Ein Weltall des Kapitals - Jan Völker - E-Book

Ein Weltall des Kapitals E-Book

Jan Völker

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Beschreibung

Nach langer Stille um die staatlichen Raumfahrtprogramme erlebt die Weltraumfahrt eine Renaissance unter dem Vorzeichen der Privatisierung. Touristen werden ins All befördert, Pläne zum Bergbau auf Asteroiden ins Auge gefasst, neue Stätten der Menschheit gesucht – so beginnt die Kolonisation des Weltalls. Einher geht damit die Verfertigung eines neuen Menschenbildes, in dem die Realität vollkommen störungsfrei mit der Imagination übereinkommen soll. Ein Bild, wie Jan Völker anekdotenreich, zugleich mit bestechender Stringenz darlegt, aus dem das Unbewusste ausgeschieden ist. Es trachtet nicht nur danach, die Grenzen der mit Kant begründeten Vernunft zu überwinden, sondern auch das von den Apollo-Missionen geschaffene Bild der Erde, das diese als Umwelt des Menschen zeigte und zur Sorge um den Planeten drängte. Im Blick des Kapitals erweist sich die Erde so nur noch als ein zukünftig verlassener Ort, als Ausgangspunkt für eine neue Wirklichkeit des Menschen – der kommenden Apokalypse überlassen.

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ein Weltall des Kapitals

Fröhliche Wissenschaft 253

Jan Völker

Ein Weltall des Kapitals

Die Überwindung der terrestrischen Vernunft

Inhalt

1. Kants Welträume

2. Foto-Grafien der Erde

3. Die Abkopplung des Bildes

4. Psychomedien

Anmerkungen

Ich danke Alexander García Düttmann und Ayşe Polat.

1. Kants Welträume

Einzelne technologische Entwicklungen suchen, in ihrer kapitalisierten Form, den Menschen als ein solches Bild seiner selbst zu verwirklichen, dass aus ihm das Unbewusste ausgeschieden ist. Dieser Mensch der Zukunft, der von seinem Unbewussten getrennt ist, ist kein Erdbewohner mehr, sondern wird ein Kolonist im Weltall und ein astronautischer Kolonist auf der Erde selbst, während auf der Erde sich die Apokalypse entfaltet – so, in einfacher Form, die höchst spekulative These dieses Essays, die sich auf einzelne technologische Entwicklungen der Gegenwart und ihre Effekte auf die Psyche der Spezies Mensch bezieht. Es wird somit im Folgenden über zwei Pole dieser Entwicklungen nachgedacht, den Weltraum und die Erde.

Doch um zu beginnen, muss etwas weiter ausgeholt werden. Denn den eigentlichen Ausgangspunkt für das Folgende werden zwar die Renaissance der Weltraumfahrt und die mit ihr einhergehenden Wandlungen im Verhältnis von Mensch und Erde bilden. Um aber diesen Ausgangspunkt zu setzen, müssen wir zunächst sehen, vor welchem Hintergrund sich diese Entwicklungen vollziehen. Diesen Hintergrund bildet eine terrestrische Vernunft, die auf der Erde wurzelt und für die im Weltall das potenziell Andere, Vernunftlose, die Gefahr einer anderen Vernunft lauert.

Wir wollen mit Immanuel Kant beginnen, der zum einen sein Leben lang von der Existenz außerirdischer Vernunftformen überzeugt blieb, zum anderen aber einen Begriff der Vernunft etablierte, der fest mit der Erde verwachsen ist. Das Nachdenken über das Projekt einer raumfahrenden Vernunft wird demnach bedeuten, von zentralen Momenten der Kant'schen Vernunft Abschied zu nehmen. Denn die Menschheit wird, wenn sie sich im Weltraum orientieren soll, ihre klassische Vernunft hinter sich lassen müssen, um zu einer Vernunft zu gelangen, die nicht mehr an den einzelnen Erdkörper gebunden ist, sondern fähig, sich auch außerhalb der Erdsphäre zu beweisen. Zugleich wird sich aber zeigen, dass der terrestrischen Vernunft ihr eigenes Ende schon eingezeichnet ist.

Wenn nun die gegenwärtige Raumfahrt mit ihren Träumen von der Kolonisierung anderer Planeten und vom Exodus von der Erde einen Abschied von der Form erdgebundener Vernunft vorbereitet, dann könnte dieser Abschied mehr bedeuten als nur den Verlust dieser erdgebundenen Vernunft. Mit diesem Abschied von der Erde verschwände womöglich etwas, was davon gekennzeichnet ist, dass es nicht gewusst werden kann. Weil sich die kolonisierende, raumfahrende Vernunft in der Deckungsgleichheit von Bild und Wirklichkeit entwirft, verschwände womöglich das Stolpern, das Zögern und die List der Vernunft, es verschwände ein inneres Ende der Vernunft, das sich unter dem Begriff des Unbewussten zusammenfassen lässt. Um diesem Zweifel an der gegenwärtigen Betriebsamkeit in alten und neuen Raumfahrtcentern zu folgen, müssen wir uns fragen, was dort geschieht und ob diese Geschäftigkeit nicht auch in einem Zusammenhang mit dem zugleich sich verstärkenden apokalyptischen Abgesang auf den Körper der Erde steht. Denn während die Erde unter unseren Füßen zu schwinden scheint, blinken Raumstationen, Satelliten, Astronauten zu uns herunter, aber wir wissen nicht so richtig, was es bedeutet, und wir wissen nicht einmal, ob wir überhaupt noch in ihrem Blick sind, ob ihr Blinken uns meint.

Die terrestrische Vernunft, an deren Überwindung bereits gearbeitet wird, lässt sich exemplarisch in der Vernunft auffinden, die Immanuel Kant vor rund 250 Jahren in seiner Kritik der reinen Vernunft in ihren Grenzen und Möglichkeiten untersuchte. Kant schrieb dem Menschen die reine Vernunft als Bestimmung seines Wesens zu, und er legte dar, wie sie sich beschreiben lässt, wenn man den Verstand von allen sinnlichen, empirischen, relativen Momenten befreit und so zu der reinen Form des Denkens gelangt. Für Kant ist diese Vernunft ein universales Zeichen des Menschen: Nur von dem Menschen wissen wir, dass ihm reine Vernunft zukommt.

Reine Vernunft ist aber kein Hirngespinst, sie darf es nicht sein, wenn sie wirklich den Grund unseres Wissens abgeben soll. Sie ist für Kant das, was sich notwendig aus unserem Umgang mit der Welt herleiten lässt. Sie entspringt weder den Abgründen der Fantasie noch einer fernen, überirdischen Quelle, sondern sie lässt sich aus dem, was wir wissen, extrahieren. Sie ist der feste Grund unserer Möglichkeiten, und sie ermöglicht ein Wissen, das nicht durch Gott bedingt ist. Kants reine Vernunft steht auf festem Grund – denn sie ruht auf der Erde. Ihre Gestalt ist gewonnen aus dem Wissen und Handeln der Menschen auf dem Planeten Erde, und es ist deren Eigenständigkeit, die sie begründet.

Niemand ist zu Kants Zeiten in den Weltraum geflogen, und die bemannte Weltraumfahrt war in einer rationalen Weise auch nicht absehbar, wenngleich sie immer wieder die Fantasie beflügelt hat. Hätte nun das Wissen um die bemannte Weltraumfahrt, das Wissen, dass die Menschen auf den Mond fliegen und sich dem Mars zuwenden, um dort vielleicht sogar die erste extraterrestrische Kolonie einzurichten, die Konzeption der reinen Vernunft verändert? Vielleicht. Schärfer gestellt lautet die Frage aber anders: Was bedeutet es, den Weltraum innerhalb der reinen Vernunft zu bereisen? Wenn wir Kants Begriff der Vernunft als Beschreibung und Analyse der Grenzen des Denkens verstehen, dann lässt sich nämlich danach fragen, ob innerhalb dieses Programms der Mensch als weltraumfahrende Spezies überhaupt denkbar ist. Das ist nicht nur eine Frage nach der Wissenschaft, danach, ob sie sich mit den Kant'schen Grenzen zu arrangieren vermag, schließlich hindert nichts eine Kantianerin daran, in eine Rakete zu steigen und auf dem Mond zu landen. Es ist vielmehr die Frage, ob der Kant'sche Begriff der Vernunft diese Entwicklung der Wissenschaft noch zu fassen vermag. Und hier, in den Konsequenzen der zweiten Frage, stoßen wir auf Momente, an denen die weltraumreisende Kantianerin die Grenzen der Kant'schen Vernunft verlässt.

Kant selbst war an all diesen Fragen sehr interessiert. Für ihn war es nicht nur die Frage nach einer möglichen Erkundung des Weltalls, die seine Faszination erregte, sondern vor allem die Möglichkeit des Lebens auf anderen Planeten. Die Beschäftigung mit dieser Möglichkeit begleitete die Ausarbeitung der Konzeption der reinen Vernunft stetig, allerdings nicht nur aus spekulativem Interesse. Die Möglichkeit einer anderen Vernunft nagte wie ein nicht abzuweisender Zweifel an seinem Werk, und Kant versuchte beständig aufs Neue, mit diesem Zweifel umzugehen, da die terrestrische Verankerung der Vernunft durch mögliche andere Vernunftformen infrage gestellt würde. Man kann also die Ausbildung der terrestrischen Vernunft auch an den Umgängen mit ihren inneren und äußeren Gefahren des Extraterrestrischen ablesen.

Mag es auch überraschen, dass Kant durchaus an die Möglichkeit von Leben auf anderen Planeten geglaubt hat, so war er damit zu seiner Zeit keineswegs allein. Bei Kant umfasste diese Überlegung allerdings ein weites Spektrum. In der frühen Phase seines Schaffens zeigte er sich überzeugt, dass es dem Menschen eines Tages möglich würde, zu fremden Planeten aufzubrechen. Der spätere Kant versuchte dann, all diese Spekulationen zu bannen, und war bemüht, unser tatsächliches Wissen sowohl von theologischer Manipulation wie von extraterrestrischer Spekulation säuberlich abzugrenzen, gleichwohl blieb auch er von der Existenz extraterrestrischer Vernunft überzeugt.

Für uns heute zählt zunächst der kritische Kant als strenger Verfechter der Naturwissenschaften, der seine Konzeption der Vernunft allein als eine das Wissen und die Erfahrung ermöglichende Struktur begriff. Für diesen Kant ließe sich also vermuten, dass die bemannte Weltraumfahrt im Sinne einer naturwissenschaftlichen Leistung die Grenzen der Vernunft nicht hätte erschüttern können, ist die Vernunft hier doch als Begründung der Möglichkeit von Naturwissenschaft entworfen. Aber hinter dieser lehrbuchglatten Idee tritt eine andere Vermutung zutage, schaut man auf Kants Obsession mit dem möglichen außerirdischen Leben: dass die Weltraumfahrt eben doch die Grenzen der Vernunft überschreitet und dass Kant selbst bereits eine Ahnung dieser Verschiebung empfand, wenn er mit der Frage nach den Außerirdischen rang – eine Vermutung, die sich im Kant'schen Verständnis nicht auf naturwissenschaftliche Aspekte einer mathematischphysikalisch orientierten Vernunft beziehen kann.

Es ist daher zu fragen, ob mit den Weltraumfahrten etwas anderes erscheint, das mit einem Zuwachs technologischen Wissens nicht allein erklärbar ist, ja, das ein ganz anderes Feld als das Wissen oder aber eine andere Gestalt des Wissens betrifft. Um diese Verschiebung sichtbar zu machen, muss wiederum die Frage leicht verschoben werden: Es ist gar nicht so sehr die Frage, wie und ob Kant die Raumfahrt hätte denken können, sondern vielleicht – effektiver –, welche Lücken der Kant'schen Konzeption der Vernunft die Raumfahrt sichtbar macht, wobei mit »Raumfahrt« hier nicht allein jene Raumflüge gemeint sind, die um die Erde kreisen oder den Mond anvisieren, sondern vor allem jene, die ausziehen, um andere Planeten als Siedlungsplätze und als Orte touristischen Verweilens aufzusuchen. Jene also, die die Perspektive verschieben: Die Erde steht nicht mehr im Mittelpunkt ihrer Bewegungen, sondern diese Raumfahrten zielen auf ein Jenseits der Erde, sie dezentrieren die Vernunft. Sie vollziehen eine kopernikanische Wendung von der Erde weg: In ihrem Blick erweist sich Erde nur noch als ein zukünftig verlassener Ort. Und damit vollziehen sie eine Bewegung über Kopernikus hinaus, da sie sich nicht mehr um Zentren und Peripherien scheren.

Es geht also um Weltraumfahrten, die die Grenzen der mit Kant begründeten Vernunft verlassen, auch wenn sie ihren Orbit um die Vernunft herumziehen und vom terrestrischen Standpunkt der Vernunft vielleicht sichtbar bleiben – doch anstatt uns den Blick auf den blauen Planeten zurückzusenden, sehen wir dabei zu, wie sich ein Bild vom All als neuer Heimstatt einer migrierenden Spezies entwickelt. Es mag sein, dass es sich bei den Bildern, die auf diesen Reisen produziert werden, nur um die Bilder ein paar exzentrischer Reisender handelt, dass es zu früh ist, von einem Wandel des Weltbildes zu sprechen. Aber die Bilder strahlen eine allegorische Kraft aus, in der ein anderer Mensch angezeigt ist, ein Mensch, der uns anblickt, auf den wir uns beziehen müssen, ob wir wollen oder nicht. Ein Mensch, dessen Verhältnis zu sich technologisch vermittelt ist und dessen Bild von sich zugleich seine Wirklichkeit ist. Sein Bild, das seine Wirklichkeit ist, wird vor unseren Augen entworfen. Und damit verlassen wir die Kant'sche Orientierung des Denkens.

Allerdings sind wir, so wie wir uns gewöhnlich auf der Erde orientieren, in weiten Teilen unseres Verständnisses der Welt Kantianer. Dies ergibt sich aus zwei großen Leitlinien unseres Umgangs mit der Welt: Wir sind Kantianerinnen, insofern wir das Wissen auf Erfahrungen gründen und zugleich davon ausgehen, dass die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen, von Grundsätzen geregelt sind, die erfahrungsunabhängig gelten und das menschliche Erfahrungsvermögen begrenzen. Das heißt, dass unser Wissen durch transzendentale Bedingungen reglementiert ist und die Natur sich nicht einfach zeigt, wie sie ist, sondern dass sie allein nach unseren Möglichkeiten erfahren werden kann. Diese Bedingungen beschränken keineswegs den Fortschritt im Wissen, es gilt nur, dass der Zuwachs an Wissen Grundsätzen folgt, die die Grundsätze jeder möglichen Erfahrung und jeden möglichen Wissens von der Welt sind. Diese Grundsätze betreffen vor allem die Struktur unserer Sinnlichkeit, die jede Erfahrung nur als eine Erfahrung in Raum und Zeit ermöglicht. Sie betreffen aber auch das methodische Gefüge unserer Schlüsse, die sich nur innerhalb der Kategorien der Quantität, Qualität, Relation und Modalität entfalten können. Allerdings ist durch diese Bedingungen nicht die Individualität von Erfahrungen betroffen, da die Bedingungen nur die Möglichkeiten von Erfahrungen überhaupt umfassen, über ihre individuelle Erscheinung und Färbung aber nichts aussagen.

Wenn wir also auf universale Regeln der Vernunft setzen, die das Wissen kompatibel und erweiterbar halten, sind wir Kantianer. Wir sind aber auch Kantianerinnen, wenn wir zugleich darauf insistieren, dass diesem Wissen eine äußere Gegenständlichkeit korrespondiert, dass also die äußere Gegenständlichkeit nicht von uns, durch unser Denken, hervorgebracht wird. Das ist entscheidend, wenngleich wir diese äußerliche Gegenständlichkeit nicht an sich, sondern nur nach unseren Möglichkeiten erkennen können. Zwar können wir also das Ding an sich, wie es bei Kant heißt, nicht erkennen, aber gäbe es aber keine notwendige Referenz auf eine äußere Entsprechung, dann müsste das ganze transzendentale Gefüge wie ein flüchtiges Gedankenspiel seinen Halt verlieren. Wo also keine äußere Gegenständlichkeit ist, da gibt es auch keine Erfahrung. Und selbst abstraktes, »reines« Wissen hält für Kant den Bezug auf die Gegenständlichkeit in abstrakter Weise fest.

Daraus lassen sich nun zwei Schlüsse ziehen. Zum einen – ließe sich mit Kant argumentieren –, dass derjenige, der nicht auf den Mond fliegt und ihn auch nicht sieht, diesen auch nicht zu erfahren vermag, sofern der Mond nicht aus einer anderen Erfahrung heraus notwendig (abstrakt) bestimmbar ist. Zum anderen: Wer den Mond sieht und daraus Schlüsse zieht, macht eine Erfahrung, die an die Erde gebunden ist, auf der der Mensch hinter dem Teleskop steht.

Aber bedeuten diese zwei Schlüsse nicht nur, dass Menschen allein solche Erfahrungen machen können, die über die menschliche Sinnlichkeit vermittelt sind? Dass ist eine klassische vernünftige Idee. Sie besagt aber noch mehr, und das liegt an der Ausschließlichkeit, die in diesen Schlüssen vermittelt wird. Kant hat die Struktur des transzendentalen Apparats aus der Gegebenheit von Erfahrungen abgeleitet. »Der Zeit nach«, heißt es in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft, »geht […] keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher«, und die Erfahrung beginnt mit dem »rohen Stoff sinnlicher Eindrücke«.1 Selbstverständlich erlaubt Kant es nicht, den rohen Stoff als ein gegebenes Material zu verstehen, da noch das kleinste Verständnis irgendeines Materials sich bereits unserem transzendentalen Apparat angepasst hat. Wenn die Erkenntnis aber mit der Erfahrung beginnt, dann ist es ein Dass der Erfahrung, welches der Entschlüsselung ihrer Möglichkeitsbedingungen vorausgeht. Selbst wenn Kant also die Vernunft nicht direkt auf unsere sinnliche Struktur zurückführt, sondern sie von dieser unabhängig gesetzt ist, so ist die Vernunft doch zugleich davon gekennzeichnet, dass es vorweggehende Erfahrungen gibt, die nach unseren Möglichkeiten sinnlich verarbeitet werden, von denen unabhängig die Vernunft sich dann zu begreifen vermag. Damit schließt Kant jedoch zugleich die Möglichkeit eines völlig anderen Erfahrungstypus, der außerhalb dieser Möglichkeitsbedingungen angesiedelt wäre, aus. Denn der transzendentale Apparat könnte einen Bruch seines Gefüges nicht verarbeiten. Würde nun also ein Kantianer auf den Mond fliegen, anstatt ihn nur durch das Fernrohr zu beobachten, so würde er auf dem Mond keine Erfahrung machen können, die nicht den Gesetzen der terrestrischen Vernunft gehorcht. Es bestünde also die Möglichkeit, dass er etwas anderes, außerhalb dieser Möglichkeiten Erscheinendes nicht wahrnimmt, nicht erkennt.

Das wäre für Kant eine irre Möglichkeit. Wie sollte man etwas übersehen, was man gar nicht erkennen kann? Was wäre mit Gott beispielsweise. Gagarin, der erste Mensch im Weltall, gab zu Protokoll, dass er ihn nicht angetroffen habe. Aber hätte er es können? Für Kant bleibt Gott zwar denkbar und in seiner Notwendigkeit einsehbar, aber eine Erfahrung Gottes, die ein Wissen ermöglicht, bleibt undenkbar. Der transzendentale Apparat kann seine eigenen Grenzen nicht erfassen, und er ist auf der transzendentalen Sinnlichkeit gegründet, die ihn an die Erde bindet, da sie aus terrestrischen Erfahrungen hergeleitet ist. Diese terrestrische Bindung der Vernunft betrifft verschiedene komplexe Konstellationen in Kants Philosophie: das Verhältnis von Verstand und Vernunft, von Raum und Zeit, aber auch das Verhältnis von Vernunft und Freiheit. Für unsere Zusammenhänge mag es ausreichen, auf Kants Bestimmung der Freiheit als letztem Zweck der Menschheit in der Natur hinzuweisen. Gilles Deleuze hat das Paradox so zusammengefasst:

[D]er letzte Zweck der sinnlichen Natur ist ein Zweck, den diese Natur selbst nicht hinreichend verwirklichen kann. Nicht die Natur verwirklicht die Freiheit, sondern der Begriff der Freiheit verwirklicht oder vollzieht sich in der Natur.2

Dem Menschen fällt die Aufgabe zu, die Freiheit zu verwirklichen, die aber letzter Zweck der sinnlichen Natur ist. Die moralischen Gesetze unterliegen zwar nicht der Natur, aber nur insofern der Mensch sie verwirklicht, macht sein »Dasein […] der Welt Endzweck aus«.3 Die Vernunft ist also nicht terrestrisch, weil sie direkt der sinnlichen Natur unterliegt, ist sie bei Kant ja gerade dadurch definiert, sich von dieser zu unterscheiden. Aber sie ist terrestrisch, weil sie unter der Voraussetzung sinnlicher Erfahrungen gebildet und ihre Verwirklichung im Rahmen der Welt und ihrer Natur gedacht wird. Die Vernunft ist terrestrisch, weil ihre Freiheit gerade in der Unterscheidung von der Natur an diese als ihren letzten Zweck gebunden ist.

Dieses Verhältnis von Natur und Freiheit enthält die Bindung der Kant'schen Vernunft an die Erdnatur, an den Erdkörper als ihre »Sphäre«, wie es in der Kritik der reinen Vernunft heißt, in der die Vernunft eine Beschreibung erhält, die den Planeten Erde im All zu spiegeln scheint:

Unsere Vernunft ist nicht etwa eine unbestimmbar weit ausgebreitete Ebene, deren Schranken man nur so überhaupt erkennt, sondern muß vielmehr mit einer Sphäre verglichen werden, deren Halbmesser sich aus der Krümmung des Bogens auf ihrer Oberfläche (der Natur synthetischer Sätze a priori) finden, daraus aber auch der Inhalt und die Begrenzung derselben mit Sicherheit angeben läßt.4

Die Philosophie schließlich, als eine Instanz der Vernunft, erhält die Aufgabe, transzendentale Ideen als »Weltbegriffe« zu denken.5 Philosophisch, politisch, moralisch ist die Vernunft insofern eine terrestrische Vernunft. Und zunächst allein in diesem Sinne ist alles, was die Kant'sche Konzeption der Vernunft übersteigt, extraterrestrisch.

Das Extraterrestrische ist Gegenstand möglicher Spekulation, aber kein Objekt des Wissens. Wenn nun eine Kantianerin von heute zum Mond fliegt, dort Gesteinsproben nimmt, diese untersucht und die Ergebnisse publiziert, dann erweitert sie terrestrisches Wissen. Sie verändert aber nicht die Grundsätze der Erfahrung, sie verändert nicht das terrestrische Apriori der Erfahrung. Denn die Proben werden gesichtet, analysiert und klassifiziert nach den Verhältnissen des Verstandes, der sie zu jedem – bereits gewonnenem und rein möglichem – Wissen in Bezug setzt. So zeigt sich etwas klarer, dass die Problematik des Außerirdischen nicht den Umfang des Wissens und der Forschung betrifft, sondern dass sich für Kant mit dem Extraterrestrischen die ihn faszinierende, zugleich aber auch beunruhigende Möglichkeit eines Wissens eröffnet, das diese Begrenzungen – also unsere menschlichen Möglichkeiten – übersteigt. Das Extraterrestrische im Kant'schen Sinne ist in seiner Existenzform nicht an die Welt und auch nicht an den menschlichen Erfahrungsapparat gebunden; es findet sich vielmehr in der Möglichkeit einer anderen Vernunft. Und aus ebendieser Möglichkeit einer außerhalb des terrestrischen Paradigmas arbeitenden anderen Vernunft erwächst eine der großen Beunruhigungen der Kant'schen Philosophie (neben allen irdischen Formen des Wahns, der Träumerei, der Täuschung, die ebenfalls unablässig Unruhe stifteten).

Kant blieb, wie bereits gesagt, immer von der Existenz außerirdischen Lebens überzeugt. Diese Überzeugung durchläuft zwar verschiedene Formen, die mit der Entwicklung seiner Philosophie korrespondieren, aber eine gewisse durchgängige Irritation und Faszination bleibt unabweisbar. Wenn man sich die zentralen Stellen anschaut, an denen Kant mit dieser Irritation ringt, dann wird schnell deutlich, weshalb ein mögliches anderes vernünftiges Leben die reine Vernunft vor eine große Herausforderung stellt. In Kants Spekulationen ist die gesamte Unsicherheit einer Vernunft eingegraben, die an den Menschen einerseits und an die Erde andererseits geknüpft ist – die Unsicherheit eines Weltbildes, dessen Verabschiedung sich 250 Jahre nach Kant abzeichnet.

Schauen wir auf ein paar von Kants Äußerungen. In seinem frühen Werk, also noch bevor er die Vernunft auf ihre transzendentalen Bedingungen einschwor, widmete sich Kant ausführlichen Gedankenspielen über extraterrestrisches Leben. In einer 1755 verfassten Abhandlung, die in ihrem Titel – Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt – bereits die wesentlichen Koordinaten seines Denkens anzeigt, gibt es einen dritten Teil, der als »Anhang« firmiert und den Untertitel »Von den Bewohnern der Gestirne« trägt.6 Hier zeigt sich Kant überzeugt, dass es im Universum auf verschiedenen Planeten – Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn – Lebewesen geben müsse, die sich aufgrund der unterschiedlichen Nähe zum Sonnenlicht differenzieren ließen. Weil sie mehr Sonnenlicht bekommen, geht Kant davon aus, dass auf den Planeten Jupiter und Saturn vollkommenere Wesen als auf der Erde zu finden seien. Und das, obwohl die angenommene Länge des Tages, also die Sonneneinstrahlung, auf dem Jupiter mit fünf Stunden recht kurz ausfällt, was, so Kant, ein umso schlechteres Bild des Menschen zeichne, den er eine »grobe Maschine« nennt, zeige es doch nur, dass die Bewohner des Jupiter »mit einer feinern Bildung mehr elastische Kräfte und eine größere Behendigkeit in der Ausübung verbinden« und so in fünf Stunden erreichten, was der Mensch nur in zwölf Stunden zu schaffen vermöge.7 Die Gewissheit in Bezug auf die Bewohnbarkeit anderer Planeten verbindet Kant mit der Überzeugung, dass das Universum durch eine »ewige Harmonie« geordnet sei, die wiederum in den »Vollkommenheiten Gottes« gründe.8 Dieses geordnete und von einer Vielheit bewusster Lebewesen belebte Weltall ins Auge fassend, bleibt er aber nicht bei der Spekulation über die allgemeinen Verteilungen von Leben und Welten stehen – tatsächlich scheint ihm auch ein zukünftiger Exodus der Menschen vom Planeten Erde möglich:

Sollte die unsterbliche Seele wohl in der ganzen Unendlichkeit ihrer künftigen Dauer, die das Grab selber nicht unterbricht, sondern nur verändert, an diesen Punkt des Weltraumes, an unsere Erde jederzeit geheftet bleiben? Sollte sie niemals von den übrigen Wundern der Schöpfung eines näheren Anschauens teilhaftig werden? Wer weiß, ist es ihr nicht zugedacht, daß sie dereinst jene entfernte Kugeln des Weltgebäudes, und die Trefflichkeit ihrer Anstalten, die schon von weitem ihre Neugierde so reizen, von nahem soll kennen lernen? Vielleicht bilden sich darum noch einige Kugeln des Planetensystems aus, um nach vollendetem Ablaufe der Zeit, die unserem Aufenthalte allhier vorgeschrieben ist, uns in andern Himmeln neue Wohnplätze zu bereiten. Wer weiß, laufen nicht jene Trabanten um den Jupiter, um uns dereinst zu leuchten?9

Der implizite, hinter dem Prophetismus verborgene Ton ist ein apokalyptischer: Die Rede vom Ablauf der uns vorgeschriebenen Zeit muss zwar nicht das Ende als Katastrophe begreifen, aber die Ankündigung des Endes und eines Wechsels der Zeiten ist ein Topos der apokalyptischen Literatur, meint die biblische Apokalypse schließlich ein solches Ende, das den Anbruch anderer Zeiten markiert. Der Apokalyptiker Kant wäre vielleicht auch heute ein wohlgesinnter Beförderer der Pläne zur Kolonisierung neuer Planeten.

Nach den neuen, kritischen Maßstäben, an denen Kant ab 1781 mit der Kritik der reinen Vernunft sein Denken ausrichtet, entbehrt aber die Rede vom Leben auf anderen Planeten oder der Abhängigkeit dieser Wesen vom Grad der Sonneneinstrahlung jeglicher Grundlage. Nichts davon lässt sich aufrechterhalten. Der Platz für extraterrestrische Spekulationen verschwindet. Lediglich eine kurze Anmerkung zur Frage nach dem Extraterrestrischen findet sich in der Kritik der reinen Vernunft, mit der Kant zwar seine grundsätzliche Überzeugung vom Leben auf anderen Planeten wiederholt, aber auch eingesteht, dass es sich nur um einen »starke[n] Glauben« handeln könne.10 Später, in der Kritik der Urteilskraft, die 1790 erschien, klingt das Ganze sogar noch vorsichtiger – die Überzeugung vom vernünftigen Leben auf anderen Planeten verkommt zur bloßen »Meinung«, was den verzwickten Charakter der terrestrischen Vernunft deutlich werden lässt:

Vernünftige Bewohner anderer Planeten anzunehmen, ist eine Sache der Meinung; denn, wenn wir diesen näher kommen könnten, welches an sich möglich ist, würden wir, ob sie sind, oder nicht sind, durch Erfahrung ausmachen; aber wir werden ihnen niemals so nahe kommen, und so bleibt es beim Meinen.11

Das ist eine in sich merkwürdige Einschätzung. Denn einerseits wäre es an sich möglich, Erfahrungen von einer anderen Vernunft zu sammeln. Nichts steht der technischen Entwicklung, die eine Annäherung ermöglichte, grundsätzlich im Weg. Dass Kant aber dennoch davon ausgeht, dass es gleichwohl niemals so weit kommen wird, zeigt, dass das Problem größere Ausmaße als die einer rein technischen oder wissenschaftlichen Entwicklung hat. Man muss sich paradoxerweise fragen, ob wir den Bewohnern anderer Planeten selbst dann nicht nahekämen, wenn wir zu ihnen zu reisen vermöchten. Noch anders gesagt: Scheint die andere Vernunft immer ein Ding an sich zu bleiben, an das wir aufgrund unserer transzendentalen Einrichtung nicht heranreichen? Hier nun ist dieses Ding an sich, mit dem Kant die uns unerreichbare Gegenständlichkeit der Dinge »an sich« fasst, aus der Welt gefallen, auf andere Planeten entrückt.

Die eigentliche Thematik, die eine Beunruhigung und Herausforderung für die terrestrische Vernunft darstellt, wird wiederum in einer kurzen Passage aus der 1796 veröffentlichten Anthropologie in pragmatischer Hinsicht noch einmal klarer, wird darin doch, im Unterschied zum Wissen, Glauben, Meinen der zuvor zitierten Überlegungen, ersichtlich, in welcher Hinsicht die Frage nach extraterrestrischem, bewusstem Leben für Kant überhaupt eine entscheidende Rolle spielt:

Wenn aber eine Art von Wesen, die wir kennen (A), mit einer andern Art Wesen (non A), die wir nicht kennen, verglichen wird: wie kann man da erwarten oder verlangen, einen Charakter des ersteren anzugeben, da uns der Mittelbegriff der Vergleichung (tertium comparationis) abgeht? – Der oberste Gattungsbegriff mag der eines irdischen vernünftigen Wesens sein, so werden wir keinen Charakter desselben nennen können, weil wir von vernünftigen, nicht irdischen Wesen keine Kenntnis haben, um ihre Eigentümlichkeit angeben und so jene irdische unter den vernünftigen überhaupt charakterisieren zu können.12

Diese Überlegung ist höchst ambivalent. Zunächst besagt sie, dass wir, da wir nur die menschliche Vernunft kennen, diese nicht mit einer anderen vergleichen und so nicht ihren spezifischen Charakter bestimmen können. Aber abgesehen davon,