahm Mellon es Letitia übel, wie sie Randall behandelt hatte.

Christian hielt inne und fasste zusammen: Randall war der Gentleman, um dessentwillen Letitia ihn betrogen hatte. Und doch schien ihre Haltung, so wie er sie bisher erlebt hatte, vollkommen unvereinbar mit jener Liebesheirat, die eigentlich hätte dahinterstecken sollen. Er wollte im Kopf behalten, mehr über Randall in Erfahrung zu bringen, besonders über die Ehe mit Letitia. Aber zuerst … sein Drang zu beschützen war offenbar unstillbar, denn er zwang ihn zu der Frage: »Ist in der Zeit, in der Ihre Ladyschaft und Mr. Randall im Arbeitszimmer gestritten haben, irgendetwas vorgefallen?«

»In der Tat, Sir, allerdings nicht im Arbeitszimmer.« In Mellons Augen glühte die Rachsucht. »Lord Justin Vaux, der Bruder der Herrin, verlangte den Herrn zu sehen. Ausdrücklich den Herrn, nicht die Herrin. Er konnte hören, dass es im Arbeitszimmer hoch herging, weshalb er erklärte, in der Bibliothek warten zu wollen. Ich habe ihn hingeführt. Er sagte, ich brauche nicht zu warten … es war schon ziemlich spät. Er sagte, dass er selbst eintreten würde, sobald die Herrin verschwunden sei.«

»Sie haben sich also zurückgezogen?« Sein Tonfall klang überrascht, denn Percival zog sich niemals zurück, wenn sein Herr noch auf den Beinen war, es sei denn, er hatte es ihm ausdrücklich erlaubt.

Mellon sah irritiert aus. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Aber Seine Lordschaft machte es sich hier oft gemütlich, und zuvor hatte mein Herr erwähnt, dass er ihn erwarten würde, nun ja, also … es war eindeutig, dass er mich aus dem Weg haben wollte. Also bin ich gegangen.«

Auch ohne einen Blick auf Letitia blieben Christian kaum Zweifel daran, wie Mellons Aussage zu deuten war. Justin hatte Randall nicht gemocht, weshalb er oftmals zu Besuch gekommen war, es sich »gemütlich« gemacht und Letitia unterstützt – und sie sehr wahrscheinlich auch im Auge behalten hatte. All das zeigte sich unverhohlen in den Worten des Butlers, denn obwohl Justin und Letitia sich nahestanden, hatten sie einander nie am Rockzipfel gehangen. Außerdem gab es ja noch Hermione. Christian schaute sie an und fragte sich, ob Letitias beschützende Haltung über einen tief wurzelnden Familieninstinkt hinaus irgendwelche Gründe hatte.

Es war klar, dass Justin aus seiner Abneigung gegenüber Randall keinen Hehl gemacht hatte, worauf wiederum Mellons wütende Abneigung gegen ihn zurückzuführen war.

»Über diesen Punkt hinaus ist Ihnen also nichts weiter über die Ereignisse bekannt.« Er fing Mellons Blick auf. »Sie können nicht mit Sicherheit aussagen, dass Lord Vaux die Bibliothek tatsächlich verlassen hat, in das Arbeitszimmer gegangen und dort auf Ihren Herrn getroffen ist.«

Mellon kniff die Lippen zusammen. »Nein. Aber ich kann sagen, dass er mehr als eine Stunde später das Haus wieder verlassen hat. Mein Zimmer liegt über der Eingangstür, ich habe gehört, wie sie geöffnet und geschlossen wurde. Ich bin aus dem Bett und habe rausgeschaut – nur um mich zu vergewissern – und habe beobachtet, wie Lord Vaux die Treppe hinuntergestiegen und auf den Bürgersteig getreten ist.«

»Welche Richtung hat er eingeschlagen?«

»Links. Richtung Piccadilly.«

Christian zog eine Braue hoch und schaute Letitia an.

Sie hatte die Arme wieder verschränkt. In ihr schwelte die Wut, aber es lag auch Sorge in ihrem Blick. Er wartete … »Justins Wohnung liegt in der Jermyn Street«, stieß sie schließlich aus.

Ohne zu zögern, hatte Mellon die korrekte Richtung angegeben. Höchstwahrscheinlich hatte er also tatsächlich beobachtet, wie Justin das Haus verlassen und den Heimweg eingeschlagen hatte. Christian dachte nach. »Falls irgendjemand sonst Ihrem Herrn gestern Abend einen Besuch abgestattet hätte, nach Lord Vaux oder auch vorher – hätten Sie es mitbekommen?«

»Ja, Sir … Mylord. Ich hätte die Klingel gehört, denn es klingelt sowohl in meinem Zimmer als auch in der Küche. Und selbst wenn nur geklopft worden wäre, hätte ich gar nicht anders können, als es zu hören, bedenkt man die Lage meines Zimmers.«

Es schien kaum sinnvoll, ihn darauf hinzuweisen, dass er auch tief im Schlaf hätte liegen können. »Sehr gut.« Christian wandte sich dem Blutfleck auf dem Boden zu. »Wir sollten uns um heute Morgen kümmern. Was ist passiert, nachdem Sie heruntergekommen waren?«

»Ich war an der Anrichte, um nach dem Besteck für den Frühstückstisch zu sehen, als die Haushälterin Mrs. Crocket zu mir kam und erzählte, dass die kleine Zofe, die morgens das Arbeitszimmer putzt, die Tür nicht öffnen kann. Ich bin sofort hingegangen, hatte die Vermutung, dass der Herr sein Arbeitszimmer vielleicht schon früh aufgesucht hat. Aber auf mein Klopfen erhielt ich keine Antwort, noch nicht einmal, als ich ihn anrief. Dann hat einer der Bediensteten durchs Schlüsselloch geschaut … ich war ganz überrascht, dass er es überhaupt konnte, denn der Schlüssel hätte im Loch stecken sollen. Sein Gesicht hat sich ganz grün gefärbt, und er hat gesagt, dass der Herr auf dem Boden liegt und dass Blut zu sehen ist.« Mellon erblasste.

»Was geschah als Nächstes?«

»Wir haben versucht, die Tür aufzubrechen, ich und noch zwei Bedienstete, aber sie hat sich keinen Zentimeter bewegt. Wir haben überlegt, ob wir ein Fenster einschlagen und jemanden durchschieben sollen, als eine der Zofen uns anvertraute, dass der Junge aus der Spülküche Schlösser knacken kann. Wir haben ihn hergeholt, und es ist ihm tatsächlich gelungen, die Tür zu öffnen. Wir sind reingestürmt …«, Mellons Blick schweifte auf den blutbefleckten Boden, »… und haben unseren Herrn hier aufgefunden. Tot. Mausetot.«

Bei den letzten Worten zitterte seine Stimme. Christian gewährte ihm einen Moment, die Fassung wiederzuerlangen.

Er schaute Letitia an, die kreidebleich geworden war. »Ich kann sehr gut verstehen, dass all dies erschütternd ist«, er sprach eher mit ihr als mit Mellon, bevor er sich doch wieder an den Butler wandte, »aber wenn Sie mir bitte beschreiben können, wie Randall hier gelegen hat? Auf dem Rücken? Auf dem Gesicht?«

Sämtliche Farbe wich aus Mellons Miene. »Auf dem Rücken, Mylord.« Er mahlte mit dem Kiefer. »Von Gesicht konnte nicht mehr die Rede sein.«

Letitia stieß ein ersticktes Geräusch aus und wandte sich ab. Mit der Hand an ihrer Kehle starrte sie zum Fenster hinaus. Hermione war erblasst, aber weniger aus der Fassung geraten.

Christian unterdrückte den beunruhigend starken Drang, das Verhör abzubrechen, um es Letitia zu ersparen, die es ihm aber mit Sicherheit nicht danken würde, und fuhr fort. »Anscheinend war es so, dass Randall und sein Angreifer dem Feuer im Kamin zugeschaut haben. Wenn ich es richtig verstanden habe, standen zwei Gläser Brandy auf dem Tischchen. Waren sie ausgetrunken?«

Mellon fing sich wieder, als das Thema gewechselt wurde. »An beiden war genippt worden, ohne dass sie ausgetrunken waren.«

»Wo genau befand sich der Schlüssel?«

Mellon schaute zur Tür und zeigte auf die Stelle. »Dort, auf dem Boden … an dem Astknoten im Holz.«

Hermione regte sich. Christian warf ihr einen Blick zu und stellte fest, dass sie begierig bei der Sache war. Er schaute Letitia an, die ebenfalls aufmerksam war, aber nicht mit der gleichen Intensität. Wieder ließ er den Blick auf Hermione schweifen, die die Augen weit aufgerissen hatte; sie war sichtlich angespannt. »Legen Sie den Finger auf die Stelle«, befahl er Mellon, ohne ihn anzuschauen.

Mellon gehorchte. »Hier war es, wenn meine Erinnerung mich nicht im Stich lässt.«

Hermione hatte den Blick noch immer auf Mellon gerichtet. Als der Butler sich straffte, schaute sie Christian erwartungsvoll an.

Christian war nicht ganz klar, was sich gerade abspielte, und stellte Mellon die Frage, die auf der Hand lag. »Was glauben Sie, wie der Schlüssel dorthin gelangt ist?«

»Das kann ich nicht genau sagen, Mylord.«

»Und wenn Sie eine Vermutung anstellen müssten?«

»Ich glaube … dass Lord Vaux die Tür hinter sich abgeschlossen und den Schlüssel unter dem Spalt durchgeschoben hat.«

Christian nickte. Das schien die wahrscheinlichste Erklärung zu sein, außer … »Warum sollte Lord Vaux das tun? Wenn er Ihren Herrn kurz zuvor auf geradezu grausame Weise ermordet hat, warum sollte er sich dann die Mühe machen, die Tür abzuschließen und den Schlüssel unter dem Spalt durchzuschieben?«

Mellon runzelte die Stirn. Fand keine Antwort.

»Um sich die Zeit zu verschaffen, die Kurve zu kratzen.«

Die Worte sorgten dafür, dass alle Augen sich auf die Tür richteten, denn sie stammten aus dem Munde einer Person, die in der Halle aufgetaucht war. Es reichte ein Blick auf seine frettchenartigen Gesichtszüge, und Christian wusste, mit wem er es zu tun hatte.

Letitia hatte sich in einem beängstigenden Maße versteift. »Dearne, wenn Sie gestatten, dass ich Ihnen Mr. Barton aus der Bow Street vorstelle«, stieß sie in einem Tonfall aus, der der hochmütigsten Duchess ebenbürtig wäre.

Mehr musste sie nicht sagen. Ihr Tonfall gab zu verstehen, was in ihr vorging. Offenkundig war es Barton bereits gelungen, sie gründlich gegen sich aufzubringen.

Christian nickte Barton absichtlich sanft zu. »Lady Randall hat mich gebeten, die Umstände zu untersuchen, die zum Tode ihres Mannes geführt haben. Darf ich fragen, warum Lord Justin Vaux ›die Kurve gekratzt‹ hat, um es in Ihren Worten auszudrücken?«

Barton war sich nicht ganz schlüssig, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. Christian überließ es ihm, sich eine Position zu überlegen, was dazu führte, dass Barton sich für Vorsicht entschied. Er antwortete höflich und zuvorkommend. »Angesichts der Umstände habe ich mich in die Wohnung Seiner Lordschaft begeben. Mir wurde zu verstehen gegeben, dass Ihre Ladyschaft«, Barton warf einen Blick auf Letitia, »ihm zuvor eine Nachricht gesandt hatte, dass seine Anwesenheit hier erwünscht sei, dass sie aber keine Antwort erhalten habe. Dies ist nicht überraschend, da Seine Lordschaft untergetaucht ist.«

Letitia sah erschrocken und schockiert aus, genau wie Hermione.

»Untergetaucht?« Letitia starrte Barton an. Christian konnte förmlich sehen, wie das Räderwerk in ihrem Kopf arbeitete. Dann schnaubte sie leise und wandte den Blick ab. »Ich wage die Vermutung, dass er sich zu Besuch bei Freunden auf dem Lande aufhält. Immerhin haben wir August. Mr. Barton, ich befürchte, dass hinter dem Untertauchen nichts anderes steckt.«

»Wollen Sie behaupten«, stieß Mr. Barton streitlustig aus, »dass es für Seine Lordschaft üblich ist, überstürzt mitten in der Nacht die Stadt zu verlassen … für eine Landpartie? Mit seinem Kammerdiener, der nicht die geringste Ahnung hatte?« Als Letitia nichts antwortete, fuhr er fort: »Weil nach Aussage seines Vermieters, der im Erdgeschoss wohnt, genau das geschehen ist.«

Kurz darauf senkte Barton den Blick und zog alle Aufmerksamkeit auf das, was er in der Hand hielt. Es schien sich um ein viele Male gefaltetes Kleidungsstück zu handeln. »Und dann haben wir noch das hier.«

Barton schüttelte das Kleidungsstück aus, das sich als Umhang eines Gentlemans erweisen sollte. »Könnte das Ihrem Bruder gehören, Eure Ladyschaft? Erkennen Sie es wieder?«

Letitia trat näher und betrachtete den Schnitt. »Es sieht aus wie Justins.« Vor dem Umhang, den Barton ihr diensteifrig auf Armeslänge entgegenhielt, blieb sie stehen und zog die Brauen hoch. »Ist er von Shultz?« Sie streckte die Hand nach dem linken Aufschlag aus.

Barton wischte den Umhang fort. »Sie sollten Vorsicht walten lassen, wenn Sie ihn berühren, Ihre Ladyschaft. Es klebt noch Blut an der Kleidung – höchstwahrscheinlich das Blut Ihres Mannes.«

Jeder Tropfen Blut wich Letitia aus dem Gesicht.

Sofort und noch ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, war Christian an ihrer Seite. »Barton.« Nur ein einziges Wort, bedrohlich ausgestoßen, aber noch nicht annähernd so, wie er empfand. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt und kämpfte einen mächtigen Impuls nieder, den Ermittler zu prügeln. Es lag ihm auf der Zunge, den Kerl zur Schnecke zu machen, aber … sie mussten in Erfahrung bringen, was er enthüllt hatte. »Hat der Vermieter eine Idee, wohin Seine Lordschaft geeilt ist?«

Er hatte die Frage beinahe gebellt. Barton versteifte sich; eigentlich wollte er die Antwort verweigern, wagte es aber nicht. »Nein.«

»Weiß er, wie sie die Stadt verlassen haben … in einer Mietkutsche? Oder hat Lord Vaux seinen Zweispänner gelenkt?«, fragte er mit Blick auf Letitia. Sie presste die Lippen zusammen und nickte. Justin hielt sich tatsächlich eine Kutsche in der Stadt.

Barton war das Zwischenspiel nicht entgangen. »Seine Lordschaft ist in seinem Zweispänner abgereist«, stieß er grimmig aus. Seine Augen hatten sich vor Misstrauen verdüstert.

»Gibt es noch etwas, womit Sie Licht in diese Angelegenheit bringen könnten? Irgendwelche Informationen?«

»Nein, Mylord. Die Leiche ist zum Polizeichirurgen gebracht worden. Wenn er mit seiner Untersuchung fertig ist, wird der Leichnam für Ihre Ladyschaft zur Bestattung freigegeben.« Barton hatte absichtlich von »Leichnam« gesprochen, während sein Blick zu Letitia schweifte.

Christian verspürte einen fast überwältigenden Drang, dem Mann den Hals umzudrehen. »Sehr gut.« Sein harscher Tonfall führte dazu, dass Barton wieder zu ihm schaute; er fing den Blick des Mannes auf. »Wenn die Zeit gekommen ist, werden Sie Mellon informieren, und zwar persönlich. Er wird die Nachricht an mich weiterleiten. Ihre Ladyschaft ist in der Sache nicht weiter zu behelligen. Alle Anfragen sind durch mich zu übermitteln.« Er hielt Bartons Blick fest. »Ich nehme an, dass ich mich klar genug ausgedrückt habe?«

Die letzten Worte waren ihm bedrohlich knurrend über die Lippen gekommen, fast schon wie bei einem Löwen, der sich auf seine nächste Mahlzeit freut. Letitia hatte nicht nur die Worte gehört, sondern jede Nuance, die aus seinem Tonfall sprach, und hätte ihn am liebsten geküsst.

Unglücklicherweise durfte sie das nicht, weder jetzt noch überhaupt jemals wieder. Aber es war offenkundig, dass sie ihm tief im Herzen immer noch etwas bedeutete. Ihr ganzes Leben hatte sie unter Männern verbracht, die waren wie er, und wusste daher genau, wie sie solche Signale zu deuten hatte.

Unter Christians hartem Blick nickte Barton. »Wie Sie wünschen, Mylord.«

Christian senkte den Kopf. »Gut.« Er hielt inne. »Seien Sie umgekehrt versichert«, fügte er hinzu, »dass jede belastbare Information, die ein Licht auf den Mord an Randall wirft, bei der nächsten Gelegenheit an Sie weitergeleitet wird.«

Letitia drehte den Kopf und starrte ihn an. Er schlug doch tatsächlich einen versöhnlichen Tonfall an – dem Feind gegenüber! So etwas war ihr noch niemals untergekommen. Sie wollte gerade tief durchatmen und so manchem unterdrückten Gefühl freien Lauf lassen – wer darunter leiden sollte, Christian oder Barton, hatte sie noch nicht endgültig geklärt –, als Christian ihren Blick auffing.

Nur ein einziger Blick – betont, eindringlich –, und sie presste grimmig die Lippen aufeinander.

Aufs Neue verschränkte sie die Arme und fixierte Barton mit frostigem – eisig wütendem – Blick.

Barton hatte ebenfalls in ihre Richtung geschaut, wandte sich jetzt aber Christian zu und nickte. »Dann mache ich mich mal auf den Weg.« Er verbeugte sich in die Runde, drehte sich um und verschwand.

Auf ein Nicken von Christian folgte Mellon ihm aus dem Zimmer und schloss die zentimeterdicke Eichentür hinter sich.

Kaum war die Tür geschlossen, ließ Letitia ihrem Temperament freien Lauf. »Wie kannst du es nur wagen!« Sie atmete tief durch und tobte weiter.

Christian warf einen Blick auf Hermione. Obwohl sie stumm blieb, stachelte sie ihre Schwester eindeutig an und stimmte jeder dramatischen, wuchtig vorgebrachten Gefühlsregung zu. Das überschäumende »Ganz recht!« sprach ihr unmissverständlich aus den Augen, aus ihrem gesamten Dasein.

Schicksalsergeben lehnte er sich an die Kante des schweren Schreibtisches und schaute zu, wie Letitia tobte und stapfte und aufs Neue zu toben anfing. Niemand konnte toben wie eine Vaux – sie hatten solche Anfälle zur Kunstform erhoben. Trotzdem war er einigermaßen erstaunt, wie erfindungsreich sie immer noch war; farbigste Phrasen und auffallend feindselige Vergleiche – »hohlköpfiger, dummer Schwachkopf mit weniger Hirn als eine Haselmaus« – tropften ihr über die Zunge, ohne dass sie Luft schöpfen musste.

Es war besser, sie gewähren zu lassen. Das war die Verrücktheit der Vaux’, ihre Marotte, und all diese natürliche Energie musste sich Luft machen.

Schließlich hatte sie Barton zu Ende seziert, einschließlich seiner Vor- und möglichen Nachfahren, und schwang zu Christian herum.

Fixierte ihn mit feurigem Blick. »Und was dich betrifft – wie konntest du nur? Anfangs hast du ihn ordentlich in die Zange genommen – und dafür danke ich dir auch –, aber schon nach dem ersten Zugeständnis, nach der ersten halbwegs vernünftigen Bemerkung tätschelst du ihm den Kopf und lässt ihn gehen! Schlimmer noch … du hast praktisch versprochen, ihm alles mitzuteilen, was wir herausfinden!« Einen Schritt von ihm entfernt blieb sie stehen und starrte ihm in die Augen. Da er sich an der Tischkante abstützte, befand sie sich auf gleicher Höhe mit ihm. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«

»Dass er unter Umständen etwas in Erfahrung bringen könnte, was wir wissen müssen.« Christian achtete auf einen sanften Tonfall, der spiegelte, was er empfand. Er lächelte, wie immer erfreut, denn die hysterischen Ausfälle der Vaux’ hatten ihm nie etwas ausgemacht – was wiederum die Vaux’ immer fasziniert hatte. Alle anderen wurden fast ausnahmslos nervös, wenn die Familie ihr Temperament in die Zügel schießen ließ. Die meisten neigten dazu, sich wegzuducken oder die Flucht zu ergreifen, wenn es ihnen möglich war. Nicht so er; er fand ihre ungezügelte, hemmungslose Energie erfrischend, denn trotz ihres unverkennbaren Spottes waren die Vaux’ niemals absichtlich boshaft. Sie waren weder gefährlich noch wahnsinnig – auch wenn viele Leute davon überzeugt waren.

Ihre Temperamentsausbrüche waren pures Feuerwerk, ganz und gar nicht schädlich, wenn man es umsichtig zu handhaben wusste, und manchmal sogar höchst unterhaltsam.

Ganz besonders, da kein Vaux ihm jemals seine Ungerührtheit vorgeworfen hatte. Am allerwenigsten Letitia.

Seine ruhigen Worte hatten ihr eine Pause verschafft. Sie musterte ihn mit einem Blick, in dem zu erkennen war, dass die lodernde Flamme ihres Temperaments langsam erstarb. Er konnte beinahe spüren, wie sich das Energiefeld um sie herum verflüchtigte.

»In einem alten, aber klugen Spruch heißt es«, bot er an, »dass man seine Freunde in der Nähe behalten soll, aber seine Feinde noch viel näher.«

Ihre Miene veränderte sich. Kühle Gelassenheit schlich sich ein. »Nun, was das betrifft, kennst du dich ja aus.«

Es lag etwas in ihrer Stimme, was er weder zu erkennen, noch einzuordnen vermochte. Ihr Blick schweifte über den blutigen Fleck auf dem Boden, ehe sie zur Tür ging. »Bist du hier fertig?«

Christian richtete sich auf und schaute sich um. »Ja.« Er schloss sich ihr an, hielt aber kurz inne, um Hermione vor sich durch die Tür treten zu lassen. »Ich habe noch Fragen an euch beide.«

Ohne Kommentar führte Letitia ihn durch die Eingangshalle in das Zimmer schräg gegenüber dem Arbeitszimmer. »Der Salon nach vorn raus«, sagte sie mit einer Handbewegung, »ich halte mich öfter dort auf als im Wohnzimmer.«

Links von ihm führte ein Bogengang in ein tiefer im Haus gelegenes Zimmer, in dem er Regalreihen erkannte, die mit Büchern bepackt waren. »Die Bibliothek?«, fragte er und eilte in die Richtung, als sie nickte.

Letitia und Hermione folgten ihm.

Die Bibliothek war ein recht großer Raum mit Bücherregalen vom Boden bis zur Decke, die fast alle Wände abdeckten. In der Mitte des Zimmers blieb er stehen und ließ den Blick über die Bücher schweifen. »Randalls?«

»Ja. Nicht dass er die Bücher je gelesen hätte.«

»Wie, er hat sie gekauft, aber nicht gelesen?«, fragte er weiter.

Sie zuckte die Schultern. »Er hat nie gelesen. Natürlich konnte er lesen, aber er hat nie ein Buch gelesen. Nicht, dass ich ihn je dabei beobachtet hätte.«

Wieder betrachtete Christian die Regale. Viele Vaux’ liebten Bücher, und die meisten lasen wie verrückt. Sogar Letitia hatte er manchmal mit der Nase in einem Buch ertappt. Die Vorstellung, dass ein vollkommener Nichtleser in die Familie einheiratete, schien … merkwürdig. Es mochte nicht ungewöhnlich sein, dass ein Gentleman sich eine Bibliothek nur deshalb einrichtete, um anzugeben – aber in diesem Zimmer befanden sich wirklich viele Bücher.

»Vielleicht hat er sie als Investition betrachtet«, erklärte Letitia, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte.

Sie ging an ihm vorbei zum Ohrensessel am Kamin. Auf dem Tischchen neben dem Sessel lag ein aufgeschlagenes Buch, das sie in die Hand nahm. »Justin«, stieß sie leise schnaubend aus, »damit hat er sich also beschäftigt, während er darauf gewartet hat, dass ich Randall allein lasse.«

Er schaute ihr über die Schulter. »Seneca. Briefe an Lucilius über Ethik.« Er schürzte die Lippen. »Genau die passende Lektüre für einen männlichen Vaux.«

Sie legte das Buch zur Seite und drehte sich zu ihm. »Was möchtest du sonst noch wissen?«

Er deutete auf den Ohrensessel. Letitia ließ sich in den Sessel sinken, während er Hermione heranwinkte. Sobald die beiden Frauen Platz genommen hatten, schaute er zu ihnen hinunter. »Wenn wir den Verdacht von Justin ablenken wollen, müssen wir das Verbrechen in allen Einzelheiten rekonstruieren und beweisen, dass jemand anders die Gelegenheit hatte, Randall zu ermorden.«

Schritt für Schritt breitete er aus, was sie in Erfahrung gebracht hatten, von dem Zeitpunkt an, als Letitia nach Hause zurückgekehrt war, bis zu dem Chaos am folgenden Morgen. Es führte zu nichts.

Er verzog das Gesicht. »Barton hat recht. Der größte Verdacht ruht auf Justin.«

»Mag sein«, gestand Letitia grimmig ein, »aber er hat es nicht getan.«

»Der Schlüssel«, wandte Hermione ein, »den darfst du nicht vergessen. Hast du selbst gesagt.« Sie musterte Christian aus ihren großen Augen. »Warum sollte Justin so etwas tun? Das gibt keinen Sinn. Also kann er auch nicht der Mörder sein.«

Christian erwiderte ihren Blick und fragte sich nicht, ob sie etwas verbarg, sondern was es war. Schließlich hatte sie nicht zum ersten Mal das Wort zu Justins Verteidigung ergriffen.

Er musterte Letitia. Nachdem er nun ein paar Stunden in ihrer und Hermiones Gesellschaft verbracht hatte, wuchs seine Überzeugung, dass sich das Temperament der Vaux’ nicht verändert hatte. Sie hatten sich nicht verändert. Ließ man beiseite, dass Letitia ihn betrogen hatte, waren Treue und Ergebenheit tief in ihnen verwurzelt, ganz besonders, wenn es um ihre Familie ging. Letitia hatte – vollkommen selbstlos, wie er überzeugt war – den Graben übersprungen, der zwischen ihnen aufgerissen war, hatte jedem Zorn getrotzt, den er vielleicht auf ihr abladen mochte, und war bereit, jeden Preis zu zahlen, den er ihr abverlangen würde – nur um seine Unterstützung zu gewinnen, Justin reinzuwaschen. Hermione hegte unverkennbar die gleichen Empfindungen. Christian fragte sich, ob sie aufgrund ihrer Empfindungen bereits etwas unternommen hatte, und wenn ja, worum es sich handelte.

Er fixierte Hermione mit direktem Blick. »Weißt du mehr darüber, was letzte Nacht geschehen ist?«

Sie blinzelte bedächtig und schüttelte den Kopf. »Nein. Nur was ich dir schon erzählt habe.«

Christian glaubte ihr nicht. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass Letitia ihre Schwester ebenfalls mit leichtem Stirnrunzeln musterte, aber nichts sagte.

Obwohl die Vaux’ nur selten logen, war er überzeugt, dass beide lügen würden, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken, wenn es zu Justins Verteidigung erforderlich war … und die Loyalität in der Familie ging in beide Richtungen. Es war sehr gut möglich, dass Justin sie schützen wollte.

Wieder fiel sein Blick auf Letitia. Er wartete, bis sie seinen Blick spürte und erwiderte. Er musterte ihre Augen – Augen, die er in ihrer grüngoldenen Herrlichkeit nur allzu gut kannte. Augen, die er in der Vergangenheit stets zu lesen imstande gewesen war. »Sag mir, dass du Randall nicht getötet hast.«

Sie blinzelte, wich seinem unverwandten Blick aber nicht aus. Christian erkannte, dass sie begriff und ihr Geist den Weg einschlug, den er bereits eingeschlagen hatte. »Ich habe Randall nicht getötet«, erklärte sie mit kaum merklich hochgezogenen Brauen. Ein Moment verstrich, bevor sie das Gesicht verzog und ergänzte: »Mir war oft danach, ihm den Hals umzudrehen. Trotzdem, nein, ich habe es nicht getan. Ich würde es niemals tun. Ebenso wenig wie Justin.«

Das, überlegte Christian, ist genau die richtige Antwort. Anders als bei Hermione hegte er keinerlei Zweifel daran, dass Letitia die Wahrheit sagte.

Er nickte. »Sehr gut. Uns bleibt also nur ein großes Rätsel, das wir sofort lösen müssen. Wo steckt Justin?«

2

Nachdem er allein zu Abend gegessen und die Gespräche und Begegnungen des Nachmittags in Gedanken noch einmal an sich hatte vorüberziehen lassen, fühlte Christian sich – sehr zum Unmut der eher rachsüchtigen Seite in seinem Innern – gezwungen, Randalls Haus einen weiteren Besuch abzustatten.

Nein, das Haus an sich interessierte ihn nicht; es war vielmehr die Herrin, die ihn dorthin zog.

Eigentlich war er überzeugt gewesen, dass er begriffen hatte, wie er und sie jetzt zueinander standen – aber trotzdem gab es gewisse Untertöne zwischen ihnen, die er sich nicht erklären konnte. Als Letitia ihm nachmittags zum Abschied die Hand gegeben hatte, hatte er zugegriffen – und gespürt, wie ihr Puls raste, wie ihr der Atem stockte.

Hatte gespürt, wie alles in ihm darauf reagierte.

Letitia hatte auf ihn reagiert, wie sie es immer getan hatte, vielleicht sogar noch eindringlicher – genauso, wie er auch von ihr berührt gewesen war. Weder mit dem einen noch mit dem anderen hatte er gerechnet, denn er hatte angenommen, dass sie Randall von ganzem Herzen und von ganzer Seele geliebt hatte; er hatte angenommen, dass die Anziehung, die sie füreinander empfunden hatten, sich folglich verflüchtigt hatte, wenn nicht sogar ganz erstorben war.

Aber nein, so war es nicht.

Während er mit raschem Schritt die South Audley Street entlangging, meldete sich die eher rachsüchtige Seite in ihm zurück und machte sich über ihn lustig – die Seite in seinem Innern, die sie durch ihren Betrug und die Ehe mit Randall überhaupt erst ins Leben gerufen hatte. Diese Seite erinnerte ihn jetzt daran, wie er sich gefühlt hatte, als Barton sie mit Justins Mantel gepeinigt hatte … wie hilflos er versucht hatte, seinen tief wurzelnden Impuls zu unterdrücken, sie beschützen und verteidigen zu wollen – einen Impuls, der in seiner Heftigkeit nur dadurch zu erklären war, dass er sie liebte. Dass er sie im hintersten Winkel seines Herzens und trotz all dem, was geschehen war, immer noch als sein betrachtete.

Als seinem Schutz unterstellt, auch wenn sie nicht mehr ihm gehörte.

Du steckst in einer erbärmlichen Lage, gestand er sich sarkastisch ein.

Mit unmerklicher Missbilligung näherte er sich Randalls Haus, einem Gebäude südlich des Grosvenor Square, – und registrierte sehr zu seiner Überraschung, dass jedes Fenster hell erleuchtet war, so als ob gerade ein Ball stattfinden würde. Verblüfft stieg er die Treppe hinauf und klopfte heftig an die mit schwarzem Trauerflor umrahmte Tür.

Mellon öffnete und blickte ihn aufgeregt an. Christian reichte ihm den Stock, schlenderte in den Salon und begriff.

Das Zimmer steckte voller Frauen. Ladys. Mit raschem Blick stellte er klar, dass sie ausnahmslos alle zur Vaux-Familie gehörten – zur Hauptlinie, zusammen mit zahlreichen Verzweigungen.

Die Vaux’ waren eine der ältesten Familien der gehobenen Gesellschaft. Sie waren legendär, gehörten zu den Familien, die jeder kannte und im Auge behielt, ein anerkannter Stützpfeiler der Gesellschaft. Christian entdeckte einige wenige Männer in der Menge, allesamt älter als er, in der überwiegend weiblichen Runde – in der alle durcheinanderredeten.

Glücklicherweise leise und wispernd, wie es einem trauernden Haus angemessen war. Trotzdem kam es ihm vor, als würde er sein eigenes Wort nicht verstehen können. Weil es so viele waren, weil die meisten nicht saßen, sondern standen, und weil die Vaux’ zu einem großen, gebieterischen Typ von Frauen gehörten, wurde er nur von der Gruppe bemerkt, die sich neben ihm befand. Und auch wenn besagte Ladys das Reden einstellten, als sie seine Ankunft bemerkten, knicksten oder ihrem Rang entsprechend nickten, wandten sie sich anschließend rasch wieder ihren gewisperten Gesprächen zu.

Randall mochte zwar kein Vaux sein, aber er hatte eine der führenden Lichtgestalten der Familie geheiratet. Sein Tod war daher ein bemerkenswertes Ereignis im erweiterten Familienkreis – ein Ereignis, dem durch die Teilnahme an dieser Versammlung Anerkennung gezollt werden musste. Nicht als Totenwache für den Verstorbenen, sondern um der Hinterbliebenen Unterstützung zu gewähren.

Christian entdeckte Letitia auf einer Chaiselongue am Kamin und bahnte sich den Weg zu ihr. Das war nicht ganz einfach, da er den meisten Gästen bekannt war. Weil er charmant bleiben musste, kam er nur Schritt für Schritt voran.

Zumindest blieb ihm so die Zeit, sein Ziel eingehend zu betrachten.

Letitia saß zwischen ihren Tanten väterlicherseits – Lady Amarantha Ffyfe, Countess of Ffyfe, und Lady Constance Bickerdale, Viscountess Manningham – und führte ruhig und gefasst den Vorsitz über die Versammlung.

An ihrer Miene konnte man eindeutig ablesen, dass sie diese Zusammenkunft für unabdingbar hielt und bereit war, ihre Rolle als Gastgeberin zu spielen …

ENDE DER LESEPROBE