Ein Winter für Mörder - Friederike Schmöe - E-Book

Ein Winter für Mörder E-Book

Friederike Schmöe

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Beschreibung

Ksenia steht finanziell mit dem Rücken zur Wand. In ihrer Verzweiflung plant sie, den Notgroschen ihrer Freundin Heddy zu stehlen. Doch der Mann, der ihr dabei helfen wollte, liegt ein paar Tage später tot in seinem Büro, und Heddy ist spurlos verschwunden - mit dem Geld. Zusammen mit Heddys Tochter Karina macht Ksenia sich auf, ihre Freundin zu finden. Dabei stellen sie fest, dass diese keineswegs die treusorgende Mutter ist, für sie sie hielten …

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Friederike Schmöe

Ein Winter für Mörder

Kriminalroman

Zum Buch

Die Opfer der Wilden Jagd Vor 20 Jahren haben Ksenia und ihre Freundin Heddy 100.000 Euro im Wald gefunden und halbe-halbe gemacht. Ksenias Anteil ging in ihrem Reisebüro auf, Heddy sparte alles für ihre Tochter Karina. Als ihr Reisebüro dringend eine Finanzspritze braucht, planen Ksenia und ein Kumpel, während eines alkoholgetränkten Abends, bei Heddy einzubrechen und das Geld aus dem Tresor zu stehlen. Doch der Tresor ist leer, der Mann, der ihr bei dem Raub helfen sollte, liegt ein paar Tage später tot in seinem Büro, und Heddy ist spurlos verschwunden – mit dem Geld. Zusammen mit Heddys Tochter Karina macht sich Ksenia auf, um Heddy zu finden. Dabei stellen sie fest, dass diese keineswegs die treusorgende Mutter ist, für die sie alle halten, sondern offensichtlich selber in enormen Schwierigkeiten steckt.

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten, gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst unter anderem die Krimireihen um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung einer Illustration von: © Lutz Eberle

ISBN 978-3-8392-7662-4

Prolog

Ihre Mutter hat sie immer gewarnt. Eine Sünde zieht die andere nach sich. Ja, ja, hat sie geantwortet, das ist Traditionswissen. Im Prinzip hat sie selbst die alten Werte immer geehrt. Die wahren Werte. Das, was als gut gilt, als human, als menschenfreundlich. Vertrauen, Verantwortung, Respekt.

Bis ihr jemand begegnete, der all das obsolet machte. In einem winzigen Moment, in dem ihre Weltsicht auf den Kopf gestellt wurde. Sie hat von solchen Augenblicken gelesen, Rissen im Leben, durch die unerwartet Licht fällt, und die sofortige und nachhaltige Veränderungen herbeiführen. Weil man dieses eine Großartige, was man durch den Riss sieht, nie mehr vergessen kann. Und den Riss nie mehr kitten.

Mittlerweile wünscht sie sich nichts mehr, als damals auf die Bremse getreten zu sein. Allerdings ist sie ehrlich genug zu sich selbst, um zu sagen: Wenn ich widerstanden hätte – ich würde mich jetzt zerfleischen. Mich hassen dafür, eine solche Chance vertan zu haben. Denn als solche hat sie die Ereignisse, die sie überrollten, wahrgenommen.

Wobei die Erkenntnis, die sie mit einem gewissen zeitlichen Abstand gewonnen hat, lautet: besser ein weitgehend zufriedenes Leben ohne große Höhen und Tiefen, als einmal das absolute Gipfelerlebnis und danach die Offenbarung, dass es ein Fehlgriff war, schlimmer als jede je erlebte Enttäuschung. Dass sie in einem Zustand gelandet ist, der eine Rückkehr zu ihrem alten Leben unmöglich macht. Sie zwingt, ihre Werte zu verraten. Und die Menschen, die sie liebt.

1.

27. Dezember

Karinas Anruf.

»Tante Ksenia? Ist Mama bei dir?«

»Nein, wieso, wie kommst du darauf?«

»Sie ist gestern nicht heimgekommen. Papa ist noch im Krankenhaus und …«

Karinas Stimme wird weinerlich, und Ksenia fühlt sich genervt.

»Hör mal, Karina, ich habe wirklich keine Ahnung, wo Heddy sein könnte. Wir haben nicht mehr so intensiven Kontakt.« Was stimmt.

»Ihr habt euch doch neulich erst getroffen, oder?«

Stimmt auch.

Ksenia hat das Gespräch mit Karina beendet, mit beruhigenden Worten, wie sie hofft, hat ihren Anorak geschnappt und ist raus.

Ein Treffen mit Heddy, am ersten Advent, um zu sondieren. Wie es bei Heddy so aussieht. Heddy, die Familienfrau, die alles tut für Mann und Kind. Und als Erzieherin in einem katholischen Kindergarten. Peter hatte da gerade ein Riesenproblem mit seinen Bandscheiben, konnte vor Schmerzen weder liegen noch stehen, und Karina … Nun ja. Mamas und Papas Augenstern. Gerade 18 geworden, aber kein bisschen selbstständig. Höhere Tochter.

Ksenia stapft durch den Schnee, der die Felder in einen harschen Panzer gepackt hat. Am Horizont lauert der Wald. Dunst wabert, es taut. Die weiße Weihnacht hat ein matschiges Nachspiel. Wenngleich ein neuerlicher Kälteeinbruch und Schnee angesagt sind. Ksenia mag Schnee, sie ist eine Winterfrau, genießt die kalte, feuchte Luft. Unter ihrer Mütze sammeln sich Schweißperlen, so schnell schreitet sie aus, der Wald rückt näher, der Nebel schließt sich dichter um sie. Sie hat das Haus der Eltern hier draußen übernommen, obwohl sie früher ein eingefleischter Stadtmensch war.

Damals.

Mit dem Einzug, den Umbauarbeiten am Haus, der Gestaltung des Gartens geschah eine allmähliche Verwandlung: Ksenia begann, das Landleben zu genießen. Heute kann sie sich nicht mehr vorstellen, zwischen Asphalt und Hausmauern zu leben, umschlossen von Autolärm und abgasgeschwängerter Luft.

Heddy hat ihr viel geholfen. Beim Umzug, Umbau, und auch im Geschäft. Die kleine Karina genoss die Ausflüge aufs Land, spielte mit den Katzen, im Sommer bauten sie ein Zelt auf und übernachteten draußen, zählten Sterne. Bis sie sich entfremdeten. Schleichend. Sie sehen einander noch, das wohl. Sie plaudern über dies und das, gehen auch mal gemeinsam wandern. Aber diese enge Bindung, dieses Gefühl, einander alles sagen zu können und dabei verstanden zu werden, fehlt. So war es einmal, so ist es nicht mehr.

Eine Krähe hockt nur wenige Meter neben ihr auf dem umgepflügten Feld. Aus Gewohnheit nickt Ksenia ihr zu. Krähen sind klug, erkennen Gesichter. Die zweite kann nicht weit sein. Schon segelt sie vom Wald herüber, mit einem heiseren Schrei landet sie neben der ersten. Es kommt Ksenia vor, als ob auch die Vögel sie beobachten, feststellen, dass dieser Spaziergang ungewöhnlich ist, denn normalerweise geht Ksenia hier auf der langen Morgenrunde, nicht mittags.

Unter ihren Stiefeln haben sich dicke Klumpen nasser Erde angesammelt, als sie den Wald erreicht. Plötzlich hängt Nässe in der Luft, ein feines Nieseln. Von wegen Schnee!, denkt Ksenia.

Heddy. Vor 20 Jahren, nicht ganz, aber beinahe, an einem Frühlingstag, als Winterlinge und Märzenbecher ihre Köpfe aus der Erde streckten, die Vögel eifrig ihren Geschäften nachgingen, hatte sich ihr Leben verändert. Aus Freundinnen wurden Komplizinnen.

Ungeduldig reißt Ksenia die Mütze vom Kopf. Öffnet den Anorak, trotz der Feuchtigkeit. Diese milde Luft Ende Dezember – kaum auszuhalten. Als habe sie Schwierigkeiten zu atmen, so kommt es ihr vor.

Was sie damals getan haben, hat ihr Leben überschattet. Der Riss in ihrer Freundschaft, ihr langsames Absterben, das vorgeschobene Desinteresse, die überdeutliche Vorsicht nahmen hier in diesem Wald ihren Anfang.

2.

13 Tage zuvor

Sie sitzt am Tresen. Bestellt ein Bier. Die Gaststätte brummt, jeder Platz ist besetzt. Es ist kurz vor Weihnachten, die Leute feiern, sind ausgelassen, trinken, essen. Ksenia hat gerade ihren Wagen aus der Werkstatt geholt. Wieder eine Rechnung. Wieder ein neues Problem. Auf dem Tresen steht ein Adventskranz. Drei Kerzen brennen.

»Hier.« Roland stellt ihr das Bier hin. Das Glas beschlägt, der Schaum schließt perfekt am Rand ab. »Zum Wohl.«

»Danke.« Ksenia trinkt. Der bittere Geschmack tut gut.

»Wie läuft das Geschäft?«, fragt Roland, während er weiterzapft.

»Geht so.«

»Reisen wollen die Leute doch immer! Ich würde auch gern mal weg. Schau dich um, und du verstehst, was mein Problem ist.« Er schnappt sich sein mit Gläsern beladenes Tablett und geht los, servieren.

Ksenia grinst schief. Sie hat ein paar Fehlentscheidungen getroffen. Ihr Reisebüro liegt am Stadtrand, in einer Gegend, die in den vergangenen Jahren sozial und ökonomisch abstarb. Eine Umgehungsstraße gab ihr den Rest. Außerdem hat Ksenia das Internet vernachlässigt. Alle buchen im Netz. Sie kann da nicht mithalten. Von ihren drei Angestellten ist keine mehr übrig. Und selbst ihr eigenes Gehalt kann Ksenia kaum erwirtschaften.

Neben ihr wird der Hocker zurechtgerückt. Ein dunkelhaariger Typ nickt ihr zu.

Ksenia setzt ihr finsterstes Gesicht auf. Sie hat keinen Nerv, sich zu unterhalten, und legt noch weniger Wert darauf, von einem Mann vollgequatscht zu werden, der seine Heldentaten preist. Darauf läuft es bei Kneipenbekanntschaften hinaus. Eigentlich sitzt sie hier, weil sie ihr Bier nicht zu Hause trinken will. Und um ein paar Worte mit Roland zu wechseln. Der aber kaum dazu kommt, bei dem Betrieb.

Der Dunkelhaarige bestellt ein Bier. Roland zapft und stellt auch Ksenia gleich wieder eines hin.

»Hat es geklappt mit dem TÜV?«

»Hat es. Zwei herrliche Jahre liegen vor mir.« Sie grinst.

»Die können zaubern bei Christian.« Roland lacht.

»Ja, scheint so.«

»Eine gute Werkstatt?«, mischt sich der Dunkelhaarige ein. »Könnt ihr mir die empfehlen? Ich brauche dringend eine, die meinen Pick-up flottkriegt.«

Ksenia verdreht die Augen.

Roland schiebt eine Visitenkarte über die Theke. »Hier. Zehn Kilometer weiter.«

Ihr brummt der Kopf, im Lokal ist es laut, die Leute trinken, lachen, lassen es krachen. Weihnachten steht vor der Tür. Ein Mann mit kahl rasiertem Schädel drängt sich an den Tresen, genau zwischen Ksenia und den Dunkelhaarigen.

»Roland! Eine Runde Klaren für alle!«

»Bringe ich euch.«

Ksenia grinst beim Gedanken daran, dass Roland diese intensiven Tage genießt. Er ist der Typ Gastwirt, der sich gern für ein paar Minuten mit an den Tisch setzt, Karten spielt, mittrinkt, einen ausgibt. Die harte Arbeit gibt ihm Energie. Fröhlich zwinkert er Ksenia zu.

Der Glatzkopf geht zurück zu seinen Kumpels. Zu viert sind sie, ein Deck Karten auf dem Tisch. Bullige Kerle in eng anliegenden Shirts, die ihre vielen Stunden in der Muckibude wirkungsvoll zur Schau stellen.

»Na, da werde ich mal mein Glück bei dieser Werkstatt versuchen, noch vor den Feiertagen.« Die Augen des Dunkelhaarigen liegen auf Ksenias Profil. Sie dreht sich weg.

3. 

27.12.

Von den Bäumen tropft der schmelzende Schnee. Ksenia streckt die Hände aus, Handflächen nach oben. Der Weg führt bergauf, zuerst kaum spürbar, schließlich steiler. Bald biegen mehrere Wanderwege ab. Sie nimmt den ganz links, der sie weiter durch den Wald führen wird. Das Gewirr aus Pfaden und Flurwegen kennt sie in- und auswendig. Sie weiß, wo der Besitzer der Galloways entlangfährt, um seine Herde zu versorgen, sie kennt die Waldbesitzer, jeden einzelnen, weiß, wo ihre Gebiete liegen und wer bei wem Wegerecht hat. Auch die Streitereien und das Hickhack der diversen Parteien sind ihr hinlänglich bekannt. Ksenia liebt den Wald. Sie hat ihre Blaubeerpfade im Sommer und weiß um die guten Stellen, wo sie im Herbst Maronen und Pfifferlinge sammeln kann.

Diesen Weg ist sie damals mit Heddy gegangen. Heddy, die gern Sport macht, während ihr Mann Peter eine Couchkartoffel ist. Deswegen die Bandscheibenprobleme. Ksenia mag Peter nicht besonders. Ein wehleidiges Exemplar. Softie. Klassisches Beispiel für einen Mann, der es seiner Frau überlässt, sich um das verstopfte Klo zu kümmern. Weil er es im Kreuz hat.

Ganz anders der Typ, den sie vor zwei Wochen abgeschleppt hat. Nach dem Bier bei Roland. Sie hat das nicht beabsichtigt. Es ergab sich irgendwie. Micha. Er schätzte den frisch gefallenen Schnee genauso wie Ksenia. Er fuhr ihr nach. Sie ließ es zu. Weil es in einem Haus weit draußen am Waldrand schon mal einsam sein kann. Wenngleich sie nicht der Kuscheleckenfreak ist, so wie Heddy. Sie kann gut auf eigenen Füßen stehen und ihr Ding machen.

Beinahe wütend stapft sie die Steigung hoch. Rechts erhebt sich drohend ein Jägerstand. Ein Eichelhäher schnattert los. Ksenia sucht das Geäst ab, doch sie kann ihn nicht sehen. Schon wird es dämmrig. Die Tage sind verdammt kurz Ende Dezember.

Damals mit Heddy, da war es noch hell, als sie am Nachmittag ihre Wanderung unternahmen. Ksenia folgt dem rot markierten Wanderweg, der nun eine Biegung macht und weiter ansteigt, um nach knapp 300 Metern wieder steil abzufallen. Um diese Jahreszeit ist niemand hier. Die Gegend ist im Sommer bei Outdoorfreunden beliebt, wenn alle die Kühle des Waldes suchen. Trailrunner, Nordic Walker, solche Leute. Ksenia stürmt voran. Der Wald wird bei einer Streuobstwiese enden, doch zuvor steht versteckt rechts im Dickicht ein Hochstand. Auf den sind Heddy und sie geklettert. Man sieht von dort einen weiten Hang und neuerlichen Wald, am Ende der mit knorrigen Bäumen bestandenen Streuobstwiese. Ganz nah hämmerte ein Specht. Sie haben dort gesessen, Kaffee aus der Thermoskanne getrunken, Kekse geknabbert und geredet. Über dies und das. Ksenias Geschäft hatte den ersten Einbruch. Weil das Internet an Wichtigkeit gewann. Weil ihre Kunden über die Preise klagten; sie würden dasselbe Flugticket im Netz günstiger finden, wie Ksenia sich dazu verhielte. Warum sie nicht bis einen Tag vor Abflug kostenlos stornieren könnten. Wie das denn sei mit den Bauarbeiten im Hotel, von denen Ksenia ihnen nichts gesagt hätte.

Heddy, die treue, geduldige Zuhörerin! Ksenia kotzte sich aus, und Heddy tröstete. Die Stimmung wechselte von verzweifelt zu lustig, bis sie begannen, sich zu kabbeln. Dabei kullerte ein Becher unter die Sitzbank. Ksenia kroch hinterher. So fanden sie den Rucksack.

4.

13 Tage zuvor

Seine dunklen Haar fallen ihm in die Stirn. Er hebt sein Glas, prostet Ksenia zu.

»Cooles Lokal.«

»So?«

»Ich fahre nicht oft so weit aus der Stadt raus.«

»Was Sie nicht sagen.« Ksenia spürt seine blauen Augen auf sich. Sie erinnern sie an die Augen eines Tieres, die im Dunkeln glühen können. Der Glatzkopf drängt sich wieder an den Tresen, stellt das Tablett mit den leeren Schnapsgläsern ab.

»Noch eine Runde Klaren!«

»Kommt.« Roland bleibt die Ruhe selbst.

»Schöner Ort, um hier zu leben«, sagt der Dunkelhaarige. »Das ist so ein Traum, der immer mal wieder bei mir hochkommt, verstehen Sie.«

»Sicher.«

»Wobei … ich bin ja eher der Stadtmensch.« Er nimmt einen Schluck.

Ksenia starrt an Roland vorbei. Hinter seinem Rücken schimmern die bunten Spirituosenflaschen auf Boards, von hinten durch einen Spiegel hervorgehoben. Sie sieht ihr eigenes Gesicht, im Schatten, aber erkennbar. Graublondes, langes Haar, achtlos hinter die Ohren geschoben. Ein nichtssagendes Shirt. Dennoch baggert der extrem gut aussehende Typ sie an. Sie hat wenig Lust auf ein Gespräch und noch weniger Kontrolle über das, was sie sagt. Sie hat was getrunken. Sie hat Probleme. Existenzielle Sorgen.

»War ich auch«, erwidert sie endlich. »Stadtmensch.«

»Aber?«

»Habe mich eben verändert.«

Das lässt er gelten. Wahrscheinlich nicht für lang, denkt Ksenia. Sie lauscht dem Sound des Pubs, ihr ist, als rückten das Stimmengewirr, das Gläserklirren näher an sie heran. Schließlich fragt er:

»Was machst du beruflich?«

Das Du hat sie erwartet. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen. Er wirkt nicht wie jemand, mit dem es kompliziert würde. Dennoch starrt sie weiter vor sich hin, vermeidet den direkten Blickkontakt. Roland schenkt Schnaps ein und serviert am Tisch bei den Kartenspielern.

»Fragst du mich als Nächstes, ob ich eine Fremdsprache spreche?«

Er lacht, es klingt verunsichert.

»Also …«

»Was machst du denn beruflich?«

»Import, Export.«

»Klingt nicht sehr spannend.«

Er grinst. »Ist es aber.«

»Was import-exportierst du?«

»Hauptsächlich Lebensmittel.«

Sie wendet sich ihm zu.

»Ist nicht wahr.«

»Doch!«

»Klingt extrem langweilig.«

Er stützt sich auf den Ellenbogen. »Dann erzähl mir was Cooleres. Was machst du?«

»Ich habe ein Reisebüro.«

»Ist nicht wahr.«

Er ahmt sie nach, was Ksenia sofort auf den Geist geht.

»Ich bin am absteigenden Ast. Reisebüro ist out. Nur die Nischen werden auf lange Sicht überleben. Klettern auf Vulkane. Am besten, während sie gerade Lava spucken. Oder Antarctica mit Pinguinadoption. Das sind die einzigen Agenturen, die in Zukunft Geld verdienen werden.«

»Warum angelst du dir nicht ein großes Unternehmen, für das du die Flüge und Hotels organisierst?«

Ksenia starrt den Dunkelhaarigen an. »Wie heißt du überhaupt?«

»Micha. Und du?«

»Ksenia.« Sie trinkt ihr Bier aus, stellt das Glas ab. Gibt Roland ein Zeichen. Der nickt, wobei sein Blick zwischen Ksenia und Micha hin und her gleitet, ehe er ein paar Gläser in die Spülmaschine räumt. Sie beobachtet die Kneipenroutine. Derweil lässt sie los und erzählt. Geschützt vom Geräuschpegel im Pub. Das Einzige, was ihr Geschäft jetzt noch retten kann, ist eine Geldspritze. Und sie weiß, wo Geld ist. Wenigstens vermutet sie es. Roland stellt ein neues Glas vor ihr ab.

Micha hat einiges dazu zu sagen. Wie sie selbst. Die Erinnerung an den Fund im Wald, der Gedanke an Heddy, der sie schon zu lange nicht mehr viel zu sagen hat. Micha redet, sie antwortet, das Gespräch bewegt sich auf ein Ziel zu, nur eines. Ksenia zittern die Knie, als sie aufsteht, um auf die Toilette zu gehen, und als sie zurückkommt, besiegeln sie den Plan.

Alles andere folgt mit einer gewissen Konsequenz. Ksenia legt Geld auf den Tresen, gleitet vom Hocker und verlässt das Lokal.

Auf dem Parkplatz liegt Schnee, frisch gefallen. Noch unberührt fast. Ksenia atmet tief durch. Genüsslich pflügt sie durch das Weiß. Mehr und mehr Flocken fallen. Hinter ihr klappt eine Tür.

Sie hat geahnt, dass er ihr folgt.

5. 

27.12.

Ksenia kehrt dem Hochsitz den Rücken. Es dämmert. Dunkelheit stört sie nicht weiter, sie ist ein Wesen der Finsternis geworden, fast wie eine Katze kann sie im Dunkeln sehen, zumindest so viel, dass sie nicht verloren geht. Mit dem, was sie getan hat, ist sie endgültig in der ewigen Nacht angekommen. Sie geht schnell, entschlossen setzt sie Fuß nach Fuß auf dem weichen Waldboden auf. Der Boden schmatzt an den Stellen, wo der Schnee schon geschmolzen ist. Hinter ihr bewegt sich etwas. Als sie sich umdreht, sieht sie ein Reh, das erschrocken im Dickicht verschwindet.

Sie haben sich voneinander entfernt. Schritt für Schritt. Ksenia und Heddy. Die Lebenswelten zu unterschiedlich, vor allem nach Heddys Heirat und der Geburt der Tochter, die Bereitschaft, sich auf die Realität der jeweils anderen einzulassen, wurde geringer. Ksenia tauchte im Geschäft unter, Heddy in der Familie. Beide zuerst motiviert und glücklich, durch nichts zu stoppen. Nach und nach die Desillusion, das stille Resignieren, die Erkenntnis, dass nicht alles, was man so begeistert und voller Leidenschaft angepackt hat, zu einem Zustand führt, der glücklich macht. Dennoch hielten sie aneinander fest, aus dem Bedürfnis heraus, das zu bewahren, was sie einst zu Freundinnen gemacht hatte.

Eine Freundschaft kann zerstört werden, oder sie zerbröselt allmählich, so, wie ein altes Gebäude, in dem niemand mehr lebt, in sich zusammenfällt. Wenn man merkt, wie verwahrlost alles ist, muss man schon eine Menge investieren, um es zum Leben zu erwecken, denkt Ksenia. Sie war nie bereit, sich für ihre Freundschaft in besonderem Maß zu engagieren. Wenn sich ein Kaffeetrinken ergab, nach der Arbeit, oder eine Wanderung am Sonntag – dann hat Ksenia zugesagt. Die Freundschaft ist nicht zerrüttet worden, da gab es kein Ereignis, das mit seiner Zerstörungswut ihrer Zugewandtheit den Garaus gemacht hätte. Keinen Streit. Stattdessen kam ihnen die Freundschaft abhanden, das Zusammengehörigkeitsgefühl, die Freude, über dieselben Dinge zu lachen.

Dennoch sind sie miteinander verbunden, enger als jedes Ehepaar, sogar tiefer als Geschwister. Durch das, was sie getan haben. Damals, im Wald.

Sie hätte das nie tun dürfen. Dieser Plan war ein Witz, von Anfang an, ausgeheckt in einer überlauten Kneipe nach ein paar Gläsern Bier, zudem, saudumm, unter Federführung eines Mannes mit dunklem Haar. Sie muss ihn kontaktieren, rausfinden, was er gemacht hat, ob er wirklich in die Tat umgesetzt hat, was ihre Idee gewesen war. Dabei hat Ksenia ihm nur die Informationen geliefert. Heddy. Das Haus, der Keller, der Ehemann im Krankenhaus. Die Tochter mit ihren Fingernägeln beschäftigt.

Import, Export?

Sie greift nach ihrem Handy, wählt Heddys Nummer. Niemand meldet sich. Sie versucht es am Festnetz. Karina scheint auch nicht zu Hause zu sein.

Heddy sollte gar nicht involviert werden.

Schneller, als sie es gewohnt ist, hat sie ihre Runde gelaufen. Ihr Haus liegt dunkel da, die Wolken sind ein Stück aufgerissen, und ein klein wenig Mondlicht bringt das nasse Dach zum Glänzen. Ein früheres Jagdhaus mit kleiner Grundfläche und spitzem Dach. Leidlich in Schuss. Ksenia schreitet flott zur Garage und steigt ins Auto. Lässt den Motor an. Fährt los. Die Wolken schließen sich wieder, Ksenia steuert den Wagen über die schmale Zufahrt zur Landstraße.

Sie schaltet das Radio an.

»17 Uhr. Die Nachrichten.«

Sie schaltet wieder aus.

Im Dorf liegt Rolands Pub im Dunkeln. Zwischen den Jahren hat er zu, erst Silvester legt er wieder los. Sie fährt vorbei, Richtung Stadt, 20 Minuten später lässt sie ihr Reisebüro im Außenbezirk links liegen und biegt ab, so richtig kennt sie sich hier nicht mehr aus, die Stadt hat sich verändert, seit sie aufs Land gezogen ist. Für Ksenia gibt es kaum einen Anlass zurückzukehren. Oper, Kino, Schauspiel? Nicht ihre Welt. Sie fährt rechts ran. Nimmt ihr Handy, sucht nach Import-Export. Es gibt nur drei eingetragene Firmen, eine gehört Michael Gehling. Das muss er sein. Sie aktiviert das GPS, um sich zu der Adresse führen zu lassen.

Ein Industrieviertel am anderen Ende der Stadt. Baumärkte, Tankstellen, Großhandel. Müde blinkende Lichterketten. Ein Lagerhaus, daneben ein vierstöckiges Bürogebäude, in einigen Etagen ist noch Licht. Ksenia parkt und steigt aus. Eine Menge Schilder zieren den Eingang, Logistikfirmen, eine Großbäckerei. Sie drückt den Finger auf die Klingel bei Gehling Im- und Export. Nichts tut sich, aber nach einer Weile kommt eine Frau aus der Tür, nickt Ksenia müde zu. Ksenia schlüpft ins Haus.

Der Fahrstuhl bringt sie in den zweiten Stock. Hier ist alles dunkel, bis auf die grünliche Notbeleuchtung eines Exit-Schildes. Vor Ksenia liegen zwei Glastüren. Eine ist von innen mit Zeitung verklebt. »Wir renovieren«, steht handgeschrieben auf einem Zettel. Gehlings Bürotür liegt daneben. Sie ist angelehnt. Ksenia drückt dagegen.

»Hallo? Micha?«

Die Tür schwingt auf, ein muffiger Geruch dringt zu ihr heraus, ihr Herz klopft, das hier ist anders als Dunkelheit im Wald. Unruhig tastet sie nach ihrem Handy. Fischt es aus der Anoraktasche. Im Licht des Displays sieht sie einen Schreibtisch, Aktenschränke, einen PC, der Bildschirm ist umgekippt. Papiere auf dem Boden. Ksenia hält den Atem an. Sie geht um den Tisch herum.

Micha liegt vor ihr, in einer Blutlache. Seine Augen sind weit aufgerissen, das Haar klebt an seinem Kopf. Sie drückt ihre Finger an seinen Hals. Nichts.

Im Stock über ihr knallt etwas auf den Boden, eilige Schritte trippeln hin und her. Dann ist alles still.

Ksenia starrt auf Micha. Bis sie langsam rückwärts geht.

Irgendwann sitzt sie in ihrem Auto. Sie löscht den GPS-Verlauf in ihrem Handy sowie die Anrufliste. Anschließend schaltet sie das Telefon aus.

6.

Ksenias Atem geht schnell, hektisch. Ihr Magen krampft schmerzhaft. Sie rauscht über die Landstraße, ihr Fuß steht auf dem Gas, sie muss sich zusammennehmen, nicht wie eine Verrückte unter Missachtung aller Verkehrsregeln dahinzurasen. Ihre Scheinwerfer schneiden Kegel ins Dunkel. Wind ist aufgekommen, die kahlen Büsche am Straßenrand wehen in den Böen hin und her. Die Scheibenwischer mühen sich mit Regen, der manchmal Schnee ist und dann wieder nicht.

Beinahe wäre Ksenia an der Abzweigung vorbeigebrettert, gerade noch rechtzeitig bremst sie. Biegt ab und rollt auf die Siedlung zu, wo Heddy mit Familie lebt. Haus an Haus, auf handtuchgroßen Grundstücken, Carports, Buchsbaumhecken. Ksenia fühlt Beklemmungen, zugleich zittern ihre Hände, als sie die Siedlung am anderen Ende verlässt und den Wagen etwa 200 Meter entfernt auf einem Supermarktparkplatz abstellt. Diese Märkte packen sie überall hin, jedes Dorf, jede Siedlung bekommt ihr Maß an Beton und billigen Waren. Lebensmittel, Textilien, Tankstelle, Waschstraße. Ksenia verabscheut diese Art zu leben, überhaupt das Leben als das zu begreifen, was ihr hier vorgeführt wird: die Degradierung des Menschen zum Konsumenten.

Doch heute hat sie andere Sorgen. Sie stülpt die Kapuze über den Kopf. Es nieselt leicht. Rasch wandert sie zur Siedlung zurück, darauf bedacht, sich im Dunkeln zu halten. Manchmal passiert ihr das: Die Straßenlaternen beginnen exakt in dem Moment zu flackern, in dem sie an ihnen vorbeigeht. Diesmal nicht. Leider.

Sie erreicht Heddys Haus. Die Nachbarn haben Festbeleuchtung, überall die Nachwehen der Weihnachtsfeiertage, man feiert noch oder bereitet sich auf die nächsten Feste vor, Silvester, Neujahr, dann Dreikönig, nie hört es auf.

Der Regen wird heftiger, Windböen fegen von der Seite heran, reißen Ksenia die Kapuze vom Kopf. Die Bäume in den Gärten biegen sich. Das Haus, wo Heddy mit Familie wohnt, liegt in der hintersten Reihe der Siedlung, direkt am Wald. Der wirkt schwarz und undurchdringlich wie eine Mauer. Heddys E-Auto steht im Carport, daneben Peters SUV. Karinas Kleinwagen ist nirgends zu sehen. Der Bewegungsmelder springt an. Ksenia klingelt. Pro forma. Immer noch zittern ihre Hände. Sie wischt den Eindruck beiseite, der sie verfolgt, das Bild von Micha in der Blutlache.

Niemand reagiert auf ihr Klingeln. Kaputte Freundschaft hin oder her, sie weiß, wo der Ersatzschlüssel liegt, und solche Traditionen ändern sich nie. Sie findet den Schlüssel, sperrt auf, lässt sich ins Haus ein, schließt die Tür, froh, etwaigen Blicken der Nachbarn entkommen zu sein. Wie lange sie nicht mehr hier war! Heddy hat die Garderobe umgebaut, aus einem schweren Holzschrank wurde ein luftiges Gestell aus Metall, bunt, an dem Wintermäntel, Schals und Mützen hängen. Ksenia fühlt einen Anflug von Neugier. Bestimmt hat sich mehr verändert im Haus. Heddy hatte immer einen guten Geschmack und Peter das Geschick, die passenden Dinge aufzutreiben. Ehre, wem Ehre gebührt, denkt Ksenia.

Sie will in den Keller. Die Treppen knarren. Der Keller ist im Prinzip ein ausgebautes Untergeschoss, Fernsehzimmer mit Zweitanschluss, ein Billardraum. Peter lädt öfter Freunde ein, und die spielen zusammen, wie oft hat sich Heddy über diese Männerrunden ausgelassen. Dann eine Art Büro, besser ein Archiv, wo Peter und Heddy Akten und Dinge von der Arbeit ablegen, die sie akut nicht brauchen, beide können sich schwer von alten Sachen trennen.

Ksenia stößt die Tür auf. Sie war nicht oft hier, nur einmal hat Heddy ihr gezeigt, wo sie ihren Anteil versteckt hat. Da gibt es ein Regal, voller Ordner und Bücher, einen kleinen Schreibtisch mit einem Schnurtelefon und einem altmodischen Faxgerät, ein Ablagefach voller Papiere, Stifte, Batterien. Ein Ladegerät.

Ob Peter das Versteck kennt?

Als Karina noch ein Baby war, haben sie einmal darüber gesprochen. Ob Peter Bescheid weiß, das wollte Ksenia wissen, von dem, was sie seinerzeit im Wald und so weiter. Heddy verneinte, er hätte keine Ahnung, und sie würde es ihm nie sagen. Es sei eine Sache zwischen ihr und Ksenia, ein Frauending. Keine von ihnen hat vor der anderen je zugegeben, was für eine Last dieses gemeinsame Wissen ist.

Ksenia schiebt mit aller Kraft das linke Regal beiseite. Die aufgetürmten Bücher und Ordner schwanken. Endlich kommt Ksenia an die dahinterliegende Wand. Auf den ersten Blick wirkt alles unberührt. Sie braucht ein paar Minuten, bis sie den Mechanismus in Gang bringt, der die Zwischenwand beiseiteschiebt.

Vor ihr liegt der Tresor. Verschlossen.

Sie kennt die Kombination nicht.

Was will ich hier?, fragt sich Ksenia, auf den Tresor starrend. Draußen heult der Wind ums Haus. Sonst ist es still. Ksenia schiebt das Regal wieder an Ort und Stelle zurück. Bleibt bewegungslos im Raum stehen, blickt ins Leere.

Schritte auf der Treppe. Ksenia erstarrt. Sie greift nach einem Buch, ein Wurfgeschoss, wenn es sein muss. Albern, nur ein Reflex.

Die Tür wird geöffnet. Ein schmales Gesicht guckt herein, die Augen ängstlich aufgerissen.

»Karina!«

»Tante Ksenia! Was machst du denn hier?«

»Ich wollte bei euch vorbeischauen, du warst nicht hier.«

»Warum hast du nicht angerufen?« Karina ist ganz blass unter ihrer Wollmütze mit der puscheligen Bommel. Da steht sie, rosa Anorak, knallenge Jeans. »Ich hatte echt Panik, ich dachte, da ist ein Einbrecher.«

»Hast du deine Mutter gefunden?«

Karina schüttelt langsam den Kopf. Ihr Blick bleibt an dem Buch in Ksenias Hand hängen, und die legt es weg.

7.

In Ksenias Tasse dampft der Tee. Der Wind heult ums Haus. Die Rollläden ruckeln.

»Ich habe dein Auto gar nicht gesehen«, sagt Karina.

Sie sind nach oben gegangen, sitzen in der Küche. Eine Amaryllis verwelkt in ihrem Topf auf dem Tisch. Der Weihnachtsstimmung ist am 27. Dezember die Luft ausgegangen.

»Ich habe ein paar Meter weiter geparkt.« Ksenia blickt auf das dunkle Gebräu in ihrer Tasse. »Wo hast du deine Mutter gesucht?«

»Ich war bei meiner Oma. Die wusste von nichts.«

Ksenia bemüht sich sehr, die Augen nicht zu verdrehen. Noch jemand, der potenziell in der Affäre herumstochern kann.

»Sie ist jetzt sehr besorgt. Es sieht Mama doch gar nicht ähnlich!«

»Nein. Überhaupt nicht. Sag mal, sie hat doch offiziell Urlaub genommen im Kindergarten?«

»Klar, sie hat sich auf die freien Tage zwischen den Jahren gefreut.«

»Umso seltsamer …« Ksenia stellt die Tasse weg, bringt es nicht über sich, den Kräutersud zu trinken. Sie spürt Karinas argwöhnischen Blick auf sich.

»Was hast du dort unten im Büro gemacht?«, fragt Karina.

»Nach Heddy gesucht.« Streng genommen ist das nicht mal eine Ausrede. »Kennst du die Kombination von eurem Tresor?«

»Was für einem Tresor?«

»Unten, hinter dem Regal, befindet sich ein Tresor.«

Stumm schüttelt Karina den Kopf. Sie hat die Puschelmütze abgenommen und sorgfältig die blonden Locken gebürstet, die ihr nun dekorativ über die Schultern fallen.

»Fuck!« Ksenia steht auf, streckt den Rücken.

»Was willst du an dem Tresor, Tante Ksenia?«

»Verdammt noch mal, nenn mich nicht Tante Ksenia. Ich bin nicht deine Tante!«

Karina zuckt zusammen. Ihre blauen Augen werden noch größer, das Gesicht noch eine Spur blasser.

»Hast du wirklich keine Ahnung, wo deine Mutter stecken könnte? Hat sie eine Beziehung zu einem anderen Mann?«

»Mama doch nicht.«

»Sondern, wer dann? Hat Peter eine Affäre?«

»Papa?«

Mit zwei Schritten ist Ksenia bei Karina und packt sie an ihrem rosa Anorak. »Hör mir mal zu, Herzchen. Spiel nicht die Tussi. Benimm dich wie eine Erwachsene! Deine Mutter ist weg, und das nur zwei Wochen nachdem …«

»Nachdem was?«, flüstert Karina.

»Ach, vergiss es!«

Eine Bö donnert ums Haus. Die Rollläden schlagen gegen die Fenster, Ksenia hat das Gefühl, als halte das Haus nur unter Stöhnen stand. Vor knapp zwei Wochen hat sie Micha eingeweiht. Nun ist Heddy verschwunden und Micha tot. Dabei sollte Heddy in diesem Plan überhaupt keine Rolle spielen!

»Sag mir dein Geburtsdatum!«, befiehlt Ksenia.

»Mein Geburtsdatum?«

Ksenia packt Karina fester, als könne sie die Antwort aus ihr herausschütteln.

»Wird’s bald?«

»24. Februar 2004.«

Ksenia lässt das Mädchen los. Mit wenigen Schritten ist sie an der Kellertreppe. Schon hat sie unten das Regal weggezerrt und gibt die Kombination ein:

24022004.

»Was machst du da?« Karina taucht hinter Ksenia auf.

»Verschwinde.«

»Ich will wissen, was du da machst!« Das klingt kämpferischer, als Ksenia es der Kleinen zugetraut hätte.

Die Tresortür schwingt auf. Das Fach ist leer.

»Fuck!« Ksenia taumelt ein paar Schritte rückwärts.

»T… Ksenia? Woher weißt du von diesem Safe? Ich habe den nie zuvor gesehen.«

»Weil du ein braves Mädchen bist, das sich nicht in die Angelegenheiten seiner Eltern einmischt.«

Ksenia ist kurz davor, von dem Jägersitz zu erzählen und von dem einen Spaziergang, der ihr und Heddy zum Verhängnis wurde. Gerade rechtzeitig beißt sie sich auf die Lippen. Nicht Karina in Gefahr bringen. Das ist sie Heddy schuldig.

»Hör zu, Karina. Solange wir nicht wissen, was genau mit deiner Mutter passiert ist, möchte ich nicht, dass du allein im Haus bleibst. Hast du eine Freundin, bei der du die nächsten Tage wohnen kannst?«

Karina nickt mit weit aufgerissenen Augen. »Ich wollte Silvester ohnehin mit ein paar Freunden wegfahren.«

»Okay. Kannst du dich dort jetzt schon anhängen?«

»Denke schon …«

»Gut. Fahr hin. Ist das weit?«

»Nein, 20 Minuten mit dem Auto.«

»Traust du dir zu, jetzt sofort hinzufahren? Es stürmt ziemlich.«

»Ich glaube schon.«

»Heißt das ja?«

Karina nickt.

»Fein.« Ksenia macht sich daran, den Tresor zu schließen und das Regal an seinen Platz zu schieben.

»Ist etwas gestohlen worden, Tante Ksenia? Müssen wir nicht die Polizei rufen?«

»Es ist nichts gestohlen worden.« Ksenia konzentriert sich nur auf eines: Karina nicht beunruhigen, damit die nicht durchdreht und Staub aufwirbelt. Polizei kann sie gerade gar nicht gebrauchen. »Ich hatte gehofft, im Tresor einen Hinweis zu finden, wo Heddy sich aufhält. Sie hat mir mal erzählt, dass ihr diesen Safe habt. Also, ich hätte mir vorstellen können, dass sie dort etwas hinterlegt, verstehst du?«

»Aber da ist nichts.«

»Rein gar nichts.« Ksenia betrachtet die Regalwand. Nichts weist auf das Geheimnis dahinter hin.

»Und was soll ich Papa sagen? Er fragt schon, warum Mama ihn nicht besucht.«

»Du bist doch ein cleveres Mädchen. Denk dir was aus.«