Eine Blume ohne Wurzeln - Nada Chekh - E-Book

Eine Blume ohne Wurzeln E-Book

Nada Chekh

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Beschreibung

Die Geschichte einer Rebellion zwischen allen Stühlen Coming of Age: zwischen Wiener Gemeindebau und rigiden Rollenbildern Nada Chekh wuchs im Wiener Gemeindebau auf. Zwischen den moralischen Vorstellungen und Werten ihrer Eltern, "ihrer Community" und unter den kritischen Blicken jener, zu denen sie gehören will, zu denen sie eigentlich auch gehört. Aber Zugehörigkeit ist so viel mehr als nur ein Wort. Und schwer zu finden, wenn man in mehreren Welten aufwächst. Und dann sind da noch die eigenen Wünsche und die Bedürfnisse, das Leben selbst zu gestalten. Denn schon früh beginnt in ihr der Wunsch nach Selbstbestimmung und die Wut darauf, nach den unnachgiebigen Normen anderer leben zu müssen. Nada Chekh erzählt von der Kluft, die sich zwischen Menschen öffnet, wenn Ansprüche nicht übereinstimmen. Von der Distanz zu jenen, die sie verstehen sollten, es aber nicht können. Vom Schmerz, der entsteht und nach einem Ventil sucht. Und sie erzählt von Beobachtung und Überwachung, davon, wie es sich anfühlt, stets unverschuldet eine Rechtfertigung für das eigene Handeln parat haben zu müssen. Eine Geschichte, die weit über das Persönliche hinausgeht Diese Geschichte beginnt in Österreich, aber eigentlich schon viel früher: nämlich im Konflikt und mit dem Trauma jener, die in 1. Generation Kinder in einem Land großziehen, das strukturell für andere errichtet wurde. Der Vater aus Palästina, die Mutter aus Ägypten. Beide haben die inhärente Ablehnung, die von der weißen Mehrheitsgesellschaft ausgehen kann, erfahren. Die Autorin fragt nach: Was prallt da eigentlich aufeinander? Ideen, Überzeugungen, Kulturen – oder auch Ängste und Erfahrungen? Wie viel hat das alles mit dem Patriarchat zu tun? Mit geschlechterspezifischer Doppelmoral und stereotypen Vorurteilen, die auf allen Seiten immer noch vorherrschen? Wie können Liebe und Fürsorge füreinander – für sich selbst – mit Regeln und Grenzen koexistieren? Wenn der Wurm Zähne bekommt Mit viel Einfühlungsvermögen und Humor reflektiert sie über das Erwachsenwerden in verschiedenen Kulturen. In eindringlichen Anekdoten lässt uns Nada ganz nah an sich heran, nimmt uns mit in das Daheim ihrer Kindheit und Jugend. Nimmt uns an der Hand und zeigt uns, wie Selbstermächtigung aussehen kann. Sie schreibt über das Aufstehen im Religionsunterricht, über die Komplikationen, die für eine junge Frau wie sie bei Dates oder Student*innen-Parties lauern. Sie erzählt von der selbstverständlichen Bewertung von Mädchen und Frauen, vom Risiko, eigene Entscheidungen zu treffen, und vom Risiko, es nicht zu tun. Es geht aber auch um das Zusammenfinden, immer und immer wieder, das aufeinander Zugehen, Stück für Stück. Denn manchmal ist es gerade der Abstand, der zu einer neuen Nähe – und zu sich selbst – führen kann.

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Seitenzahl: 242

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Nada Chekh

Eine Blume ohne Wurzeln

Wie ich Selbstbestimmung zwischen Doppelleben und Doppelmoral fand.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I

Eine Gemeindebau-Kindheit zwischen allen Welten

Ein Wurm namens Dudu

Das Schweigen der Lämmer

Die Causa Kellerfenster

Vom Teufel besessen

Eskapismus im Kinderzimmer

Teil II

Überwachung, Religion und Rebellion

Am Wendepunkt zwischen Schmerz und Heilung

Ein Mädchen mit Vergangenheit

Das Community-Panopticon: Sehen und gesehen werden

Der Geschmack der Freiheit

Das schiefe Aleph

Teil III

Auf den Ruinen eines Befreiungskampfes zu bauen

Anders als die eigenen, anders unter den anderen

Ein Sonntag der Vergebung

Eine Blume ohne Wurzeln

Danksagung

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die Nacherzählung einer Geschichte, die ich selbst nicht glauben würde, hätte ich sie nicht durchlebt. Womöglich ist „Geschichte“ auch nicht der passende Begriff für diese langwierige Reise zu meinem heutigen Leben, das sich so stark von jenem unterscheidet, das mir vorgelebt wurde.

Als Tochter arabisch-muslimischer Migranten, die in den 90ern und frühen 2000ern in einem Gemeindebau, wie die in Wien typischen sozialen Wohnbauten genannt werden, in Wien-Favoriten aufwuchs und dort zur Schule ging, habe ich nie Frauen aus der Community gesehen, die so waren, wie ich es heute bin. Weltoffenheit und Toleranz, zum Beispiel gegenüber der LGBTQ+-Community, weibliche Unabhängigkeit oder Freizügigkeit sind keine erstrebenswerten Dinge in der Community, in der ich, gemeinsam mit meinen Geschwistern, in erster Generation unserer Familie in Österreich aufwuchs. Dieses Aufwachsen, diese Reise erstreckt sich über viele Etappen und birgt auch einige dunkle Abschnitte, mit denen ich mich bis zu dem Moment, in dem ich sie für dieses Buch aufarbeitete, nicht beschäftigen wollte – oder konnte.

Dieses Buch handelt von der Erfahrung, in einer Welt zu leben, in der es ein „Wir“ und ein „die Anderen“ gibt, und reicht bis zu der Erkenntnis, dass selbst, wenn ich mich zu den „Anderen“ zugehörig fühlen würde, diese mich niemals als eine von „ihnen“ sehen würden. Es geht um einen Kampf um Privatsphäre, um das Recht, über meinen Körper und mein Leben verfügen zu können, den ich zuerst mit mir selbst führen musste, bevor ich mich außenstehenden Gegnerinnen und Gegnern stellen konnte. Eine große Stütze beim Schreiben über diese Vergangenheit waren meine persönlichen Tagebücher, die ich umso minutiöser führte, je einsamer ich mich auf diesem Weg fühlte. Bei all der Dramatik erlebte ich aber auch freudige Momente beim Schreiben dieses Buches, in denen sich unerwartete Verbindungen erschlossen oder auch schöne und skurrile Erinnerungen miteinflossen.

Für manch eine Leserin oder einen Leser mag es eine gewöhnliche, wenn nicht sogar banale Sache sein, sich gegen die eigene Familie aufzulehnen, und, wenn nötig, auch einen Bruch mit ihr in Kauf zu nehmen. Doch aus einer Community kommend, in der Familie über allem steht, waren meine Entscheidungen, die ich damals treffen musste, kein leichtes Unterfangen. Ich weiß, dass es gerade sehr viele junge Frauen gibt, die auf eine Geschichte wie meine warten – egal, ob sie ebenso aus muslimischen Familien stammen oder auch anders kulturell geprägt sind, oder ob sie einfach wissen, wie sich religiös-konservative und patriarchale Strukturen am eigenen Leib nun einmal anfühlen.

Nicht nur im Zuge meiner Tätigkeit als Journalistin bei dem transkulturellen Magazin biber, sondern auch als Speakerin an Wiener Schulen begegne ich immer wieder Mädchen und jungen Frauen, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie ich, von denen manche sagen: „Du hattest einfach Glück mit deiner Familie, dass du dein Leben selbst in die Hand nehmen konntest.“ In Wahrheit ist dies jedoch das Ergebnis eines phasenweise endlos scheinenden, oft auch schmerzhaften Prozesses – wie man hier nachlesen wird –, den ich ohne jene wunderbaren und ermutigenden Menschen, die ich kennenlernen durfte, nicht hätte durchstehen können.

Auch wenn ich selbst ohne Vorbilder aufgewachsen bin, mit denen ich mich identifizieren hätte können, bin ich mir ihrer Wichtigkeit bewusst. Es kommt vor, dass ich gefragt werde: „Was bedeutet es, den Mut aufzubringen, sich von konservativen und religiösen Vorstellungen zu lösen?“ Die ehrliche Antwort sieht so aus: Ich bin keine „mutige“ Frau. Im Gegenteil, in meinem bisherigen Leben war ich in vielerlei Hinsicht von tiefer Angst getrieben. Die Angst davor, ein Leben führen zu müssen, das nicht meinen eigenen Überzeugungen entspricht, wurde jedoch an einem bestimmten Punkt noch größer als die Angst, von meiner Familie verstoßen zu werden, weil sich unsere Weltansichten nicht vereinbaren ließen. Rückblickend kann ich sagen, dass ich viele Dinge auch aus Notwendigkeit tun musste, um meine Integrität und Eigenständigkeit überhaupt installieren zu können. Es ist denkbar schwer, seine persönlichen Grenzen festzusetzen und Privatsphäre einzufordern, wenn man nie vermittelt bekommen hat, dass man – gerade als Frau – eine schützenswerte Privatsphäre hat.

Bevor wir uns nun gemeinsam in meine Geschichte stürzen, möchte ich noch einige wichtige Anmerkungen vorweg anführen: Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Namen in diesem Buch zum Schutz der Identität der realen Personen geändert. Zudem möchte ich noch erwähnen, dass ich genderinklusive Sprache in diesem Buch aus Gründen der Einfachheit und zum Erhalt des Leseflusses nach eigenem Ermessen verwendet habe. Mit dem generischen Maskulinum sind selbstverständlich alle Menschen, unabhängig von ihrer persönlichen Identifikation oder Nicht-Identifikation mit dem männlichen Geschlecht mitgemeint, sofern sie sich mitgemeint fühlen.

Dieses Buch soll keine Anleitung zum Ausbruch aus konservativen Familien darstellen, sondern gibt meine individuelle Erfahrung in dieser Sache wieder. Sollte Dich das Lesen von Szenen über Krieg, Gewalt, Depression, Selbstverletzung und ähnlich „triggernden“ Themen verstören, so möchte ich hier davor warnen.

Nachdem wir das alles nun geklärt haben und Du immer noch weiterlesen möchtest:

Wollen wir auf eine Reise gehen?

Teil I

Eine Gemeindebau-Kindheit zwischen allen Welten

Ein Wurm namens Dudu

München, Frühling 1971. Ein junger Palästinenser von 20 Jahren kam per Flugzeug aus Tel Aviv in Bayern an. Zum ersten Mal betrat der nicht besonders hochgewachsene, aber dafür robust gebaute Mann mit den dunklen Augen und dem freundlichen Lächeln europäischen Boden. Die Ausreise aus dem Gaza-Streifen zu organisieren war kein leichtes Unterfangen gewesen, doch endlich war er hier. Mit im Gepäck hatte er ein israelisches Reisedokument, einen Laissez-passer für Staatenlose sowie ein einjähriges Visum für Deutschland. Der Ausreisegrund: Er sollte einen Deutschkurs am Goethe-Institut in Grafing bei München besuchen.

Zu dieser Zeit befand sich eine Niederlassung desselben im Ort Grafing bei München. Vier Monate lang, immer montags bis freitags, gab es acht Stunden täglich Deutschunterricht in der Alten Villa – einem Gebäude mit einer langen Geschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts diente es noch als Hühnerhof, später haben sich mitunter die Deutsche Arbeitsfront, eine Realschule und eine Hauptschule dort einquartiert, bevor sich das Goethe-Institut im Jahr 1956 in die Räumlichkeiten einmietete.

Für den jungen Staatenlosen war 1956 ein mit Schrecken verbundenes Jahr: Er erinnert sich bis heute gut daran, sich mit einem Nachbarsjungen in einem Hühnerstall versteckt zu haben, während israelische Soldaten von Haus zu Haus gingen und Menschen, vorwiegend Männer, an die Hauswände stellten und erschossen. Auch die Nachbarin im Haus nebenan, die er „Stiefmutter“ nannte, fiel den Razzien zum Opfer. Bis heute findet man wenige Quellen darüber, was genau in Khan Yunis am 3. November 1956, während der Suezkrise, geschah. Mutmaßlich wurden während einer Operation der israelischen Streitkräfte zur Wiedereröffnung der von Ägypten blockierten Straße von Tiran fast dreihundert Palästinenser in den Städten Rafah und Khan Yunis sowie in einem nahegelegenen Flüchtlingslager erschossen. Der Klang der Schüsse des sogenannten „Massakers von Khan Yunis“, der zweitgrößten Stadt im Gaza-Streifen, hallte durch die Straßen und durch die Ohren des jungen Palästinensers. Sein Name ist Yasser – wie der des ehemaligen palästinensischen Präsidenten Arafat – und er war zur Zeit des Massakers erst sechs Jahre alt. Dieser Mann ist mein Vater.

Angekommen in Grafing wurde Bapa, wie ich ihn nenne, bei einer Gastfamilie versorgt. Es war ein freundliches, älteres Ehepaar, das aber nicht sonderlich viel mit ihm verkehrte. Bapa, das ist eine eigens für ihn erfundene Wortkreation aus dem arabischen „Baba“ und dem deutschen „Papa“, welche meine vier Geschwister und ich bis heute verwenden. Selbst war mein Vater ebenfalls eines von fünf Kindern, das jüngste, um genau zu sein. Sein Vater Abdallah, also mein Großvater, war Schienenbautechniker bei den Palästinensischen Eisenbahnen im britischen Mandatsgebiet, die mit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948, zwei Jahre vor der Geburt meines Vaters, aufhörten zu existieren. Bapas Mutter Sakina war Schneiderin. Meine Großeltern väterlicherseits lernte ich nie kennen, denn sie waren bereits lange verstorben, bevor ich zur Welt kam.

Als mein Vater seine Ausreise beim deutschen Konsulat in Tel Aviv beantragte, musste er, neben der Erbringung eines positiven Aufnahmebescheids am Goethe-Institut in Grafing, eine Kaution über 850 Mark hinterlegen und zusätzlich einen Bürgen mitbringen. Mein Onkel Mustafa bürgte für seinen kleinen Bruder, schließlich war er als Beamter bei der Handelskammer keine schlechte Wahl dafür. Die ganze Familie kratzte für Yasser Geld zusammen, damit er die Chance auf ein Universitätsstudium, ja überhaupt auf eine Zukunft, bekommen konnte. Für ihn als Palästinenser war der Genuss einer Ausbildung bis zum Abschluss der Matura möglich – in Israel studieren durfte er aber nicht.

Im Goethe-Institut begegnete Bapa Menschen aus allen Teilen der Welt – aus Italien, den Philippinen, Japan, den USA … Besonders half ihm ein Mann aus Ägypten, der als Journalist arbeitete und ihm mit seinen wenigen Vorkenntnissen des Deutschen weiterhelfen konnte.

Die ersten zwei Wochen in Deutschland waren besonders schwer für Yasser El-Azar. Alles war unverständlich, er vermisste seine große Familie und die ihm bekannten Straßen von Khan Yunis, auch wenn er dort viel Leid erlebt hatte beziehungsweise miterleben musste. Nicht nur die Erinnerungen an sein Ausharren im Hühnerstall, die gellenden Schreie auf den Straßen, besonders die der Frauen, und die Schüsse von 1956, sondern auch die Geschehnisse während des Sechstagekrieges zählen zu den Dingen, über die nur wenig mit uns Kindern gesprochen wurde. Er schrieb als 17-Jähriger während dieser sechs Tage im Juni 1967 gerade eine Abschlussprüfung in der Schule, als die ersten Bomben fielen. Schlagartig verließ er das Schulgebäude und eilte zurück in das Familienhaus, wo seine Geschwister und Eltern sogleich entschieden, bei einem Nachbarn im Kellergeschoss Unterschlupf zu suchen. Dort angekommen stellten sie aber fest, dass der Raum bereits voll war, woraufhin sie weiterziehen mussten. Hoch oben auf dem Dach eines naheliegenden Gebäudes dürften Soldaten gesehen haben, aus welcher Richtung die Familie flüchtete. Wenig später hüllte eine Napalmbombe das Haus, in dessen Keller sie keinen Platz mehr gefunden hatten, in wallende Flammen. Wer nicht dem Brand zum Opfer fiel, trug schwere Verbrennungen davon. In einem anderen Haus in der Nachbarschaft befanden sich drei Männer, die, soweit sich mein Vater erinnern konnte, alle in einer Schule arbeiteten. Schüsse fielen, zwei der Männer starben, der dritte verlor einen Arm. Wie mein Vater und seine ganze Familie um ein Haar als Zahlen in einer Statistik der im Sechstagekrieg getöteten Menschen in die Geschichte eingegangen wären, erfuhr ich erst wenige Stunden, bevor ich dieses Kapitel niederschrieb.

Dreieinhalb Stunden lang erzählte mir mein Vater erstmals von seinen Kriegserfahrungen, und wie genau er es nach Österreich geschafft hat.

Im Zuge der Arbeit an diesem Buch habe ich viele neue Dinge erfahren, die mich verstehen lassen, woher die Engelsgeduld und die unglaubliche Resilienz seitens meines Bapa stammen. Die Abweisung, die er und seine Familie im Keller der Nachbarn erfahren mussten, und die Tatsache, dass genau diese schlussendlich das Leben der Familie El-Azar rettete, hat ihn vermutlich eine Sache gelehrt: Es ist besser, in eine Sackgasse zu geraten, als keinen Ausweg zu suchen. Mein Vater sollte noch sehr oft in seinem Leben vor verschlossenen Türen stehen, aber für ihn ist eine verschlossene Tür nicht das Ende – denn es gibt immer irgendwo noch ein Fenster, durch das man klettern kann. Geht nicht gibt’s nicht. Was kaputt geht, kann repariert werden – oder auch gänzlich seinen Zweck wechseln. Was beim ersten Versuch nicht klappt, haut vielleicht beim zehnten Mal hin. Was man als Kind nicht lernen konnte, kann man auch als Großvater noch probieren. Mein Vater kennt keine dummen Fragen – dumme Antworten gibt er dafür aber gerne, wenn sie sein Gegenüber zum Lachen bringen. Denn Lachen ist tausendmal besser als Weinen, und Schweigen ist wirklich Gold, wenn Reden nur Schmerzen bereitet.

Dass in der Alten Villa des Goethe-Institutes lange Zeit Küken, Hühner und Hähne herumgackerten, schien eine fast verheißungsvolle, feine Verbindung zur Kindheit meines Vaters zu sein. Heute erzählt er, dass er etwaigen Rassismus im Deutschland der 70er Jahre aufgrund der Sprachbarriere nicht einmal hätte merken können. Die Bewohner Grafings waren aufgrund des gut frequentierten Goethe-Instituts fremde Gesichter gewohnt, freundlich sollen sie jedenfalls alle gewesen sein, erinnert sich mein Vater.

Seine Sitznachbarin im Deutschkurs war eine Frau aus Chile, an deren Vornamen er sich heute zwar nicht mehr erinnern kann, dafür aber an ihren Nachnamen, denn der lautete „Palestina“. So stellten sich die internationalen Schüler und Schülerinnen wie folgt vor: „Guten Tag. Ich heiße Yasser El-Azar und komme aus Palästina.“ Und die Chilenin auf dem Platz neben meinem Vater stellte sich mit den Worten „Ich heiße … Palestina und komme aus Santiago“ vor, was immer wieder für gute Laune und Lachen im Klassenzimmer sorgte.

Innerhalb von vier Monaten lernte mein Vater schon einigermaßen gutes Deutsch, er knüpfte Kontakte zu Einheimischen und saugte alles um sich herum förmlich auf – war der Kulturschock noch so groß. So nahmen ihn die Nachbarn seiner Gastfamilie, denen er besonders ans Herz gewachsen war, an manchen Sonntagen mit in die Kirche. Dort, in einem kleinen Raum, erlebte mein Vater erstmals, wie Menschen von einem Verstorbenen Abschied nahmen. Aufgebahrt in einem offenen Sarg, sah Bapa zum ersten Mal in seinem ganzen Leben einen geschminkten und schön hergerichteten Leichnam, mit dem schweren Duft von Lilien, der in der Luft hing. Für ihn war das ein befremdlicher Anblick, denn in seiner Heimat hatten nur nächste Verwandte Zugang zum Körper eines Verstorbenen, um die Totenwaschung durchzuführen. Laut islamischem Bestattungsritus wird der gesalbte Körper eines Mannes von männlichen und der einer Frau von weiblichen Angehörigen gewaschen und mit einem Totengebet der Seele für die Reise ins Jenseits die letzte Ehre erwiesen. Beerdigt wird man ohne Sarg, in ein weißes Leinentuch gehüllt, das Reinheit verkörpert.

Nachdem der Deutschkurs nur vier Monate dauerte, aber das Visum auf ein ganzes Jahr ausgestellt war, nutzte Yasser die übrige Zeit, um sich für einen Studienplatz an einer medizinischen Universität zu bewerben. Mittlerweile hatte er sich gut in Deutschland eingelebt, jedoch hielten sich einige Gewohnheiten aus dem Gaza-Streifen hartnäckig. Spazierte er etwa nachts durch eine menschenleere Straße und sah ein Auto herannahen, sprang er sofort in einen Busch oder versteckte sich hinter einem geparkten Wagen oder einem Baum. Das war seine „israelische Erziehung“, wie Bapa dieses Verhalten heute nennt, denn in der Heimat seiner Kindheit wusste man nie, ob man auf der Straße angehalten oder schlimmstenfalls einfach erschossen wurde.

Als jemand, der in Kriegszuständen aufwuchs, hatte er ein großes Misstrauen der Polizei und dem Militär oder generell Menschen in Uniformen gegenüber. Einige seiner Bekannten in Gaza hatten sich Untergrundmilizen angeschlossen, und wollten, dass er es ihnen gleichtat. Doch Yasser nahm immer Abstand zu politischen Verbindungen, und somit auch von diesen Männern, die oftmals nicht lange in diesen Parallelstrukturen währten und schließlich zu Tode kamen. Niemals einmischen in die Politik – das wollte er partout nicht auf sich nehmen. Er wählte den Weg des Friedens und beabsichtigte, sich mit einem Studium etwas Neues aufzubauen. Der ultimative Plan war es, dem Gaza-Streifen für immer den Rücken zu kehren. Und dann kam er: Der Brief, der ihm einen Medizinstudienplatz in West-Berlin zusicherte.

Mit dieser unglaublichen Nachricht kehrte er im Frühling des Jahres 1972 nach Khan Yunis zurück, wo er gleich begann, wieder Dokumente zu sammeln, um eine erneute Ausreise zum Studienbeginn im Oktober desselben Jahres zu beantragen.

Die Olympischen Sommerspiele in München, 1972. Am Morgen des 5. September drangen acht Anhänger der palästinensischen Terrorgruppe Schwarzer September in das olympische Dorf ein und nahmen elf Sportler des israelischen Teams als Geiseln. Als diese Nachricht um die Welt ging, dachte sich Bapa in Khan Yunis nicht viel dabei, denn Attentate, Erpressungen und Geiselnahmen waren für ihn damals eine fast schon alltägliche Sache. Doch nach der kläglich gescheiterten Befreiungsaktion und dem tragischen Ausgang der Geiselnahme mit 17 Toten – alle elf israelischen Sportler sowie ein Polizist und fünf palästinensische Terroristen kamen ums Leben – veränderte sich das Leben meines Vaters doch mit einem Schlag. Palästinensern wurde nun die Einreise nach Deutschland verwehrt. Doch er hatte immer noch die Zusage von der Freien Universität in West-Berlin. Was tun?

Bapa ging also zum österreichischen Konsulat und bemühte sich, nach Österreich ausreisen zu können. Die Sprache beherrschte er zwar bereits ausreichend, jedoch brauchte er einen triftigen Grund für die Ausreise, also versuchte er es erneut mit einem Deutschkurs. Die Anmeldung für einen Kursplatz an der Universität Wien konnte er, im Gegensatz zu jener für das Goethe-Institut, nicht auf dem Postweg erledigen. „Nur persönliche Anmeldung“, hieß es in einem Schreiben des Spracheninstituts. Das war ein triftiger Ausreisegrund. Also wieder dasselbe Prozedere: Er hinterlegte eine Kaution und wies ein Hin- und Rückflugticket zwischen Wien und Tel Aviv vor.

Und so begann das Wiener Abenteuer meines Vaters. „Der Kreisky hat mich reingelassen“, mit diesem Satz quittiert er immer wieder diese Episode in seinem Leben. Und es dauerte lange, bis ich diesen Satz wirklich verstand. Letztlich war es niemals Bapas Plan, in Österreich zu bleiben. In Wien versuchte er erneut, beim deutschen Konsulat eine Einreise zu erbitten, jedoch vergeblich. Denn dort jagte man ihn davon, mit den Worten: „Palästinenser raus! Keine Palästinenser!“ Schließlich fand er sich mit dem Gedanken ab, einen neuen Plan für sich schmieden zu müssen. Der Platz an der Freien Universität in West-Berlin wurde selbstverständlich mit seiner verwehrten Einreise nach Deutschland hinfällig.

Da er bereits Deutsch gelernt hatte und eine Reise in die Schweiz niemals zustande gekommen wäre – denn dafür hätte mein Vater Papiere aus der Schweizer Botschaft in Tel Aviv gebraucht, die er als Palästinenser aus einem besetzten Gebiet nicht betreten hätte können – bemühte er sich also um eine Ausbildung in Wien. Bei der Bewerbung für eine Ausbildung als medizinischer Fachassistent sagte man ihm schlicht: „Wir nehmen keine Ausländer.“ Diese Abweisung war für ihn einerseits frustrierend, andererseits hatte er keine andere Wahl, als es weiter zu versuchen. Er hatte es bereits so weit gebracht und er wusste ganz genau, dass er keine weitere Chance bekommen würde, einem bedrückenden Leben im Gaza-Streifen zu entkommen. Menschen wie er durften, wie schon erwähnt, in Tel Aviv kein Studium beginnen. Und die Reisedokumente aus Israel waren – wenn man sie überhaupt bekam – zeitweise einfache Papiere, buchstäblich gewöhnliche A4-Zettel mit einem kopierten Foto und Daten darauf, die nirgendwo sonst gültig waren.

Im Jahr 1973 schließlich bekam er in Österreich ein Visum und eine Arbeitserlaubnis für ein Jahr. Er wurde an der Schule für Radiologietechnologie aufgenommen. Stundenlang saß er mit aufgeschlagenen Wörterbüchern über dem Lehrmaterial und übersetzte sich mühselig Seite für Seite. Es war schließlich eine Zeit lange bevor es das Internet gab. Letztlich war das technische Vokabular aber zu kompliziert, als dass er es sich rechtzeitig aneignen hätte können. Und so musste er aufgrund der Sprachbarriere seine Ausbildung abbrechen.

Auf der Krankenpflege-Schule schaffte Bapa das Diplom in vier Jahren. Anfangs musste er eine Gebühr von 700 Schilling bezahlen, die ihm später aufgrund seiner guten Noten erlassen wurde.

Heutzutage pflegt man zu sagen, dass Wien nicht Österreich sei. Doch damals, in den 70ern, war man in Wien mitten in Österreich, erzählt mein Vater gerne. Bapa merkte schnell, dass viele Menschen stark ausländerfeindlich waren und sich nicht an Gesichter wie das seine gewöhnen wollten. Ja, sie konnten es nicht akzeptieren, dass sie sich eine Stadt mit einem Mann wie ihm teilen mussten.

Er begann im Krankenhaus zu arbeiten und verbrachte jede freie Minute damit, sich Österreich zu erschließen. Ab und zu fuhr er per Anhalter in Städte wie Linz oder Innsbruck, sah sich das Land und die Berge an, badete in den schönen Kärntner Seen oder verbrachte die heißesten Sommertage in einer Kabane auf der Donauinsel, die einer seiner Arbeitskollegen Jahr für Jahr anmietete. Er lernte von einem Ungarn, wie man authentisches Gulasch kocht, und bereitete es zu bestimmten Anlässen auch viele Jahre später für uns Kinder zu. Sein Geheimrezept: „Hälfte Zwiebeln, Hälfte Fleisch“.

In Österreich war er weit von den schrecklichen Erlebnissen in seiner Heimat entfernt. Er hatte natürlich Heimweh, sehnte sich nach seiner Familie und den vertrauten Straßen, doch Wien wurde allmählich und unverhofft seine Stadt.

Im Jahre 1981, etwa acht Jahre nach seiner ersten Einreise, bekam mein Vater endlich seine österreichische Staatsbürgerschaft. Als Staatenloser musste er vier Jahre darauf warten und einen Beruf ausüben, den er als Diplomkrankenpfleger auch hatte.

Bei seinem Wehrdienst im Bundesheer verbrachte er etwa sechs Monate statt neun, weil er sich mit gewissen Leutnants gut stellte und ab und zu auch Schabernack trieb.

Nicht viel Zeit verging nach dem Erhalt der Staatsbürgerschaft, bis er meine Mutter in Kairo heiratete und sie nach Wien holte.

Mit großem Spaß erzählt er heute, wie meine damals 20-jährige Mutter zum ersten Mal Schnee sah oder sich vor den Rolltreppen in den U-Bahn-Abgängen fürchtete. Für mich ist das immer wieder schwer zu glauben, schließlich habe ich meine Mutter niemals schreckhaft erlebt. Es sei denn, unsere Katze brachte als Souvenir von ihren nächtlichen Spaziergängen eine halblebendige Maus mit. Vielmehr ist meine Mutter für mich immer schon eine Löwin gewesen – so aufbrausend, wie eine arabische Mutter nur sein kann. Ein Mensch mit einem außergewöhnlich starken Charakter, dem gleichzeitig auch eine große, warme, mütterlich-fürsorgliche Energie innewohnt.

Genau wie meine vier anderen Geschwister kam ich in Wien als Österreicherin zur Welt, mit Deutsch als Muttersprache. Arabisch sprachen wir mehrheitlich nur mit meiner Mutter, aber selten untereinander.

Was mein Vater alles auf sich nehmen musste, damit wir unser Leben unter solchen Vorzeichen beginnen konnten, stand lange nicht zur Diskussion. Meine Eltern bezeichnen ihre Herkunftsländer bis heute zwar als „Heimat“, aber das hat mehr einen sentimentalen Wert als einen materiellen. Für Bapa war der österreichische Pass das allererste Gefühl einer manifestierten Heimat, denn als ehemals Staatenloser hatte er keine Staatsbürgerschaft, die er zugunsten der österreichischen aufgeben musste.

Meine Mutter war immer schon Hausfrau, denn bei fünf Kindern mit teilweise großen Altersabständen gab es immer jemanden, für den zuhause zu sorgen war. Dadurch kam ich erst mit fünf Jahren in den Kindergarten.

Bis heute kenne ich die genauen Umstände, unter denen sich meine Eltern in Kairo kennengelernt haben, nicht, denn mein Vater lebte bis zu ihrer Hochzeit bereits seit zehn Jahren in Österreich. Welches Leben meine Mutter vor ihrem Umzug in das bis dahin völlig fremde Österreich hatte – sie war zu diesem Zeitpunkt ja erst 20 Jahre alt – ist ebenso ein großes Rätsel für mich.

Meine Eltern gehören eben nicht zu der Sorte Mensch, die sonderlich viel von sich oder ihrer Geschichte preisgeben, auch dann nicht, wenn man explizit danach fragt. Erst im Zuge der Arbeit an diesem Buch erfuhr ich beispielsweise von dem Weg meines Vaters nach Österreich – es war keine Geschichte, die er sonst einfach am Esstisch erzählt hätte. Jenes Telefonat mit Bapa dauerte mehr als drei Stunden. So lange hatte ich noch nie allein mit ihm gesprochen. Ich spürte in diesem Moment erstmals so etwas wie Redebedarf, was ich bei ihm, als Mann der Tat und weniger als Mann der Worte, nie vorher erlebt hatte. Und zumindest einen Teil seiner Geschichte hier nacherzählen zu können, sehe ich als Akt der Dankbarkeit für seine Mühen. In gewisser Weise ist dieses Kapitel auch eine Art Denkmal für ihn, das ihn und auch mich überdauern wird.

Mein Vater war bereits Mitte 40, als ich als viertes von seinen fünf Kindern auf die Welt kam. Als ich jünger war, spielte dieser riesige Altersunterschied niemals eine Rolle. Ich empfand ihn erst später als von der Norm abweichend, als nämlich viele meiner Mitschüler im Gymnasium annahmen, er sei mein Opa und nicht mein Vater.

Meine Mutter ist zwölf Jahre jünger als er, hat aber definitiv mehr Gewicht in der Familienkonstellation – man kann sie getrost als Mittelpunkt der Familie bezeichnen. Sie hatte immer das letzte Wort in Sachen Haushaltsführung und Kindererziehung. Auch wenn ich mittlerweile alt genug bin, um meine Mutter verstehen zu können – so richtig kennengelernt habe ich sie nie. Sie ist ein viel zu undurchdringlicher Mensch für meine Ergründungsversuche und vermutlich wird sie das für immer bleiben.

Über meine Mutter zu schreiben, ist aus diesem Grund ein viel komplexeres Unterfangen, als dasselbe über meinen Vater zu tun. Ich könnte ihr nie gerecht werden.

Zusammen sind meine Eltern eine starke Einheit, ein gut eingespieltes Team, in dem die Rollen ganz klar verteilt sind. Als Kind sah ich die beiden äußerst selten Zärtlichkeiten wie Küsse oder Umarmungen austauschen, denn alles Intime war schambehaftet und wurde von uns Kindern ferngehalten. Wann immer eine Kuss- oder Liebesszene in einem Film kam, wurde uns gesagt, dass wir uns vom Fernseher wegdrehen sollten, oder es wurden uns mit den Händen die Augen verdeckt. Manchmal kniff ich meine Augen zusammen, sodass es nur den Anschein machte, dass sie fest geschlossen seien, während ich versuchte, den Filmkuss doch noch zwischen meinen Wimpern zu erspähen. Womöglich zählt dies zu meinen ersten Rebellionsversuchen.

Mein Spitzname in der Familie ist bis heute „Dudu“ oder „Dud“, was einerseits eine Silbenalternierung auf meinen Vornamen Nada ist, und andererseits auf Arabisch so viel wie „Wurm“ oder „Made“ bedeutet.

Ich war von uns fünf das zierlichste Kind und bewegte mich gerne – wie ein Würmchen eben. Passenderweise hatte ich ein Lieblingsstofftier, einen Plüschwurm, den ich auf den Namen „Mister Dudu“ taufte. Wenn ich mich nicht täusche, haben ihn meine Eltern in der Metro-Filiale in Vösendorf für mich gekauft. Dort erledigten sie nämlich ihre wöchentlichen Einkäufe für unsere große Familie. Da mein Vater mit seiner Ausbildung einen gewerblichen Schein hatte, war es uns möglich, dort einzukaufen. Lange Zeit hielt ich den Metro-Großhandelsmarkt für einen ganz gewöhnlichen, riesigen Supermarkt. Dass mit uns dort Restaurantbesitzer und andere Unternehmer einkauften, entging mir damals vollständig.

Der ganze Markt war in meinen Augen ein riesiger Spielplatz. In der Spielzeugabteilung verliebte ich mich sofort in Mister Dudu und verließ das Regal mit den Stoff tieren nicht, bis er in unserem Einkaufswagen landete. Der Wurm war etwa so lang, wie ich groß war, und sah im Prinzip aus wie ein bunter Zugluftstopper für Fenster oder Türen mit einem lustigen Gesicht und vielen kleinen Beinchen.

An meinen ersten Tag im Kindergarten kann ich mich genau erinnern. Meine Mutter ging auf die „Kindergartentante“ zu und meinte: „Geben Sie ihr einfach einen Stift und einen Stapel Papier, dann gibt sie Ruhe.“

In der Tat war ich ein „hyperaktives“ Kind, wie meine Mutter es nannte, das schwer zu bändigen war. Es verging kein Tag, an dem ich keine Räder in der Wohnung schlug oder nicht wie ein Ninja von Sofa zu Sofa sprang, weil der Boden „aus Lava“ war.

Auch heute noch erzählen meine Eltern mit Schrecken von all den Dingen, die ich als Kind so trieb. Wie etwa, dass man die Wohnungstür immer von innen mit einem Schlüssel absperren musste, damit ich nicht einfach zur Tür hinausging und die nächste Sandkiste zum Spielen suchte.

Tatsächlich mussten mich meine Brüder das eine oder andere Mal in den Höfen unseres Gemeindebaus einsammeln gehen, weil die Welt in unserem Wohnzimmer eben nicht groß genug war. Manchmal versteckte ich mich auch in der Wohnung, bis auffiel, dass ich schon länger nicht mehr gesehen worden war. Wann immer ich hörte, wie meine Mutter ganz aufgeregt meine anderen Geschwister fragte, wo denn schon wieder Dudu sei, wusste ich, dass ich lange genug in meinem Versteck ausgeharrt hatte. Dann fand man mich unter Betten, in Koffern, auf dem Dachboden, unter Decken, hinter Schränken oder – zugegeben, eine meiner größten Leistungen – im Kleiderschrank meines Vaters, wo ich mit einer Küchenschere stundenlang seine Kleidung mit Löchern verschönerte.

Ich war so klein und gelenkig, dass ich in scheinbar jede noch so kleine Ritze und Ecke der Wohnung passte.

Meine Geschwister, vor allem meine ältere Schwester, wurden früh mit der Aufgabe betraut, sich um mich und meine jüngere Schwester Shirin zu kümmern. Schließlich war meine ältere Schwester, die erste von uns fünf, bereits zwölf Jahre alt, als ich erst geboren wurde. Meine beiden Brüder sind jeweils elf und acht Jahre älter als ich. Unsere Eltern hatten somit gewissermaßen mit zwei Generationen von Kindern zu tun: den „drei älteren“, die in den 80er Jahren auf die Welt kamen, und den „zwei jüngeren“ – meiner Schwester Shirin und mir. Dieser Altersunterschied machte sich zwischen uns Kindern natürlich ständig bemerkbar: So mussten meine kleine Schwester und ich beispielsweise Dinge wie 9/11 erst Jahre später nachgoogeln, während sich unsere Brüder in ihrer Schulzeit im Zuge der Terrorattacke mit Dingen wie Araberwitzen herumschlagen mussten.

Meine Mutter war mehr als heilfroh, als ich endlich in den Kindergarten kam und zumindest tagsüber ein wenig Ruhe in die Wohnung einkehrte.

Nur wenn ich einen Stift hielt und zeichnete, konnte ich stillsitzen, dann aber stundenlang.