Das Versprechen von Callie & Kayden - Jessica Sorensen - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Versprechen von Callie & Kayden E-Book

Jessica Sorensen

4,3
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Callie und Kayden haben immer noch mit ihren Verletzungen und dem damit verbundenen Schmerz zu kämpfen, aber viele Probleme konnten sie hinter sich lassen. Doch unweigerlich holt sie die Vergangenheit ein, und plötzlich stehen sie vor schweren Entscheidungen. Sie hoffen, dass sie gemeinsam alles durchstehen können. Denn sonst bleibt ihnen nichts ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 298

Bewertungen
4,3 (18 Bewertungen)
11
1
6
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



JESSICA SORENSEN

Das Versprechen vonCallie & Kayden

Band 6

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Sabine Schilasky

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

DAS BUCH

Mir kommt es vor, als würde ich in der Vergangenheit feststecken, und ich will sie hinter mir lassen. Aber es ist komplizierter, als es scheint, und manchmal deprimierend, dass ich keine Familie habe und nie wirklich eine feste Gruppe von Leuten haben werde, die für mich da sind. Eine Person gibt es allerdings, die mir immer wieder durch meine Verzweiflung hilft.

Callie Lawrence. Sie ist das Beste, was mir jemals passiert ist. Mein Sonnenstrahl inmitten des Regens, der Wolken und des Sturms über meinem Kopf. Sie bringt mich zum Lächeln, wenn ich down bin, zum Lachen, wenn ich unglücklich bin. Sie ist der einzige Mensch, der mich jemals geliebt hat und den ich so bedingungslos liebe, dass ich es ab und zu selbst kaum verstehe.

DIE AUTORIN

Die Bestsellerautorin Jessica Sorensen hat bereits zahlreiche Romane verfasst. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in den Bergen von Wyoming. Wenn sie nicht schreibt, liest sie oder verbringt Zeit mit ihrer Familie.

LIEFERBARE TITEL

Das Geheimnis von Ella und Micha

Für immer Ella und Micha

Die Sache mit Callie und Kayden

Die Liebe von Callie und Kayden

Verführt. Lila und Ethan

Füreinander bestimmt. Violet und Luke

Nova & Quinton. True Love

Nova & Quinton. Second Chance

Nova & Quinton. No Regrets

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THE RESOLUTION OF CALLIE AND KAYDEN

Vollständige deutsche Erstausgabe 02/2016

Copyright © 2015 by Jessica Sorensen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagabbildung: © Regina Wamba/www.maeidesign.com

Redaktion: Anita Hirtreiter

Datenkonvertierung E-Book: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ePub-ISBN: 978-3-641-18068-3V001

www.heyne.de

Prolog

Kayden

#103 Lauf deinen Dämonen davon!

Lauf.

Wirf.

Fang.

Ausweichen.

Lauf.

Lauf.

Lauf.

Das Brüllen meines Vaters verfolgt mich wie ein Geist, als ich über die Bahn renne. Ich kann ihm nicht entfliehen, mich nicht vor ihm verstecken. Meine Füße knallen auf die Erde, meine Lunge verkrampft sich in meiner Brust, und ich triefe vor Schweiß, obwohl gerade mal zehn Grad sind und ich Shorts trage. Mein Puls wummert, und meine Beine tun mir weh. Sie flehen mich an, Schluss zu machen, schreien mir zu, dass es reicht.

Aber es fühlt sich nicht an, als wäre es genug.

Ich kann nicht vor ihm wegrennen.

Nicht vor seiner Stimme.

Nicht vor seinen Worten, die er mir eingedrillt hat.

Dabei möchte ich frei davon sein. Frei von ihm, meiner Mom, meiner Vergangenheit, dem jahrelangen Missbrauch. Ich möchte erlöst sein. Aber um das zu schaffen, muss ich loslassen, und das kann ich nicht, solange ich keine Klarheit habe.

Ich habe keine Ahnung, wo er ist oder was er macht. Ob er noch lebt oder tot ist, ob ihm leidtut, was er getan hat. Und vielleicht erfahre ich das nie. So wie ich vielleicht nie loslassen kann.

Also kann ich nur laufen.

Bis ich keine Luft mehr kriege.

Bis meine Beine nicht mehr wollen.

Bis mein Herz zu schlagen aufhört.

Bis vielleicht seine Stimme verschwindet.

1

#101 Auf dem Bett hüpfen! Ganz viel

Callie

Der Winter ist eine wunderbare Jahreszeit. Schneeflocken rieseln vom Himmel und wirbeln durch die Luft. Sie erinnern mich daran, dass sich die Welt immerzu verändert, dass sich Leute immerzu verändern, dass ich mich immerzu verändere. Ich sehe nach vorne, lasse los, was mit Caleb war, und lebe für die Zukunft. Für eine Zukunft voller unendlicher Möglichkeiten. Und das macht mich froh.

Doch allem Optimismus zum Trotz habe ich in letzter Zeit das Gefühl, dass etwas fehlt und ich nicht weiß, was. Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Es kann sogar gut sein, wenn es vielleicht Traurigkeit und Schmerz sind, die fehlen. Oder es kommt mir schlicht komisch vor, dass ich freier denn je durchs Leben gehe. Oder ich suche vielleicht bloß nach etwas, das dieses seltsame neue befreiende Gefühl in mir erklärt, weil die Vergangenheit seit Kurzem so weit weg scheint. Die Person, die mir wehgetan hat, ist verschwunden, und auch wenn die Geschichte mit Caleb noch nicht ganz durchgestanden ist, kommt es mir vor, als sei ich von meinen inneren Dämonen ihn betreffend – was er mir angetan hat – erlöst. Ja, die Erinnerung ist noch da, hat meine Vergangenheit vernarbt, aber sie definiert nicht mehr, wer ich bin.

Nun bin ich … na ja, glücklich.

Das würde ich mir auch für Kayden wünschen, denn er scheint in letzter Zeit ein bisschen traurig. Nicht so wie früher, nein, es geht ihm schon viel besser als vor einem Jahr an dem schrecklichen Tag, als ich ihn in der Klinik besuchte. Dahin war er geschickt worden, weil die Ärzte und Schwestern dachten, er hätte selbst mit dem Messer auf sich eingestochen. Zwar hatte er sich geritzt, aber es war sein Vater, der damit angefangen hatte, ihn zu verletzen, und der ihn am Ende fast umgebracht und die Zukunft ruiniert hätte, die wir jetzt haben.

»Klopf, klopf.« Seth klopft an und steckt den Kopf zur Tür herein. »Hey, was ist los? Wieso beantwortest du deine SMS nicht?«

Ich klemme meinen Stift zwischen die Seiten meines Tagebuchs und greife nach dem Telefon auf meinem Bett. »Entschuldige, ich hatte vergessen, dass ich vorm Kurs die Lautstärke runtergedreht hatte.« Ich stelle sie wieder lauter, während Seth übertrieben beleidigt guckt und in mein Wohnheimzimmer kommt.

Er ist so wie immer durchgestylt in seinem schwarzgrauen Pulli, der dunkelblauen Jeans und den Converse-Turnschuhen; und natürlich ist sein honigblondes Haar perfekt zerzaust.

»Heißes Date heute Abend?«, frage ich, lege mein Telefon auf den Nachttisch und klappe mein Tagebuch zu.

»Ich weiß nicht, was du meinst.« Er tippt sich mit dem Finger an die Lippen, um sich ahnungslos zu geben. Dabei redet er schon die ganze Woche von nichts anderem als seinem Date mit Greyson, weil sie heute ihr Einjähriges haben.

Ich schiebe das Tagebuch unter mein Kopfkissen, stehe auf und streiche die Falten aus meiner violett und schwarz gestreiften Bluse. »Ich meine das Date, von dem du schon seit Wochen sprichst. Das Date. Das zu eurem Jahrestag.«

Er kickt die Zimmertür zu. »Du musst echt aufhören, immer so genau hinzuhören. Das verdirbt mir den ganzen Spaß und beraubt mich meiner geheimnisvollen Aura.«

»Du besitzt gar keine geheimnisvolle Aura«, sage ich und binde mein langes braunes Haar zu einem Pferdeschwanz. »Aber wir können die Szene ja noch mal durchspielen, wenn du willst. Du gehst raus, kommst wieder rein, und ich tue, als hätte ich keinen Schimmer, warum du dich so aufgebretzelt hast. Dann kannst du mir die große Neuigkeit verkünden, und wir feiern und springen auf und ab und kreischen Oh mein Gott!. Ich wedele dabei wild mit den Händen vor mir und schreie: Das wird ja so unglaublich klasse!«

Einen Moment lang starrt er mich an und tut, als wäre er kein bisschen amüsiert, aber dann biegt sich sein einer Mundwinkel nach oben, und er fängt an, mit mir auf und ab zu hüpfen. »Spulen wir lieber gleich zum netten Teil vor«, sagt er lachend, springt auf mein Bett und wippt auf der Matratze, während er mir eine Hand hinstreckt, um mir nach oben zu helfen.

»Ah, tausend Dank, Sir.« Ich nehme seine Hand, und er zieht mich zu sich.

Wir hüpfen auf meinem Bett wie kleine Kinder und bejubeln seinen Jahrestag, bis meine Mitbewohnerin Harper hereinkommt. Sie bleibt erschrocken in der Tür stehen, als sie uns sieht, wie wir beide mit hochroten Köpfen und japsend die Arme schwenken.

»Hey, Harper.« Ich winke ihr zu und höre auf zu hüpfen. Aber Seth macht weiter. Ihn stört nicht, dass er wie von Sinnen wirkt, allerdings muss er sich ja auch nicht das ganze Jahr mit Harper ein Zimmer teilen.

Harper sieht interessiert zwischen Seth und mir hin und her, als sie ins Zimmer kommt und die Tür hinter sich schließt. »Was macht ihr denn?«

Seth hüpft sehr übertrieben. »Sport«, scherzt er atemlos.

»Tolle Idee. Muss ich auch mal ausprobieren. Allerdings bin ich eher der Typ für paarweisen Bettensport.« Harper zwinkert, was irgendwie künstlich rüberkommt, als würde sie vorspielen zu sein, wie sie glaubt, sein zu müssen. So ist sie oft. Dann geht sie hinüber zum Schreibtisch am Fenster und legt ihre Bücher ab.

Seth kichert, und ich werde rot. Auch jetzt noch, nachdem ich schon häufiger Sex hatte, machen mich zweideutige Bemerkungen verlegen. Früher dachte ich, es läge daran, dass ich mit zwölf vom besten Freund meines Bruders vergewaltigt wurde, dass das eben seine Spuren bei mir hinterlassen hat. Doch inzwischen schätze ich eher, ich bin einfach so.

»Und was habt ihr zwei heute so vor?«, fragt Harper, rafft ihr langes blondes Haar zu einem unordentlichen Dutt zusammen und nimmt ihren iPod von ihrem Bett.

Seth zuckt mit den Schultern, springt vom Bett und landet mit einem dumpfen Plumps auf dem Boden. »Im Moment nichts Besonderes. Warum? Suchst du mal wieder eine Partybegleitung?«

Sie zögert, weil sie die Liste der Songs auf ihrem iPod durchgeht, was sie ablenkt. »Ich überlege, zu dieser Verbindungsparty zu gehen, habe mich aber noch nicht entschieden.«

Seth greift sich an den Hals und tut, als müsse er würgen. »Verbindungsstudenten, würg!«

»Stimmt«, sagt sie und nimmt ihre Kopfhörer vom Kissen. »Aber ich muss mal für einen Abend aus der Schuhschachtel von Zimmer raus, sonst drehe ich durch.«

»Tja, bedaure, aber da wirst du allein hinmüssen«, erklärt Seth ihr. Die beiden treffen sich hin und wieder bei Partys oder gehen zusammen zu welchen, weiter reicht ihre Freundschaft allerdings nicht.

»Mist.« Sie lächelt mir gekünstelt zu. »Was ist mit dir, Callie? Hast du Lust auf eine Party?«

»Hm, ich muss mich Seth anschließen«, antworte ich, bekomme aber gleich ein schlechtes Gewissen, als Harper die Stirn runzelt. »Ich stehe nicht so auf Verbindungspartys.«

Sie zuckt mit den Schultern, obwohl sie ein bisschen deprimiert scheint. Doch sobald sie bemerkt, dass ich sie immer noch ansehe und es mitbekomme, ringt sie sich ein strahlendes Lächeln ab und steckt ihre Ohrstöpsel ein. Ich weiß nicht, warum, aber Harper macht immer einen einsamen Eindruck, auch wenn sie dauernd von Leuten umgeben ist. Sie lächelt weiter, als sie zu ihrem Bett geht. Allerdings habe ich schon so viel künstlich gelächelt in meinem Leben, dass ich es auf Anhieb erkenne.

Als sie sich hinsetzt und sich an ihre Hausaufgaben macht, winkt Seth ihr zu und zieht mich zur Tür. »Lass uns einen Kaffee trinken gehen.« Er nimmt im Vorbeigehen meine Kapuzenjacke vom Bettpfosten und reicht sie mir. »Und ich verrate dir, was für ein Geschenk ich für Greyson habe.«

Ich ziehe die Jacke über und gehe mit Seth nach draußen, den Gang hinunter und zu den Fahrstühlen.

»Es ist eine Sammlung von Sachen, die wir zusammen gemacht haben«, sagt er, als ich den Knopf fürs Erdgeschoss drücke. »Wie DVDs, die wir gesehen, Musik, die wir gehört haben, und Essen, das wir beide total gut finden.«

»Das dürfte das coolste Geschenk aller Zeiten sein«, sage ich. Wir kommen unten an und steigen aus dem Fahrstuhl.

»Ja, genau!« Er strahlt, als wir zum Ausgang gehen. Draußen ist es kalt und windig, aber schön, denn der Himmel ist kristallblau. Um das Gebäude herum haftet Raureif an den Ästen und Zweigen der kahlen Bäume sowie am Gras auf den Rasenflächen, was allem etwas von einem Winterwunderland verleiht.

»Und was gibt es bei dir Neues?«, fragt Seth. Wir gehen zu dem nächsten Café, gleich schräg gegenüber vom Campus der University of Wyoming, wo wir beide studieren. »Es ist ewig her, seit wir zuletzt geredet haben.«

Ich lache, weil es ungefähr gestern war. »Nicht viel.«

»Wie läuft es im neuen Job?«

Ich stöhne. Zu Semesterbeginn hatte ich einen Praktikumsplatz bei einer Onlinezeitung ergattert. Ich schreibe unglaublich gern und so, aber … »Irgendwie nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte«, antworte ich, als wir vom Gras auf den glitschigen Gehweg wechseln.

»Wieso nicht?«, fragt er und hakt mich unter, bevor es einen von uns zerlegt.

Ich zucke mit der Schulter. »Ich würde lieber nur schreiben … na, ich weiß nicht, das, was ich will, und nicht über bestimmte Sachen. So fühlt es sich eben wie irgendein Job an.« Jetzt muss ich seufzen. »Das klingt furchtbar egoistisch, oder? Und undankbar.«

Seth kichert, als er uns um einen großen Eisflecken auf dem Gehweg herumlenkt. »Nein, es klingt normal. Man muss einen Job nicht mögen, nur weil es zufällig gerade der eine ist, den man hat.«

Ich stopfe meine freie Hand in die Jackentasche, weil der Wind beißend kalt ist. »Ja, vielleicht hast du recht.«

»Nein, nicht vielleicht, sondern sicher.« Er grinst mir zu. »Ich habe immer recht, wenn es ums Ratgeben geht.« Nun wird er nachdenklich. »Apropos Rat, wieso hast du mit Kayden bisher nicht übers Zusammenziehen geredet? Ich dachte, das hätten wir schon vor ein paar Wochen besprochen, und da wolltest du es endlich«, er malt Anführungszeichen in die Luft, »wagen.«

Innerlich krümme ich mich. »Ich habe dir schon gesagt, dass ich es doch nicht ansprechen wollte.«

»Weiß ich, nur hatte ich gehofft, dass du es dir anders überlegst. Im Gegensatz zu dir glaube ich nicht, dass Kayden für so einen großen Schritt noch nicht bereit ist. Und selbst falls er es nicht sein sollte, finde ich, dass du wissen musst, wo er steht.« Wir warten an der Ecke, dass wir über die Straße können. »Ihr zwei seid schon länger zusammen als Greyson und ich oder als Luke und Violet.«

»Ja, aber ihr vier wohnt zusammen.« Ich weiß, dass es nur eine lahme Ausrede ist, nicht die Wahrheit, aber an die will ich nicht mal denken, weil sie mir wehtut.

»Sollen wir uns eine Wohnung für uns alle zusammen suchen?«, fragt Seth, als wir über die Straße zu dem niedlichen Café laufen, in dem es die besten Mokka-Cappuccinos gibt, die ich je getrunken habe.

Ich schüttle den Kopf. »Sechs Leute unter einem Dach sind zu viel.«

»Sehr gut, denn ich würde das eigentlich nicht wollen«, sagt er und knufft mich in die Seite. »Ich wollte bloß nicht wie ein Arsch dastehen.«

»Du bist kein Arsch«, sage ich, als ich auf den Bordstein springe. »Du bist der beste Freund aller Zeiten.«

»Wie recht du hast!« Er zeigt mit dem Finger auf mich. »Genau wie ich recht damit habe, dass du mit ihm reden musst und herausfinden, wie deine Zukunft aussieht.« Er führt uns um einen Wagen herum, der aus einer Lücke vor dem Café fährt. »Ich mag den Jungen wie doof, aber er muss dringend lernen, wie er sich klarer ausdrückt, statt dich dauerhaft zum Rätselraten zu verdammen.«

»Kayden ist lieb zu mir«, verteidige ich ihn. »Aber er hat eine Menge durchgemacht, und deshalb fällt es ihm schwer, anderen zu vertrauen, glaube ich.«

Seth wirkt genervt. »Hast du auch, und das solltet ihr beide nie vergessen.«

»Seth, bitte, lass es, okay?« Ich hoffe, dass er meine Gedanken genauso lesen kann wie sonst, denn ich will wirklich nicht hierüber reden.

Er mustert mich misstrauisch. »Du verheimlichst mir doch was«, sagt er, als wir vor dem Café sind. Anstatt hineinzugehen, bleibt er vor der Tür stehen und hält mich zurück. »Okay, Miss Callie, raus damit. Was erzählst du mir nicht?«

Mir fällt eine Ponysträhne ins Gesicht, als ich mich von ihm abwenden will, aber ich war noch nie eine gute Lügnerin, und letztlich kapituliere ich schon nach Sekunden vor seinem prüfenden Blick.

»Okay, gut«, sage ich und sehe Seth an. »Ich weiß genau, dass Kayden nicht mit mir zusammenwohnen will, weil ich ihn am Anfang des Studienjahrs gefragt habe.«

»Was?«, ruft er und lässt mich los. »Wieso erfahre ich das erst jetzt?«

Ich rücke zur Seite, weil jemand aus dem Café kommt. »Weil ich eigentlich nicht darüber reden will.«

Er runzelt die Stirn und lehnt die Ellbogen auf das Geländer neben uns. »Also, was genau hat Kayden gesagt? Hat er direkt gesagt: Nein, ich will nicht mit dir zusammenleben?«

»Na ja, so hat er es nicht gesagt«, erkläre ich. »Ich hatte nur gesagt, dass es cool wäre, im nächsten Semester mit jemandem in einem Apartment zu wohnen, und ich es mir überlege, aber noch einen Mitbewohner bräuchte … und er hat nichts gesagt.«

Seth entspannt sich und schüttelt grinsend den Kopf. »Meine liebe naive Callie, eine Andeutung ist nicht dasselbe wie eine Frage.« Er wuschelt mir durchs Haar, als sei ich ein Kind. »Und bei Jungs musst du immer richtig deutlich sagen, was du willst. Glaub mir, das erlebe ich immer wieder mit Greyson.«

»Ja, stimmt wohl.« Ich trete zurück, als er an mir vorbeigeht, um mir die Tür aufzuhalten. »Es ist nur so schwer, es direkt zu sagen, denn was mache ich, wenn er Nein sagt?«

Seth folgt mir nach drinnen. Hinter ihm fällt die Tür zu und sperrt die Kälte aus. Es riecht nach frischem Kaffee und Zimt, und das Klickern diverser Tastaturen umschwirrt uns, weil viele Studenten mit ihren Laptops hier sitzen und das kostenlose WLAN nutzen.

»Ich glaube nicht, dass er es tut«, sagt Seth, als wir uns in der Schlange anstellen.

Ich sehe zu der Karte über dem Tresen und weiß nicht, was ich nehmen soll. »Da bin ich mir nicht sicher …« Ich rücke weiter vor. »In letzter Zeit ist er richtig traurig und irgendwie distanziert.«

»Dann frag ihn, warum. Komm schon, Callie, ich weiß ja, dass es deine erste Beziehung ist, aber ihr zwei seid euch nahe genug, dass da keine Distanz sein sollte.« Als ich etwas erwidern will, sagte er schnell: »Hey, du musst auf mich hören! Ich bin jetzt offiziell Psychologiestudent und weiß, wovon ich rede.«

Ich muss lachen. »Auch wenn ich es dir nur ungern sage, aber nur weil du dich für Psychologie im Hauptfach entschieden hast, weißt du nicht alles. In den Kursen lernst du nicht mal alles.«

»Ist mir klar.« Er legt zwei Finger an seine Schläfe. »Es ist dieser Bad Boy hier drinnen, der mich so verdammt klug macht.«

Ich schüttle den Kopf, lächle aber. Seth mag sich gnadenlos überschätzen, doch er hat recht – ich muss mit Kayden reden.

»Na gut, ich mach’s.«

»Ja, unbedingt. Und außerdem ist ein Apartment viel, viel besser als ein Wohnheimzimmer. In deiner eigenen Wohnung könnt ihr superlaut sein, wann immer ihr wollt.« Er zuckt vielsagend mit den Augenbrauen.

Obwohl ich rot werde, spiele ich mit. »Oh, ich weiß. Das ist der Hauptgrund, weshalb ich mit Kayden zusammenziehen will. Damit wir unter uns sind und uns keine Gedanken machen müssen, dass unsere Mitbewohner jeden Moment reinkommen könnten.«

Er grinst sehr breit. »Sieh sich einer mein kleines Mädchen an! Richtig erwachsen geworden ist es.«

Ich stelle mich gerader hin. »Jetzt müsste ich nur noch die Eier haben, Kayden zu fragen.«

Seths Gesicht rötet sich, als er ein Lachen unterdrückt, das er doch nicht zurückhalten kann, sodass er sich die Hand vor den Mund hält. »Ich fasse nicht, dass du gerade Eier gesagt hast.«

»Weißt du was?«, entgegne ich, als wir an der Kasse sind. »Ich schon. Ich bin nicht mehr dasselbe Mädchen wie früher.«

Nun nimmt Seth die Hand vom Mund und wird ernst. »Vollkommen richtig. Du hast dich verändert, und du bist jetzt so viel stärker.«

Obwohl wir dran sind zu bestellen, umarmen wir uns erst mal. »Wir haben beide eine Menge geschafft«, sage ich, denn auch Seth hat schon so einiges durchgemacht, und trotzdem sind wir hier, glücklich, gesund und genießen das Leben. Ja, wir sind Überlebende. Ich wünschte nur, Kayden könnte von sich dasselbe sagen und begreifen, wie weit er es gebracht hat.

Vielleicht hat Seth recht. Vielleicht ist es an der Zeit, Kayden auf das Thema gemeinsame Wohnung anzusprechen. Schließlich habe ich schon weit Schlimmeres machen müssen, als meinen Freund zu bitten, mit mir zusammenziehen.

Sehr viel Schlimmeres.

2

#107 Erlebe einen magischen Winterwunderlandmoment!

Kayden

In letzter Zeit ist meine Stimmung grottenschlecht. Allerdings nicht mehr annähernd so mies wie früher, als ich derart down war, dass ich mich im Badezimmer einschloss und den Schmerz wegschnitt, indem ich mir die Haut aufschlitzte und mich zum Bluten brachte. Dahin will ich nicht wieder zurück, egal was passiert. Ich weigere mich, wieder in jenem dunklen Loch zu leben. Ich will, dass alles hell bleibt. Es wäre nur schön, wenn ich voller Tatendrang sein könnte, so wie Callie, aber es gibt einige Dinge – Ängste –, die mich zurückhalten. Eine Menge Dinge, die mich belasten, wenn ich genauer darüber nachdenke. Wie zum Beispiel die Tatsache, dass in nicht mal einem Monat Thanksgiving ist und es damit fast ein Jahr her, dass mein Vater mich abstach und hinterher mit meiner Mutter verschwand, bevor ihm irgendwelche Konsequenzen drohten. Es war das Jahr, in dem mein sowieso schon kaputtes Leben aus den Fugen geriet. Das Jahr, in dem ich beinahe aufgegeben und alles beendet hätte.

Doch das habe ich nicht. Ich habe überlebt und sollte dankbar sein – was ich auch bin. Trotzdem belastet mich, dass meine Eltern wer weiß wo sind, wer weiß was tun, und das vielleicht völlig sorglos.

Und dann ist da die Einladung von meinem ältesten Bruder Dylan, der möchte, dass ich zum Familienessen an Thanksgiving zu ihm komme. Ich bin nicht sicher, was ich damit anfangen, wie ich auf das Wort Familie reagieren soll. Ich kann mir nicht mal vorstellen, mit meinem Bruder, seiner Frau und ihrer ganzen Verwandtschaft an einem Tisch zu sitzen, zu lachen und zu reden, während wir uns die Bäuche vollschlagen. Dylan sagte, dass er Tyler auch einladen wollte, allerdings haben wir ihn beide länger nicht gesehen und fürchten, er lebt als Junkie auf der Straße, wie er es früher schon getan hat. Oder womöglich gar nicht mehr am Leben ist.

Mir kommt es vor, als würde ich in der Vergangenheit feststecken, und ich will sie hinter mir lassen. Mein Therapeut sagt mir dauernd, dass ich das muss. Aber es ist komplizierter, als es scheint, und manchmal deprimierend, dass ich keine Familie habe und nie wirklich eine feste Gruppe von Leuten haben werde, die für mich da sind.

Eine Person gibt es allerdings, die mir immer wieder durch meine Verzweiflung hilft.

Callie Lawrence.

Sie ist das Beste, was mir jemals passiert ist. Mein Sonnenstrahl inmitten des Regens, der Wolken und des Sturms über meinem Kopf. Sie bringt mich zum Lächeln, wenn ich down bin, zum Lachen, wenn ich unglücklich bin. Sie ist der einzige Mensch, der mich jemals geliebt hat und den ich so bedingungslos liebe, dass ich es ab und zu selbst kaum verstehe.

Ich dachte ehrlich, ich könnte nie jemanden so lieben, wie ich sie liebe. Ich würde nie wissen, wie man liebt, weil ich es ja nicht gelernt habe. Aber Callie hat mir gezeigt, wie ich mein Herz öffne – zumindest wenn es darum geht, sie zu lieben. Sie macht es mir leicht, und manchmal verwirrt mich das, denn warum konnte meine Familie es nicht – sich lieben, statt so voller Hass zu sein?

»Kayden, konzentrier dich aufs Training!«, brüllt mein Coach und winkt mir, dass ich meinen Arsch aufs Feld schwingen soll. Ich habe an der Seitenlinie gestanden, zum Spielfeldende gesehen und war ganz in Gedanken gewesen, wie lange, weiß ich nicht.

Ich schalte wieder auf Training um, laufe in die Spielfeldmitte und hake den Kinnriemen fest, als ich zu dem Pulk aus meinem Team komme. Wir sind in unseren Trainingstrikots, und das Feld ist vom Temperatursturz letzte Nacht überfroren, sodass es scheißkalt ist. Aber es tut gut, draußen zu sein und mich von den Gedanken abzulenken, die mich immer wieder einholen, sobald ich allein in meinem Zimmer hocke. Beim Spielen bekomme ich besser einen klaren Kopf als bei irgendwas sonst, ausgenommen vielleicht, wenn ich mit Callie rede, die ich nach dem Training sehen werde.

Doch sogar beim Spielen kann ich seine Stimme hören, die mir zubrüllt, was ich tun soll. Sie ist immer da, wenn ich Sport treibe, und manchmal auch, wenn ich schlafe. Ich hasse es, sie zu hören, aber nachdem sie sich jahrelang in mein Hirn gebohrt hat, werde ich sie nicht mehr los.

Lauf.

Mach’s besser.

Sei schneller.

Spiel härter.

Mach weiter, bis du zusammenbrichst.

Erst als ich schweißgebadet und völlig im Spiel bin, kann ich die Stimme meines Vaters kaum noch hören. Dann wummert mein Herz zu laut, als dass ich irgendwas außer ihm höre. Deshalb verbindet mich eine Hassliebe mit dem Football: Ich liebe ihn um meinetwillen, aber ich hasse ihn seinetwegen.

Trotzdem konzentriere ich mich auf das, was ich fürs Training machen muss, gebe alles, um zu spielen, schnell zu laufen, zu werfen, zu fangen und so gut wie immer zu spielen. Als wir fertig sind und ich zur Umkleide gehe, bin ich durchgeschwitzt und müde, aber auch zu erschöpft, um zu denken, also fühle ich mich ziemlich gut. Der Coach nimmt mich zur Seite, bevor ich nach drinnen gehe, und sagt mir, wie gut ich mich mache, nennt allerdings auch einige Sachen, an denen ich arbeiten kann. Das tut er meistens, doch in diesem Jahr hat er es besonders auf mich abgesehen, weil wir so gut sind. Es wird viel über meine Zukunft im Football geredet, obwohl ich erst im zweiten Studienjahr bin und es bis zur Auswahl noch ein weiter Weg ist. Und darüber bin ich auch froh, weil ich nicht mal sicher bin, ob ich Profi werden will.

Mein ganzes Leben lang ließ mich mein Dad irgendwelchen Sport machen, und ich glänzte in jedem, daher scheint es, als müsste ich diesen Weg einschlagen. Ich spiele wirklich gern, doch manchmal frage ich mich, ob es nicht mehr im Leben gibt. Vielleicht gibt es da draußen etwas, das nichts mit dem Traum meines Vaters für mich zu tun hat und wo mich nicht bei jedem Lauf und jedem Wurf seine Stimme verfolgt.

In der Umkleide dusche ich rasch und ziehe mir eine Jeans und ein T-Shirt an. Danach streife ich mir die Jacke über und gehe zu meinem Wagen draußen auf dem Parkplatz. Es ist nicht der schickste Wagen der Welt, aber er ist besser als mein Motorrad und bringt mich verlässlich hin und her. Das Tolle ist, dass ich ihn selbst gekauft habe, mit dem Geld aus meinem Teilzeitjob im Fitnesscenter und nicht mit dem meines Vaters. Er gehört mir ganz allein, ist mein ganzer Stolz, und nichts macht mir mehr Freude.

Ich steige ein, lasse den Motor an und werfe meine Tasche auf die Rückbank. Es ist schon spät; die Sonne sinkt hinter die Berge, deshalb schalte ich die Scheinwerfer an und lege den Gang ein. Ich will gerade vom Parkplatz fahren, als mein Telefon in der Tasche surrt.

Nachdem ich nahe der Ausfahrt gehalten habe, hole ich das Telefon heraus und lächle, weil ich schon weiß, von wem die SMS kommt.

Callie: Hey, wo bist Du? Wollten wir uns nicht um sieben in Deinem Wohnheim treffen?
Ich: Sorry, bin spät dran. Der Coach wollte noch reden.

Ich runzle die Stirn, weil ich das Thema absichtlich meide. Bisher habe ich noch nicht mit Callie über meine Zukunft im Football gesprochen – oder über meine unsichere Zukunft überhaupt. Sie ist immer so optimistisch und weiß genau, was sie vom Leben will; und das macht es schwer für mich, mit ihr zu reden, weil ich derart planlos bin.

Ich: Bist Du im meinem Wohnheim?
Callie: Ja, in Deinem Zimmer … Nico hat mich reingelassen.

Ich verziehe das Gesicht, als ich den Namen meines Mitbewohners lese. Nicht dass ich ihn nicht mag oder so, aber er hat einige ernste Probleme und ist die Hälfte seiner verdammten Zeit high.

Ich: Ist er jetzt bei Dir?
Callie: Nein, er ist gerade weg … warum?
Ich: Nur so … Bin unterwegs und in zehn Minuten bei Dir.
Callie: Okay J Und ich möchte mit Dir über etwas wirklich Wichtiges reden … Es geht um uns.

Mir wird mulmig, weil ich mich frage, was es sein kann. Will sie vielleicht, dass wir eine Pause einlegen oder irgendwas ähnlich Übles? Eigentlich glaube ich das nicht, aber ich sehe einfach immer von vornherein schwarz, wenn ich mit einer unerwarteten Situation konfrontiert werde. Ich frage mich unweigerlich, ob Callie mich verletzen wird, denn dazu hat sie die Macht. Mein Herz gehört nur ihr, und sie könnte es sehr leicht brechen.

Ich bin komplett von meinen Sorgen eingenommen, während ich auf die Straße biege und zu meinem Wohnheim fahre. Auf dem Weg beginnt es zu schneien, und als ich meinen Wagen parke, ist es ein richtiger Schneesturm geworden. Riesige Flocken klatschen auf die Windschutzscheibe und durchnässen mich sofort, als ich aus dem Auto springe und über das gefrorene Gras zum Eingang laufe. Ich atme die Wärme ein, sobald ich im Eingangsbereich bin.

Bald ist Halloween, weshalb alles in Schwarz und Orange dekoriert ist, überall Plastikspinnen und Spinnweben hängen. Und natürlich ist dieses bescheuerte Skelett wieder da, das jedes Mal gruselige Geräusche macht, wenn jemand vorbeigeht. Einige Leute sitzen unten, lachen und reden. Ein paar von ihnen kenne ich, also winke ich ihnen zu und sage Hallo, bevor ich zum Fahrstuhl gehe.

Je näher ich meinem Zimmer komme, desto weniger kann ich es abwarten, Callie zu berühren. Am liebsten würde ich das immerzu tun. Leider bin ich nicht im selben Wohnheimgebäude wie sie, was es richtig nervig macht, die Nächte zusammen zu verbringen. Ehrlich, es wäre leichter, würden wir einfach zusammenwohnen, aber das ist ein höllisch großer Schritt, und ich bin nicht sicher, ob ich dafür bereit bin – wir es sind – oder ob sie es eigentlich will.

Bei meinem Zimmer gebe ich den Code ein und gehe rein. Dabei lächle ich schon. Dann aber stutze ich, denn das Zimmer ist leer: nur die beiden ungemachten Betten, einige leere Chipstüten und haufenweise leere Coladosen auf dem Boden. Prompt vermisse ich wieder meinen alten Mitbewohner Luke, der ständig alles sauber und ordentlich haben musste. Auf meinem Nachttisch ist ein Stapel DVDs, von denen ich annehme, dass Callie sie mitgebracht hat, weil die vorher nicht hier waren.

Ich kratze mich am Kopf und frage mich, wo sie hin ist, als mein Telefon in der Tasche vibriert. Stirnrunzelnd hole ich es heraus und wische übers Display.

Callie: Zieh Deine Jacke an und komm auf die Ostseite vom Campushof. Ich warte dort auf Dich.
Ich: Wieso klingt das so verdächtig? … Du planst nicht, mich umzubringen, oder?
Callie: Nicht heute Abend. Ich spare mir das Klebeband und die Schaufel fürs nächste Mal auf:)

Unwillkürlich muss ich lachen. Sie ist herrlich!

Ich: Na gut, solange kein Klebeband und keine Schaufel mit im Spiel sind, komme ich. Bis gleich J
Callie: Okay, bis gleich J

Ich stecke das Telefon wieder ein und überlege, was sie vorhaben könnte. Sie ist in letzter Zeit so glücklich. Und das obwohl Caleb – der Kerl, der sie vergewaltigte, als sie zwölf war – immer noch irgendwo frei herumläuft und nicht für das bezahlt, was er Callie und auch Lukes Schwester sowie einigen anderen angetan hat. Er wird weiter sein Leben leben, tun, was er will, während seine Opfer damit fertigwerden müssen, was er ihnen angetan hat.

Ich vertreibe den deprimierenden Gedanken aus meinem Kopf und setze mir meine Beanie auf, bevor ich wieder in die Kälte gehe. Dann bemühe ich mich, zuversichtlich zu bleiben, während ich mit dem Fahrstuhl zurück nach unten fahre, durch den Hintereingang nach draußen und um das Gebäude herum zu der Seite gehe, zu der Callie mich bestellt hat. Die kahlen Bäume um das Haus herum sind mit Lichterketten geschmückt, in deren Schein die Eisschicht auf allem glitzert. Es ist irre kalt hier draußen, und mein Atem steigt in Wolken vor meinem Gesicht auf. Ich hätte mir eine dickere Jacke anziehen sollen. Doch sowie ich den offenen Bereich auf der Ostseite zwischen einigen Bänken und Reihen von Bäumen betrete, ist mir egal, dass ich draußen bin und mir den Arsch abfriere.

Callie steht inmitten der überfrorenen Bäume und Lichter und starrt auf den Boden. Sie hat den Kopf geneigt, die Jacke bis zum Kinn geschlossen und kickt mit ihrer Stiefelspitze in den Schnee. Ihre Kapuze hat sie nicht aufgesetzt, sodass Schneeflocken in ihrem langen braunen Haar haften, aber es scheint sie nicht zu stören, denn sie ist ganz in Gedanken.

Sie ist wunderschön.

Fantastisch.

Perfekt.

Ich nehme mir einen Moment, alles zu bewundern, was sie auszeichnet, bevor ich hinübergehe und mich bemerkbar mache. Sie muss das Knirschen meiner Stiefel im Schnee gehört haben, denn sie blickt zu mir auf, noch ehe ich bei ihr bin. Schneeflocken hängen in ihren Wimpern, ihre Wangen sind gerötet, und sie hat ein Lächeln auf dem Gesicht. Ihre Augen sind so voller Liebe, dass ich ernsthaft erwäge, mich umzusehen, ob sie jemand anderen meinen könnte.

»Hey, du«, sagt sie grinsend. Dann verlagert sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, und diese Andeutung von Nervosität macht mich nervös.

Warum sollte sie nervös sein?

»Selber hey.« Meine Füße bewegen sich von selbst auf sie zu, weil sie ihr nahe sein wollen – müssen. »Warum stehst du bei der Eiseskälte hier draußen?«

Sie hält einen Finger in die Höhe, damit ich warte. Dann blickt sie zu dem schneebedeckten Baum neben sich und huscht hinter den Stamm. Einen Augenblick später werde ich von Musik eingehüllt. Als Callie wieder hinter dem Baum vorkommt, lächelt sie, während uns Schneeflocken umwirbeln und sich beinahe im langsamen Rhythmus des Songs bewegen.

»Was hast du da hinten?«, frage ich. »Ein iPod-Dock oder so?«

Kopfschüttelnd kommt sie auf mich zugestapft und verkleinert den Abstand zwischen uns. Ich bin ihr dafür so dankbar, und am liebsten würde ich sie ganz eng an mich drücken.

»Nein, das ist Lukes Stereoanlage. Seth hat sie von ihm geliehen, damit ich sie hierfür benutzen kann.«

Zum ersten Mal heute lächle ich richtig. »Mann, das ist so schräg, was er alles für alten Kram aufbewahrt, oder?«

»So wie seine ganzen Mixed-Tapes?«, fragt sie mit einem leisen Lachen, bleibt vor mir stehen und neigt den Kopf nach hinten, um mich anzusehen.

Ich gehe ganz dicht zu ihr und lege meine Hände an ihre Hüften. Plötzlich wird mir mitten in der Kälte warm. »Ich denke ernsthaft, dass er in die 80er gehört.«

»Ja.« Sie schlingt die Arme um meinen Hals und zieht mich näher zu sich heran. »In welche Ära würden wir gehören, könnten wir in einer anderen leben?«

Ich denke nach. »Wie wäre es mit den 60ern?«

Sie strahlt mich an. »Oh ja, wir als Hippies, die vom Weltfrieden träumen.«

»Ich finde, das klingt sehr nach dir«, sage ich und streiche ihr eine nasse Haarsträhne hinters Ohr. »Bei mir bin ich da nicht so sicher.«

Sie runzelt die Stirn, als ich mit dem Finger über ihre Wange streiche. Ihre weiche Haut habe ich fest in meinem Gedächtnis, habe ich sie doch schon tausendmal berührt, und trotzdem ist es jedes Mal so faszinierend wie beim ersten Mal.

»Du wirkst in letzter Zeit ein bisschen niedergeschlagen. Macht dir irgendwas Sorgen?«

»Nein, ich denke bloß über einige Sachen nach.« Ich male eine Linie von ihrem Kinn bis zu ihrer Schläfe.

»Über Familienkram?«

»Ja … Ich kann nicht anders … so kurz vor den Feiertagen. Das macht mich eben nachdenklich.«

»Und du denkst über deine Familie nach?«

Ich schlucke den blöden Kloß herunter, der sich in meinem Hals bildet. »Ja, besser gesagt über meine nicht vorhandene Familie.« Eigentlich will ich das nicht sagen, weil es ein echter Stimmungskiller ist und sie heute Abend eindeutig etwas Spaßiges geplant hat, aber es rutscht mir einfach heraus.

»Du hast mich«, sagt sie leise und legt eine Hand an meine stoppelige Wange. »Das wirst du immer.«

Meine Brust zieht sich zusammen. »Ich weiß«, sage ich. Wäre es doch nur so einfach. Könnte ich schlicht glauben, dass sie immer hier bei mir sein wird, dass sich nichts ändert und das genug sein könnte. Aber ich bin schon einmal verlassen worden und daher ein wenig skeptisch.

Doch mit ihr hier zu sein, vertreibt meine Probleme vorübergehend, und ich beuge mich vor, um sie zu küssen, weil ich ihr so nahe sein will, wie ich kann. Mitten im Kuss weicht sie allerdings zurück, und ich japse nach Luft.

»Was ist?«, frage ich.

Sie atmet zittrig aus und bibbert vor Kälte. »Ich muss dich etwas fragen … etwas sehr, sehr Wichtiges.«

Ich sehe sie prüfend an und bemerke wieder, dass sie nervös ist. »Was ist los?«