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Donna Leon

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Beschreibung

Der Spanier Gonzalo Rodríguez de Tejeda hat im Kunsthandel ein Vermögen gemacht. Nun verbringt er seinen Lebensabend in Venedig. Was kommt dann? Soll die rigide Familie, die mit seinem freizügigen Lebenswandel noch nie einverstanden war, seine Schätze erben? Brunettis Schwiegervater fürchtet, seinem Freund Gonzalo könne Übles zustoßen. Der Commissario soll helfen – und verläuft sich beinahe in den Abgründen des menschlichen Herzens.

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Donna Leon

Ein Sohn ist uns gegeben

Commissario Brunettis achtundzwanzigster Fall

Roman

Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz

Diogenes

Für Maxim Emelyanychev

The good we wish for, of‌ten proves our bane.

I pray’d for children, and I gain’d a son,

And such a son, as all men hail’d me happy.

But who’d be now a father in my stead?

The blessing drew a scorpion’s tail behind.

 

Was du dir wünschest, wird dir oft zum Fluch.

Ich bat um Kinder, und mir ward ein Sohn,

Und solch ein Sohn, dass selig sie mich priesen.

Doch nun, wer möchte Vater sein wie ich?

Der Segen trug den Stachel des Scorpions.

 

GEORG FRIEDRICH HÄNDEL, SAMSON

1

»Du weißt, ich mische mich ungern in anderer Leute Angelegenheiten«, begann Conte Falier, der seinem Schwiegersohn in einem jener altehrwürdigen Sessel gegenübersaß, die im Palazzo Falier überall herumstanden. »Aber in diesem Fall – wo er mir doch so nahesteht – komme ich einfach nicht umhin.«

Brunetti ließ dem Älteren Zeit, da er spürte, wie schwer es dem Conte fiel vorzubringen, was er auf dem Herzen hatte.

Der Conte hatte am Morgen in der Questura angerufen und gefragt, ob Brunetti nach Feierabend auf einen Drink bei ihm vorbeikommen könne, er müsse etwas mit ihm besprechen. Am liebsten wäre Brunetti bei diesem warmen Vorfrühlingswetter zu Fuß von der Questura zum Palazzo der Faliers spaziert. Doch bei dem wolkenlosen Himmel verbot sich allein schon die Riva degli Schiavoni, und die Piazza San Marco überqueren zu wollen wäre blanker Wahnsinn. Die vom Lido kommenden Vaporetti hingegen waren um diese Zeit zwar voll, platzten aber nicht mehr aus allen Nähten, und so hatte er resigniert seine Abneigung gegen öffent‌liche Verkehrsmittel überwunden, die Nummer eins nach Ca’ Rezzonico genommen und stand schon früh am Abend vor der Tür.

»Ich halte nichts von Klatsch«, beteuerte der Conte. Brunetti horchte auf. »Grundsätz‌lich nicht.«

»Dann lebst du in der falschen Stadt«, meinte Brunetti und lachte, um seiner Antwort die Spitze zu nehmen. »Und solltest die Venezianer meiden.«

Auf dem Gesicht des Conte machte sich ein entspanntes Lächeln breit. »Ersteres stimmt nicht, wie du weißt«, sagte er und setzte, noch breiter lächelnd, hinzu: »An Letzterem könnte etwas dran sein – aber was will man machen? Es ist zu spät. Ich verkehre, seit ich denken kann, mit Venezianern.«

Immer noch verwundert, dass sein Schwiegervater Klatsch über seinen besten Freund auch nur diskutieren wollte, fragte Brunetti: »Stammen diese Gerüchte über Gonzalo von einem Venezianer?«

»Ja, von einem Rechtsanwalt«, räumte der Conte ein, hob aber sogleich die Hand, damit Brunetti gar nicht erst nach dem Namen fragte. »Von wem ich es gehört habe, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur die Geschichte selbst.«

Brunetti nickte. Wie die meisten Venezianer war er es gewohnt, in einem Strudel aus wahren und falschen Erzäh‌lungen dahinzutreiben; doch anders als die meisten Venezianer hatte er keine Freude daran: Langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt, wie unbrauchbar das meiste war. Selbst von schlüpfrigen Geschichten, die ihn zum Erröten brachten, blieb Brunetti als Commissario nicht verschont; und als Leser waren ihm Dinge wie Suetons Schilderungen der Vergnügungen eines Tiberius wohlvertraut. Sein Verstand aber warnte ihn, dass Venezianer selbst die Taten und Untaten von Menschen ausschmückten, die sie gar nicht kannten, und unbekümmert um mög‌liche Folgen auch die unglaubwürdigsten Gerüchte weitererzählten.

Natür‌lich interessierte ihn, was die Leute so anstellten, nur glaubte er dergleichen erst, wenn er hinreichend Beweise dafür hatte. Darum würde Brunetti auch alles, was man seinem Schwiegervater erzählt haben mochte, mit Vorsicht genießen, es zunächst einmal als unbewiesen ansehen, nicht als unumstöß‌liche Tatsache.

Während er darauf wartete, dass der Conte zur Sache kam, schweif‌ten Brunettis Gedanken ab zu der Entscheidung, um die seine Familie sich seit Jahren drückte: Was sollte mit der Villa bei Vittorio Veneto geschehen, die der Conte und die Contessa nicht mehr bewohnten und die auch Brunetti und seine Familie nur noch äußerst selten nutzten? Während sie schwankten und zauderten, war unter den Fenstern an der Nordseite Wasser ins Gemäuer eingedrungen, und nun verlangte der Verwalter auch noch eine erheb‌liche Lohnerhöhung.

Als könne er Brunettis Gedanken lesen, bemerkte der Conte: »Es geht nicht um die Villa, auch wenn Gonzalo mich an sie erinnert.«

Irritiert von dem Vergleich, meinte Brunetti trocken: »Ich wusste gar nicht, dass ihm Wasser in den Schädel läuft.«

Der Conte ignorierte Brunettis etwas respektlose Bemerkung und erklärte: »Du hast beide, Gonzalo und die Villa, ungefähr zur selben Zeit kennengelernt, Guido; du hast dich in ihrer Gegenwart immer wohl gefühlt; doch jetzt nagt an beiden der Zahn der Zeit.«

Gonzalo Rodríguez de Tejeda, der Freund seiner Schwiegereltern und Paolas Patenonkel, gehörte zur Familie Falier, seit Brunetti denken konnte. Zu Brunettis und Paolas zehntem Hochzeitstag war er eigens aus London angereist, um ihnen sein Geschenk zu überreichen, eine Tonschale aus dem zwölf‌ten Jahrhundert, wüstengelb und von der Größe einer Salatschüssel, an der Innenseite aber mit einer kufischen Inschrift verziert, bei der es sich vermut‌lich um einen Koranvers handelte. Gonzalo hatte für die Schale vorsorg‌lich einen Plexiglaskasten anfertigen lassen, zum Schutz vor Attacken und Missgeschicken, wie sie in einem Haushalt mit kleinen Kindern vorkamen. Noch heute hing die Schale bei den Brunettis im Wohnzimmer an der Wand, zwischen den zwei Fenstern mit Blick auf den Glockenturm von San Marco.

Wenn Brunetti und Gonzalo sich in den vergangenen Jahren auf der Straße, in einem Geschäft oder im Café begegnet waren, hatten sie jedes Mal zusammen eine ombra oder einen Kaffee getrunken und nett miteinander geplaudert. Erst vor wenigen Monaten war ihm Gonzalo in der Nähe des Campo Santi Apostoli über den Weg gelaufen. Als Brunetti den Älteren über den Campo auf sich zueilen und eine Hand zum Gruß heben sah, war ihm aufgefallen, dass Gonzalos Haar sich von Eisengrau zu Schneeweiß verfärbt hatte; doch noch immer hielt er sich kerzengerade wie ein alter Soldat, und seine stahlblauen Augen strahlten wie eh und je – vielleicht das Erbe der Invasoren aus dem Norden, die Spanien einst heimgesucht hatten.

Sie hatten sich umarmt und einander beteuert, wie sehr sie sich über die Begegnung freuten, dann aber hatte Gonzalo in seinem vollkommen akzentfreien Italienisch erklärt, er müsse dringend zu einer Verabredung und habe leider keine Zeit für eine Unterhaltung, lasse jedoch Paola und den Kindern Grüße und Küsse überbringen.

Wie so oft strich er als Zeichen der Zuneigung über Brunettis Wange, wiederholte, nun aber müsse er gehen, wandte sich ab und entschwand eilig in Richtung Fondamenta Nuove und des Palazzo, in dem er wohnte. Brunetti blieb stehen und sah ihm nach, wie immer glück‌lich, Gonzalo begegnet zu sein. Dann ging er weiter, drehte sich aber noch einmal um und versuchte, in der Menge den Rücken seines Freundes zu erspähen. Anfangs hielt er nach einem eilig ausschreitenden Mann Ausschau und fand ihn nicht, dann aber entdeckte er ihn, den großen Mann, der jetzt nur noch langsam ging, mit gesenktem Kopf, die Ellbogen abgewinkelt, eine Hand an der Hüfte, als habe er Schmerzen, die er sich vor anderen nicht anmerken lassen wollte. Brunetti hatte betroffen den Blick abgewandt.

Aus seiner Erinnerung aufschreckend, bemerkte Brunetti, dass sein Gegenüber ihn aufmerksam beobachtete. »Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«, fragte der Conte.

»Vor zwei Monaten. Vielleicht etwas mehr«, antwortete Brunetti. »Auf dem Campo Santi Apostoli, aber wir konnten nur ein paar Worte wechseln.«

»Was für einen Eindruck hat er auf dich gemacht?«

»Wie immer, würde ich sagen«, versuchte Brunetti automatisch, einen Älteren vor der Erkenntnis zu bewahren, dass der Gleichaltrige jenen Mächten erlegen war, gegen die sie beide kämpf‌ten.

Brunetti wich dem Blick des Conte aus und betrachtete das Porträt eines jungen Edelmanns an der Wand gegenüber, der wiederum ihn zu mustern schien. Jugendfrisch und voller Leben, mit Muskeln, die sich gegen die Fesseln der vom Maler verlangten Pose auf‌lehnten, stand er da, die Linke locker an der Hüfte, die Rechte am Knauf seines Degens: Zweifellos irgendein Vorfahr von Paola, ein Falier, der im Kampf, an einer Krankheit oder am Alkohol gestorben war, nachdem er sich durch dieses Bild in der Blüte seiner Jahre hatte verewigen lassen.

Brunetti glaubte, Züge von Paolas Gesicht wiederzuerkennen, aber die Jahrhunderte hatten bei ihr doch manches geglättet, und nur wenn sie einmal in Zorn geriet, hatte sie jene Raubvogelaugen auf der Suche nach Beute.

»Ihr habt euch nicht länger unterhalten?«

Brunetti schüttelte den Kopf.

Der Conte senkte den Blick, stemmte die Hände auf die Oberschenkel und starrte gedankenverloren darauf herunter. Was für ein statt‌licher Mann er immer noch ist, dachte Brunetti. Er nutzte die Gelegenheit, den Conte genauer anzusehen, und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sein Schwiegervater seit ihrer letzten Begegnung kleiner geworden war. Oder vielmehr, seit er das letzte Mal auf die äußere Erscheinung des Älteren geachtet hatte. Die Schultern waren schmaler, doch das Jackett umspielte diese schmaleren Schultern noch immer sanft. Vielleicht hat er es ändern lassen, dachte Brunetti, bemerkte dann aber die modischen Aufschläge dieser Saison – also war es neu.

Der Conte betrachtete weiter seine Handrücken, als ließe sich dort eine Antwort finden; schließ‌lich blickte er auf und sagte: »Du bist immer in einer heiklen Lage, nicht wahr, Guido?«

War das eine Frage oder eine Meinungsäußerung?, überlegte Brunetti. Bezog es sich auf den Rangunterschied zwischen ihm – dem Sohn eines Mannes aus der Unterschicht, der sein Leben lang nur Niederlagen erlitten hatte – und Paola, der Tochter von Conte Falier und Erbin eines der größten Vermögen der Stadt? Oder womög‌lich auf seine beruf‌lichen Pfl‌ichten im Gegensatz zu den Ansprüchen, die Freundschaft und Liebe an ihn stellen mochten? Oder ging es um seine Lage als Commissario der Polizei, der in die Familie eines Mannes eingeheiratet hatte, mit dessen Geschäften man sich besser nicht genauer befasste?

Brunetti scheute sich zu fragen, worauf der Conte hinauswollte, und improvisierte stattdessen: »Ich denke, viele von uns geraten gelegent‌lich in heikle Lagen. Das ist der Lauf der Welt.«

Der Ältere nickte und legte die Hände auf den Sessellehnen ab. »Ich weiß noch, wie Paola, als sie in England studierte, uns einmal hier besuchen kam. Die meiste Zeit las sie ein Buch, über das sie eine Arbeit schreiben musste.« Seine Züge verklärten sich bei der Erinnerung an sein einziges Kind, das nach Hause gekommen war und den Kopf über seine Lektüre beugte.

Brunetti, vertraut mit den Erzählgewohnheiten des Conte, wartete ruhig ab.

»Erst am dritten Tag begann sie von dem Buch zu sprechen und von dem, was sie darüber schreiben wollte.«

»Was hat sie gesagt?« Warum, fragte sich Brunetti, sind wir immer so interessiert an dem, was geliebte Menschen früher einmal erlebt haben?

»Dass ich es auch lesen sollte«, antwortete der Conte. »Ich habe es versucht, nachdem sie wieder nach England zurückgefahren war.« Er schüttelte den Kopf wie jemand, der ein Geständnis macht. »Ich kann mit so etwas nichts anfangen – es ging um Religion, ich konnte es nicht lesen.«

»Welches Buch war das?«, fragte Brunetti, neugierig, was Paola als Studentin gelesen hatte.

»Die Wolke des Nichtwissens. Ich fand immer, das sei ein wunderbarer Titel für eine Autobiographie. Für jedermann«, bemerkte der Conte mit einem noch breiteren Lächeln, das der Commissario erwiderte.

Dennoch verlor Brunetti allmäh‌lich die Geduld, und so sagte er ohne Umschweife: »Sprachen wir nicht von Gonzalo?«

»Ja.«

»Mir scheint, du machst dir Sorgen um ihn.«

Der Conte nickte. Er umklammerte kurz die Armlehnen und ließ langsam wieder locker, worauf die Anspannung sich in seine Augen verlagerte. »Gonzalo ist mein Jugendfreund. Wir haben zusammen das Internat besucht.« Er sah zu Brunetti und sagte ungläubig: »Mein Gott, das ist über sechzig Jahre her.«

»Wo wart ihr da?«

»In der Schweiz«, antwortete der Conte. »Mein Vater fand, ich sollte eine Zeitlang im Ausland leben.«

»Hatte das einen besonderen Grund?«, fragte Brunetti in der Hoffnung, einen der vielen weißen Flecken im Leben des Conte ausgefüllt zu bekommen.

»Ich sollte Französisch und Deutsch lernen. An Eng‌lisch hat damals niemand gedacht«, erklärte jener. »Aber ich glaube, das war nur eine Finte. In Wirk‌lichkeit wollte er mich von den Leuten fernhalten, mit denen ich verkehrte.«

»Warum?«

Der Conte hob beide Hände mit den Handflächen nach oben, als versuchte er einen Kritiker von seiner Unschuld zu überzeugen. »Ich vermute, er hatte etwas gegen die politischen Vorstel‌lungen einiger meiner Freunde.«

Brunetti suchte in seinem Gedächtnis nach politischen Unruhen in den Jahren vor seiner Geburt, fand aber nichts, was sich gegen den Adel gerichtet haben könnte. Die Roten Brigaden trugen noch kurze Hosen, und das Land erlebte gerade eine Phase wirtschaft‌lichen Aufschwungs.

»Hatte er Erfolg damit?«

Der Conte richtete seinen Blick auf das Fenster hinter Brunetti. »Die Sprachen habe ich gelernt. Und auch anderes.«

»Und dort hast du also Gonzalo kennengelernt«, souf‌f‌lierte Brunetti.

»Er hat mir Skifahren beigebracht«, erzählte der Conte und lächelte versonnen, Brunetti dachte schon, mehr werde er über den jungen Gonzalo nicht erfahren. Das Lächeln erlosch, um sogleich wieder aufzulodern. »Er hat mir auch beigebracht, wie man beim Poker schummeln kann.« Der Conte kicherte erinnerungsselig und fuhr fort: »Er meinte, so werde ich erkennen können, wenn mich mal jemand über den Tisch zu ziehen versucht.«

»Ist das jemals passiert?«, fragte Brunetti.

»Nicht beim Poker«, antwortete Conte Falier, ohne sich weiter darüber auszulassen. »Aber die Zeichen, auf die zu achten mir Gonzalo beigebracht hat, zeigen sich auch bei anderen Gelegenheiten.«

»Wie nütz‌lich«, meinte Brunetti.

»Sehr viel nütz‌licher als Skifahren«, bemerkte der Conte. »Besonders in meinem Metier.«

Welches das auch sein mag, dachte Brunetti, sagte aber nichts. Nicht lange nachdem er Paola kennengelernt hatte, hatte er sie einmal gefragt, was genau ihr Vater eigent‌lich mache. Damals wusste er noch nicht, dass Paolas Humor von einem eng‌lischen Kindermädchen und vier Studienjahren in Oxford geprägt worden war, weshalb ihre Antwort ihn zunächst ziem‌lich verblüff‌te: »Er sitzt in seinem Büro im piano nobile des Palazzo und telefoniert.« Als er erkannte, dass sie nur scheinbar scherzte, musste Brunetti an seinen eigenen Vater denken, der tatenlos zu Hause herumgesessen und darauf gewartet hatte, dass jemand vorbeikam und ihm für den nächsten Tag einen Job als Schauermann im Hafen anbot. Schon damals, ganz am Anfang, war er sich der Kluft zwischen Paolas Familie und seiner eigenen bewusst gewesen: Paolas Vater ein Conte, ihre Mutter Nachfahrin von Florentiner Fürsten; Brunettis Mutter hingegen eine Frau, die mit zwölf von der Schule abgegangen war, sein Vater ein hoffnungsloser Träumer, ruiniert von jahrelanger Kriegsgefangenschaft.

Brunetti sah seinem Schwiegervater ins Gesicht und bemerkte wieder einmal die auf‌fällig große Nase. »Wie viele Jahre wart ihr zusammen auf der Schule?«, fragte er und staunte, dass jemand wie der Conte einmal zur Schule gegangen, ja dass er jemals jung gewesen war.

Der Ältere ließ einen tiefen, keineswegs melodramatischen Seufzer vernehmen. »Vier. Von fünfzehn bis neunzehn, dann bin ich auf die Universität gekommen.« Er war bei diesen Worten immer tiefer in seinen Sessel gesunken, nun aber stemmte er sich plötz‌lich hoch und sah Brunetti scharf an. »Ich werde zu einem schwatzhaften alten Narren, stimmt’s, Guido?« Es klang amüsiert, nicht verlegen.

»Durchaus nicht, Orazio«, sagte Brunetti. »Die Vergangenheit ist immer interessant.«

»Die ferne Vergangenheit, mag sein.« Der Conte beugte sich vor und tätschelte Brunettis Knie.

Brunetti dachte daran – eine Ewigkeit war das her –, wie er für seine erste Begegnung mit diesem Mann einen neuen Anzug gekauft hatte; der Conte hatte den Wunsch geäußert, den jungen Mann kennenzulernen, der seine Tochter heiraten wollte. Der Anzug war für Brunetti so unerschwing‌lich teuer gewesen, dass er sich dazu passende neue Schuhe nicht leisten konnte. Noch nicht commissario di polizia, aber für den Unterhalt seiner verwitweten Mutter zuständig, war Brunetti alles andere als ein attraktiver Heiratskandidat. Er konnte es nicht ändern, hatte die Einladung aber dennoch angenommen, in vollem Bewusstsein, dass er kaum Chancen hatte.

Brunetti erinnerte sich, wie er das erste Mal den Palazzo betrat. Das Dienstmädchen hatte tatsäch‌lich einen Knicks gemacht, bevor sie ihn vor eine Tür im ersten Stock führte, dort anklopf‌te und ihm den Vortritt ließ.

Brunetti hatte den Conte sofort wiedererkannt, einen Mann, mit dem er schon viele Stunden im selben Raum verbracht hatte: das graue Haar, die braunen Augen, die ernste Miene. Der Conte – ebenso überrascht, seinen Gast zu kennen, wie von ihm erkannt zu werden – kam auf Brunetti zu und drückte ihm herz‌lich die Hand. »Sie sind der junge Mann, der über Hadrian gelesen hat«, sagte er, indem er seine Linke auf Brunettis Schulter legte.

Brunetti stammelte: »Ja, Signore«, fragte dann aber geistesgegenwärtig: »Woher wissen Sie, was ich lese?«

»Das hat mir der Bibliothekar erzählt«, antwortete der Conte. »Wir sind alte Freunde.«

»Was hat er Ihnen noch erzählt?«, rutschte es Brunetti unwillkür‌lich heraus. Womög‌lich, dass die Tochter des Conte eines Nachmittags händchenhaltend neben diesem jungen Mann gesessen hatte, während sie gemeinsam über die Schwierigkeit beim Umblättern kicherten?

Conte Falier hatte sich wortlos abgewandt, Brunetti zu einem Sessel geführt, ihm gegenüber Platz genommen und ihn dann aufgefordert, sich zu setzen. Erst als beide es sich bequem gemacht hatten, antwortete der Conte: »Nur, welche Bücher Sie in den vergangenen Wochen bestellt haben.« Brunetti ging die Titel und Autoren durch und hoff‌te, sie genügten den Ansprüchen des Conte: Cassius Dio, Die Kaisergeschichte, Philostratos, Pausanias. Eine Ausgabe von Frontos Briefen mit seinen vieldeutigen Bemerkungen über Hadrian war unauf‌findbar geblieben.

»Er hat mir erzählt«, fuhr der Conte fort, »Sie interessieren sich für Hadrian.«

Brunettis Verwirrung wuchs. Er war gekommen, um über die Tochter dieses Mannes zu sprechen, nicht über einen römischen Kaiser aus dem zweiten Jahrhundert. Seine Hände waren feucht, aber er konnte sie unmög‌lich an den Hosenbeinen seines neuen Anzugs abwischen. Stattdessen fragte er: »Interessieren Sie sich auch für ihn, Signor Conte?«

»Selbstverständ‌lich«, erwiderte der Ältere mit Nachdruck. »Möchten Sie mir sagen, was Ihr Interesse an Hadrian geweckt hat?«

»Paola«, antwortete Brunetti spontan, fügte aber, da das wenig Sinn machte, sogleich hinzu: »Sie hat von ihm gesprochen, und mir klang das ein wenig zu enthusiastisch.« Das wiederum hörte sich an, als habe Paola einen Nebenbuhler erwähnt und er habe aus Eifersucht so reagiert. Um diesen Eindruck zu verscheuchen, fügte Brunetti schnell hinzu: »Jedenfalls wenn das, was ich über ihn gelesen habe, der Wahrheit entspricht.«

»Und das wäre?«, fragte der Conte.

Brunetti hätte sich gern erkundigt, warum seine Meinung über Hadrian auf dem Prüfstand war und ob seine Antwort gegen ihn verwendet werden könne als Bewerber um die Hand der Tochter dieses Mannes. Stattdessen antwortete er sch‌licht: »Ich bin Polizist, Signore, und habe mir daher angewöhnt, Schilderungen des Verhaltens von Menschen so zu prüfen, als wären es Polizeiberichte.«

»Verstehe«, sagte der Conte. »Und wie verhält es sich in dieser Hinsicht mit Kaiser Hadrian?« Er war so freund‌lich, die Frage mit einem Lächeln zu begleiten, doch sein Interesse wirkte echt.

Brunetti fand, die Frage verdiene eine ernsthafte Antwort. »Man kennt ihn als einen der fünf guten Kaiser, doch dass Trajan ihn erst in letzter Minute adoptiert hat, ja überhaupt die ganze Rege‌lung der Nachfolge scheint mir fragwürdig. Ganz zu schweigen von jenen Senatoren, die er aus dem Amt entfernen ließ, kaum dass er Kaiser wurde – durchweg Männer, die Kritiker von ihm waren oder die er zumindest für seine Feinde hielt.«

Der Conte nickte bedächtig, als betrachte er Bekanntes in einem neuen Licht. »Ist das der einzige Grund für Ihr Interesse an ihm?«, fragte er.

Brunetti zögerte, strich sich über die Lippen und sah aus dem Fenster hinter dem Älteren. »Paola liest zurzeit ein Buch über Hadrian. Einen Roman. Einen Briefroman. Wenn man sie so hört, wirkt der Held wie eine geschwätzige Mischung aus Mark Aurel und dem heiligen Franziskus. Ständig beteuert er, wie sehr es ihm widerstrebt, in den Krieg zu ziehen, und doch ist er jederzeit bereit, seine Soldaten auf Raubzüge und Brandschatzungen auszusenden.« Ähn‌lich hatte er sich auch Paola gegenüber geäußert, damit aber ihre Begeisterung für das Buch oder für Hadrian nicht dämpfen können.

Der Conte lachte laut auf. »Als sie noch jünger war, haben wir nie versucht, Paola irgendeine Lektüre auszureden; aber jetzt, wo sie älter ist, wünsche ich mir manchmal, sie würde sich an den britischen Roman halten und ihre Zeit nicht mit diesem ungereimten französischen Gefasel vergeuden.«

»Sie haben den Roman gelesen?«, fragte Brunetti, der seine Verblüffung nicht verhehlen konnte.

»Vor Jahren, aber nur ein paar Seiten«, stöhnte der Conte, als sei es die dreizehnte Aufgabe des Herkules gewesen. »Das Buch ist vollkommen unhistorisch und von grotesker Albernheit. Auch die Historia Augusta ist so etwas wie ein Roman, aber wesent‌lich unterhaltsamer und viel besser geschrieben, finden Sie nicht?«

Während Brunetti sich an den genauen Wortlaut seiner Antwort zu erinnern versuchte, hörte er eine Stimme seinen Namen rufen. »Guido? Guido?« Er riss sich von den Betrachtungen los, die man vor langer Zeit über eine noch weiter zurückliegende Vergangenheit angestellt hatte, und richtete den Blick auf die Gegenwart. Sein Schwiegervater saß vorgebeugt und streckte eine Hand nach ihm aus.

Brunetti erklärte lächelnd: »Entschuldige, Orazio, ich musste an unsere erste Unterhaltung denken.« Er sah sich in dem vertrauten Zimmer um. »Wir saßen hier, nicht wahr?«

Der Conte nickte.

»Ich bin froh, dass ich die Prüfung bestanden habe«, sagte Brunetti, der in all den Jahren immer den Verdacht gehabt hatte, jenes Gespräch über Hadrian, gefolgt von Kaffee und Smalltalk, an den er sich nicht mehr erinnerte, habe ihm den Weg zu seinem gegenwärtigen Glück geebnet.

Der Conte öffnete lächelnd die Arme. »Ich auch, Guido«, sagte er. Dann aber wurde er plötz‌lich ernst: »Ich möchte, dass du an Gonzalo so herangehst wie damals an Hadrian.«

Verblüff‌t fragte Brunetti: »Wie meinst du das?«

»Sieh ihn mit den Augen eines Polizisten.«

2

»Oddio«, rief Brunetti. »Was hat er angestellt?«

Der Conte machte eine abwiegelnde Geste. »Nein, nicht doch. Er hat nichts angestellt.«

Die Antwort machte Brunetti ratlos: Warum sollte er Gonzalo mit den Augen eines Polizisten sehen und nicht mit denen eines Freundes oder Mitglieds jener Familie, zu der Gonzalo doch seit langem genauso zählte wie er selbst? »Ich verstehe nicht«, sagte er.

Der Conte sah ihn streng an. »Niemand, der ihn kennt, versteht das.«

»Dann erklär es mir«, sagte Brunetti.

Der Conte presste die Lippen zusammen und hob die Augenbrauen – eine Miene, die schwer zu deuten war. »Ich weiß nicht, was da im Gange ist.« Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass da überhaupt etwas ist.«

Brunetti verkniff sich die Frage, wozu sie, wenn dem so war, dieses Gespräch führten. Stattdessen fragte er: »Möchtest du mir erzählen, was du gehört hast?«

Der Conte erhob sich aus seinem Sessel. »Ich denke, wir sollten etwas trinken.« Er ging zur Kredenz, erkundigte sich gar nicht erst, was Brunetti trinken wolle, sondern öffnete eine Flasche Whisky und kam mit zwei großzügig gefüllten Gläsern zurück.

Brunetti nahm eins entgegen, wartete, bis sein Schwiegervater sich gesetzt hatte, und trank einen Schluck. Ein Glück, dass sie etwas so Gutes nicht zu Hause hatten. Wie konnte eine derart scharfe und bittere Flüssigkeit nur so wunderbar schmecken?

»Seine Schwester Elena hat mich angerufen«, erklärte der Conte.

Brunetti horchte überrascht auf.

»Sie ist Ärztin im Ruhestand und lebt mit Mann und Sohn in Madrid. Die übrigen Geschwister und deren Kinder wohnen ebenfalls dort.«

»Du kennst sie?«

Der Conte nickte. »Wir haben uns vor einer Ewigkeit kennengelernt, schon in der Schulzeit, als Gonzalo mich zum ersten Mal mit zu sich nach Hause nahm. Seither sind wir immer in Kontakt geblieben.«

»Und die anderen?«, fragte Brunetti, der zum ersten Mal hörte, dass Gonzalo Geschwister hatte. Von ihnen war in all den Jahren nie die Rede gewesen.

»Noch eine Schwester, María Pilar, und ein Bruder, Francisco. Gonzalo versteht sich nicht gut mit ihnen, seit ich denken kann.«

»Kennst du auch diese beiden?«, fragte Brunetti.

»Ich habe sie ein paarmal gesehen.«

»Erzähl mir von ihnen«, bat Brunetti.

»Da gibt es nicht viel. Die Firma ist im Familienbesitz. Auch María Pilar und Francisco sind verheiratet und haben jeweils einen Sohn.« Lächelnd fügte er hinzu: »Baskenmützen.«

»Wie bitte?«

»Nun ja«, erklärte der Conte. »Hüte. Aber der wichtigste Artikel waren von Anfang an Baskenmützen. Wann immer du jemanden mit so einem albernen flachen Ding herumlaufen siehst, stammt es sehr wahrschein‌lich aus der Firma von Gonzalos Familie. Eine der größten in Spanien.« Er nahm sein Glas, rollte es zwischen den Handflächen hin und her, starrte eine Weile hinein und stellte es, ohne getrunken zu haben, auf den Tisch zurück. »Und jetzt arbeiten seine Neffen für die Firma und werden sie eines Tages erben.«

Er griff nach seinem Glas, leerte es in einem Zug und lehnte sich zurück. »Und da liegt der Hund begraben«, sagte er schließ‌lich. »Auch Gonzalo wünscht sich einen Sohn.«

»Was?«, fragte Brunetti und fuhr so heftig herum, dass er ein paar Tropfen Whisky auf sein Hemd verschüttete. Er sah den Conte an, als habe jener den Verstand verloren. »Was sagst du da?«

»Er möchte einen Sohn adoptieren.«

»Das ist doch verrückt«, entfuhr es Brunetti, der an ähn‌liche Fälle dachte, die alle nicht gut ausgegangen waren. Aber Gonzalo zu verurteilen, ohne seine Gründe zu kennen, ging nun wirk‌lich nicht. Er hätte besser den Mund gehalten.

Der Conte sah ihn ruhig an. »Wo bleibt deine bewährte Zurückhaltung, Guido?«

Brunetti wurde rot. »Ich hätte das nicht sagen sollen.« Er tupf‌te sich mit dem Taschentuch das Hemd ab und fragte sich, was Paola wohl denken würde, wenn er nach Whisky stinkend heimkäme.

»Aber du hast es gesagt«, gab der Conte zurück. »Und wahrschein‌lich hast du recht.«

Brunetti kam auf das Thema zurück: einen Sohn adoptieren. »Wen?«, fragte er.

Der Conte zuckte die Schultern und griff nach seinem Glas. Als er sah, dass es leer war, stand er auf, holte die Flasche, schenkte ihnen beiden nach und trank einen kleinen Schluck, bevor er die Flasche auf den Tisch zurückstellte. »Lodo Costantini hat mir davon erzählt«, brachte er den Namen eines seiner besten Freunde ins Spiel, der zugleich auch einer seiner Anwälte war. »Gonzalo hat vor ein paar Monaten bei ihm angefragt, ob die Kanzlei sich mit Adoptionen befasse. Als Lodo sich nach dem Grund für diese Frage erkundigte, behauptete Gonzalo, ein Freund von ihm wolle einen Erwachsenen adoptieren.« Der Conte schüttelte fassungslos den Kopf. »Lodo glaubte ihm kein Wort, für ihn lag auf der Hand, dass Gonzalo das in eigener Sache wissen wollte, er äußerte sich aber nicht dazu. Doch dann kam ihm zu Ohren – wer es ihm gesagt hat, wollte er nicht verraten –, dass Gonzalo die Sache schon eingeleitet hatte. Und da meinte er, es mir erzählen zu können, weil ich mit Gonzalo befreundet bin.«

Wunderbar, dachte Brunetti, auf was für Spitzfindigkeiten diese Anwälte kommen!

»Wie du weißt«, sagte der Conte, »bestimmt das Gesetz, wohin der Großteil eines Vermögens geht, unabhängig von den eigenen Wünschen.«

Bevor Brunetti sich die entsprechende Vorschrift ins Gedächtnis rufen konnte, erklärte der Conte: »Es bleibt in der Familie, es geht an die Geschwister, egal, wie man zu ihnen steht, egal, was für Philister sie sein mögen.« Er sagte das mit so neutraler Stimme, als lese er ein Rezept für Pflaumenkuchen vor. »Ich denke, dieses Gesetz haben sich die Reichen ausgedacht, um ihren Reichtum zusammenzuhalten.«

Wäre die Tochter dieses Mannes jetzt da gewesen, um ihm den Rücken zu stärken, hätte Brunetti bemerkt: »Einmal mehr.« Doch ohne Paola war er lieber vorsichtig und begnügte sich mit einem Nicken.

»Hat er hingegen«, fuhr der Conte fort, »jemanden adoptiert, so erbt dieser Außenstehende das gesamte Vermögen, genau wie ein leib‌liches Kind. Sogar der Titel geht womög‌lich auf ihn über.«

Brunetti fiel auf, wie offenkundig emotionslos sein Schwiegervater, Inhaber eines der ältesten Adelstitel in Venedig, diesen letzten Satz aussprach. Da seiner Herkunftsfamilie derlei Sorgen fremd waren, pfl‌ichtete Brunetti dem Conte bei: »Wie du sagst, Orazio, ein Gesetz für die Reichen.«

»Wenn ihr, du und Paola, keine Kinder hättet«, erwiderte der Conte betont ruhig, »könntest auch du betroffen sein.« Er warf Brunetti einen prüfenden Blick zu. »Dann würde euer gesamter Besitz an deinen Bruder gehen.« Brunetti staunte, wie beiläufig sein Schwiegervater über das Erbe der Faliers sprach. Der Conte ließ Brunetti Zeit, sich zu äußern, doch als keine Antwort kam, fuhr er fort: »Dein Bruder scheint ein anständiger Mensch zu sein, aber angenommen, er wäre es nicht: Würdest du es gern sehen, wenn er alles einstreichen würde?«

Aus dem Mund jedes anderen hätte diese Frage taktlos gek‌lungen. Doch auch so hätte Brunetti am liebsten erklärt, dass es ihm als Totem egal sein konnte, ob sein Bruder das Vermögen der Faliers zu erben verdiente. Hatten sie nicht von Gonzalo gesprochen? Statt wilde Spekulationen anzustellen, verfassten die Leute Brunettis Meinung nach lieber ein Testament.

»Adoption genügt?«, fragte Brunetti.

»Ja.«

Brunetti nahm sein Glas und hielt es ins Licht. Er schwenkte die Flüssigkeit hin und her, im Kreis herum, bis sie zum Rand hinaufstieg und dann wieder hinuntersank. Der Conte hatte gesagt, er halte nichts von Klatsch, doch bis jetzt hatte Brunetti nicht viel anderes gehört. Er trank einen Schluck und stellte das Glas ab. »Warum erzählst du mir das alles, Orazio?«

Der Conte strich sich mehrmals über die Wange, straff‌te die Haut, so dass die Falten verschwanden, die alsbald wieder zum Vorschein kamen. »Ich möchte wissen«, sagte er schließ‌lich, »ob Gonzalo Hilfe braucht, aber ich weiß nicht, wie ich das herausfinden soll.« Er wich Brunettis Blick aus und sah ihm dann wieder in die Augen. »Ich dachte, dir fällt vielleicht etwas ein.«

»Warum fragst du ihn nicht einfach?«, schlug Brunetti vor, nicht, weil er seinem Schwiegervater nicht helfen wollte, sondern weil ihm das tatsäch‌lich der einfachste Weg zu sein schien.

Der Conte hob protestierend die Hände. »Ausgeschlossen. Gonzalo wäre zutiefst beleidigt.«

»Von der Vorstel‌lung, dass er Hilfe braucht?«

»Von der Vorstel‌lung, dass ich das auch nur denken könnte.«

Brunetti lag schon auf der Zunge, solche Empfind‌lichkeiten werde Gonzalo sich nicht mehr lange leisten können. Wenn ein alter, gebrech‌licher Mann der Unterstützung bedurf‌te, so bedeutete das keinen Ehrverlust. Doch er bremste sich gerade noch rechtzeitig: Sein Schwiegervater war fast genauso alt, wenn auch vielleicht nicht so gebrech‌lich wie Gonzalo, und würde derlei mit Sicherheit nicht gerne hören.

»Was schwebt dir vor?«, fragte Brunetti stattdessen.

Der Conte sah ihn verdutzt an. »Was sollte mir denn vorschweben?«

»Wie ich helfen könnte?«

Der Conte sah ihn lange an und senkte schließ‌lich den Blick. »Ich weiß es nicht, Guido«, sagte er, von der Frage aus dem Konzept gebracht. »Würde dir der Name des jungen Mannes weiterhelfen?«

»Den er adoptieren will?«

»Ja«, meinte der Conte nur. Er nahm sein Glas, bemerkte überrascht, dass es schon wieder leer war, und stellte es auf den Tisch zurück. »Vor einigen Jahren, zehn vielleicht, hat Gonzalo kurze Zeit mit einem jungen Mann zusammengelebt.«

Brunetti verwandelte sich in einen moosbewachsenen Fels. Es mochte regnen, es mochten Leute vorbeigehen oder Tiere an ihm schnüffeln. Er würde sich nicht von der Stelle rühren. Nicht die Beine übereinanderschlagen, nicht die Füße bewegen. Die Arme auf den Sessellehnen liegen lassen. Sein Drink könnte ebenso gut in einem anderen Zimmer stehen. Oder auf einem anderen Planeten.

»Nur ein paar Monate. Nicht hier. In Rom.«

Brunetti starrte auf seine Füße und wartete.

»Der junge Mann war Sohn eines Anwalts: gutes Elternhaus, in Frankreich studiert, offenbar recht betucht.« Der Conte glaubte, erklären zu müssen: »Ich weiß, auch das klingt wie Klatsch, aber so war es nun einmal.«

Dann fuhr er fort: »Dieser junge Mann war ein Lebemann, nahm Drogen und verkauf‌te sie an Leute weiter, die er dank Gonzalo kennengelernt hatte. Schließ‌lich wurde er auf dem Flughafen von Bogotá mit einem Koffer voll Kokain erwischt und verhaftet.

Die Polizei ließ ihn seinen Vater anrufen, aber der wollte nicht mit ihm reden. Am nächsten Morgen rief der Vater Gonzalo an und sagte ihm, wo der Junge war. Gonzalo setzte sich sofort mit der Polizei in Verbindung, doch da hatte sich der junge Mann bereits in seiner Zelle erhängt.« Der Conte hielt inne, sah Brunetti in die Augen und fügte hinzu: »Das jedenfalls hat die Polizei behauptet.«

Brunetti erinnerte sich undeut‌lich an den Fall; weder die Zeitungen noch irgendwelche of‌fiziellen Berichte hatten in dem Zusammenhang Gonzalo erwähnt.

»Wie ist es ihm ge‌lungen, seinen Namen da herauszuhalten?«, fragte Brunetti.

Der Conte hob kaum merk‌lich die Schultern. »Das weiß ich nicht. Aber man kann es sich leicht vorstellen, oder?«

Allerdings, kein Problem für einen so reichen Mann mit so guten Beziehungen, dachte Brunetti.

Von Berufs wegen durf‌te er keinerlei Informationen an Außenstehende weitergeben, dennoch sagte er: »Wir wurden weder aus Rom noch von anderer Stelle jemals aufgefordert, ein Auge auf Gonzalo zu haben. Wer auch immer für ihn eingetreten ist, hat ganze Arbeit geleistet.«

Der Conte griff nach der Flasche. Brunetti schüttelte den Kopf und legte die Hand auf sein Glas. Conte Falier stellte die Flasche wieder ab und sagte: »Ich möchte ihn vor einem ähn‌lichen Fehler bewahren.« Er kam Brunettis Frage zuvor: »Ja, und ich bitte dich um deine Unterstützung.«

3

Schweigen machte sich breit. Schließ‌lich fragte Brunetti: »Hast du sonst noch etwas gehört?«

»Nein, nicht direkt.«

»Was heißt das?«

Die Frage überraschte den Älteren. »Niemand hat in letzter Zeit mit mir über Gonzalo gesprochen. Abgesehen von Lodo.«

»Weiß seine Familie Bescheid?«, fragte Brunetti.

»Elena ist die Einzige, die ich fragen könnte, und das möchte ich lieber nicht.«

»Und die anderen?«

»Die Familie ist sehr reich«, sagte der Conte. »Solche Leute wollen keine Scherereien.«

Brunetti verkniff sich die Frage, welche Familie schon gerne Scherereien hatte. »Und konservativ?«

Der Conte ließ beinahe so etwas wie ein Hohnlachen hören. »Gonzalo hat mir mal erzählt, seine Eltern seien in Sorge, dass ich einen verderb‌lichen Einfluss auf ihn haben könnte.«

»Wie bitte?«, fragte Brunetti verdutzt.

»Politisch«, stellte der Conte klar. »Sie hatten Gerüchte gehört, wonach weder mein Großvater noch mein Vater auf Seiten der Faschisten gekämpft hatten.«

Brunetti fehlte der Mut zu fragen, ob das stimmte.

»Einige Jahre nach meiner Geburt, aber noch vor dem Krieg, begann mein Großvater zu ahnen, was auf uns zukam, und ließ meinen Vater für geisteskrank erklären«, erzählte der Conte im Plauderton, als sei es das Normalste von der Welt, den eigenen Sohn zu entmündigen. »Dann zog er mit der ganzen Familie in die Villa bei Vittorio Veneto«, fuhr er fort und schlug damit ein Kapitel der Familiengeschichte auf, von dem Paola nie gesprochen hatte.

»Da man fürchtete, der Wahnsinn könnte in der Familie liegen, drängte niemand mehr die Faliers, der Partei beizutreten. Mein Vater musste nicht in den Krieg, weil er geisteskrank war; mein Großvater war zu alt, und ich war noch ein Kind. Und so lebten wir vergessen und in Frieden alle miteinander in der Villa im Veneto.«

»Was ist aus deinem Vater geworden?«

»Er hat gemerkt, wie viel Arbeit es macht, so ein Anwesen zu haben und das Land zu bestellen.«

»Seid ihr alle bis zum Ende des Kriegs dort geblieben?«

»So hatte mein Großvater es geplant, aber mein Vater hatte anderes vor.«

»Näm‌lich?«, fragte Brunetti fasziniert.

»Er wollte sich den Partisanen anschließen«, sagte der Conte. »Ich vermute, er wollte sich als Held beweisen.«

»Oh«, flüsterte Brunetti.

Der Conte lächelte. »Nachdem wir ’43 vor den Alliierten kapituliert hatten, bat mein Großvater ihn, noch zu warten, bis die Lage etwas übersicht‌licher wäre.«

»Wie kam er darauf?«

»Wahrschein‌lich, weil er älter und klüger war und weil er im vorigen Krieg gekämpft und gesehen hatte, wie schlecht die Menschen sein können.«

»Und hat dein Vater eingewilligt?«

Der Conte nickte. »Kurz nach der Kapitulation kamen dann Widerstandskämpfer auf den Hof und verlangten die Herausgabe aller Tiere im Stall. Gott sei Dank hatten die Arbeiter den Großteil unserer Vorräte versteckt – Getreide, Mais und Käse –, so dass uns noch etwas zu essen blieb.« Der Conte lächelte breit. »Eine alte Bäuerin – sie war um die neunzig – weigerte sich, die Partisanen in ihr Haus zu lassen. Sie hatte Hühner auf dem Dachboden, die man bis nach draußen gackern hörte; aber die Partisanen hatten Respekt vor ihr und ließen sie in Ruhe.« Dann wieder sach‌lich: »Ein Jahr später kamen die Deutschen. Die haben die Hühner mitgenommen.«

Um einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen, fügte der Conte noch hinzu: »Gonzalos Eltern hätten das Verhalten meines Großvaters nicht gutgeheißen.«

»Und du?« Brunetti war selbst überrascht, dass er diese Frage stellte.

»Auf jeden Fall«, antwortete der Conte, ohne zu zögern. »Er hat dafür gesorgt, dass sein Sohn nicht Soldat werden musste und also nicht nach Russland, Albanien, Griechenland oder Libyen geschickt werden konnte. Er hat ihm das Leben gerettet.« Nach einer kleinen Pause, in der der Conte in der Vergangenheit zu verschwinden schien, meinte er schließ‌lich: »Mein Großvater hatte recht: Die Menschen können sehr schlecht sein.«

»Du warst damals noch ein kleiner Junge. Wie hast du von den Ereignissen erfahren?«

»Die Pächter erzählten mir Geschichten, die sie von ihren Eltern und Großeltern gehört hatten. So habe ich das alles nach und nach erfahren.« Er kam Brunettis Frage zuvor. »Ja, das ist einer der Gründe, warum ich es nicht über mich bringe, die Villa zu verkaufen.« Der Conte richtete sich in seinem Sessel auf. »Außerdem ist es der erste Ort, an den ich mich erinnere. Er hat mich geprägt: Es ist mein Zuhause.«

»Und das hier nicht?«, fragte Brunetti und machte eine ausladende Handbewegung, welche die Deckenbalken und die Palazzi am Canal Grande einschloss.

Der Ältere folgte mit wehmütiger Miene Brunettis Blick zum Kanal. »Doch, ja, aber anders.« Nach langer Pause meinte er: »Sagt nicht der heilige Paulus, als er ein Kind war, dachte er wie ein Kind? Doch jetzt ist er ein Mann und hat das Kindische abgetan?«

Brunetti kannte das Zitat, hatte aber die Quelle vergessen.

»Die Villa ist meine Kindheit. Aber all das hier«, sagte der Conte und machte wie eben Brunetti eine ausladende Geste, »ist der Stolz meines Mannesalters.«

Brunetti verkrampf‌te sich inner‌lich. Bitte lass ihn nicht davon anfangen, wie das alles eines Tages auf Paola und dann auf Raf‌f‌i und Chiara übergehen wird, dachte er. Bloß kein Vor‌trag über das jahrhundertealte Erbe, das auf unseren Schultern ruhen wird, und über unsere Pfl‌icht, Wohltäter der hungernden Bauern zu sein. Ich will nicht daran erinnert werden, dass nicht ich für die Zukunft meiner Kinder sorge, sondern dieser Mann und ihre Mutter.

»Guido?« Brunetti blickte auf und sah die besorgte Miene seines Schwiegervaters.

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Entschuldige, Orazio. Ich war ganz in Gedanken.« Und obwohl er wusste, dass er damit dem Conte den kleinen Finger gab, fragte er: »Sagst du mir jetzt den Namen dieses jungen Mannes?«

Der Conte kniff die Lippen zusammen und bemerkte mit seltsamem Ernst: »Du musst mir versprechen, nicht zu lachen.«

Unsicher, was sich aus dieser Bitte ergeben mochte, willigte Brunetti ein.

»Attilio Circetti, Marchese di Torrebardo.«

Zum Glück hatte der Conte ihn vorbereitet. Der Name war in der Tat hochtrabend, wie so viele Adelsnamen, die er im Lauf seines Lebens gehört und gelesen hatte. Doch er schob alle Vorurteile beiseite und sagte sich, dieser Attilio könne sich ebenso gut als ein bescheidener und uneitler junger Mann erweisen.

»Bist du dir sicher, dass er der Auserwählte ist?«, fragte Brunetti.

»Ich vermute das. Er lebt seit zwei Jahren in Venedig«, sagte der Conte.

»Weißt du irgendetwas Genaues über ihn?«, erkundigte Brunetti sich freund‌lich.

»Sehr wenig. Genaues, meine ich.« Brunettis Schweigen zwang den Conte fortzufahren. »Wie gesagt, ich halte nichts von Klatsch. Aber mir kommt einiges zu Ohren. Doch weil die Leute wissen, dass ich mit Gonzalo befreundet bin, erzählen sie mir vermut‌lich nicht alles.«

»Klatsch über Gonzalo?«

»Nein, über den anderen.«

»Was sagt man denn so über ihn?«

»Dass er oft mit Gonzalo zusammen gesehen wird und Gonzalo sehr von ihm angetan ist. Oft wird zu verstehen gegeben, wie clever und wie charmant er sei. Von seinem Beruf oder einer festen Anstel‌lung ist nichts bekannt. Man sieht ihn viel auf Empfängen und Partys, aber keiner weiß Näheres über ihn.«