Einander verfallen. Violet & Luke - Jessica Sorensen - E-Book
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Einander verfallen. Violet & Luke E-Book

Jessica Sorensen

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Beschreibung

Du kannst ihn nicht vergessen. Und du spielst mit dem Feuer.

Luke und Violet sind sich aus dem Weg gegangen, seit sie herausgefunden haben, dass ein ein schweres Verbrechen zwischen ihren Familien steht. Doch als Luke in Schwierigkeiten gerät, ist für Violet sofort klar, dass sie ihm beistehen muss. Sie empfindet so viel für Luke, aber wird sie jemals wieder fähig sein, jemandem zu vertrauen?

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Seitenzahl: 298

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DAS BUCH

»Luke.« Ich will es gar nicht laut sagen. Es rutscht mir heraus. Aus nächster Nähe sieht er furchtbar aus. Er hat eine Wunde an der Wange, dunkle Augenringe und wirkt völlig fertig. Mir wird flau, denn ich frage mich, ob es meine Schuld ist, dass er so aussieht. Ich will ihn fragen, was passiert ist, werde jedoch von Emotionen durchgepeitscht, die mich mit unsichtbaren Rasierklingen durchfahren, so stark und schmerzhaft, dass ich kaum atmen kann. Ich will ihn dringend berühren, ihn küssen, seine Zunge an meiner fühlen. Verzweifelt wünsche ich mir alles zurück, was wir vor ein paar Monaten hatten: all die vielen schönen Momente, in denen wir uns so nahe waren.

DIE AUTORIN

Die Bestsellerautorin Jessica Sorensen hat bereits zahlreiche Romane verfasst. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in den Bergen von Wyoming. Wenn sie nicht schreibt, liest sie oder verbringt Zeit mit ihrer Familie.

LIEFERBARE TITEL

Das Geheimnis von Ella und Micha

Für immer Ella und Micha

Die Sache mit Callie und Kayden

Die Liebe von Callie und Kayden

Verführt. Lila und Ethan

Füreinander bestimmt. Violet und Luke

Nova & Quinton. True Love

Nova & Quinton. Second Chance

Nova & Quinton. No Regrets

JESSICA SORENSEN

EINANDER VERFALLEN.

VIOLET & LUKE

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Sabine Schilasky

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE PROBABILITY OF VIOLET AND LUKE

Vollständige deutsche Erstausgabe 12/2015

Copyright © 2015 by Jessica Sorensen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagabbildung: © Stephen Carroll/arcangel images

Redaktion: Anita Hirtreiter

Alle Rechte vorbehalten

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-18066-9

www.heyne.de

Prolog

LUKE

Wer hätte gedacht, dass es mir so schwerfallen würde, diesen beschissenen Anruf zu tätigen? Dabei sollte ich nichts lieber tun, als meine Mutter hinzuhängen. Nach all den Jahren hatte ich doch nur auf so eine Gelegenheit gewartet. Endlich konnte ich mich für all die Qualen, die Heroinspritzen, ihre verfluchten Psychospielchen und all den anderen Mist rächen, der meine Kindheit ausmachte. Bisher habe ich noch nicht mal angefangen, den ganzen Mist zu verarbeiten oder mir auch nur im vollen Umfang einzugestehen. Ich muss das alles abhaken. Neu anfangen. Nur fühle ich mich schuldig wie ein kleiner Junge, der etwas Verbotenes tut.

Mir ist schlecht.

Alles in mir zieht sich zusammen.

Und das wegen ihr. Alles, was sie mir eingeredet hat, kommt wieder hoch. All die Sachen, die sie zu mir sagte, als ich ein Kind war, und die dafür sorgten, dass ich den Mund hielt. Die Scham, nicht bloß, weil sie meine Mutter ist, sondern auch wegen dem, was sie aus mir gemacht hat.

»Du musst immer auf mich hören, Lukey«, sagte meine Mutter dauernd. »Ich weiß, was gut für dich ist, und das besser als jeder andere. Du musst immer tun, was ich dir sage, sonst überstehst du dieses Leben nicht. Und du darfst keinem erzählen, was wir bei uns zu Hause machen. Das geht niemanden was an.« Meistens streichelte sie dabei meinen Kopf, als wäre ich ein Hund. »Außerdem würdest du schrecklichen Ärger kriegen, wenn andere herausbekommen, was du getan hast.«

Beim ersten Mal, als sie das sagte, war ich ungefähr acht, und schon da fühlte es sich falsch an. Die Dinge, zu denen sie mich zwang … die Art, wie sie mich stundenlang festhielt, mit hoher Stimme wirre Lieder vor sich hin murmelte, mir über den Kopf strich, mich auf die Wange küsste und mich bat, ihr noch einen Schuss zu setzen. All das fühlte sich falsch und eklig an. Doch je öfter sie sagte, dass es meine Schuld war, umso wahrer schien es zu sein. Wie konnte es auch nicht? Sie war schließlich meine Mutter, und angeblich lügen Mütter ihre Kinder nicht an.

Also hörte ich auf sie. Tagaus, tagein. Und hielt den Mund. Manchmal versuchte ich, von zu Hause wegzulaufen, weil ich es nicht mehr aushielt. Aber sie fand mich immer, und ich begann mich zu fragen, ob ich sie brauchte, um die Hölle mit ihr zu überleben. Irgendwann entdeckte ich eine Art, wie ich damit fertigwurde. Alkohol und Sex halfen mir zu vergessen und die Kontrolle über mein Leben zu bekommen, nach der ich mich sehnte.

Seufzend schüttle ich die Gedanken aus meinem Kopf und halte das Telefon fest umklammert. Ja, ich weiß, dass meine Mutter geisteskrank ist, dass sie mir meine Kindheit ruiniert hat, mir den Verstand geraubt. Deshalb sollte es leichter sein, sie der Polizei auszuliefern, und ich bin wütend auf mich, weil es mir eben nicht leichtfällt.

Doch am Ende stelle ich mir Violet vor: wunderschöne grüne Augen, volle Lippen, lange rote und schwarze Locken, einen sexy tätowierten Körper, einen Diamantstecker in der Nase. Und ich sehe die Trauer und den Schmerz in ihrem Gesicht, als ich sie das letzte Mal in den Armen hielt. Das hilft mir, bei der Polizei anzurufen.

»Hallo, Albany County Police Department«, meldet sich eine Sekretärin. Als ich zögere, fragt sie: »Ist da jemand?«

Ich räuspere mich mehrmals, zwinge mich, stark zu sein und gegen meine Ängste zu kämpfen, die alle mit etwas zu tun haben, das passierte, als ich jünger war. »Ja, ich habe einige Informationen zu dem Hayes-Mord.« Sobald ich es ausgesprochen habe, fühle ich mich viel besser. Irgendwie erleichtert. Ich wünschte nur, hiermit könnte ich die Vergangenheit auslöschen, aber das kann ich nicht. Nichts wird mir jemals Violet zurückbringen. Was geschehen ist, ist geschehen, und daran kann ich nichts ändern.

VIOLET

Das Leben. Ich hasse es mehr denn je. Und das Schicksal kann zur Hölle fahren. Ich hasse das verdammte Schicksal.

Als seine rauen Hände auf mir sind, mich begrapschen, dass ich mich innerlich zusammenkrümme, wünsche ich mir, dieses Schwein von Schicksal wäre mir nie begegnet. Vielleicht hätte ich dann die andere Seite des Lebens kennengelernt, die gute. Und vielleicht wäre dann das hier nicht so hart.

So panisch ich auch innen drin bin, äußerlich bin ich die ruhige, gefasste Violet. Die Violet, die auf Kommando lächeln kann. Die jeden mit ihrem Charme herumkriegt. Selbst als der Schmerz kommt, als meine Beine gegen die Bettkante stoßen, weil ich auf die Knie gedrückt werde, zucke ich nicht. Ich bin äußerlich tot, eiskalt, während mein Herz so schnell rast, dass mir schwindlig wird. Alles bewegt sich so schnell, so verschwommen, dass ich meine Gefühle nicht sortieren kann, was gut ist. So ist es unmöglich zu sagen, was ich empfinde, und das macht diesen Moment erträglich, weniger schmerzhaft, weniger erniedrigend.

Trotzdem füllt das Flüstern – du schuldest mir was für den Mist, den du gebaut hast, das ist der Preis, ich bin alles, was du hast – meine Ohren und tötet meine Seele Stück für Stück. Als mein Kopf nach unten gedrückt wird, wünsche ich mir, dass es einen Pause-Knopf gäbe, mit dem ich die Zeit überspringen, hier weg und alles auslöschen kann, was gleich mit mir passiert.

Ja, es gibt einen Haufen beschissener Momente in meinem Leben, die ich gerne im Nachhinein ändern würde. Das Mal, als ich nicht für den Mathetest gelernt hatte, weil Preston mich zum ersten Mal zum Dealen brauchte. Das Mal, als ich mitten in der Nacht nach unten ging und meine Eltern ermordet wurden, während ich überlebte. Die Nacht, in der ich von Luke weggerannt bin.

Jeder dieser Momente hat Folgen gehabt, von denen manche schlimmer waren als andere. Und leider ist mir vollkommen klar, dass es keine Wiederholungen gibt, zumindest keine, bei denen man die Vergangenheit ausradieren und neu anfangen kann. Und größtenteils, ausgenommen der Tod meiner Eltern, habe ich nicht viel über nachträgliche Veränderungen nachgedacht, denn ich gebe die meiste Schuld an dieser Scheißserie, die mein Leben ist, dem Schicksal.

Aber es ist zwei Monate her, seit ich Luke und die Wohnung verließ, die sich mehr wie ein Zuhause anfühlte als irgendein anderer Ort, an dem ich je gewohnt habe. Und obwohl mich der Gedanke nach wie vor krank macht, wie unsere Vergangenheit schon verkettet war, bevor wir uns kennenlernten, wünscht sich ein Teil von mir, dass ich mich anders verhalten hätte. Zwei Monate reiner Hölle mit Momenten voller geflüsterter Drohungen und rauer Hände haben mich die Violet Hayes aus dem Blick verlieren lassen, die Luke Price in mir hervorgebracht hatte. Sie starb Sekunden nach ihrem Entschluss, zu Preston zurückzukehren, weil sie litt und nicht wusste, wohin sie sollte. Und ich bin nicht sicher, ob sie je wieder lebendig wird.

Diesmal kann ich es nicht auf das Schicksal schieben. Nur auf meinen Stolz, mein gebrochenes Herz und die Wahl, die ich traf und die mich zu unzähligen falschen Entscheidungen trieb, von denen keine je wieder ausgelöscht werden kann.

Nichts von dem hier kann es.

Kapitel 1

VIOLET

Ich bin kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, drifte immer wieder ab, während mich zwei Monate falscher Entscheidungen beschweren und tiefer ins Wasser drücken. Mein ganzer Körper ist durchnässt, meine Lunge droht zu platzen, aber ich tauche nicht auf, um Luft zu holen. Ich habe mich damit abgefunden, nicht allzu sehr am Leben zu hängen, und erlaube mir hierzubleiben, bis ich mich leicht und schwerelos fühle. Ein, zwei Sekunden noch. Mehr brauche ich nicht. Ich schaffe das. Ich will den Trost nur noch einen Moment länger spüren, bevor ich in die Realität zurückkehre und wieder den Schmerz spüre.

Nur noch eine Sekunde.

Halte den Atem an.

Noch einen kurzen Moment.

Fange den Schmerz ein.

Ertränke ihn.

Nicht denken.

Atmen.

Nicht leben.

Manchmal frage ich mich, was passieren würde, sollte ich es zu weit treiben. Einen Atemzug zu lange unter Wasser bleiben. Einen Zentimeter zu dicht an den Abgrund treten. Ein klein bisschen zu schnell die Straße hinunterfahren. Der Tod. Würde er wehtun? Oder wäre er schwerelos? Befreiend? Am Ende besser als das Leben? Wäre ich endlich, ganz zum Schluss, imstande, wieder frei zu atmen? Das finde ich nur heraus, indem ich es durchziehe – von dieser Kante kippe. Zu schnell fahre. Auf den Grund sinke und nicht wieder auftauche. Ich bin so kurz davor, es herauszufinden, und doch bin ich noch nicht richtig bereit, mein Schicksal zu besiegeln.

Also greife ich nach dem Wannenrand, ziehe mich aus dem Wasser und keuche nach Luft. Mein Brustkorb schmerzt, aber ich bin dankbar, noch am Leben zu sein. Ich setze mich auf, halb im, halb aus dem Wasser, atme ein, atme aus. Blut rauscht durch meine Adern und vermischt sich mit Adrenalin. Meine Gefühle sind immer noch betäubt, und ich konzentriere mich auf den nächsten Atemzug. Doch je länger ich atme, je leichter es wird, umso schwerer wird es abzuschalten. Gefühle und Gedanken zum Tod meiner Eltern tauchen auf, stechen mir ins Herz. Ihre Ermordung. Und das, was mich jedes Mal beinahe umbringt, wenn ich daran denke. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede verdammte Sekunde frisst es mich innerlich auf.

Luke Price. Der eine Junge – der einzige Mensch –, den ich jemals an mich herangelassen habe. Der einzige Mensch, bei dem ich mich sicher fühlte. Und jetzt ist das alles fort. Er ist fort. Er wurde mir weggenommen, geraubt vom kranken, perversen Humor des Schicksals. Erst führt es uns zusammen, dann lässt es uns erkennen, dass es schon längst eine Verbindung zwischen uns gibt. Enthüllt uns, dass seine Mutter eine von denen war, die für den Mord an meinen Eltern verantwortlich sind. Dass wir die ganze Zeit nie hätten zusammenkommen können. Obwohl das Schicksal uns genau das suggerierte, als ich aus jenem Fenster fiel und ihm ins Gesicht trat. Und nun fühle ich mich schrecklicher als je zuvor.

Schrecklicher als in meinem ganzen Leben. Vor Luke wusste ich nicht, wie es ist, wenn jemandem wirklich etwas an mir liegt und wie es sich anfühlt, jemand anderen wirklich zu mögen. Und ich begreife inzwischen, dass es schwierig ist, meine Gefühle zu beherrschen, seit ich weiß, wie fantastisch sich Dinge anfühlen können.

Aber ich versuche durchzuhalten, und sei es nur, um das Ende mitzuerleben. Endlich zu sehen, wie jemand für den Tod meiner Eltern bezahlt. Es könnte allerdings unmöglich sein, denn es ist noch eine Person dabei gewesen, und die ist nach wie vor unbekannt. Ich hasse es, nicht zu wissen, wer das ist; gleichzeitig hasse ich es zu wissen, wer eine von ihnen ist, vor allem weil es bislang noch keine Gerechtigkeit gibt. Ich hasse, dass es meine Chance auf Glück ruiniert hat, und ich verachte mich, weil ich so denke. Das ist selbstsüchtig. Meine Eltern sind tot, und ich sollte einzig daran denken, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Trotzdem kann ich nicht aufhören, an die Gefühle zu denken, die Luke in mir geweckt hat. Zufriedenheit und Glück. Etwas, das ich nicht mehr hatte, seit ich fünf Jahre alt war. Ich will es wiederhaben, fast genauso sehr, wie ich mir Gerechtigkeit für meine Eltern wünsche. Und das fühlt sich falsch an; als würden meine Eltern mich hassen, wenn sie noch da wären. Und vielleicht tun sie es jetzt. Womöglich hassen sie mich aus dem Grab heraus, das ich nie besucht habe, weil ich mich nicht durchringen kann, dorthin zu gehen.

»Violet, was zur Hölle machst du da drin?« Preston, mein Pflegevater, seit ich fünfzehn war und bis ich achtzehn wurde, hämmert an die Tür. Er ist acht Jahre älter als ich, doch der Altersunterschied juckt ihn nicht. Er nutzt ihn eher immer wieder zu seinem Vorteil. Früher hat er sich nicht so für mich interessiert, jedenfalls nicht so extrem. Aber dann hat seine Frau ihn verlassen, und jetzt scheint er völlig fixiert auf mich. Mir wird schlecht, wenn ich bloß seine Stimme höre, weil sie mich an alles erinnert, was in den letzten zwei Monaten, die ich hier wohne, passiert ist. Das Wohnen ist nicht umsonst, und Geld will Preston nicht. Also deale ich, um mir die Miete zu verdienen, und dann zahle ich mit meinem Körper für jeden Fehler, den ich mache.

Ich hasse mich dafür, dass ich mich von meiner Verzweiflung hinreichend abtöten lasse, um diesen Kram mitzumachen.

»Ich nehme ein Bad«, antworte ich, streiche mit den Händen über mein nasses Haar und neige den Kopf nach hinten gegen den Wannenrand, weil Erbrochenes in meiner Kehle brennt.

»Wenn du nicht bald rauskommst, muss ich das Schloss aufbrechen und dich rausholen«, sagte er hinter der Tür. Er klingt amüsiert. Und geil. Vor Lust. Und Verlangen.

Ich hasse ihn.

Ich brauche ihn.

Ich wünschte, ich wäre irgendwo anders.

»Ich bin gleich draußen«, rufe ich zurück und beobachte, wie der Hahn tropft und Ringe in die Wasseroberfläche malt. Ich lehne einen Fuß auf den Wannenrand und starre die gelblichen Blutergüsse an, die von meinem Schienbein bis zu meinem Oberschenkel verlaufen. Doch als Bilder von dem auftauchen, was sie verursacht hat, schüttle ich den Kopf und ziehe meine Mauer wieder hoch. Ich weigere mich, daran zu denken. Ich muss überleben, egal, was geschieht. So, wie ich es schon den Großteil meines Lebens tue, von einer Pflegefamilie zur nächsten. Schließlich hatte ich schon schlimmere.

»Du solltest dich hier draußen anziehen«, sagt er, und beim Klang seiner Worte brennen die Blutergüsse. »Als Ausgleich für das Achtel, das du letzte Woche verloren hast.«

Ich krümme mich bei der Erinnerung. Letzte Woche habe ich richtig Mist gebaut. Ich war abgelenkt, weil das Semester in wenigen Tagen anfing, was bedeutet, dass ich Luke in den Korridoren und wahrscheinlich auch in einigen Kursen wiedersehen würde. Und da verkaufte ich irgendeinem Typen ein Achtel, ohne erst zu kassieren. Er ist mit dem Stoff abgehauen.

»Ich dachte, dafür verkaufe ich am Samstag und Sonntag für dich.« Ich erwähne nicht, dass ich schon etwas anderes getan habe, um es wiedergutzumachen. Aber nur, weil ich fürchte, dass ich kotzen muss, wenn ich es laut ausspreche. Ich lehne mich zurück, starre an die Decke und nehme mir fest vor, seine Worte nicht an mich heranzulassen, genauso wenig wie die Übelkeit, die gar nicht mehr weggehen will.

»Du wirst immer mehr zu einer Spaßbremse, Violet Hayes«, sagt er. »Das Leben könnte so viel leichter sein, wenn du dich einfach entspannst und tust, was ich dir sage.«

»Das tue ich schon«, erwidere ich mit zusammengebissenen Zähnen. Ich mochte es noch nie, wenn jemand meinen Nachnamen ausspricht – oder ich ihn auch nur nennen muss. Es erinnert mich zu sehr an meine Eltern und wie sie starben. Der einzige Mensch, bei dem es mich nicht gestört hat, war Luke. Normalerweise würde ich Preston die Hölle heißmachen, weil er ihn sagt, aber in letzter Zeit bin ich emotional viel zu labil, um mich zu wehren.

Ich atme erst wieder, als ich Preston von der Tür weggehen höre. Dann steige ich aus der Wanne, trockne meine schrumpelige Haut ab und ziehe mir ein lila Top, eine schwarze Weste und eine passende Hose an. Ich verteile etwas Gel in meinem Haar, lege Lipgloss und ein wenig Kajal auf, ehe ich aus dem Bad gehe. Von dem Adrenalinrausch durch das Beinahe-Ertrinken fühle ich mich ein bisschen high.

In der Küche nehme ich mir ein Pop-Tart aus dem Schrank und eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und hoffe, dass Preston keine Schwierigkeiten macht, wenn ich ihn bitte, mich zum College zu fahren. Bitte, sei kooperativ.

Aber er ist nicht in seinem Zimmer, was wohl bedeutet, dass er unter dem Haus in dem Kriechkeller ist, wo er seine Drogen aufbewahrt. Der Eingang ist immer verriegelt, doch ich würde sowieso nie da runtergehen. Das Letzte, was ich will, ist, in einem unheimlichen, engen, niedrigen Raum unterm Haus allein mit Preston zu sein. Also gehe ich ins Wohnzimmer, ziehe meine Stiefel an und warte auf ihn.

Der Trailer, in dem wir wohnen, ist ziemlich sauber, auch wenn es drinnen nach Zigarettenqualm und Gras riecht. Wenigstens liegt kein Müll herum, und alles ist ordentlich und an seinem Platz. Ich habe schon in Pflegefamilien gewohnt, die in regelrechten Dreckslöchern hausten, wo Schmutz, Abfall und Staub alles bedeckten. Das war nicht so klasse.

»Und, was hast du heute vor?«, fragt Preston, als er ins Haus kommt, sich eine karierte Kapuzenjacke anzieht und sich den Staub aus dem Haar schüttelt.

Es juckt mich in den Fingern, eine Faust zu machen und ihm diese Gleichgültigkeit aus dem Gesicht zu schlagen. Doch ich unterdrücke den Drang und ziehe den Reißverschluss meines kniehohen Stiefels zu, ehe ich aufstehe und nach meiner Tasche greife. »Du müsstest mich zum Kurs fahren, es sei denn, du willst mir tagsüber deinen Wagen leihen.« Bitte, sag einfach Ja, ohne im Gegenzug dafür etwas zu verlangen.

»Du weißt, dass ich das nicht mag, wenn es nicht ums Dealen geht«, sagt er, lehnt sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen und sieht mich mit diesem Blick an, der immer kommt, bevor er etwas von mir will. »Dann sitze ich hier ohne Auto fest.«

Ich hänge mir den Taschengurt über die Schulter. »Also, kannst du mich fahren? Dann hättest du den Wagen noch.« Das Semester hat gerade erst angefangen, und schon jetzt nervt es höllisch, die Wege hin und her zu organisieren. Ich hätte mir wieder ein Wohnheimzimmer nehmen sollen, aber blöderweise hatte ich zu lange gewartet, weil ich dachte, dass ich mit Luke, Seth und Greyson zusammenwohnen würde. Der brillante Plan ging in die Hose.

Preston wuschelt sein Haar zurecht, während er durch das Zimmer auf mich zukommt und zu dicht vor mir stehen bleibt. Ich kann ihn riechen – und ich hasse es, wie er riecht. »Das nervt, weil ich dann stundenlang da warten muss, um dich wieder abzuholen.«

»Hast du denn nicht irgendwas in der Stadt zu tun?« Ich lehne mich ein bisschen weg von ihm, weil mir schlecht wird.

Er schüttelt den Kopf. »Eigentlich nicht.« Er greift nach den Wagenschlüsseln auf dem Couchtisch. »Aber ich habe drüben bei Dan was zu tun.«

Meine Stimmung sackt noch tiefer. »Bei Dan, dem Perversling?«

Er zuckt mit der Schulter und lässt den Schlüsselbund an seinen Fingern baumeln. »Du nennst ihn Perversling. Ich sage, er ist ein Typ, der gerne Spaß hat.« Er zwinkert. »Genau wie ich.«

»Er bezahlt Frauen für Sex.« Ich sage es, als würde das alles ändern, was es definitiv nicht tut.

»Geld, Essen, ein Dach überm Kopf – eine Menge Leute bieten Sex gegen andere Sachen.« Sein Blick ist vorwurfsvoll.

Kann mich bitte jemand aus diesem verdammten Trailer holen?

Mir fällt auf, wie rot seine Augen sind, was heißt, dass er stoned ist. Das macht jede Auseinandersetzung mit ihm sinnlos. Seufzend gebe ich auf und gehe rückwärts in Richtung Tür. »Na gut, ich trampe.« Die Idee ist mir genauso lieb wie verhasst. Ich liebe es wegen des Nervenkitzels. Und ich hasse es, weil ich gerne solche Sachen tue. Ich liebe die Gefahr, denn sie ist alles, was ich noch habe. Risiko. Na ja, eigentlich ist es kein Risiko mehr, denn was habe ich schon noch zu verlieren?

Preston verdreht die Augen. »Jetzt mach kein Drama draus. Ich fahre dich hin, aber dann bist du auf dich gestellt, denn ich habe heute noch verdammt viel zu tun.«

Mir eine eigene Rückfahrgelegenheit zu besorgen bedeutet wohl doch noch, dass ich trampen muss. Ich habe keine Freunde, abgesehen von Greyson vielleicht, mit dem ich bei der Arbeit immer noch rede und manchmal herumhänge. Aber ich glaube, er hat heute keinen Kurs, und ich kann es nicht ausstehen, andere um einen Gefallen zu bitten. Es ist schon schlimm genug, dass ich Preston darum bitten muss.

»Hört sich nach einem guten Plan an.« Ich ringe mir einen munteren Ton ab und drehe mich zur Tür, bereit, diesen Tag hinter mich zu bringen.

Der letzte Monat war ziemlich heftig, vor allem weil im Mordfall meiner Eltern wieder intensiv ermittelt wird, seit Luke sich bei der Polizei gemeldet und ihnen Informationen über Mira Price, seine Mom, gegeben hat. Ich habe nicht mit Luke darüber geredet, weil ich ihn kaum ansehen kann, ohne entsetzlichen Schmerz und noch etwas anderes zu empfinden, das ich noch nie zuvor gefühlt habe. Bisher hat die Polizei noch keinerlei Fortschritte gemacht. Mira Price wurde verhört, und Detective Spencer, der die Ermittlungen leitet, bemüht sich, genug Beweise zu finden, um eine Hausdurchsuchung genehmigt zu bekommen. Als ich ihn fragte, warum Luke und ich nicht einfach aussagen können, meinte er, dass er nicht sicher sei, ob ein Song vor Gericht Bestand hat. Sie brauchen mehr. Zumindest DNA-Spuren. Ich frage mich, was zum Teufel nach so vielen Jahren noch in ihrem Haus zu finden sein soll. Sicher hat sie jeden Beweis schon vernichtet. Daher bin ich eher pessimistisch, dass es jemals zu einer Verhaftung kommen wird.

Allerdings hat der Fall wieder reichlich Medieninteresse geweckt, was mir das Leben zur Hölle macht. Leute wie Stan, der Reporter, der mich mit Telefonaten verfolgte, tauchen überall auf. Es ist nervenaufreibend, besonders weil jeder der Texte von dem wahren Mörder sein könnte. Es gibt schließlich zwei Leute da draußen, die es getan haben, und sie könnten immer noch in der Nähe sein und mich beobachten.

Was ist, wenn er sich doch noch auf die Suche nach mir macht?

Bei einem kurzen Zusammenbruch im Halbrausch hatte ich Preston von meiner Angst erzählt, und blöd, wie ich bin, habe ich mehr ausgequatscht, als ich wollte – was zwischen Luke und mir war. Das benutzt Preston jetzt gegen mich. Also bin ich nicht nur die ganze Zeit auf der Hut, sondern Preston erinnert mich auch noch laufend daran, was mir bleibt, sollte ich ihn verlassen: absolut gar nichts. Manchmal möchte ich mich trotzdem für das Nichts entscheiden.

Ich versuche, nicht zu viel darüber nachzudenken, als ich aus der Tür gehe, Preston dicht hinter mir. An seinem alten grauen Cadillac kommt er um die Motorhaube herum und öffnet mir die Tür wie ein wahrer Gentleman, der er nicht ist. Und das beweist er, indem er mich an der Hüfte packt und an sich zieht.

Ich stelle mir vor, oben auf dem höchsten Gebäude zu stehen und mit ausgebreiteten Armen zu springen, während er sich an mich drückt und mich auf den Hinterkopf küsst.

»Du hast ja morgen Geburtstag, und ich dachte, wir machen da vielleicht was Nettes zusammen«, sagt er. Seine Finger wandern tiefer auf meinen unteren Hüftknochen, und es fühlt sich an wie tausend Stecknadeln auf meiner Haut.

»Mein Geburtstag war vor über einem Monat«, sage ich matt. Mach dicht. Mach dicht! »Und ehrlich gesagt möchte ich den Tag nicht feiern, an dem ich auf die Welt kam.«

»Gott, was ist denn mit dir los? Dauernd bist du so deprimäßig drauf.« Er knabbert an meinem Ohrläppchen. »Tue ich etwa nicht alles für dich … gebe dir alles, was du willst?« Seine Finger kriechen hinter meinen Hosenbund und streifen meine Haut. »Lass mich etwas Besonderes für dich tun oder, noch besser, lass uns etwas zusammen tun.«

»Ich bin nicht in der Stimmung, rumzusitzen und high zu werden, während du mich betatschst.« Ich will weglaufen. Die Straße hinunterrennen und nie mehr stehen bleiben. Vor dem weglaufen, was ich fühle. Der Verwirrung, dem Ekel hiervor und den letzten paar Monaten. Der Verpflichtung, an die Preston mich erinnern wird, falls ich ihm sage, er soll aufhören, mich anzufassen.

Seine Finger graben sich in meine Haut, und seine Flirtlaune schwindet, weil ich mal wieder das Falsche gesagt habe. »Warum kannst du nicht dankbarer sein? Gott, manchmal denke ich, es ist vielleicht das Beste, wenn ich dich einfach rausschmeiße. Dich auf der Straße leben lasse. Du könntest dir dein Geld als Nutte verdienen.«

»Ja, sollte ich vielleicht.« Kaum habe ich es gesagt, beiße ich mir auf die Lippe, denn gerade jetzt, bei allem, was los ist, will ich nicht obdachlos sein. »Na gut, wenn du etwas zu meinem Geburtstag machen willst, meinetwegen.« Ich versuche die Sache wieder geradezubiegen. Gleichzeitig stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn der Sturz endet und ich unten aufschlage. Würde es sich für einen Moment wie Fliegen anfühlen? Oder würde ich schlicht stürzen? Würde ich den Schmerz fühlen, wenn ich aufschlage? Wie meine Knochen brechen. Oder würde ich schon vorher ohnmächtig werden?

»Braves Kind«, sagt er. »Du bist immer gut darin zu tun, was dir gesagt wird.« Dann küsst er meinen Nacken und saugt an ihm, bevor er sich zurückzieht. Mein Herz schlägt sehr schnell, aber äußerlich bleibe ich tot und lasse mich vollkommen von den Bildern verschlingen, wie ich zerschmettert auf dem Boden liege. Dann jedoch verändern sie sich. Das passiert manchmal. Und in Gedanken falle ich nicht mehr von dem Gebäude, sondern in Lukes Arme.

Ich bin in Sicherheit.

Es wäre so viel leichter, wäre dieses Gefühl geblieben; doch ich weiß sehr gut, dass alles Gute nicht von Dauer ist.

Kapitel 2

LUKE

Zwei Dinge habe ich ständig im Kopf – Alkohol und Geld. Oder Alkohol und Spielen. Das ist das Einzige, worauf ich mich konzentrieren kann, denn in dem Moment, in dem ich aufhöre und über mein Leben nachsinne, denke ich an sie. Violet Hayes. Das eine Mädchen, das mich auf die, wie ich glaubte, bestmögliche Art ruinierte, als sie mich dazu brachte, dass ich nur noch an sie dachte – nur noch sie wollte. Aber dann wurde mir das genommen. Oder geraubt von dem, was meine Mutter getan hatte. Ich hätte wissen müssen, dass ich meiner Vergangenheit nicht entkommen kann. Aufs College zu gehen reichte nicht, um dem Irrsinn meiner Mutter zu entfliehen. Sie würde einen Weg finden, die Kontrolle über mein Leben zu behalten, so wie sie es tat, als ich ein Kind war. Ich hätte wissen müssen, dass es noch nicht vorbei war.

Nachdem Violet vor zwei Monaten aus der Wohnung ausgezogen war, rief ich die Polizei an und sagte ihnen alles, was ich über die Morde wusste. Es war nicht viel, aber ich fand, dass ich Violet wenigstens das schuldete. Leider brachte es so gut wie nichts. Die Polizei hat keine Beweise gefunden, um meine Mutter festzunehmen, doch sie versuchen es, und ich drücke täglich die Daumen, dass etwas passiert.

Ein Teil von mir hoffte wohl, dass Violet zu mir zurückkommen würde, wenn ich es der Polizei erzähle. Aber das tat sie nicht. Und je mehr Zeit vergeht, umso weniger glaube ich, dass sie es jemals wird. Wäre ich stärker, würde ich zum Haus meiner Mutter gehen und selbst nach Beweisen suchen, auch wenn ich keine Ahnung habe, wo etwas sein könnte. Ich frage mich allerdings, was sich in dem Chaos verbergen könnte. Das perfekte, saubere Haus oben täuscht über Haufen von Mist hinweg, die sie über Jahre im Keller angesammelt hat. Doch die Vorstellung, dorthin zu fahren und die Frau zu sehen … diese Wut zu fühlen … jagt mir Angst vor dem ein, was ich mit ihr machen könnte. Und so bleibt die Mauer zwischen Violet und mir, wird mit jedem Moment höher, während ich innerlich ein bisschen mehr sterbe.

Um morgens aus dem Bett zu kommen, rede ich mir ein, dass ich irgendwann über Violet hinweg sein werde, denn die Zeit soll ja angeblich alle Wunden heilen. Was für ein dämlicher Quark! Jedenfalls scheint die Zeit auf mich einen gegenteiligen Effekt zu haben. Die Wunden haben sich entzündet, wuchern in mir und lassen mich von innen nach außen verrotten. Um noch eins draufzusetzen, habe ich das Tagebuch meiner Schwester Amy erhalten, das sie führte, bevor sie sich mit sechzehn das Leben nahm. Ich hatte nicht darum gebeten, aber meine Mutter fand es in einem ihrer Kartons und hat es mir geschickt. Das ist eines ihrer üblichen Psychospiele: Sie erinnert mich an den Tod meiner Schwester, um mich fertigzumachen.

»Denk dran, wie deine Schwester mich verlassen hat«, sagte meine Mutter, als ich sie anrief, nachdem ich das Tagebuch mit der Post bekommen hatte und mich fragte, was zum Teufel das sein sollte. »Du musst zu mir zurückkommen, Lukey. Verlass mich nicht – sei nicht so wie Amy.«

»Fahr zur Hölle!«, hatte ich gebrüllt und aufgelegt. In meiner Brust tobte ein solches Feuer, dass ich mein Zimmer kurz und klein schlug, um mich wieder einzukriegen.

Ich hatte nicht vor, das Tagebuch zu lesen, weil nichts, was von meiner Mutter kam, jemals zu etwas Gutem geführt hat. Aber bei der vielen Zeit, die ich hatte, fing es an, mich zu verfolgen, und letztlich gab ich nach. Das Erste, was ich entdeckte, war, dass meine Mutter sich garantiert keine Zeit genommen hatte, es zu lesen, ehe sie es mir geschickt hatte. Das hätte sie tun sollen. Auf den Seiten ist entsetzlich genau beschrieben, was für ein kranker, gestörter Mensch meine Mutter ist. Mit jeder Seite, die ich lese, erfahre ich mehr von dem, was zwischen Amy und meiner Mutter lief und was ich nicht verstand, als ich noch mit beiden zusammenlebte. Zum Beispiel von dem Mal, als meine Mutter versuchte, Amy einem ihrer Dealer als Bezahlung anzubieten …

Ich bin gerade einmal zwölf Jahre alt, und meine Mutter bittet mich, etwas zu tun, was sich in meinem Alter so falsch anhört. Mit einem Typen zusammen zu sein … so richtig … ich weiß nicht, was ich machen soll. Aber sie sagt, dass es hilft, die Rechnungen und andere Sachen zu bezahlen. Ich weiß nicht, was die anderen Sachen sind, doch ich tippe, dass es mit dem Dreck zu tun hat, den mein Bruder ihr in die Adern spritzen muss, und ich weiß, dass es keine Diabetikermedizin ist, wie meine Mutter mir immer erzählt. Ich bin nicht blöd. Ich weiß, dass sie Drogen nimmt.

Aber ich frage mich, ob ich mit diesem Typen schlafen kann, dem sie Geld schuldet … ihm meine Jungfräulichkeit schenken und verhindern, dass meine Familie aus dem Haus fliegt. Ob meine Mutter dann endlich mal Danke zu mir sagt, weil ich ihr helfe? Und ob sie vielleicht, nur vielleicht sagt, dass sie mich liebhat?

Mit jedem Wort, das ich lese, wächst mein Hass auf meine Mutter, und die Wut in mir wird größer. Bald werde ich so voller Hass sein, dass ich in ihm ertrinke. Also tue ich das Einzige, was ich kann, um damit fertigzuwerden. Ich ertränke mich in anderem Zeug, so wie ich es tue, um den Schmerz zu verstecken, weil ich Violet verloren habe. Die letzten paar Monate waren meine Nächte ausgefüllt von Alkohol, Spielen, Feiern und Prügeleien, von denen ich einige bewusst provoziere, andere von selbst kommen, weil ich beim Schummeln erwischt werde. Mir ist klar, dass ich aufhören sollte, und das nicht, weil es ungesund ist – ich bin Diabetiker –, sondern weil ich eines Tages den Falschen verärgere oder einen Drink zu viel reinschütte. Aber im Grunde ist mir das scheißegal. Leben oder sterben, das interessiert mich nicht mehr.

Schlafen wird mir genauso fremd wie Essen oder irgendwas zu trinken, was mir keinen Brand beschert, der mein Herz, meine Seele und mein Denken betäubt. Wenn ich es schaffe, meine Augen zu schließen, verfolgt mich die Vergangenheit. Ich kann ihr inzwischen gar nicht mehr entfliehen, deshalb bemühe ich mich, so wenig wie möglich zu schlafen. Ich denke, man sieht es mir langsam an. Zumindest frage ich mich das, als ich heute Morgen ins Wohnzimmer komme.

Seth sitzt auf dem Sofa, als ich gähnend und mit roten Augen hereinkomme. Er sieht von seinem Laptop auf und verzieht angewidert das Gesicht. »Nimm’s mir nicht übel, Alter, aber du siehst beschissen aus«, sagt er, klappt seinen Computer zu und mustert meine Augenringe und die verheilende Schramme an meiner Wange. Die ist ein Überbleibsel der Prügelei letztes Wochenende, als man mir unten bei Denny’s unterstellte, dass ich betrüge. Zum Glück sind die Jungs, die da abhängen, ein Haufen Weicheier, weshalb ich mit wenigen Kratzern davonkam und selbst ordentlich austeilen konnte. Doch leider kann ich mich in dem Laden nicht mehr blicken lassen und muss mir was anderes suchen, wo ich ein bisschen Geld machen kann.

»Halt die Fresse«, knurre ich Seth an und fahre mir mit der Hand durchs Haar. Es wird irgendwie zottelig, weil ich es schon länger nicht mehr schneiden ließ. Aber eigentlich ist es mir auch egal.

Seth zeigt mir den Stinkefinger und verdreht die Augen. »Du musst über diesen Mist hinwegkommen. Im Ernst. Das bringt dich noch um.«

»Über was hinwegkommen?« Ich stelle mich blöd.

Wieder verdreht er die Augen. »Ich würde es dir ja sagen, nur wage ich nicht, ihren Namen auszusprechen, weil du dann wieder diesen Angeschossenes-Bambi-Blick kriegst und mir anschließend den Kopf abreißt.«

»Ich bin kein angeschossenes Bambi«, kontere ich schroff und schlucke, weil ich einen Kloß im Hals habe. Ich reiße meine Jacke vom Tresen, bevor ich zum Kühlschrank gehe. »Wo zur Hölle ist die Flasche Jack Daniels hin? Und der Wodka?«, frage ich.

Seth schiebt seinen Laptop zur Seite, steht vom Sofa auf und kommt hinüber zum Küchentresen. »Die hast du gestern Abend ausgeschlürft, ehe du weg bist, wohin auch immer.« Er wartet, dass ich ihm erzähle, wo ich war, aber das tue ich nicht. Ich kann mich ja kaum an die letzten fünf Minuten erinnern, geschweige denn an das, was vor fünf Stunden war.

Nachdem ich die Kühlschranktür zugeknallt habe, öffne ich den Schrank daneben, wo Greyson, Seths fester Freund und mein Freund und Mitbewohner, seinen Vorrat an Cherry-Wodka lagert. »Es stört ihn doch nicht, wenn ich hiervon was trinke, oder?«, frage ich Seth und greife nach der Flasche, die nur noch ein Viertel voll ist.

Seth lehnt sich achselzuckend an den Tresen. »Ich glaube nicht, dass es ihm was ausmacht, wenn was weg ist, weil er selten trinkt.« Er zögert. »Aber ich denke schon, dass es ihn stört, wenn du das trinkst.«

Ich nehme die Flasche, weil ich etwas will – brauche. Schon bei dem Gedanken daran zittere ich. Und vor allem fange ich wieder an, zu viel zu denken. »Ich trinke immer.«

»Ja, aber …« Seth verstummt und reibt sich den Nacken.

Ich sehe ihn wütend an. »Was, aber? Raus damit!«