Eine neue Weltordnung – von der unipolaren zur multipolaren Welt - Lutz Vogt - E-Book

Eine neue Weltordnung – von der unipolaren zur multipolaren Welt E-Book

Lutz Vogt

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Beschreibung

Dem Buch „Das Sterben der alten Weltordnung“ vom Mai 2023 folgt jetzt im April 2024 das Buch „Eine neue Weltordnung“ mit dem Anspruch, in der Analyse der gegenwärtigen Kräftekonstellationen und absehbaren künftigen Entwicklungen ein Bild der Hauptlinien internationaler Staatenbeziehungen zu skizzieren. In dem vorliegenden Text werden wesentliche Aspekte sichtbar, die der jetzigen Situation immanent sind und deren Beachtung für unsere politische, wirtschaftliche und kulturelle Zukunft von Bedeutung ist. Der bereits laufende Prozess des Überganges von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt erfordert ein Denken und Handeln aller Protagonisten, das einen möglichst gewaltfreien Übergang von einer sterbenden zu einer aufsteigenden globalen Ordnung ermöglicht.

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Impressum

Lutz Vogt

Eine neue Weltordnung – von der unipolaren zur multipolaren Welt

2. Auflage

ISBN 978-3-68912-005-4 (E-Book)

© 2024 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Copyright für Grafiken und Bilder:

www.wikipedia.com (25), www.rt.com (1), www.xinhua.cn (1), www.bpb.de (1), www.state.gov (2), l.vogt (1), pixabay (2)

PROLOG

Dem Buch „Das Sterben der alten Weltordnung“ vom Mai 2023 folgt jetzt im April 2024 das Buch „Eine neue Weltordnung“ (2. Auflage) mit dem Anspruch, in der Analyse der gegenwärtigen Kräftekonstellationen und absehbarer künftiger Entwicklungen ein Bild der Hauptlinien internationaler Staatenbeziehungen zu skizzieren.

In dem vorliegenden Text werden wesentliche Aspekte sichtbar, die der jetzigen Situation immanent sind und deren Beachtung für unsere politische, wirtschaftliche und kulturelle Zukunft von Bedeutung sind.

Der bereits laufende Prozess des Überganges von einer unipolaren zu einer multipolaren Welt erfordert ein Denken und Handeln aller Protagonisten, das einen möglichst gewaltfreien Übergang von einer sterbenden zu einer aufsteigenden globalen Ordnung ermöglicht.

Die 1. Weltordnung

Schon im Paradies gab es eine Ordnung (Quelle: 1. Buch Moses, „Genesis“). Kurz und knapp formuliert von Gott für zwei Menschen – Adam und Eva. Auf begrenztem Territorium – dem Garten Eden. Und das war sie dann ja auch – „die Welt“ der Menschen. Im Grunde gab es nur eine Regel. Die beiden Menschen durften niemals von den Früchten der beiden Bäume im Mittelpunkt des Gartens essen. Da standen sie – der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Wie bekannt, hielten sich die beiden Bewohner der Gartenwelt nicht an die Regel. Ihnen gefiel die Ordnung ihrer Welt ganz offensichtlich nicht. So sind sie halt, die Menschen. Das hatte Folgen, die man heutzutage als Sanktionen bezeichnen würde. In diesem Fall endeten für die ersten Menschen die bisher paradiesischen Zustände.

Gott bestrafte die beiden Menschen mit der Vertreibung aus dem, aus seinem, Paradies. Die 1. Weltordnung war sozusagen sehr unipolar. Gott vertrieb Adam und Eva nicht aus dem Paradies, weil sie nach dem Verzehr einer Frucht vom Baum der Erkenntnis nun Gutes von Bösem und nackt von bedeckt unterscheiden konnten. Damit waren sie „Ihm“ ja nur nähergekommen. Er strafte sie wegen Ungehorsams, wegen Regelverstoßes. Wegen Nichtachtung der geltenden Weltordnung. Die Gefahr, dass sie erneut ungehorsam sein, gesetzte Regeln missachten würden und – Gott bewahre – von den Früchten des zweiten Baumes, den Früchten des ewigen Lebens, essen würden, war einfach zu groß. Menschen unsterblich wie Götter – das ging gar nicht. Das hätte die göttliche Ordnung völlig ihres ursprünglichen Sinns, sozusagen ihrer Geschäftsordnung, beraubt.

Adam und Eva hatten sich in gewisser Weise als Menschen erstmals eine eigene, menschliche Ordnung, eigene Regeln gegeben. Noch nicht ausformuliert, nicht aufgeschrieben, aber doch durch ihre Taten wirksam geworden. Viel später wird man dies eine Regel, ein Gesetz, ein Prinzip nennen, das durch konkludentes Verhalten (schlüssiges Verhalten) zur Norm wurde.

Dennoch, die beiden hatten die ursprünglich göttliche Ordnung grundlegend verletzt und der Erschaffer und Hüter dieser Ordnung konnte das unmöglich tatenlos hinnehmen. Ordnungsverstöße sind zu bestrafen. Zur Absicherung der Strafe stellte „Er“ seine Wächter, die Cherubim, samt Flammenschwert an den Eingang zum Paradies, damit sie bereits dort den Weg zum Baum des Lebens bewachten. Das Thema Paradies hatte sich für die Menschen danach ein für alle Mal erledigt.

Nur nebenbei sei erwähnt, dass es aus eben diesem biblischen Bezug heraus seit Jahrzehnten und bis heute Einheiten der US-Streitkräfte gibt, die genau diese göttlichen Flammenschwerter zum Schutz der auserwählten USA am Ärmel tragen. Das „amerikanische Paradies“, seine Ordnung und dessen Herren müssen gesichert werden. Wer auf einer riesigen Insel lebt, kann allerdings hoffen, seinen „Way of Life“ noch einige Zeit bewahren zu können. Statt der göttlichen Cherubim haben die USA ihren Dollar, ihre Marines und notfalls ihre Atomwaffen. Auch in dieser Hinsicht hat sich seit Adam und Eva wenig geändert. Interessen von Menschen und deren Sichtweisen auf die Welt sind eben sehr verschieden.

Die 1. Weltordnung hatte nicht funktioniert; es musste eine neue her. Und viele weitere sollten aufeinander folgen. Je mehr Menschen auf der Erde lebten, umso öfter ertönten die Rufe nach einer neuen Ordnung. Anfangs waren es lokale oder regionale Ordnungen, denn das war damals für die Menschen ihre „Welt“. Schließlich hatten sich die Aktivitäten der Menschen auf die ganze Welt ausgedehnt und die Stärksten und Mächtigsten unter ihnen schufen sich ihre Weltordnung. Besser gesagt, ihre Weltordnungen. Lange hielten sie alle nicht. Stets war irgendwer unzufrieden mit der alten Ordnung, stets hielten sich irgendwelche „Anderen“ nicht an die jeweils vorherrschenden Regeln. Zum Unglück für die Menschen war der Weg von einer alten zu einer neuen Weltordnung, wie groß diese Welt für ihre Bewohner auch immer gewesen sein mag, fast immer von Kriegen gezeichnet. Alles war von Anfang an möglich. Gleich zu Beginn der 2. Weltordnung erschlug Kain seinen Bruder Abel. In biblischer Sicht der 1. Krieg, denn da gab es außer den Ur-Eltern nur die zwei Brüder.

Geschichte aus materialistischer Sicht betrachtet, ohne jede Religionsbezüge, sieht „nicht wirklich“ besser aus. Neben den Regelwerken für eine Ordnung in der Welt Griechenlands, Roms, Persiens, Chinas, der Goldenen Horde, der Maja oder vieler sonstiger Reiche standen eben von Anfang an die verschiedenen, oft divergierenden Interessen der verschiedenen, in diesen „Ordnungen“ lebenden Menschengruppen. Neben dem geltenden oder vorherrschenden „Recht“ und der „Ordnung“ gab es von Anfang an auch die ewige Frage „Qui bono?“.

Es soll Frieden herrschen

Noch nach jedem Krieg wurde der „ewige“ oder der „fortdauernde“ Friede verkündet.

Noch nach fast jedem Krieg wurde eine „neue“, hauptsächlich von den Siegern geprägte Weltordnung verkündet. Mitunter in Form von einem oder mehreren Friedensverträgen, mitunter als Charta, Schlussakte oder Deklaration bezeichnet.

Noch nach (fast) jedem Krieg erklärten vor allem die Unterlegenen und Verlierer, dass ihnen die Hand abfallen möge, sollten sie jemals wieder zu den Waffen greifen.

Es gab bis in die jüngste Geschichte allerdings auch Kriege, in deren Ergebnis die unterlegenen Gegner nicht nur besiegt, sondern vollständig vernichtet wurden. Sie verloren ihre Staatlichkeit und oft genug wurden ganze Völker ausgelöscht. Dann wurden sie Teil der Ordnung der Sieger und verschwanden als Ordnungselement. Solches geschah nicht nur in der Antike und auf allen Kontinenten, auf denen Menschen wohnten. Bis in die Neuzeit gingen und gehen immer noch Staaten unter. Zu Beginn des 20 Jahrhunderts zerfielen Reiche von Kaisern, Zaren und Königen in Europa und Asien. Später zerfielen riesige Kolonialreiche. Man denke auch an die Ergebnisse des 1. Kalten Krieges und den Untergang der UdSSR, der Volksrepublik Jugoslawien, der DDR, der CSSR und anderer Staaten.

Stets waren diese globalen oder regionalen Veränderungen in den Staatenbeziehungen von neuen sogenannten „Weltordnungen“ oder regionalen „Friedensordnungen“ und deren mehr oder vor allem weniger gleichberechtigten Regelwerken begleitet. War der Sieg der einen Seite überwältigend, dann diktierte sie die Inhalte der neuen Ordnung. Sieger haben es meist nicht so mit Gleichberechtigung. Bildete sich ein großräumiges Gleichgewicht verschiedener Kräfte (wie im Ergebnis des 30-jährigen Krieges oder des 2. Weltkrieges), führte dies in aller Regel zu vereinbarten Prinzipien, Grundsätzen oder Regeln für die jeweilige neue Ordnung. Dies zeigte sich in den Verträgen zum Frieden von Westfalen und später in der Charta der Organisation der Vereinten Nationen und der KSZE.

Jede dieser Weltordnungen war Menschenwerk. Auch dann, wenn sich ihre Schöpfer auf göttliche Ursprünge, Weisungen oder sonstigen himmlischen Rat beriefen. Alle diese Ordnungen erwiesen sich stets als von endlicher Dauer. Die Entwicklungen der Kräftebalance zwischen den Staaten und etliche menschliche Faktoren bestimmten maßgeblich die Lebensdauer noch jeder zwischenstaatlichen Ordnung. Auf welche Art und Weise der Übergang von einer Ordnung zur nächsten erfolgte, hing ebenfalls von einer Vielzahl an Faktoren ab.

Der Übergang konnte friedlich und kooperativ erfolgen oder im Ergebnis mehr oder weniger umfangreicher Gewaltanwendung festgeschrieben werden. Denn wenn der Widerspruch zwischen den dominierenden Interessen in den zwischenstaatlichen Beziehungen zu groß und die Bereitschaft zu kooperativen Lösungen zu klein wurde, kamen noch stets gewaltsame Mittel in all ihren Formen und Methoden zum Einsatz. Wie es Carl v. Clausewitz so treffend formulierte, haben die Staaten dabei stets alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und all ihre geistigen Kräfte mobilisiert, um im Kriege ihre Gewaltmittel so erfolgreich wie möglich einzusetzen.

Nach einem Sieg gaben sich vor allem in der Neuzeit die Sieger meist „großzügig“ und betreiben bis heute erheblichen Aufwand, um ihre Diktate an der Oberfläche als vereinbarte Friedensregelungen erscheinen zu lassen. Propaganda und Manipulation und die sie ausführenden Strukturen sind heute zu einem mächtigen und allgegenwärtigen Instrument der Politik geworden. Am Ende glauben viele Sieger nur zu gern ihrer eigenen Propaganda.

Und stets hofften jene Menschen, die in und nach Kriegen das größte Leid erlitten, dass nun endlich wirklich Frieden sei und dass er von Dauer sein möge.

Es ist durchaus nicht naiv, dass die meisten Menschen nach der Hölle eines überlebten Krieges auf langen Frieden hofften und dieser ihnen wie das Paradies erscheinen musste. Die Hoffnung auf Frieden, Wohlstand und eine gute Zukunft für sich und ihre Kinder ist den Menschen angeboren. Es ist gewissermaßen ihr unveräußerliches und angeborenes Recht. Das Recht auf Leben war, ist und bleibt das grundlegende aller Menschenrechte. Genau an diesem Recht soll sich jede Ordnung, die sich die Menschen geben, ausrichten. Sowohl im Inneren der menschlichen Gesellschaften als auch in deren äußeren Beziehungen.

Das Recht auf Leben ist nicht nur das formale Recht jedes Menschen. Es ist zugleich sein höchstes Interesse. Menschen möchten, dass ihr Leben so gut wie möglich und so sicher wie möglich ist. Das sind grundlegende Interessen jedes Menschen. Tote haben keine Interessen. Deshalb haben alle Menschen auch das angeborene Recht, ihr Leben unter allen Umständen zu verteidigen. Wer sein „eigenes“ Recht dabei über das Lebensrecht anderer stellt, hat seine Rechte verwirkt. Weil er eben gegen den anderen Grundsatz, die andere Seite der Medaille „Recht auf Leben“ verstößt – den Grundsatz der angeborenen Gleichheit. Beide Seiten dieser Medaille haben in viele grundlegende Rechtsakte von Staaten (Verfassungen und ähnliche Dokumente) und in Vereinbarungen zwischen ihnen Eingang gefunden.

Es sind eben diese individuellen und gemeinsamen Interessen, die Menschen, Menschengruppen, Stämme, Staaten oder Staatengruppen schon immer antreiben, ihr Zusammenleben in einer für alle vorteilhaften Weise zu gestalten und zu regeln. So jedenfalls sollte es sein und so wird es auch meist von den die Macht ausübenden Menschen erklärt.

So verschieden Menschen sind, so verschieden sind auch ihre Interessen. Oft genug kollidieren diese Interessen in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Deshalb geben sich menschliche Gesellschaften in ihrem Inneren Regeln und Gesetze für ihr Zusammenleben in ihrer unmittelbaren Gemeinschaft – in Staaten oder Stämmen. Das ist der einzig praktikable Weg, um ein möglichst friedliches Zusammenleben überhaupt zu ermöglichen. Verstöße gegen das bestehende Recht und Gesetz werden innerstaatlich durch die dafür vorgesehenen Organe verfolgt und bestraft.

Auf zwischenstaatlicher Ebene ist es nicht anders – bis auf das Fehlen der innerstaatlichen „Rechtsorgane“. Stets haben die Staaten versucht, ihre gegenseitigen Beziehungen so gut wie möglich so zu regeln, dass sie untereinander kooperieren konnten. Zwischen verfeindeten, sich womöglich mit allen Mitteln bekämpfenden Staaten, kann es keine ersprießlichen, profitablen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen geben. Sicherheit ist die Grundlage jeder Zusammenarbeit, und Zusammenarbeit schafft zugleich auch Elemente der materiellen Grundlagen für Sicherheit. Genau dieser wechselseitige Zusammenhang schlug sich im Namen der KSZE nieder. Es ging den Teilnehmern dieser Konferenz Anfang der 1970er Jahre um beides – Sicherheit und Zusammenarbeit. In dieser Reihenfolge und mit dieser gegenseitigen Bedingtheit.

Die KSZE ist bis heute ein herausragendes Beispiel für die Vereinbarung gegenseitig akzeptierter, gleichberechtigter Staatenbeziehungen. Solange die diesen Vereinbarungen (in Form der Schlussakte von Helsinki) zu Grunde liegende Kräftebalance hielt, liefen die Staatenbeziehungen in einigermaßen friedlichen Bahnen. Als die Kräftebalance zerfiel und schließlich brach, folgten das erwartbare Chaos, Kriege und eine Zeit ungleicher Verhältnisse im Verkehr der Staaten untereinander.

Stets stellte sich in der Geschichte eine Frage als zentral heraus – sind die Menschen, sind die Staaten, in denen sie organisiert sind, tatsächlich und dauerhaft bereit, ihre Interessen so umzusetzen, dass sie die Sicherheit der anderen als gleichwertig zur eigenen Sicherheit respektieren? Bestrebungen, die eigene Sicherheit auf Kosten der Sicherheit der anderen Akteure „verbessern“ zu wollen, sind bisher – zumindest auf längere Sicht – immer gescheitert. Am Ende führten sie immer zu noch mehr Ungleichgewichten und Bedrohungen aus der Sicht der Staaten, die ihre Sicherheit untergraben sahen. Konflikte oder sogar Kriege waren und sind bis heute die Folge, wenn Staaten sich über ihre Nachbarn erheben wollen. Es geht gerade in der Politik nicht nur um Worte, sondern vor allem um Taten. Respekt vor der souveränen Gleichheit anderer Staaten müssen Regierungen beständig durch ihr tatsächliches Agieren beweisen. Nur so lässt sich das nötige Vertrauen zwischen Staaten aufbauen und erhalten.

Die geschichtliche Bilanz zur zentralen Frage der Achtung der souveränen Gleichheit aller Staaten fällt durchgängig negativ aus. Immer in der menschlichen Geschichte traten Kräfte auf den Plan, die ihre Interessen über die Interessen anderer stellten und oft auch bereit waren, ihre eigenen Interessen anderen Staaten mit gewaltsamen Mitteln aufzuzwingen. Zeiten des Friedens wurden noch immer durch Kriege beendet. Bis eine Seite unterworfen war oder – wie im 30-jährigen Krieg – beide Kriegsparteien sozusagen „stehend KO“ waren.

Diese Jahrtausende langen Erfahrungen lassen die Menschen stets aufs Beste hoffen und sich aufs Schlimmste vorbereiten. Deshalb gilt für sie: „Si vis pacem para bellum“ (Willst du Frieden, bereite (den) Krieg vor).

All diese negativen Erfahrungen ändern dennoch nichts an der Notwendigkeit und der Hoffnung, immer wieder neue Anläufe zu friedlichen Verhältnissen zwischen den Staaten zu unternehmen. Dies ist tatsächlich ein Punkt der Politik, zu dem es keine Alternative gibt. Es sei denn, man würde gern und freiwillig als Sklave leben wollen. Im Innern der Staaten käme ja auch kaum jemand auf die Idee, ohne Gesetzeswerke zu leben, nur, weil es immer wieder Menschen gibt, die Verbrechen begehen und gegen geltende Gesetze verstoßen.

Nachfolgende Betrachtungen konzentrieren sich auf die Beziehungen zwischen den Staaten, in denen sich die verschiedenen Gesellschaften und Zivilisationen organisiert haben. Die auswärtigen Beziehungen der Staaten wurden zwar schon immer bestimmt von ihren inneren Verhältnissen, sind aber dennoch eine durchaus eigenständige Kategorie des menschlichen Zusammenlebens.

Wenn es um das im Buch abschließend zu beleuchtende Recht der Völker auf Selbstbestimmung geht, wird es dann erneut kompliziert. Denn dann geht es um das zwischen den Staaten vereinbarte Recht der Völker, jede bestehende Ordnung von Grund auf zu zerstören. Dann nämlich, wenn ihre obersten Interessen ihnen keine andere Wahl lassen. Der Mensch ist eben ein ambivalentes Wesen. Er möchte Ordnung in seinem und dem Leben anderer Menschen haben und bleibt – aus Erfahrung – zutiefst zweifelnd, ob diese Ordnung denn auch wirklich so funktionieren wird.

„Interessen“ und „Weltordnung“ sind auf längere Sicht ein Widerspruch. Das war so, seit es menschliche Gesellschaften gibt. Wenn die Ordnung der Welt nicht kooperativ und beständig an die sich wandelnden Interessen ihrer Akteure angepasst wird, dann erfolgt das auf unkooperative Art und Weise.

Es sind die Interessen, die den Vorrang haben – nicht die Ordnung. Ordnungen sind dazu da, um Interessen abzusichern.

Das Ende der Geschichte? Ihre Fortsetzung!

Mit dem Untergang der sozusagen vorletzten Welt-Ordnung, jener, die auf Vereinbarungen basierte, die in Casablanca, Teheran, Jalta, Potsdam und Helsinki geschlossen wurden, etablierten die Sieger im 1. Kalten Krieg Anfang der 1990er Jahre eine neue, ihre Weltordnung. Gerne wird sie auch als die globale, mitunter nur als die europäische Friedensordnung bezeichnet. Aus transatlantischer Sicht wird diese Ordnung auch gern „pax Americana“ genannt. Das wenigstens ist ein „ehrlicher“ Name. Er bezeichnet klar, wessen Frieden seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert herrschen soll. Der Anspruch der USA als „auserwähltes Land“ und als einzig funktionierende Ordnungsmacht ließ seinerzeit gar keine andere Ordnung zu. Nach über drei Jahrzehnten erscheint sie ihren Schöpfern mittlerweile als die einzig „natürliche“ Ordnung der Dinge.

Die Sieger im 1. Kalten Krieg hielten seitdem ihre neue Ordnung für die letzte. Deshalb stand am Anfang der Ausformulierung all ihrer Ordnungsvorschriften ein „Essay“, in dem der beamtete Politikplaner des US-State Departments, Francis Fukujama, von einem „Ende der Geschichte“ fabulierte. Das war eben nicht mal so eine Idee eines Unbedeutenden, wie manche Politikplaner und Politikausführende in anderen Teilen der Welt damals dachten. In den politischen und staatlichen Politikzentren Moskaus und Berlins wurde im Sommer 1989 nicht erkannt, welches praktische politische Gewicht Fukujamas Buch hatte und für welch mächtige Kräfte in den USA er sprach. Seine These war und ist bis heute die Grundlage der Politik der gesamten westlichen Welt. Das, was die Sieger im 1. Kalten Krieg für die beste, weil siegreiche, Gesellschaftskonzeption hielten, sollte künftig auch die alle beglückende globale Ordnung sein. Die dann einsetzende und weltweit propagierte „Globalisierung“ war deshalb nie nur eine wirtschaftliche Globalisierung. Dieses Konzept war von Anfang an als gesellschaftliches Konzept der nunmehr herrschenden und auch für alle anderen Länder geltenden „westlichen Werte“ konzipiert. Niemand sollte behaupten, die USA hätten nicht klar und deutlich gesagt, was sie wollen und durchsetzen werden. Nur hörten und hören auch hier all die anderen zu gerne weg, wenn ihnen nicht gefällt, was sie hören.

Für die Beziehungen mit dem größten Verlierer dieses 1. Kalten Krieges, Russland, wurde in Paris ein Papier „ausgehandelt“, auf das sich seitdem viele Politiker beziehen, die diese (alte) Ordnung verteidigen. Hinzu kamen viele Detailvereinbarungen, die Russland, wie einst Gulliver, mit tausenden kleiner Stricke 30 Jahre lang am Boden hielten.

Nach ihrem Sieg gegen die UdSSR etablierten die Sieger des 1. Kalten Krieges innerhalb Russlands massenhaft ihre eigenen „Spezialisten“ an der Seite ihrer russischen Satrapen. Die Folgen der Erschaffung dieses umfassenden Pilzgeflechts im Inneren der russischen Gesellschaft sind bis heute spür- und sichtbar. In dreißig Jahren sind viele dieser Pilzsporen aufgegangen, haben sich überall etabliert und Ihresgleichen, wo immer möglich, weiter verteilt.

China war damals, zu Beginn der 1990er Jahre, noch ein Land, das der siegreiche Westen gar nicht ernst nahm. Es stand erst am Anfang eines rasanten Aufstiegs zu einer der in jeder Hinsicht führenden Welt-Mächte. Die chinesische Zivilisation, oft dargestellt unter dem Symbol des aufsteigenden Drachens, begann ihre neuerliche Blüte zu der Zeit, als ihre alten und seither unveränderten Gegner sich in ihrem Anspruch auf Einzigartigkeit am „Ende der Geschichte“ wähnten.

Die USA, der Westen, hatten 1990/1991 gesiegt und die Hauptmacht der 70 Jahre lang konkurrierenden Gesellschaft zerschmettert. Deshalb war für die Sieger ihre Ordnung die einzig vorstellbare für den Rest der Welt. Und weil ihr Sieg gegen einen oft übermächtig erschienenen Gegner so groß und strahlend war, sollte nachfolgend bereits jede Zuckung eines sich nicht dem Westen unterwerfenden Staates mit militärischer Gewalt bestraft werden. Die Erde wurde als Folge dieser westlichen, von den USA geprägten, Weltsicht in den folgenden mehr als drei Jahrzehnten mit einer schnellen Folge immer neuer Kriege überzogen. So wie die Rechtsorgane im Inneren der Staaten funktionieren, so agieren die USA seit den 1990er Jahren quasi als globale Staatsgewalt (law-enforcer).

Die Liste der Kriege in den vergangenen drei Jahrzehnten ist deshalb sehr lang. Ähnlich lang ist auch die Liste der „den anderen“ aufgezwungenen, ungleichen Verträge und der zu ihrer Umsetzung geschaffenen internationalen Strukturen. Diese Strukturen gibt es in fast jedem Lebensbereich: in Politik, Wirtschaft, Finanzen, Handel, Gesundheit, Bildung usw. Sie sind ein wesentlicher und sehr beständiger Teil des Fundaments, auf dem die von den USA dominierte Weltordnung errichtet ist. Sie sind der „rechtliche“ Rahmen für die Ausplünderung der nicht-westlichen Welt, für dessen Rückstufung als Rohstoff- und Arbeitskraft-Lieferant und als Absatzmarkt.

Das Erwachen der Widerspenstigen

Dennoch – es gab trotz aller Anstrengungen der USA eben kein „Ende der Geschichte“. Diese strategische Fehleinschätzung insbesondere in der angloamerikanischen Welt (gerne nachgeplappert von deren Vasallen) legte den Grundstein für das sich heute vollziehende Ende dieser „alten“ Weltordnung und das Erstarken derer, die eine neue, andere Ordnung etablieren wollen. Am Anfang der Siegerordnung nach dem 1. Kalten Krieg stand eine grundlegend falsche, ahistorische und jede gesellschaftliche Dialektik ignorierende Grundannahme. Die menschliche Geschichte ist nicht eindimensional, sondern sehr komplex. Sie verläuft auch nicht linear nach den Vorstellungen von Siegern, sondern eher im Zick-Zack und durchaus sprunghaft. Der Westen baute seine neue globale Ordnung faktisch ohne Fundament auf. Im geradezu besoffenen Siegestaumel geschieht sowas immer wieder. Die Geschichte ist voller derartiger Beispiele. Jeder Sieg beinhaltet immer auch die Versuchung der Maßlosigkeit. Nur wenige konnten dieser Versuchung in der Geschichte widerstehen. Die USA und ihre Koalitionäre konnten es jedenfalls nicht.

Quasi mit der Etablierung der damals neuen Weltordnung zu Beginn der 1990er Jahre begann auch der Widerstand all der „anderen“ dagegen. Schon immer gab es wachsenden und organisierten Widerstand gegen Eroberer und jene, die von anderen Mächten in abhängigen Ländern als Handlanger installiert wurden. Der Erfolg jedes Widerstandes hängt von der Gesamtheit der Potentiale ab, die die Widerständigen dafür aufwenden wollen und können. Der Ausgang jedes Konfliktes wird maßgeblich dadurch bestimmt, welche Potentiale der bekämpften, noch dominierenden Macht zur Verfügung stehen und wieviel davon sie bereit und in der Lage ist, auf Dauer zum Erhalt ihres Sieges einzusetzen. Unterschätzt die dominierende Macht ihre Widersacher jedoch, wird sie (selbst wenn sie es anders könnte) immer zu spät reagieren und zu wenig Potential einsetzen. Genau so verhielten sich die USA und der gesamte Westen seit Beginn der 1990er Jahre. Sie schlugen sofort gegen klar unterlegene Gegner wie Jugoslawien, Afghanistan, Irak oder anderswo zu. Gleichzeitig war ihr Einsatz gegen Russland und China zu jedem Zeitpunkt meist reaktiv und zu wenig. Das Ergebnis ist bekannt.

Gegengewichte zu den USA/dem kollektiven Westen wuchsen vor allem in jenen Ländern heran, die starke eigene Potentiale für wirksamen Widerstand gegen die US-geprägte Ordnung hatten und in denen sich Eliten an die Spitze setzten, die den Willen zum Widerstand und zu einer Neugestaltung der internationalen Beziehungen aufbrachten. Vorhandene Potentiale „an sich“ sind nichts Reales; sie müssen genutzt und in tatsächliche Mittel zur Interessendurchsetzung verwandelt werden. China betrieb diesen Potentialaufbau zielstrebig seit den 1990er Jahren. In Russland setzten diese Prozesse in dem Maße ein, wie die Staaten des Westens das Land sozusagen in die Enge trieben und es zwangen, um sein Überleben als souveräne Nation zu kämpfen. Im Ergebnis erhoben sich gerade in China und Russland die Machtzentren, die künftig das Zentrum der USA entscheidend in seinem globalen Agieren zügeln und eindämmen werden. Weil sie über die dazu erforderlichen Voraussetzungen und den Willen verfügen.

Ob die von vielen Staaten seit Jahren angestrebte neue Ordnung aus Sicht der meisten Länder langfristig wirklich „besser“ sein wird, als die vorhergehende, wird sich erst noch zeigen. „Neu“ und „Besser“ sind ja eher PR-Begriffe. Sie sagen noch nichts über Inhalte aus und ihre Bewertung liegt deshalb sozusagen „im Auge des Betrachters“. Vor allem die stärksten Mächte, die eine neue Ordnung der Welt zu ihrem Ziel erklären, müssen erst noch nachweisen, wessen Interessen ihre Politik tatsächlich langfristig verfolgt und ob die Verheißungen der neuen, gleichberechtigten Ordnung auch tatsächlich für alle gelten.

Wesentlich genauer als das Wort „neu“ ist deshalb der andere Begriff für das angestrebte Ziel: eine „multipolare Weltordnung“. Da sind Ziel und Hauptinhalt klar genannt.

Auf jeden Fall – und das ist der gemeinsame Nenner derer, die neue Ordnungsverhältnisse wollen – soll die künftige Ordnung nicht mehr nur von einer Macht – den USA – so dominiert werden, wie bisher. Dieser Wunsch ist bisher die große Klammer für all die sonst so verschiedenen Interessen der Protagonisten einer neuen Weltordnung.

Die neue Weltordnung soll, darin sind sich die Staaten, die an ihr arbeiten, einig, eine Alternative zur US-dominierten Welt sein. Die bisher oft unüberwindlich erscheinende Macht der USA, des „kollektiven Westens“, soll zumindest eingeschränkt und relativiert werden. Künftig soll es keine Staaten, Gesellschaften oder Zivilisationen 1. und 2. Klasse geben; schon gar kein Recht der westlichen Staaten, sich selbst exklusiv das Recht anzumaßen, diese Klasseneinteilung jederzeit willkürlich vorzunehmen.

In der künftigen Ordnung soll es zumindest neben dem alten Dominator – den USA – starke Gegengewichte geben. Alle Akteure wissen sehr gut, dass es auf der Welt nun mal immer Große, Mittlere und Kleine geben wird. Gerade die mittelgroßen und kleinen Staaten wollen aber Alternativen haben, zwischen denen sie ihre eigenen Interessen jeweils bestmöglich wahrnehmen können.

An diesem Punkt wird auch die Ernsthaftigkeit jener Staaten sichtbar, die sich ihren Platz als die neuen Weltpole erarbeiten. Den kleineren Staaten geht es nicht darum, aus dem Regen der USA unter die Traufen Chinas, Russlands oder Indiens zu geraten. Damit hätten sie nichts gewonnen. Solange die neuen Weltpole den Versuchungen zur Dominierung ihrer kleineren Anhänger widerstehen können, solange wird auch die angestrebte neue Weltordnung attraktiv sein, erstarken und eine gewisse innere Stabilität erlangen.

China mit seiner jahrtausendealten Zivilisation, seinen weit über eine Milliarde Menschen und seinem für die Alte Welt gigantischen Markt und Produktionspotential erarbeitete sich in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Position, an der niemand auf der Erde mehr vorbei konnte. Gerade der westliche Kapitalexport nach China, gefolgt und begleitet von einem ebenso gigantischen Know-How- und Technologieexport, trug wesentlich zum Aufstieg Chinas in die Reihe der global agierenden Mächte bei. Die seit Jahrhunderten praktizierte westliche Arroganz gegenüber China und seiner Zivilisation ließ westliche Politiker und Unternehmer gar nicht sehen, dass und wie sehr sie selbst am Erstarken ihres schon in naher Zukunft größten Rivalen mitarbeiteten. In historisch rasantem Tempo begann China, sein eigenes Bildungs- und Wissenschaftssystem zu errichten. Chinas Bevölkerung ist nicht nur groß, sondern auch sehr gebildet. Sie ist sich zudem ihrer kulturellen Vielfalt bewusst und pflegt diese auch. Chinas Volk legte bei der Entwicklung seines Landes ein von außen nie erwartetes Tempo und Zielstrebigkeit vor. Letztere basierte auf den Führungsqualitäten der chinesischen Führer. Den „bösen Kommunisten“ hatte im kollektiven Westen niemand zugetraut, so etwas zustande zu bringen. Unter anderem wurden die westlichen Eliten in diesem Glauben durch das letztliche Versagen der früheren politischen Führung der Sowjetunion bestärkt. Der KP Chinas trauten die westlichen Führer niemals zu, aus Fehlern anderer zu lernen und es besser zu machen als die KPdSU. Genau das ist der „menschliche Faktor“ in der Politik. Menschen irren, seit es sie gibt.

Irgendwann in den letzten 30 Jahren war dann der Kipppunkt erreicht und China begann, sich seines eigenen Potentials auch bewusst zu werden und eigene Wege zu gehen. Seine Interessen hatten sich grundlegend verändert und tun dies im Übrigen weiterhin. Bei allem Nutzen, den China aus dem westlichen Kapital- und Know-How-Zufluss zog, ist es seinen Weg in den vergangenen drei Jahrzehnten vor allem selbst gegangen. Das Erreichte ist originär „Made in China“. In dem Maße, wie strategische Weitsicht in der gesamten westlichen Welt degenerierte, wuchsen diese Eigenschaften in den chinesischen Eliten. Grundlage dafür waren die entsprechenden gegenläufigen Entwicklungen in den westlichen und chinesischen Bildungssystemen und den zivilisatorischen Grundkonzepten.

Vor Jahren schon wurde China deshalb zum strategischen Hauptgegner der USA. Das Land hat nach Kaufkraft mit den USA gleichgezogen. Es ist wirtschaftlich zu dem geworden, was in den USA immer noch herablassend als „near-peer“ bezeichnet wird. Und China hat eine mehr als viermal so große Bevölkerung wie die USA. Dank der fehlgeleiteten US-Politik gegen Russland „verfügt“ China nun auch über ein Hinterland mit den größten Rohstoffressourcen und dem größten Nuklearpotential der Welt.

In Indien vollziehen sich mittlerweile ähnliche Entwicklungen wie vorher in China. Langsamer zwar und auf indische Art und Weise. Die indische Zivilisation hat, ähnlich wie die chinesische, ihre eigenen Wege und Traditionen, die sie über die Jahrtausende hat leben lassen. Diese indischen Eigenheiten verstehen zu wollen, weigern sich die Vertreter der westlichen Welt in ähnlicher Weise, wie sie das bereits bei den chinesischen und russischen getan haben. Es gibt wenig bis keinen Anlass, dass diese Wiederholung gescheiterter Ansätze hinsichtlich Indien im und für den Westen zu anderen Ergebnissen führen wird, als das in China der Fall war.

Und Russland, der dritte riesige Akteur für eine neue Weltordnung, veränderte sich in den vergangenen 30 Jahren ebenfalls. Vom zerflederten und elend zugerichteten, aber immer noch riesigen Rest der UdSSR, zu einem wieder erstarkenden Koloss mit einer starken und den Menschen in Russland auch bewussten Geschichte. Auf sozusagen eigene, russische Art und Weise. Mit allen Widersprüchen und Unzulänglichkeiten, die Politiker und Analysten im globalen Westen letztlich auch nur zu völlig irrrationalen, ideologiegeladenen Schlüssen für Praxis und Theorien führten (und immer noch führen). Für den kollektiven Westen bleibt Russland das, was schon Churchill beschrieb: „Ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium.“ (W. Churchill, Radioansprache am 1. Oktober 1939). Auf dieser Grundlage kann keine westliche Russland-Politik erfolgreich sein.

Nach dem Sieg im 1. Kalten Krieg ließen die westlichen regierenden Eliten die eigenen Strukturen und Fähigkeiten zur Analyse Russlands völlig verrotten. Mit einem Quasi-Leichnam wollte sich niemand befassen. Auch deshalb erinnert sich bis heute kaum jemand im Westen, dass es für Russland schon einmal 15 Jahre des nationalen Niedergangs und der Wiederauferstehung gab. Die in der russischen Erinnerungskultur tief verwurzelte „Zeit der Wirren“ zwischen 1598 und 1613. Der Übergang vom Ende der Rurikiden-Dynastie zu den Romanows ist in vielen Erscheinungen durchaus vergleichbar mit dem Übergang von der UdSSR zum modernen Russland. Auch damals, vor vierhundert Jahren, musste sich Russland unter Führung von Minin und Posharski erst von fremder Besetzung (durch die polnischen Heere) befreien.

Vor der Errichtung eines souveränen, von Moskau aus regierten Russlands befanden sich die russischen Fürstentümer 250 (!) Jahre unter mongolischer Herrschaft. Erst nach 1480 erlangte Russland unter Iwan III., dem Großen, nach dem Sieg über die Goldene Horde schrittweise seine Souveränität zurück. Russland und die Kiewer Rus waren schon immer gezwungen, sich ihr Existenzrecht durch die Befreiung von fremder Herrschaft zu erkämpfen. All die seit dem 1. Jahrtausend ihre Hände nach Russland ausstreckenden Herrscher sind am Ende gescheitert. Niemals sollten diese Erfahrungen aus der Geschichte vergessen werden. Das Vergessen oder die bewusste Ignorierung der Geschichte Russlands und der gescheiterten Versuche, diese Zivilisation zu erobern, hat sich für jeden neuen Eroberer als tödlicher Fehler erwiesen.

Wie seit dem Jahr 2000 zu besichtigen ist, geht in Russland das, was schon früher ging, auch noch einmal. „… der Krieg, das heißt die feindliche Spannung und Wirkung feindseliger Kräfte (kann) nicht als beendet angesehen werden, solange der Wille des Feindes nicht auch bezwungen ist, … denn es kann sich, … der Kampf im Innern oder auch durch Beistand seiner Bundesgenossen von neuem entzünden. Freilich kann dies auch nach dem Frieden geschehen …“ (Carl v. Clausewitz „Vom Kriege“, 1. Buch) In Russland geschieht genau dies. Wieder einmal.

Die Grundvoraussetzung für dieses Wiederaufflammen des russischen Widerstandes gegen die ihm als Folge seiner Niederlage zu Beginn der 1990er Jahre aufgezwungenen Bedingungen und Verhältnisse war der Status Russlands als eine immer noch den USA ebenbürtige Atommacht. Der Sieg der USA, des kollektiven Westens im 1. Kalten Krieg konnte deshalb kein vollständiger sein (siehe auch: L. Vogt „Der Untergang der alten Weltordnung“, EDITION digital, ISBN 978-3-96521-942-7, S. 132ff). Atommächte können von außen nicht vollständig und endgültig besiegt werden.

Einen großen Beitrag zum Wiedererwachen Russlands leistete dann wiederum der Westen selbst. Als eben dieser kollektive Westen im Zeitraum 2021/2022 antrat, den vorgeblich sterbenden „russischen Bären“ endgültig zu erschlagen, traf er mit seinen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Knüppeln eben nicht mehr einen „dahinsiechenden Bären“, sondern einen, der allerspätestens nach 2014 dabei war, aus seinem langen Winterschlaf zu erwachen. Russland, das lange Zeit gezögert hatte, forderte schließlich Ende 2021 von den USA und der NATO die vertragliche Bestätigung seines Existenzrechtes ein. Dazu wurden zwei entsprechende Vertragsangebote versandt. Zu dieser Zeit gab es zumindest in den Vorstellungen einiger russischer Politiker theoretisch noch die Möglichkeit, ein friedliches Verhältnis des Westens zu Russland zu vereinbaren und damit auch das weitere Bestehen der alten Weltordnung in ihren Grundzügen.

Dass jeglicher Glaube in Russland, eine solche Möglichkeit zur friedlichen Einigung bestehe, völlig illusorisch und naiv war, zeigte die sofortige westliche Reaktion. Die USA und die NATO lehnten dieses Ansinnen in geradezu beleidigender Weise ab. Die Lage erinnerte durchaus an mittelalterliche Rituale, als noch Fehdehandschuhe geworfen oder Boten der anderen Seite getötet wurden. Die Folgen der westlichen „Idee“, Russland endgültig sein Existenzrecht zu nehmen, erlebt die ganze Welt seit dem Februar 2022. Diese Folgen beschränken sich dabei keineswegs auf den direkten bewaffneten Kampf in der Ukraine. Sie sind vielmehr auf der ganzen Welt zu spüren.

Ende 2021 bot Russland den USA die für lange Zeit letzte Chance, die „europäische Front“ zu beruhigen und sich ganz auf China und die westliche Pazifik-Küste konzentrieren zu können. Die USA schlugen diese Möglichkeit aus.

Durch die Politik der USA selbst halten sie Russland in Europa fester verankert als vor dem Krieg in der Ukraine. Zudem können sich die USA, anders als ursprünglich beabsichtigt, nicht weitgehend aus Europa zurückziehen und sich auf Asien/China konzentrieren. Diese selbstverschuldete strategische Überdehnung werden die USA mit dem voranschreitenden Verlust ihrer Vorrangstellung in der Welt teuer bezahlen. In der Zeit seit ihrem gewaltigen Sieg im 1. Kalten Krieg sind die USA von einem strategischen Fehler in den nächsten gestolpert.

Es war, Ironie der Geschichte, der sogenannte kollektive Westen selbst, der die oben erwähnten drei Hauptakteure in der Welt, China, Russland und Indien, mehr oder weniger gegen sich in Stellung gebracht hat. Bis heute ist jedoch nicht zu erkennen, dass in diesem Westen ein wirkliches Umdenken eingesetzt hätte. Die USA wollen – bisher jedenfalls – ihren eigenen Spruch nicht akzeptieren, der da lautet: if you can‘t beat them – join them.

Dennoch bleiben die USA als dominierende Macht des kollektiven Westens faktisch die einzige Hoffnung, dass dieser Westen eben nicht dem Untergang geweiht ist. Nur von der westlichen Führungsmacht können angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse die Impulse ausgehen, durch ein erneuertes Gesellschaftskonzept wenigstens den USA ihren Platz als einer der globalen Machtpole zu erhalten. Auch im Inneren der USA erstarken die „Widerspenstigen“. Das sind jene Kräfte, die schon seit einiger Zeit erkannt haben, dass die alten Zeiten und deren Politikkonzepte sich erschöpft haben. Sie mögen für einen kleinen Teil des US-Großkapitals äußerst profitabel gewesen sein. Mittlerweile stellen sie jedoch ohne Anpassung an die neuen Realitäten eine wachsende Gefahr für das Gesamtsystem USA sowohl nach innen als auch nach außen dar.

Dieses „Land der Freien und die Heimat der Tapferen“ hat sich in seiner Geschichte ebenfalls schon mehrmals „neu erfunden“. Markantes Beispiel hierfür war im 20. Jahrhundert die Gesellschaftskonzeption F. D. Roosevelts vom „New Deal“. Schon seit vielen Jahren arbeiten Politiker und Denkfabriken in den USA daran, die fehlerhaften Entwicklungen in ihrem Land zu stoppen und neue Politikrichtungen einzuschlagen. Die Wahl von Donald Trump war sozusagen Ausdruck dieser Bestrebungen nach tiefgreifenden Veränderungen und einem Neustart. Seine Präsidentschaft war ein erster, aber gescheiterter Anlauf, die USA wieder stark zu machen. Die Kräfte des Wandels in den USA hatten aber die inneren Widerstände in ihrem Land gründlich unterschätzt. Viele von ihnen haben allerdings, wenn man ihren Büchern glauben darf, erkannt, dass es einer Art Revolution in den politischen Machtverhältnissen bedarf, um die USA wieder zu einem auch innerlich starken Land zu machen. Ohne gleichzeitige Verschiebungen in den Machtverhältnissen zwischen den Großkonzernen, Banken und ihren Mediengiganten in den USA selbst wird es wohl kaum möglich sein, diesem Land jene einflussreiche Stellung bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung zu geben, die es anstrebt. Vorerst bleibt es völlig offen, ob und wann die USA als Nation beginnen, ihren neuen Platz unter anderen Nationen zu suchen und irgendwann auch zu vereinbaren.

Die vier großen geopolitischen Gravitationszentren, China, die USA, Russland und Indien, haben in den vergangenen drei Jahrzehnten in gewisser Weise bereits die Grundelemente der neuen Ordnung, der neuen Kräfteverhältnisse in die Welt getragen. Alle Staaten, jene, die der alten Ordnung der Pax Americana anhängen und jene, die eine neue, vereinbarte, etablieren wollen, werden Teile dessen sein, was heute so gern als „neue Weltordnung“ bezeichnet wird. Es wird eine multipolare Welt sein. In etlichen Bereichen der internationalen Beziehungen ist sie es schon.

Die Erde ist nun mal rund und eine Weltordnung, die ihren Namen verdient, muss für alle gelten. Sie alle, „die Widerspenstigen und die Gezähmten“ müssen auch an der wichtigsten Grundlage für die Stabilität jeder Ordnung arbeiten – an der Wiederherstellung des Vertrauens zwischen ihnen. Jenes Vertrauens, das nur auf der Grundlage des tatsächlichen Verhaltens von Menschen und Staaten basieren kann. Schöne Worte, die, wie bisher von den USA und weiteren westlichen Staaten, beliebig gebrochen wurden, verblassen hinter ihren realen Taten. Es ist durchaus so, wie in einer individuellen Partnerschaft. Niemand betrügt seinen Partner oder Partnerin, ohne dafür lange zu büßen. Und ohne Vertrauen funktioniert nichts – in keiner Beziehung.

Ansonsten zerbröselt diese Welt weiter in eine Kugel aus lauter Blöcken, die sich mehr oder weniger freundlich oder feindlich gegenüberstehen. Aber selbst Blöcke oder sonstige Bündnisse müssen dennoch Wege und Mittel finden, wie sie untereinander und miteinander künftig umgehen wollen. Daran führt kein Weg vorbei. Genau das haben sie ja schon während des 1. Kalten Krieges getan. Es war und ist möglich. Das große Unglück ist, dass die Klärung der aktuellen Fragen nach einer gleichberechtigten Ordnung auf der Welt wieder einmal gewaltsam in Form von Kriegen entschieden wird. Die Gefahr des großen Atomkrieges besteht auch immer noch. Sie trägt seit dem 6. August 1945 die Gefahr des atomaren Untergangs aller Akteure in sich.

Nicht Sieg oder Niederlage stehen seitdem im Raum, sondern Sein oder Nicht-Sein. Leben oder totale Auslöschung.

Unterhalb der sogenannten Atomschwelle ist es – wieder einmal – zu spät. Globale und regionale Balancen werden schon seit Jahren mit gewaltsamen Mitteln und unter aktiver Einflussnahme und/oder Beteiligung der neuen Großakteure neu ausgefochten. Diese Kriege sind Teil der globalen Wandlungsprozesse zur Ablösung einer alten Ordnung durch eine neue.

Noch ist die neue Ordnung im Entstehen. Erwartbar sind durchaus längere andauernde, auch mit militärischen Mitteln ausgetragene Auseinandersetzungen darüber, wie die Gewichte in der neuen Weltordnung verteilt sein sollen. Bereits heute ist aber eines sichtbar – die nahezu absolute und globale Dominanz der USA und des mit ihr verbundenen Westens, die in den vergangenen 30 Jahren herrschte, gibt es bereits nicht mehr. Diese Zeiten sind vorbei. Die Staaten des Westens tun zwar alles, um IHRE drei Jahrzehnte alte unipolare Weltordnung doch noch zu erhalten, aber ihre Macht, dies auch wie bisher weltweit erzwingen zu können, schwindet mehr und mehr.

Es sind in den vergangenen 30 Jahren einfach zu viele und zu starke Akteure in die Welt getreten, die ihre eigenen Interessen respektiert sehen wollen. Diese Akteure haben sich im Verlauf der Jahre in einer Vielzahl neuer und auch älterer Strukturen zusammengefunden. Gemeinsam sind sie Schritt für Schritt stärker und einflussreicher geworden.

Der Kampf im Innern des kollektiven Westens, vor allem im Innern der USA, ist untrennbarer Bestandteil des aktuellen Übergangs von einer monopolaren zu einer multipolaren Welt. In dieser politischen Großregion erscheint heute vieles, wenn nicht sogar alles möglich. Nur äußerst selten in der bisherigen Menschheitsgeschichte haben Führungsmächte mitten im Krieg mit ihren „eigentlichen“ Gegnern eine Politik betrieben, die gleichzeitig ihre Hauptverbündeten massiv schwächt. Die USA haben in den vergangenen Jahren eben nicht ihre westeuropäischen Verbündeten „enger an sich gebunden“, wie es öffentlich dargestellt wird. Sie haben sie im Zuge der sogenannten Globalisierung wirtschaftlich und technologisch deutlich geschwächt. Mit der seit 2014 laufenden und seit 2022 umfassend verschärften wirtschaftlichen Kriegführung gegen Russland mittels immer neuer Sanktionspakete haben die USA ihren Konkurrenten in der EU und vor allem dem Kernland der EU, der BRD, massive Schläge mit sehr lang andauernden Folgen versetzt. Die USA führen ihre Wirtschaftskriege nicht nur gegen ihre erklärten Gegner, sondern auch gegen ihre offiziellen Verbündeten. Selbst den Gegnern der USA fällt es bis heute schwer, zu glauben, was sie da sehen.

In Westeuropa verfolgen zwei Generationen der herrschenden Eliten erneut politische und wirtschaftliche Machtinteressen sowohl untereinander als auch gegen Russland, die schon mehrfach in Katastrophen für ihre Verursacher endeten. Dabei ist abzusehen, dass diese hochgefährlichen Politikkonzepte insbesondere Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands in naher Zukunft enden würden. Im Gegenteil; Westeuropa ist erneut zu einem Herd der Kriegsgefahren gegen Russland geworden. Es wird einen grundlegenden Elitenaustausch erfordern, um erneut zu einer Art europäischer Friedensordnung zu gelangen. Diese Ordnung kann nur aufgebaut werden, wenn der aufgeflammte aggressive Hass gegen alles Russischen endet. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass dieser Wechsel in Westeuropa erneut auf gewaltsamem Weg erfolgt.

Die alte Weltordnung stirbt vor unser aller Augen. Die Geburt der neuen läuft noch. Die Kämpfe um den Platz der Staaten in dieser neuen Weltordnung sind nach wie vor untrennbar mit dem alten Wettbewerb zwischen den Gesellschaftsmodellen der größten und einflussreichsten Staaten verbunden. Vor allem jenen Staaten, die heute bereits als die neuen Macht- und Einflusspole im globalen Maßstab sichtbar sind. Es geht spätestens seit der Oktoberrevolution von 1917 im Russischen Reich auch für die weitere Zukunft um die Attraktivität von Gesellschafts- oder gerne auch Zivilisationsmodellen. Es geht darum, welche gesellschaftlichen Klassen und Schichten nach innen und außen ihre Interessen durchsetzen. Dieser Kampf wird auch künftig konstituierender Bestandteil der neuen Weltordnung sein.

Wie sich wieder einmal herausstellt, erwartbar für einige, unerwartet für andere, gilt auch für „die Geschichte“ der alte royale Ruf: „Die Geschichte ist tot! Es lebe die Geschichte!“

Die neue Weltordnung ist für alle da. Wohin geht die „kollektive Mehrheit“?

Angesichts der nur ihre eigenen Ziele akzeptierenden Politik der USA und ihrer „Bündnis“-Konstellationen sind alle anderen internationalen Akteure praktisch gezwungen, dem „westlichen“ Konzept einer neuen Weltordnung eigene Vorstellungen entgegenzusetzen. Insbesondere China, Russland und Indien bestehen deshalb schon seit vielen Jahren unmissverständlich darauf, dass nur die ausgehandelten, allgemein anerkannten und bewährten Prinzipien des geltenden Völkerrechts auch künftig Grundlage der Beziehungen zwischen den Staaten und Ländern dieser Welt sein können. Nur der vor fast 400 Jahren in Europa für die Staatenbeziehungen etablierte Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten bietet allen eine akzeptable Perspektive. Das ist auch insofern eine wichtige Ausgangslage, als damit die drei größten und einflussreichsten eurasischen Mächte jene Prinzipien des zwischenstaatlichen Verkehrs zur Grundlage der neuen Weltordnung erklären, die ihren Ausgangspunkt im Westfälischen Frieden vom 24.10.1648 haben. Seit dem 26. Juni 1945 stehen diese Prinzipien in der Charta der Organisation der Vereinten Nationen und seit dem 1. August 1975 in der Schlussakte der KSZE.

Souveräne Gleichheit, Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt in den Staatenbeziehungen, gleiche Sicherheit, Gleichberechtigung und gegenseitiger Nutzen sind dabei die Schlüsselpunkte. China und Russland sind es vor allem, die Schritt für Schritt Fakten schaffen, um die Vorteile einer auf dem vereinbarten Völkerrecht basierenden Ordnung in der Praxis zu demonstrieren. Sie haben beide mit der Regelung jahrzehntelanger Grenzkonflikte zwischen ihnen die Tore geöffnet, damit anschließend eine Zeit der Kooperation zum gegenseitigen Vorteil beginnen konnte. Das erschien vor über dreißig Jahren kaum vorstellbar – nun ist es Realität.

China und Russland sind dabei planmäßig, überlegt und zielstrebig vorgegangen. Künstliche Beschleunigungen von Integrationsprozessen, die als theoretische Spinnereien in irgendwelchen Studier- oder Amtsstuben entstanden, haben beide Länder tunlichst vermieden. Dann, wenn äußere Notwendigkeiten (wie der Ukrainekrieg) oder innere Zweckmäßigkeiten ein höheres Tempo der gegenseitigen Zusammenarbeit erforderten, haben beide Staatsführungen schnell und effizient agiert. So entstand zwischen China und Russland für andere Länder vielleicht kein Modell, aber ein ganz praktisches Beispiel, wie künftig die Beziehungen zwischen Staaten geregelt und praktisch ablaufen können. Bisher gab es ja nur wenige Beispiele für die vertiefte Kooperation zwischen zwei derartigen Riesen. Auf diesem Feld der Ausgestaltung ihrer Beziehungen betreten beide Seiten oft genug Neuland. Gerade weil sie tatsächlich BEIDE den Frieden und die gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit wirklich wollen, können sie diese auch praktizieren.

Das Gegenteil war schließlich zwischen den USA und der UdSSR abschreckendes Beispiel genug. Ihr „Frieden“ zwischen 1945 und 1991 war trotz aller sowjetischer Illusionen, immer ein Frieden zwischen zwei sich unversöhnlich gegenüberstehenden Gesellschaften samt ihrer gewaltigen Machtpotentiale. Diese Erfahrung aus dem 1. Kalten Krieg wirkt seitdem eher negativ für die Hoffnung auf mögliche, gleichberechtigte Politikkonzepte. China und Russland zeigen dennoch, dass so eine Politik tatsächlich machbar ist. Die Existenz unterschiedlicher Interessenlagen in dieser oder jener politischen oder wirtschaftlichen Angelegenheit verhindert keinesfalls die Suche von für beide akzeptablen Lösungen. Solche Kompromisse sind durchaus möglich. Früher oder eben später. Mitunter muss jede Seite abwarten können, sozusagen duldsam sein, wie es in der Präambel der UN-Charta heißt. Entscheidend ist der unbedingte Wille, auf Gewalt oder ihre Androhung beim Lösen von Problemen zu verzichten. Gewalt führt nicht zu Lösungen, sondern zu Erpressung, weiteren Konflikten und zum Krieg.

Wer mag, kann nun wählen und sich denen anschließen, deren Politikkonzepte und praktisches Handeln ihm als attraktiver erscheinen.

Russland

stellt sich zunehmend auf die, auch von ihm selbst betriebenen, Umwälzungen in den internationalen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Veränderungen ein. Russland ist sowohl Akteur als auch Objekt der Kräfteverschiebungen in der Welt. Als Ergebnis der Veränderungen der internationalen Rahmenbedingungen für Russland in den seit 2021/22 vergangenen Jahren, erstarken im Inneren Russlands jene Kräfte, die schon seit Jahrzehnten für den Vorrang der inneren Entwicklung Russlands gemäß seinen eigenen Interessen eintreten. Der Beginn des Ukrainekrieges im Februar 2022 markiert auch den Beginn beschleunigter und sehr tiefgreifender Veränderungen innerhalb der russischen Gesellschaft. Unter ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten erstarken diejenigen, die den Wiederaufbau eines souveränen Russlands wollen und tatkräftig vorantreiben. Diese inneren Veränderungen in Russland prägen in ihrer Rückwirkung die Rahmenbedingungen für die künftige Weltordnung sogar in einem noch größeren Maße, als es die Ergebnisse des äußeren Krieges Russlands auf den ukrainischen Schlachtfeldern sein werden.

Noch sind diese innerrussischen Veränderungen, die eher an gesellschaftliche Umwälzungen erinnern, lange nicht abgeschlossen. Seit 1991 wurden mindestens zwei Generation in den russischen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Führungsstrukturen nach westlichen Konzepten ausgebildet und oft auch durch westliche Fachleute. Die Folgen spürt die russische Gesellschaft sozusagen täglich. Die Prozesse des Wandels hin zur Durchsetzung tatsächlich russischer Interessen verlaufen in einigen Bereichen relativ schnell, in anderen eher langsam, zögerlich und voller Widersprüche. Denn gerade die bisher dominierenden russischen Eliten als Teil der alten Ordnung verteidigen ihre Macht und Interessen gegen die neuen, aufsteigenden gesellschaftlichen Kräfte. Deshalb werden die innerrussischen Umwälzungen noch weitere Jahre andauern.

Solange diese inneren Veränderungen in Russland laufen, werden sich auch die auswärtigen Interessen Russlands entsprechend weiter wandeln. Deshalb kann noch niemand mit Gewissheit sagen, wie die nationalen Interessen von der russischen politischen Führung künftig formuliert werden. Letztlich sind dieser seit einigen Jahren laufende innerrussische Wandel und die Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenpolitik einer der vielen Faktoren bei der Herausbildung der „Neuen Weltordnung“. Russland ist dabei neben China und den USA, in denen jeweils eigene und tiefgreifende innere Wandlungen ablaufen, einer der drei einflussreichsten Hauptakteure, die die Ordnung in der Welt und in ihren Regionen prägen wollen.

Der Übergang des kollektiven Westens zum „totalen hybriden Krieg gegen Russland“, wie es Außenminister Lawrow nannte, führte in den vergangenen 15 Jahren in Kombination mit dem Erstarken der patriotischen Kräfte innerhalb Russlands (quer durch alle Gesellschaftsschichten) letztlich zum Beginn der völligen Abkehr vom alten Gesellschaftsmodell, das Russland im Ergebnis der Niederlage der Sowjetunion im 1. Kalten Krieg aufgezwungen worden war. Gegenwärtig erleben wir, um Churchills Bemerkungen zum Ende der Luftschlacht um England abzuwandeln, nur das Ende des Anfangs des gesellschaftlichen Wandels in Russland. Der Hauptteil folgt erst noch; dann, wenn dieser Wandel auch die Spitzenstrukturen des Landes in allen Bereichen erfasst haben wird.

Als ersten Schritt zur sichtbaren und nachhaltigen Revision der seit Anfang der 1990er Jahre geltenden, US-dominierten Ordnung begann Russland am 24.02.2022 seine militärische Operation in der Ukraine, die seit Jahren vom Westen als Angriffsspitze gegen die „russische Welt“ hochgerüstet worden war. Dieser Krieg hat eine lange und komplexe Vorgeschichte, die weit über die Grenzen der Ukraine oder des Donbass hinausging. Im Winter 2022 begann Russland, bei allen Schwierigkeiten und Zögerlichkeiten, den Wandel hin zu seiner zielgerichteten, nationalen Wiederauferstehung. Als historische Daten hierfür können die Erklärung des russischen Präsidenten zur Lage der Nation vom 21.02.2023 und die neue außenpolitische Konzeption vom 31.03.2023 gelten.

Vier Ereignisse, die schon erwähnte Rede Putins vor der Nationalversammlung am 21.02.23, die neue russische außenpolitische Konzeption vom 31.03.23 und die russisch-chinesische Deklaration vom 21.03.23 sowie die Dokumente des 20. Parteitages der KP Chinas haben die strategischen Rahmenbedingungen für die neue Phase im 2. Kalten Krieg gesetzt.

So seltsam es vielleicht anfangs scheinen mag, der KP-Parteitag in China und seine Beschlüsse hatten für Russland ähnlich große Bedeutung, wie im Winter 1941 die Meldung Richard Sorges, dass Japan die UdSSR nicht angreifen wird. Mit der Meldung von 1941 stand fest, dass die östliche/asiatische Richtung der UdSSR gedeckt blieb. 2022 ergaben sich aus dem, was in Peking beschlossen wurde, noch wesentlich günstigere Folgen für Russlands Süd-Ost-Flanke. Sie bleibt nicht nur gedeckt, sondern wird auch zu einem wesentlichen Quell seiner wirtschaftlichen, politischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Sibirien, das schon immer viele Träume und Pläne inspirierte, wird zunehmend tatsächlich die entscheidende Region für Russlands Zukunft. Deshalb bleibt jede Analyse zur Lage Russlands ohne die strategische Haltung Chinas zu seinem nördlichen Nachbarn unvollständig.

Die Umsetzung der bei diesen oben genannten Ereignissen gefassten Beschlüsse wird die künftigen Beziehungen der Staaten, ihre Ordnung untereinander und miteinander, in wesentlichen Punkten für sehr lange Zeit bestimmen. Es geht dabei um den Aufbau der materiellen Grundlagen für einen tiefgreifenden Wandel der globalen und regionalen Verhältnisse hin zu mehr Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt der jeweiligen Interessen.

Russland

(Quelle: www.wikipedia.com)

Fläche: 17.074.636 km2 (www.wikipedia.com)

Fläche gemäß russischer Verfassung einschließlich der Krim und der Gebiete Lugansk, Donezk, Saporoshje, Cherson: 17.210.322 km2

Einwohnerzahl: 146.447 Mio. (www.russtat.gov.ru, 2022)

Gastarbeiter im Jahresdurchschnitt: 9 bis 15 Mio., Hauptherkunftsländer: Ukraine, Tadschikistan, Kasachstan, Armenien, Usbekistan, Aserbaidschan (www.bpb.de).

Bruttosozialprodukt nach Kaufkraft: 4.769 Mrd. USD, Schätzung des IWF für 2021 (www.wikipedia.com)

Krim

(www.wikipedia.com)

Fläche: 26.844 km2 (www.wikipedia.com)

Einwohnerzahl: 2,35 Mio. (www.wikipedia.com für 2020)

Gebiet Lugansk

(www.wikipedia.com)

Fläche: 26.684 km2 (www.wikipedia.com)

Einwohnerzahl: 2,1 Mio. (www.wikipedia.com für 2020)

Gebiet Donezk

(www.wikipedia.com)

Fläche: 26.517 km2 (www.wikipedia.com)

Einwohnerzahl: 4,1 Mio. (www.wikipedia für 2020)

Gebiet Saporoshje

(www.wikipedia.com)