Eine Welt voller Flüchtlinge - George Kaufmann - E-Book

Eine Welt voller Flüchtlinge E-Book

George Kaufmann

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Beschreibung

In der heutigen Welt sind hunderte Millionen Menschen vor ihren das Leben bedrohenden Verhältnissen auf der Flucht. Tagtäglich spuckt das immer deutlicher in Agonie übergehende kapitalistische Monster neue Menschenmassen als nicht mehr durch Arbeit zu Verwertende, und damit kapitalistisch "Überflüssige" ins Elend. Deshalb strömen sie auch zu Millionen in die kapitalistischen Zentren in der illusorischen Annahme, dort ihre soeben "ungültig" gewordene Arbeitskraft wieder kapitalistisch verwursten zu lassen, Geld verdienen und leben zu können. Aber nur den Allerwenigsten kann das gelingen. Hier liest Du, wie der "ideelle Gesamt-Kapitalismus" darauf reagiert. Darüber hinaus erfährst Du auf relativ einfache, jedoch wissenschaftlich fundierte und absolut logische Weise etwas über die Wurzeln des Übels, das innerste Wesen des Kapitalismus, seinen fetischistischen Formzusammenhang und - was ebenso wesentlich ist - wie wir uns dieses Monster vom Hals schaffen können. Und weil der Antisemitismus die letzte ideologische Reserve des "ideellen Gesamt-Kapitalismus" ist, zu deren Aktivierung er beständig hinstrebt, wirst Du einen Einblick in die Paradoxie des weltkapitalistischen Status' des Staates Israel erhalten und sehen, warum ein Palästinenser-Staat gar nicht lebensfähig wäre. Nach dieser Lektüre kann Dir niemand mehr irgendeinen politisch-ideologischen Schmarrn erzählen; Du weißt einfach, was Sache ist.

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Veröffentlichungsjahr: 2016

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George Kaufmann

Eine Welt voller Flüchtlinge

Warum und wie produziert der Kapitalismus die riesigen Flüchtlingsströme? Leichtverständliches zum Wesen des Kapitalismus, seinem Formzusammenhang (der radikale Marx praktisch). Wie werden wir das Monster los? Warum Antisemitismus? Israel der Alien-Staat

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© 2016 George Kaufmann

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-1274-2

Hardcover:

978-3-7345-1275-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Einführung

Die imperiale Apartheid

Eine Welt voller Flüchtlinge

Ausgrenzungsimperialismus: Mauer und Todesstreifen nach freiheitlicher Art

Die Illusion vom Wiederaufbau

Die Phantom-Ökonomie des humanitär-industriellen Komplexes

Sexuelle Gewalt- und Elendsökonomie

Vom Pufferstaat zum Ethno-Zoo

Die Gemeinsamkeit der Demokraten

Inländische Ausländer als Humanressourcen

Innere Menschenjagd und Abschiebungsterror

Das demokratische KZ

Zonen des Rassismus

Der demokratische Mob in Aktion

USA: Rassistische Basisidentität und Intergetto-Bürgerkrieg

Synthetische Identitäten und Neo-Rechtsradikalismus

Die Nützlichen und die Unnützen

Die Globalisierung der „Anständigen“

Das Imperium und seine Theoretiker

Das Reich und die neuen Barbaren (Jean Christophe Rufin)

Empire – die Krisenwelt als Disneyland der „Multitude“ (Michael Hardt/Antonio Negri)

Gehen wir an die Wurzel des Übels

Der kapitalistische Formzusammenhang

Arbeit

Wert/Mehrwert

Geld/Kapital

Markt/Konkurrenz

Staat/Souveränität

Politik

Recht

Nation

Demokratie

Wie killen wir dieses Monster?

Der Nahe Osten und das antisemitische Syndrom

Kapitalistische Verbrennungslogik und Ölregimes

Der Antiimperialismus und die antisemitische Krisenideologie

Der Staat Israel und sein paradoxer weltkapitalistischer Status

Das Ende der „nationalen Befreiungsbewegungen“ und der Spuk der palästinensischen Staatsgründung

Israel als „Alien“ der kapitalistischen Welt und der arabische Neo-Antisemitismus

Vom Zionismus zur Herrschaft der Ultras: Die innere Krise der israelischen Gesellschaft

Kurz lesen

Einführung

Seit über 20 Jahren führen die USA und ihre NATO-Partner im Nahen Osten Kriege. Worin liegen die Ursachen? Geht es ums Öl oder gar um die Weltherrschaft? Jein. Es geht um den Kapitalismus selbst, um das System der abstrakten Arbeit als Selbstzweck. Dieses System ist, wie Marx bereits sehr treffend vorhersagte, an seiner absoluten inneren Schranke angelangt; und zwar, wie die von jedem einsehbaren Daten auch empirisch zeigen, bereits seit etwa 40 Jahren. Seither frisst sich der nunmehr globalisierte Kapitalismus selbst auf. Er befindet sich sozusagen in seiner „Nachspielzeit“.

In der Dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik ist er so rationell geworden, dass er insgesamt nur immer weniger menschliche Arbeitskraft vernutzen kann. Die kapitalistischen Inhalte können nicht mehr in die kapitalistische Form gepresst werden. Die Menschen werden in unvorstellbarem Ausmaß zu kapitalistisch Überflüssigen. Damit kommt die Wertproduktion in immer mehr Weltregionen nach und nach zum Erliegen; denn Automaten produzieren keinen Wert und also auch keinen Mehrwert (und einzig auf diesen kommt es im kapitalistischen System an). Voll funktionsfähige Kapazitäten werden stillgelegt, während zugleich oft in unmittelbarer Nähe Menschen verhungern oder völlig verarmt dahinvegetieren. Auf einen Nenner gebracht: Mehrwert weg – Leben aus! Es ist pervers.

Dieser Prozess ist kontinuierlich und frisst sich unaufhaltsam von der ökonomischen Peripherie über deren Mittellagen bis in die kapitalistischen Zentren des Westens vor. Der Kapitalismus hat seine End-Krise erreicht; und natürlich kann er auch nicht mehr in irgendeine seiner Vergangenheiten zurück, weil das erreichte Produktivitätsniveau nicht rückgängig gemacht werden kann. So kann er sich nur auf seinen Kern, sein Wesen zurückschrumpfen: Gewalt. Das Ungeheuer windet sich und schlägt mit allen Gewaltmitteln blindlings um sich. Und die Masse der „Überflüssigen“ reagiert ebenso, da sie im Laufe von mehreren hundert Jahren unter ständiger Folter verinnerlicht hat, ein Konkurrenz-Subjekt zu sein, eine Kampf-Sau, ein Raub-Affe; jeder gegen alle.

Im Folgenden habe ich ein paar aktuell sehr relevante Textauszüge aus Robert Kurz‘ „Weltordnungskrieg“ (2003) und dem „Manifest gegen die Arbeit der Gruppe KRISIS (2004) zusammengestellt, ergänzt und aktualisierend moderiert.

Du wirst lesen, welche Ursachen zu den heutigen Flüchtlingsströmen führten und was diese ihrerseits bewirken. Dazu bekommst Du eine direkte Einsicht in den kapitalistischen Formzusammenhang, den es angesichts der heutigen Entwicklung des Monsters Kapitalismus rigoros abzuschaffen gilt, um die begonnene Selbstzerstörung der Menschheit zu verhindern. Schließlich zeige ich Dir in diesem Zusammenhang die „Alien“-Gestalt des Staates Israel.

Die imperiale Apartheid

Der nach außen gerichtete Sicherheits- und Rohstoff-Imperialismus einer ebenso hartleibigen wie penetranten globalen Minderheitskultur, die am Rest der Welt trotz ihres totalen Kontrollanspruchs nur noch ein partielles und punktuelles Interesse hat, kann seiner Natur nach nur einen Teilaspekt des „ideellen Gesamtimperialismus“ ausmachen. Mindestens ebenso wichtig ist das Interesse an einer Abschottung der westlichen Zentren gegen die gesellschaftliche „Destabilisierung“, wie sie aus der kapitalistischen Unbrauchbarkeit großer Teile der Welt und ihres Menschenmaterials hervorgeht. Denn spiegelverkehrt zum erlahmenden Drang des Kapitals, die unrentabel gewordene Arbeitskraft dieser Bevölkerungen zu verwerten, die nicht mehr als „hands“ der Akkumulation dienen können, entwickelt die Milliardenmasse der „Überflüssigen“ ihrerseits den Drang, sich zur Elendswanderung in die Zentren der kapitalistischen Elendsverursachung aufzumachen.

Gewissermaßen haben wir es dabei mit einer Massen-Entwürdigung zweiter Ordnung zu tun. Die Entwürdigung erster Ordnung hatte in einer grauen Vergangenheit der Modernisierungsgeschichte darin bestanden, dass die Menschen überhaupt in das Material des Verwertungsprozesses, in die „hands“ der aus allen menschlichen Bindungen „herausgelösten Ökonomie“ (Karl Polanyi) von Kapital und Weltmarkt verwandelt wurden. Später versuchten die sozialen und politischen Bewegungen der einmal zum Arbeitsmaterial degradierten Massen auf dem Boden ihrer eigenen Entwürdigung so etwas wie eine sekundäre menschliche „Würde“ zu gewinnen: gerade als Subjekte ihrer eigenen Objektivierung durch die kapitalistische Weltmaschine. Das soziale Selbstbewusstsein bezog sich nur noch positiv auf das eigene Dasein in den Kategorien der historisch aufsteigenden kapitalistischen Weltgesellschaft, auf die „Anerkennung“ als Rechts- und National-Subjekte in dieser Form.

In der Krise der Dritten industriellen Revolution wird nun einem stetig anschwellenden Teil dieser kapitalistisch domestizierten und disziplinierten Menschheit nicht einmal mehr die sekundäre „Würde in der Entwürdigung“ als einem regulären Subjekt abhängiger Arbeit zugestanden: in einem gewaltigen Schub der Entwürdigung zweiter Ordnung nimmt ihnen das Weltsystem die letzte Hoffnung auf ein halbwegs erträgliches Dasein, ohne sie jedoch auch nur im mindesten aus seinen Klauen zu entlassen und ohne dass sie selber sich überhaupt noch ein anderes Dasein vorstellen könnten. Diese Paradoxie eines globalen Verhältnisses, in dem der größere Teil der Welt ökonomisch „überflüssig“ wird und dennoch in der Form des modernen warenproduzierenden Systems festgenagelt bleibt (auch in der eigenen Subjektform), versetzt ganze ehemalige Nationalökonomien und ihre Bevölkerungen in den Status von institutionellen Bettlern und Vagabunden, die man weder leben noch sterben lässt.

Eine Welt voller Flüchtlinge

Es ist nur folgerichtig, dass neben die sekundäre Plünderungsökonomie, die den westlichen Sicherheitsimperialismus herausfordert, eine ebenso sekundäre Ökonomie der Massenfluchten und Migrationsbewegungen tritt, die von der vermeintlichen kapitalistischen Normalität der Zentren und ihrer Konsumverheißungen magisch angezogen werden. Wer noch brachliegende Tatkraft besitzt und nicht zum Aktivisten der Plünderungsökonomie wird, macht sich allein oder mit Kind und Kegel auf in die gelobten Länder und Regionen der globalen Marktwirtschaft.

Teils handelt es sich um Binnenwanderungen wie etwa in Brasilien aus dem sozialökonomisch versteppten Nordosten in die südlichen Zonen der (prekären) Weltmarkt-Industrialisierung; noch weitaus größer ist der Strom der Elendswanderung in China, wo ständig mehr als 200 Millionen Menschen der verarmten Landbevölkerung unterwegs sind und in den Einzugsbereichen der Exportindustrien nach Billigjobs suchen. Diese Form der Binnen-Migration lässt sich mehr oder weniger in allen Teilen der kapitalistischen Peripherie und mittlerweile selbst in Nordamerika und Europa beobachten.

Teils sind es aber auch große grenzüberschreitende und sogar transkontinentale Menschenströme, die ihr Heil in der Flucht nach außen suchen und doch immer und überall nur denselben Terror der Ökonomie vorfinden. Die Masse dieser Fluchtbewegungen übertrifft in ihrer globalen Dimension bei weitem die großen Auswanderungsschübe des 19. Jahrhunderts (vor allem aus Europa nach den beiden Amerika und aus Ost- nach Westeuropa), die ihrerseits schon von einem frühen Stadium derselben kapitalistischen Zumutungsgeschichte verursacht worden waren.

Der Terminus des „Wirtschaftsflüchtlings“, von den demokratischen Administrationen des Elends in herabsetzender Weise kreiert, fällt dabei auf seine Urheber zurück, indem er auf den weltumspannenden Ökonomismus des Kapitals als generellen Fluchtgrund verweist. Es sind immer nur abgeleitete Formen des Urgrunds aller modernen Katastrophenpotenz und Verzweiflung, die in verschiedenen Abstufungen die Kategorien der Fluchtgründe und Flüchtlinge bilden. Die „Kriegsflüchtlinge“ werden von jenen sogenannten Wirren, den Plünderungs- und Elendskriegen getrieben, die doch nichts anderes als die Folge des Scheiterns ganzer Weltregionen an den Kriterien kapitalistischer Konkurrenz sind. Die „Armutsflüchtlinge“ drücken denselben Fluchtgrund nur direkter aus. Massenhaft werden Menschen auch mit brachialer (formal legaler wie illegaler) Gewalt von ihrem Stück Land vertrieben, um es in Exportfarmen von Genussmitteln und Biosprit für den Weltmarkt und seine Besserverdienenden umzuwandeln.

Längst gibt es auch „Katastrophenflüchtlinge“, die sich vor den gesellschaftlich verursachten Naturkatastrophen zu retten suchen: Wassermangel, Versteppung, Vordringen der Wüsten, Dürren und Überflutungen als Konsequenz blinder Ökonomisierung, betriebswirtschaftlicher Kosten-Externalisierung, rücksichtslosem Raubbau an Rohstoffen und destruktiver Industrialisierung der Landwirtschaft zwecks Devisen-Erwirtschaftung liegen den meisten dieser vermeintlichen Naturprozesse zugrunde.

Besonders entlarvend ist die Kategorie der „Entwicklungsflüchtlinge“, die jenen megalomanischen Projekten zum Opfer fallen, wie sie immer wieder von der Weltbank als angebliche „Entwicklungshilfe“ gefördert werden. Oft von populistischen Regimes und korrupten Diktaturen betrieben und eifrig befürwortet von westlichen Konzernen, die damit ihre Auftragsbücher für lukrative Weltzerstörungsmaschinerien füllen, handelt es sich dabei in der Regel um bloße Prestigeprojekte oder um eine Flucht nach vorn aus ökonomischen Krisenprozessen; mit einer Art rechtskeynesianischem Pyramidenbau sollen abstrakte ökonomische Wachstumszahlen generiert und als „Erfolge“ verkündet werden.

Der Prototyp dieser zerstörerischen Pyramidenprojekte, die nicht umsonst auch als „weiße Elefanten“ bezeichnet werden, ist der Bau von riesigen Staudämmen, der die Flutung ganzer Regionen zur Folge hat, in denen Millionen von Menschen leben. Ganz in der Manier Stalins, dessen Terror-Industrialisierung berüchtigt war für die Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen, werden auch die Opfer der „weißen Elefanten“ von ihren Lebensgrundlagen vertrieben, ihre Widerstandsaktionen mit Polizei- und Militärgewalt gebrochen.

In Brasilien ist der Itaipú-Staudamm im Grenzgebiet zu Paraguay am Paraná-Fluss solch ein Projekt. Er wird auch als „Pharaonen-Projekt“ bezeichnet. In Argentinien ist so ein Schand-Projekt der Yacyreta-Staudamm, ebenfalls an der Grenze zu Paraguay. Er gilt als „Monument der Korruption“. Eines dieser von der Weltbank geförderten Projekte ist der berüchtigte Staudamm Sardar Sarovar in Indien, „der größte eines gewaltigen Bauprogramms, das dreißig Großstaudämme, 135 mittlere und 3000 kleine Dämme sowie Kanalanlagen in einer Gesamtlänge von 80.000 Kilometern umfassen soll. Der Plan sieht die Umsiedlung von 14 Millionen (!) Indern vor…“ (van Laak 1999, 112). Dieses von weltweiten Protesten begleitete Projekt wird noch übertroffen vom Bau des chinesischen Drei-Schluchten-Damms am Jangtse mit unabsehbaren ökologischen Folgen, wo ebenfalls Millionen von Menschen weichen müssen. Analoge Projekte sind auch in Afrika angelaufen.

Im Gegensatz zur stalinistischen Sowjetunion findet dabei meistens noch nicht einmal eine regelrechte Umsiedlung statt, sondern die Bewohner der gefluteten Regionen werden einfach ins Nichts entlassen; nationale und internationale Hilfsgelder für den angeblichen Neuaufbau einer Existenz anderswo, ohnehin lächerlich gering bemessen, verschwinden in den Taschen der korrupten Administrationen, die genau wie die Dinosaurier-Projekte selbst bereits ein Ausdruck der ökonomischen Misere sind. Und so produziert der „Entwicklungs“-Stalinismus der Weltbank, verwandter Institutionen, größenwahnsinniger Krisenpotentaten und übrig gebliebener Staatskapitalismen seine Flüchtlingskategorien so gut wie der ganz normale Gang der Weltmarkt-Konkurrenz.

Oft mischen sich die Fluchtgründe, wenn über die Menschen mehrere apokalyptische Plagen des kapitalistischen Weltsystems gleichzeitig hereinbrechen. Aber auch abgesehen von den Massenfluchten im eigentlichen Sinne (wie wir sie jetzt gerade in Süd- und Westeuropa erleben) ist eine Arbeits-Migration von globalem Umfang aus der Peripherie in die Zentren zu beobachten. Offiziell sind nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (Ilo) in Genf heute mehr als 120 Millionen Menschen außerhalb ihres Heimatlandes beschäftigt.

Auch ohne direkte Katastrophen, die zur Flucht zwingen, setzt das unverschämte Reichtumsgefälle der kapitalistisch verwahrlosten Welt die Menschen in Bewegung: Bereits anno 2000 konnten wir lesen: „Höhere Löhne wirken wie ein Magnet – trotz aller kulturellen, sprachlichen und geographischen Unterschiede. So verdienen mexikanische Arbeiter in den USA 278 $ die Woche, in ihrer Heimat waren es nur 31 $. Indonesische Arbeiter mussten sich in ihrem Land mit 0,28 $ am Tag begnügen, im benachbarten Malaysia schnellte der Lohn auf 2 $ täglich nach oben“ (Handelsblatt, 2.3.2000). Selbst noch innerhalb der Billiglohn-Sektoren gibt es sowohl global als auch weltregional ein Gefälle, das zwangsläufig massenhaft Migration hervorbringt.

Rechnet man zu den offiziell im Ausland Beschäftigten noch die „Illegalen“, die Binnen-Migrationsbewegungen und die diversen Katastrophen-Flüchtlinge, dann sind gegenwärtig bereits weit mehr als zehn Prozent der Menschen unterwegs, um sich vor den Wirkungen des ökonomischen Terrors und seiner Folgeprozesse (nichts Anderes sind die derzeitigen Kriege in Nahost) zu retten.

Ausgrenzungsimperialismus: Mauer und Todesstreifen nach freiheitlicher Art

Die Massen der Bürgerkriegs-, Elends- und „Wirtschaftsflüchtlinge“ sind es, die den westlichen Ausgrenzungsimperialismus auf den Plan rufen. Damit tritt vollends die globale Implosion des Kapitalverhältnisses und seines imperialen Zugriffs auf die Welt ans Licht. War der Kapitalismus in seiner vergangenen Aufstiegs- und Durchsetzungsgeschichte unersättlich in seinem Hunger nach Menschenfleisch, das er noch in den entlegensten Winkeln der Welt aufzustöbern suchte, um es sich qua „Arbeit“ einzuverleiben, so gleicht er nun einem appetitlos gewordenen Krebskranken, der vom einstigen Objekt seiner Begierde heimgesucht und überschwemmt wird, das er nicht mehr schlucken und verdauen kann und das ihm Angst und Abscheu einflößt.

Vom Standpunkt des alten nationalen Ausdehnungsimperialismus wäre der umgekehrte Begriff eines defensiv erscheinenden Ausgrenzungsimperialismus zwar als strategische Option bloß absurd erschienen; aber ideologisch sind in dieser Hinsicht doch gewisse Rückgriffe auf ein Vorstellungsmuster aus dem frühen 20. Jahrhundert zu erkennen, das damals nur den Stellenwert einer Subströmung hatte. Dabei wurden wie so oft in der bürgerlichen Ideologiegeschichte die Raub- und Ausbeutungsgelüste des westlichen Imperialismus und Kolonialismus aggressiv und wahnhaft auf seine Opfer projiziert, um das eigene Handeln als eine Art „Vorwärtsverteidigung“ gegen einen zukünftig vielleicht übermächtigen Gegner erscheinen zu lassen. Sowohl im angelsächsischen Bereich als auch insbesondere in Deutschland gehörte dazu die populäre Rede von der „gelben Gefahr“ aus Asien, die Europa und Nordamerika wie einst die mongolischen Reiterhorden zu überfluten drohe. Auch den „jungen afrikanischen Völkern“ wurde immer wieder eine gefährliche Vitalität und Lendenkraft zugeschrieben, die den im Luxus seiner Welteroberung verweichlichenden „weißen Mann“ drohen alt aussehen zu lassen. Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“ ist von solchen ins Mythische erhobenen Motiven durchzogen.

Das heutige Stammtisch- und Mediengerede, dass „das Boot voll“ sei, knüpft ebenso wie Huntingtons Pseudotheorie vom „Kampf der Kulturen“ unverkennbar an diesen ideologischen Motivzusammenhang an. Und im Unterschied zur Vergangenheit stehen heute wirklich die Massen der Dritten Welt und der europäischen Peripherie vor den Toren des kapitalistischen Zentrums. Nur handelt es sich nicht um unverdorbene und kampfstarke „Eroberungsvölker“ wie in den idiotischen Fantasien der altimperialistischen Ideologen, sondern um die vom kapitalistischen Weltsystem selbst produzierten und ausgespuckten traurigen Elendsmassen, um die Lazarusse von Hunger, Aids und Gewalt, aber auch um die postmodernen Mafiosi der Zusammenbruchs-Regionen, die zu in den Westen ausgreifenden Risiko-Unternehmern mutieren.

Es hat etwas ungeheuer Schäbiges und zugleich banal Realistisches, dass die heranbrandenden Menschenmassen als fundamentale Bedrohung erlebt und administrativ abgewehrt werden. Dabei mischen sich irrationale Ängste vor dem andrängenden „Fremden“ aus der selbst produzierten Weltkrise mit ganz banalen Konkurrenzinteressen (etwa auf den Arbeitsmärkten) und mit Motiven der „inneren Sicherheit“ im Hinblick auf Ghettoisierung, Straßenkonflikte, Massenkriminalität usw.

Wie in der Vergangenheit der nationalimperialen Ausdehnungsmächte macht sich in diesem Zusammenhang mehr oder weniger diffus ein gemeinsames chauvinistisches Konkurrenz- und Herrschaftsinteresse von Lohnarbeitern und Sozialhilfeempfängern, Konzern-Management und politischer Klasse des Westens gegen die Massen des globalen Ostens und Südens geltend, das jedoch unter den neuen Bedingungen nicht mehr auf Einverleibung, sondern auf Ausgrenzung zielt.

Dieser mörderische Abwehrcharakter ist bis in den ideologischen und kulturellen Diskurs hinein unverkennbar: Selbst bei den ordinärsten Rechtsradikalen und Neonazis ist keine Rede mehr vom „Lebensraum im Osten“, von „nationalen Einflusszonen“, kolonialen oder quasi-kolonialen Annexionen etc. Diese einst wirkmächtigen Imaginationen einer expansionistischen nationalen Selbstbehauptung haben sich geradezu ins Gegenteil einer Abschottungs- und Ausgrenzungsideologie verkehrt, etwa in Parolen wie „Deutschland den Deutschen“, „Österreich den Österreichern“, „Frankreich den Franzosen“ usw. oder „Deutschland zuerst“ („Österreich, Frankreich usw. zuerst“).

In der Abschottung gegen die Fluchtströme und Elendswanderungen sind diese Parolen zur allgemeinen westlichen Staatsdoktrin und zum Konsens innerhalb der NATO geworden, wenn auch weniger in einem eng nationalistischen als vielmehr in einem großräumigen, auf das kapitalistische Zentrum als Ganzes bezogenen Sinne. Diese Entwicklung reflektiert sich in der gängig gewordenen Redeweise von der „Festung Europa“ und der „Festung Nordamerika“. In der Tat haben diese beiden Teile des Zentrums in den vergangenen über drei Jahrzehnten damit begonnen, jeweils eine Art chinesische Mauer oder Limes zu errichten.

In den USA wird diese „eiserne Linie“ an der mexikanischen Grenze gegenüber dem lateinamerikanischen Raum gezogen. Obwohl Mexiko und die USA mit Kanada offiziell zu einer Freihandelszone (NAFTA) zusammengeschlossen sind, gilt dies seitens der USA keineswegs für einen „Freihandel der Arbeitskraft“. Im Unterschied zum Handelsraum der EU, der die Freizügigkeit der Arbeitskraft einschließt und als deckungsgleich mit dem Verhältnis von Inklusion und Exklusion definiert ist, verläuft dieses Verhältnis an der Südgrenze der USA mitten durch die offizielle Wirtschaftsunion selbst. Es besteht nur ein Interesse an „Schraubenzieherfabriken“ für eine billige Lohnveredelung in den mexikanischen Grenzgebieten (maquiladoras), während die Massenmigration nach Kalifornien mit allen Mitteln abgewehrt wird. Deshalb reagieren die politischen Klassen der USA und Kanadas auch kühl bis gereizt auf alle mexikanischen Vorstöße, die NAFTA zu einer einheitlichen Wirtschaftsunion nach dem Vorbild der EU zu erweitern.

Und die Mittel der Ausgrenzung sind drastisch. Jede Nacht veranstaltet die US-Grenzpolizei mit Scheinwerfern, Sensoren und Hunden regelrechte Menschenjagden auf die „Unwillkommenen“. Buchstäblich nach dem Muster jener historischen Grenzmauern, mit denen sich nicht nur antike Imperien gegen Eindringlinge abzuschotten versuchten, werden die Grenzbefestigungen der USA gegenüber Mexiko immer stärker ausgebaut. Allein bereits im Jahr 2000 wurde von den mit Kosten von mehr als 3 Milliarden Dollar zusätzlich aufgerüsteten US-Grenztruppen fast eine halbe Million sogenannter illegaler Grenzgänger festgenommen. Jedes Jahr werden durchschnittlich etwa 1000 dieser Mexikaner und weitere Lateinamerikaner auf der US- Seite erschossen bzw. kamen durch Hitzeschläge, Unterkühlung oder schwerer Misshandlung ums Leben. Dabei tritt neben die offizielle Grausamkeit der Grenztruppen die inoffizielle Selbstjustiz der US-Grenzfarmer, die sich zu einem rassistischen „Bund besorgter Bürger“ zusammengeschlossen haben und schwer bewaffnet eigenmächtige Treibjagden auf das südliche Menschenwild veranstalten: „… ‚Dies Gesindel hat weder auf meinem Grund und Boden noch in den USA etwas verloren‘, dröhnt Robert Barnett, 57. Der Rinderzüchter … warnt unmissverständlich: ‚Ich bin entschlossen, auch Leben zu nehmen‘. Auch David Stoddart hat aufgerüstet. Der pensionierte Polizist hält auf seinem Grundstück zwei Kampfhunde und besitzt ein halbes Dutzend Gewehre. ‚Mein Haus ist meine Burg‘, meint Stoddart, ‚wer hier eindringen will, ist ein Todeskandidat‘ …“ (Der Spiegel 7/2001)

Soviel zur demokratischen Freizügigkeit des liberalen Westens und seiner Vormacht. Die „europäischen Besucher“ müssen freilich nicht bis zur Südgrenze der USA reisen, um sich an jene „vergangen geglaubten Zeiten“ von Mauer und Todesstreifen der Ex-DDR erinnert zu fühlen. Sie können dieses Erlebnis auch jederzeit an der eigenen Haustür haben. Die „Festung Europa“ schottet sich sogar an zwei weltregionalen Fronten durch einen „eisernen Vorhang“ gegen die Kriegsflüchtlinge und Elendsmigranten ab: einerseits entlang des Mittelmeers gegen den nordafrikanischen Maghreb und den Nahen Osten; andererseits an den Ostgrenzen der EU gegen Osteuropa und Mittelasien.

Im westlichen Mittelmeer bildet Spanien mit seiner Küstenwache und schwerbewaffneten Grenzpolizei den Frontstaat gegen die Migrantenmassen aus Nordafrika. Besonders die Meerenge von Gibraltar und die spanischen Enklaven auf nordafrikanischem Territorium gelten als gefährdete Zonen. Jedes Jahr werden dort tausende Flüchtlinge (sogenannte indokumentados) festgenommen.

Im östlichen Mittelmeer sind es hauptsächlich Italien und inzwischen auch Griechenland, die für die „Berliner Mauer“ der EU zuständig sind. Tausende Menschen ertrinken dort jedes Jahr. Wir kennen die grausigen Bilder: dicht neben den Touristenstränden Menschentrauben aus verschmutzten, halb verdursteten Körpern, alsbald eingesammelt von der Fremdenpolizei. Solche Tragödien sind in der Adria längst zum Alltag geworden. Die italienische Küstenwache macht systematisch Jagd auf die Verzweifelten, die als zahlungsunfähige „Unwillkommene“ aus den Kriegsregionen Südosteuropas, Anatoliens, Nordafrikas und Mittelasiens angespült werden. Und gelegentlich darf auch schon mal ein Flüchtlingsschiff „aus Versehen“ versenkt werden. Die jämmerlich Ertrunkenen werden widerstrebend gezählt.

Für die EU wie für die NATO ist der mediterrane Raum heute vor allem über diese Strategie der Abschottung definiert. Bereits 1999 konnten wir wissen: „Die demographische Entwicklung in vielen südlichen und östlichen Mittelmeerstaaten sowie die düsteren Zukunftsperspektiven der immer jünger werdenden Bevölkerungsmehrheiten erzeugen ein hohes Migrationspotential, das sich insbesondere auf Europa richtet. Sollten zudem noch die bereits existierenden Konflikte und Krisen in vielen dieser Länder offen zum Ausbruch kommen, so ist zu erwarten, dass neben die sozialökonomisch motivierten Migranten eine hohe Anzahl von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen tritt“ (Jacobs/Masala 1999, 31). Man höre sich heute (2016) die scheinheiligen Absonderungen der Politiker an, die natürlich von so einem Flüchtlingsansturm nichts ahnen konnten und zutiefst überrascht sind.

Die auf diese Tendenzen bezogene strategische Bestimmung folgt nicht mehr der Auseinandersetzung von kapitalistischen Mächten um die Beherrschung des Mittelmeers wie in den Epochen des polyzentrischen und bipolaren Kampfes um die Weltherrschaft, sondern der Vorgabe eines gesamtwestlichen Sicherheits- und Ausgrenzungsimperialismus. In dieser Hinsicht „lässt sich konstatieren, dass es weder das Bestreben der NATO noch der EU ist, das Mittelmeer erneut in ein ‚Mare Nostrum‘, also in ein hegemonial strukturiertes Einflussgebiet europäischer und transatlantischer Politik zu verwandeln. Vielmehr soll es in ein ‚Mare Securum‘, also in ein Vorfeld transformiert werden, von dem in absehbarer Zukunft keine Sicherheitsrisiken für die gesellschaftliche Eigenentwicklung der europäischen Staaten sowie der USA ausgehen“ (ebd, 37).

Die Seesperre als „eiserner Vorhang“ gegen Flüchtlinge ist inzwischen auch am anderen Ende der Welt, in Australien, zum Usus der Demokratie geworden; drastisch ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt durch verschiedene Flüchtlingsdramen. Das erste ereignete sich bereits 2001, als das norwegische Containerschiff „Tampa“ 438 vorwiegend afghanische Flüchtlinge aus Seenot gerettet hatte und in der Nähe der zu Australien gehörenden Weihnachtsinsel im Pazifik vor Anker gegangen war. Kapitän und Besatzung waren mangels Ausrüstung völlig überfordert mit der Aufgabe, die Flüchtlinge zu versorgen und zu verpflegen. Während von den auf engstem Raum zusammengepferchten Menschen viele an Durchfall erkrankten und sich an Bord unbeschreibliche hygienische Zustände entwickelten, begann ein unwürdiges Gezerre und Gefeilsche der Staatenwelt um ihr Schicksal. Der australische Premierminister, statt Hilfe zur Verfügung zu stellen, ließ die „Tampa“ von militärischen Eliteeinheiten stürmen, um sie gewaltsam außerhalb der Hoheitsgewässer zu halten. Die einzige Konsequenz dieses Dramas war eine massive Verstärkung der Grenzkontrolle Australiens; zusätzlich wurden sofort fünf Patrouillenboote und vier Überwachungsflugzeuge eingesetzt. So ist nun, analog zu den USA und zur EU, von einer „Festung Australien“ die Rede, hier wie dort demokratisch mehrheitsfähig mit eindeutig chauvinistischen Begründungen. „Die Bevölkerung“, so hieß es bereits 2001 in einem Korrespondentenbericht aus dem Südkontinent, „sieht die Position des Landes als ausgeprägte Wohlstandsinsel in einem ‚Meer von Armut‘ gefährdet“ (Astbury 2001). „Die Australier stehen endlich wieder fast ausnahmslos hinter ihrer Regierung… ‚Abknallen und versenken‘, dröhnt es sogar aus den Radiolautsprechern“ (Wälterlin 2001). Nur wenige Tage nach dem Drama auf der „Tampa“ (die Flüchtlinge wurden am Ende Richtung Neuseeland und teils auf eine unwirtliche Pazifik-Insel verfrachtet) beschuldigte Spanien die marokkanische Regierung der „Laxheit“ gegenüber illegalen Migranten, die sich von den marokkanischen Stränden aus einschifften.

Die Tragödie der „Tampa“ verweist auch noch in anderer Hinsicht auf die gesamtdemokratische Heuchelei. Denn sogar auf den Ozeanen wird die Menschheit auf eine nie zuvor dagewesene Weise in extreme Armut und obszönen Reichtum aufgespalten. Den „Boat People“ des Elends entsprechen die anderen „Boat People“ des Krisenreichtums; beide auf der Flucht – die einen vor den Katastrophen des Kapitalismus, die anderen vor der Besteuerung ihres kapitalistisch erworbenen Vermögens und vor den sozialen Konsequenzen ihres Geldmachens: existiert der Unterschied zwischen Arm und Reich. Heute werden riesige Luxusschiffe gebaut, auf denen man sich eine Eigentumswohnung kaufen kann, um sich einen Steuerwohnsitz auf hoher See zu unterhalten – schwimmende Nobeldörfer, die keine Mauer mehr brauchen, um sich vom Rest der Welt zu befreien, keine gated communities wie in den USA. Mobile Steueroasen der Privilegierten, die von Hafen zu Hafen ziehen, immer in der absoluten Gewissheit, dort freundlich versorgt zu werden. Für die Flüchtlinge ist der Frachter „Tampa“ ein riesiges Gefängnis, von dem jede Flucht unmöglich ist. Aber für die zukünftigen Bewohner der anderen Sorte wird der Ozean zum Garanten für ihre völlige Freiheit von jeder Art sozialer Verpflichtung, ein Paradies im Niemandsland. Was würde aber wohl geschehen, wenn ausgerechnet ein solches Luxusschiff die Flüchtlinge aus Seenot retten müsste – und das muss es – und nicht die „Tampa“? Würden die reichen Nomaden ihre wunderschönen Wohnungen zur Verfügung stellen? Oder würden sie gegen die Eindringlinge nicht vielmehr die Navy jener Staaten zu Hilfe rufen, für die sie zuvor kaum einen Steuerpfennig aufgebracht hatten?“ (Steinberger 2001).

Als Polen, Tschechien u.a. Länder noch nicht EU-Mitglieder waren, fand dieselbe Menschenjagd wie an der Südgrenze der USA, in den australischen Gewässern und im Mittelmeer auch bereits an der damaligen Ostgrenze der EU entlang der Oder und im Grenzgebiet zu Tschechien statt. Und hier war es der deutsche Grenzschutz, der mit Hunden, Patrouillenfahrzeugen und Scheinwerfern Migranten und Flüchtlinge hetzte und dabei keinen Deut zimperlicher vorging als die Kollegen der Festungspolizei an den anderen „eisernen Vorhängen“ des demokratischen Kapitalismus, wie zahlreiche Beispiele bezeugen. Sieben kosovo-albanische Flüchtlinge starben nach einer Verfolgungsjagd 1998 nahe bei der sächsischen Stadt Freiberg noch am Unfallort, 20 weitere Personen wurden in Krankenhäuser eingeliefert. „Diese Begebenheit ist ein Beispiel dafür, in welcher Weise das Recht, Rechte zu haben, territorial abgeschwächt oder gar außer Kraft gesetzt wird. In der Grenzzone, gesetzlich auf eine Breite von 30 Kilometern festgelegt, haben Flüchtlinge, wenn sie gefasst werden, kaum Chancen auf eine Asylantragstellung und sind von sofortiger Rückschiebung in das Nachbarland bedroht…“ (Dietrich 2000). Nicht besser sah es natürlich an der Grenze Österreichs zu Ungarn und Slowenien aus. Die Österreichische Polizei, ohnehin bekannt für ihr rassistisches Potential und ihren Hang zu einschlägigen Übergriffen, stand den Kollegen in der BRD, Spanien und Italien an Brutalität in der Behandlung der Rechtlosen und stumm gemachten nicht nach.

Es kann heute gar keinen Zweifel mehr geben, dass die Balkankriege der NATO nicht nur im Interesse des westlichen Sicherheitsimperialismus, sondern auch (und sogar in erster Linie) im Zusammenhang mit dem westlichen Ausgrenzungsimperialismus geführt wurden. Schon Anfang der 90er Jahre gab das „Handelsblatt“ hinsichtlich der „Wohlstandsgrenze“ den Alarmruf aus: „Europa droht an der Ost- und Südflanke der Sturm einer neuen Völkerwanderung“ (Habicht 1992). Knapp ein Jahrzehnt später wurde der Hauptherd der illegalen Migration für die 90er Jahre identifiziert, indem es hieß: „Balkan wird zur offenen Flanke der ‚Festung Europa‘…“ (Handelsblatt, 15.2.2001).

Durch das Abkommen von Schengen, das 1995 endgültig in Kraft trat, wurde die Freizügigkeit des Verkehrs innerhalb der EU festgeschrieben; die wie stets heuchlerischen demokratisch-kapitalistischen Medien feierten mit dem Abbau der Schlagbäume und Grenzkontrollen einen angeblichen epochalen Fortschritt, eine Überwindung des engstirnigen nationalen Denkens. Aber die Freizügigkeit nach innen ist im Schengener Abkommen ausdrücklich an die verschärfte und geradezu brutalisierte Kontrolle der gemeinsamen Außengrenze gebunden, an das Gegenteil von Freizügigkeit gegenüber den Massen der Halb- und Nichtmenschen „draußen“, außerhalb der kapitalistischen Reproduktionsfähigkeit, die auch „draußen“ gehalten werden sollen.

Zunehmend war und ist die EU allerdings bemüht, die hässliche Grenze ihres Ausgrenzungsimperialismus vor zu verlagern und die Schmutzarbeit auf die Anrainerstaaten auszulagern, um das Bild der demokratischen Idylle möglichst wenig zu beflecken. Vor allem die Asylpolitik ist bestrebt, das Problem auf die Frontstaaten außerhalb der EU abzuwälzen. Sämtliche osteuropäischen Beitrittsstaaten mussten sich in Verträgen verpflichten, über ihr Territorium eingereiste und in der BRD bzw. Westeuropa abgelehnte Asylbewerber und „illegale“ Migranten „zurückzunehmen“, also den Umgang mit diesen Menschen zu ihrem Problem zu machen.

Dabei arbeiteten die Europäische Kommission und insbesondere die Regierung der BRD als Hauptfürsprecher der damaligen sogenannten Osterweiterung der EU ganz unverblümt mit Pressionen, um besonders die damals hoffnungsvollsten Aufnahme-Adepten Polen, Tschechien und Ungarn ebenso wie Bulgarien und Rumänien zu Vorposten ihres Ausgrenzungsimperialismus zu machen: „In der Europäischen Kommission kursieren deshalb Überlegungen für einen ‚europäischen Grenzschutz‘, der Beamte aus neuen und alten Mitgliedstaaten umfassen könnte… Noch immer erwartet die Kommission eine überzeugende Antwort der polnischen Regierung auf die Frage (!), wie sie die löchrige Grenze zu Weißrussland und zur Ukraine besser zu schützen gedenke… Werden künftig an der polnischen und anderen Außengrenzen der Gemeinschaft Grenzpolizisten aus den heutigen EU-Staaten gemeinsam mit litauischen, polnischen oder ungarischen Kollegen auf Streife gehen? Die Vorstellung, Beamte des Bundesgrenzschutzes könnten entlang der Ostgrenze patrouillieren, weckt in Polen auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs schlimme Erinnerungen…“ (Bünder/Friedrich 2000).

Um solchen unverschämten Pressionen zuvorzukommen, bemühten sich natürlich die Regierungen der damaligen Aufnahmekandidaten zunehmend darum, selbst bereits die erwünschte Härte bei der „Vorneverteidigung“ der „Festung Europa“ an ihren Ostgrenzen zu demonstrieren. Mit ekelhaften Folgen für die „Freizügigkeit“ innerhalb Osteuropas, das nun auf neue Weise geteilt wurde: „Wenn Leute aus der alten westukrainischen Metropole Lemberg ihre Freunde und Verwandten im 100 km entfernten Przemysl besuchen wollen, dann wird das eine lange Reise… Die Grenze dazwischen ist in den vergangenen vier Jahren zu einem undurchdringlichen Festungswall ausgebaut worden. Stacheldraht und Patrouillen mit Hunden sollen illegale Einwanderer fernhalten, Polizeihubschrauber fliegen beständig Grüngürtel ab, an den Übergängen werden Lastwagen und Busse mit endloser Gründlichkeit durchsucht. Die Scheußlichkeit hat bei den Grenzbewohnern einen bezeichnenden Namen: Brüsseler Vorhang (!)… Ähnlich wie im Südosten Polens sieht es auch an den Ostgrenzen der Slowakei und Ungarns aus. Sogar die Tschechen verriegeln ihre Ostgrenze zum Mit-EU-Anwärter Slowakei, auch wenn diese Grenze zu Zeiten der Tschechoslowakei, also bis vor acht Jahren, so unsichtbar war wie die Grenze zwischen deutschen Bundesländern…“ (Oztovics 2000).

Die derart gedemütigten und zurückgestuften Staaten östlich der aussichtsreicheren damaligen Aufnahmekandidaten bemühten sich ihrerseits, der EU gegenüber Wohlverhalten durch Härte gegen die noch weiter östlich gelegenen Gebiete an den Tag zu legen. „… Bei der Vorbereitung auf den Beitritt in die EU verwandelt sich Rumänien von einem Ursprungs- und Transitland illegaler Einwanderung zu einem Schutzschild gegen diese“ (Nastase 2001. Das schrieb der damalige rumänische Ministerpräsident an die Zeitung FAZ.

Ähnlich widerlich und untertänig verhielt sich die Ukraine, die ebenfalls kapitalistische „Seriosität“ in den Ausgrenzungsstandards gegen Flüchtlinge und transnationale Mafia-Bewegungen mimte. „Mehr oder weniger ist das ukrainische Bemühen darauf gerichtet, dass nicht die Westgrenze zu Polen, sondern die Ostgrenze zu Russland die zukünftige Außengrenze der EU sein solle (Wehner 2000).

Es ist kaum fassbar, mit welcher Chuzbe sich der westliche demokratische Diskurs mehr als 25 Jahre nach dem Fall der „Berliner Mauer“ immer noch über diese „unmenschliche Grenze“ bis zu strömenden Krokodilstränen erregen kann, während er gleichzeitig ungeniert nach „Mauer und Stacheldraht“ gegen die „Unerwünschten“ verlangt. Das ist dann auf einmal keine „Schandmauer“, sondern ein „demokratischer Schutzwall“ gegen die Erniedrigten und Beleidigten des kapitalistischen Weltsystems.

Und selbst wenn sich die heutige LINKE, gewissermaßen als Nachfolgepartei der für den Mauerbau verantwortlichen einstigen DDR-Staatspartei in krampfhaften Entschuldigungen übt: Kein Staat habe das Recht, Menschen an ihrer Bewegungsfreiheit zu hindern und sie in seinem Hoheitsgebiet einzusperren. Dieser demokratische Kotau ist offensichtlich nichts als eine Anbiederungsgeste, um das Eintritts-Billett zur kapitalistischen „Regierungsfähigkeit“ zu erlangen und „Mitverantwortung übernehmen“ zu dürfen für den neuen, noch viel größeren Mauerbau im Osten (über den im Zusammenhang mit der ganzen „Entschuldigungsdebatte“ kein Wort verloren wurde und wird).

Was die wunderbare Freizügigkeit betrifft, ist es schließlich kein grundsätzlicher Unterschied, ob Menschen mit Gewalt und Festungswällen ein- oder ausgesperrt werden, ob die Menschenjagd illegalen Flüchtlingen nach außen oder nach innen gilt. Wenn man sich überhaupt auf Argumente für einen Mauerbau einlassen will, war die Legitimation der DDR sogar die bessere: Die staatskapitalistische Bürokratie wollte verhindern, dass der DDR permanent riesige Kosten für die Ausbildung von Ärzten, Ingenieuren, Wissenschaftlern usw. verloren gingen, indem die ausgebildeten Spezialisten sich samt Wissen in den Westen davonmachten. Das war ein gewaltiger ökonomischer Transfer zugunsten der BRD, und zwar zum Nulltarif. Und die flüchtigen Spezialisten wollten natürlich, unabhängig von allen ideologischen Begründungen, ihr kostenlos erworbenes Humankapital im Westen besser verkaufen. Wenn die abfällige Bezeichnung „Wirtschaftsflüchtling“ zutrifft, dann auf diese Sorte. Im Unterschied dazu richtet sich die „Brüsseler Mauer“ gegen die vom globalen ökonomischen Terror des Konkurrenzkapitalismus verursachten Elendswanderungen; ihre Legitimierung ist noch viel schäbiger als diejenige der „Berliner Mauer“.

Je größer der Zustrom und je härter die Abschottungsmaßnahmen im Laufe der 80er, 90er und 00er Jahre wurden, desto mehr entwickelte sich die „Fluchthilfe“ zu einem weltweiten professionellen Geschäft – wiederum in böser Analogie zur Geschichte von „Mauer und Stacheldraht“ zwischen DDR und BRD. Wurden aber die Mitglieder der nicht selten durchaus auf klingende Münze erpichten Fluchthelfer-Organisationen an der Berliner Mauer im Westen einst als Helden gefeiert, so gelten die sogenannten „Schlepper-Syndikate“ nun als kriminelle Vereinigungen der schlimmsten Art, obwohl sie im Prinzip nichts anderes tun als ihre Vorgänger an der deutsch-deutschen Mauer – allerdings in einem weitaus größeren Maßstab und rein kommerziell, ganz ohne ideologische Freiheitsmaske, also ordinär kapitalistisch; was denn sonst?

Das Schleusergeschäft ist inzwischen weltweit milliardenschwer, buchstäblich eine Art Menschhandel mit notgedrungenem Einverständnis der Menschenware, deren einziges Ziel es ja ist, die eigene Haut auf den westlichen Arbeitsmärkten des Kapitals verkaufen zu können. Für die oft illusorischen Hoffnungen werden den Flüchtlingen, die in ihrer vom Konkurrenzgesetz des Weltmarkts ruinierten Heimat keinerlei Perspektive mehr sehen, in der Regel die gesamten Lebensersparnisse abgenommen. In Albanien und anderen Ausgangspunkten wie Bosnien-Herzegowina trieben die Schleuser ihre „Kundschaft“ wie Vieh mit den Waffen zusammen; und tauchte bei der Fahrt über die Adria die ihrerseits rabiate italienische Küstenwache auf, wurden die Flüchtlinge gelegentlich mit vorgehaltener Pistole einfach dazu gezwungen, ins Meer zu springen. Und genau das geschieht tagtäglich auch den Flüchtlingen, die derzeit aus Syrien und anderen Ländern übers Mittelmeer nach Europa drängen. Was bedeuten schon Tote?

Die andere Odyssee auf dem Landweg besteht darin, dass die Schleuser ihre menschliche Fracht zusammengepfercht in Frachtcontainern von Lastwagen verstecken, wie sie dank der kapitalistischen Verkehrspolitik die großen europäischen Transferstraßen verstopfen. In diesen Containern und Lastwagen ersticken immer wieder Flüchtlinge. Ein Normalfall. Und jedes Mal fließen die Krokodilstränen der demokratischen Presse wieder reichlich; ebenso wie bei Berichten über Kinder von Flüchtlingsfamilien, die beim illegalen Fußmarsch über die Alpen erfroren oder an Erschöpfung gestorben sind. Zu ertrinken, zu ersticken, zu erfrieren, erschossen zu werden, bestenfalls in einem verseuchten Lager oder im Abschiebungsknast zu landen, das ist die größere Aussicht derer, die dafür alles hingeben, was sie noch haben. Daran ist das Potential der Verzweiflung zu ermessen. Umso schlimmer, wenn man bedenkt, dass es ja meist jüngere und aktive Menschen mit einem Rest an Zahlungsfähigkeit sind, die diesen Leidensweg gehen. Wie muss es da im Alltag der Zurückgebliebenen aussehen, der Alten, Kranken, gänzlich Mittellosen?

Was die heuchlerischen demokratischen Medien dabei wahrnehmen, ist nie der globale politökonomische Gesamtzusammenhang dieser Verhältnisse, sondern immer nur die „Skrupellosigkeit der Schlepperbanden“. Die Wirkung wird zur Ursache, die Erscheinung zum Wesen erklärt, wieder einmal. Selten, dass eine kritische Stimme zu Wort kommt.

Die Illusion vom „Wiederaufbau“

Je unduldsamer sich das demokratisch-kapitalistische Zentrum gegen die Massen der Herausgefallenen abschottet, desto weniger wollen seine Hüter wahrhaben, dass es sich bei den Krisenerscheinungen, die sie mit derart perfiden Methoden eindämmen wollen, um den Auflösungs- und Selbstzerstörungsprozess des warenproduzierenden Weltsystems selbst handelt; also um den Untergang ihrer eigenen kapitalistischen Ontologie. Sie tun immer so, als ginge es nach dem Epochenbruch und am Ende des Staatskapitalismus um die Schaffung einer „neuen“ marktwirtschaftlich-demokratischen Welt, während es sich in Wirklichkeit um die Rückkehr zur ältesten sozialen Brutalität des kapitalistischen Realitätsprinzips handelt.

Was die Zersetzung des Weltsystems für die demokratischen Ideologen oberflächlich wie die positive Konstitution einer selbsttragenden neuen Weltgesellschaft aussehen lassen kann, ist die relative zeitliche Dehnung der Krisenprozesse und ihre Ungleichzeitigkeit. Zwar ist auch in dieser Hinsicht die historisch beispiellose, von der totalen Konkurrenz bedingte blinde Dynamik des Kapitalismus wirksam: Im Vergleich zur Auflösung früherer gesellschaftlicher Konstitutionen (etwa der altägyptischen, der römisch-antiken oder der sogenannten mittelalterlich-feudalen) ist die kapitalistische Weltgesellschaft auch in dieser Hinsicht einer ungeheuren Beschleunigung unterworfen. Aber andererseits hat sich entsprechend auch der Zeithorizont des kapitalistischen Bewusstseins verkürzt und auf die immer schnelleren Zyklen der Märkte und Moden zusammengezogen (am extremsten in der „nanosekunden-Kultur“ der Finanzmärkte), sodass eine über Jahre oder gar Jahrzehnte sich hinziehende Entwicklung schon jenseits des kapitalistischen Zeitbewusstseins liegt. In einer Welt, in der man „für fünf Minuten berühmt sein“ kann, muss alles, was über die Saison- oder Jahresfrist und damit über den Radius des medialen Scheinwerferlichts hinausgeht, gewissermaßen eine „historische Dimension“ annehmen, obwohl es in der wirklichen Dimension der Geschichte verschwindend sein kann. Wenn am Ende die „Epochen“ nach Jahren oder gar Monaten gezählt werden, dann mag es tatsächlich zumindest für dieses reduzierte Bewusstsein eine „Epoche“ der postmodernen, demokratisch-kapitalistisch vereinheitlichten Welt geben.

Die Realität der globalen Krisenverwaltung, reduziert auf ein repressives und blutiges „business as usual“ bis zum Gehtnichtmehr, nimmt in diesem Sinne epochale Verlaufsformen an, die in ein „schwarzes Loch“ der Zukunft münden; zumindest solange sich keine neue emanzipatorische Gegenbewegung erhebt, die diesen Namen verdient. Und für diese Epoche, die schon keine mehr ist, werden dementsprechend auch Strategien und Konzepte ausgearbeitet, die im globalen Zerfallsprozess Haltepunkte markieren und eine positive Perspektive suggerieren sollen. Zu den anspruchsvollen und zugleich begriffslosen Konflikttheorien, wie sie z.B. Glucksmann, Fukuyama oder Huntington formulieren, treten daher sekundäre Bewältigungskonzepte, die ebenfalls ideologisch angereichert werden. Im Unterschied zu den globalen kulturalistischen Konflikttheorien geht die illusorische Konzeptheckerei weniger von Intellektuellen im engeren Sinne aus, die sich saisonal berühmt machen, als vielmehr vor allem von der politischen Klasse sowie der bürokratischen Funktions- und Verwaltungsintelligenz der kapitalistischen Apparate.

Ganz wie die intellektuellen Theorien der Weltlage und deren kulturalistisch beschränkte epochale Fehlbestimmungen sind auch die eine Schuhnummer kleineren Bewältigungs-Konzepte und - Ideologien wesentlich nostalgisch ausgerichtet: Ziehen sich die ersteren großenteils auf die falschen, längst ausgeleierten und bis zur Kenntlichkeit ihres repressiven Gehalts entpuppten Ideale der bürgerlichen Aufklärung im 18. Jahrhundert zurück, um damit den planetarischen Herrschaftsanspruch eines nicht mehr reproduktionsfähigen Kapitalismus zu legitimieren, so schielen die letzteren mangels Alternativen immer noch auf das Paradigma der Prosperitätsperiode in den kapitalistischen Zentren nach dem Zweiten Weltkrieg.

Zwar wissen es die Ökonomen besser und haben auch längst ebenso offen wie zynisch zugegeben, dass es für den größten Teil der Menschheit keine „Beschäftigung“, keine „Entwicklung“ und keine Zukunft mehr geben wird, den zur ontologischen Menschheitsbedingung verdichteten Kapitalismus als gesellschaftliche Pseudo-Naturform vorausgesetzt. Aber das „business as usual“ des demokratischen Ausgrenzungsimperialismus verlangt eben nach Konzepten, die irgendwie eine praktisch mögliche Perspektive vorgaukeln sollen, und so verbinden sich die wolkigen ideologischen Statements des westlichen Universalismus mit trügerischen, haltlosen Begrifflichkeiten von „Wiederaufbau“, „Normalisierung“, „Wiedereingliederung in die demokratische Völkergemeinschaft“ usw. für die globalen Zusammenbruchs-, Plünderungs- und Bürgerkriegs-Regionen.

Das Wort, das sich dafür konzeptionell einstellt, inzwischen inflationär geworden ist und von demokratischen Außenministern, Sonderbeauftragten, NGO-Häuptlingen und Medienkaspern gewohnheitsmäßig abgeleiert wird, heißt „Marshall-Plan“. Jene Wirtschafts- und Finanzhilfe, die von der aufsteigenden Supermacht USA nach dem Zweiten Weltkrieg 16 europäischen Ländern, darunter dem zerstörten Deutschland zwecks Eingliederung in die neue Front des Kalten Krieges gewährt worden war, wird als leuchtendes Beispiel und ökonomisches Allzweck-Rezept ausgemalt, um für die Reintegration der ökonomisch verbrannten Zonen des Weltmarkts in „Marktwirtschaft und Demokratie“ die Idee einer Art Starthilfe zu verbreiten und so zu tun, als handelte es sich dabei um ein bewährtes, jederzeit wiederholbares Mittel der Hilfe für die „armen Verwandten“. Von den insgesamt ungefähr 13 Mrd. US-$ des Marschall-Planes erhielt Deutschland etwa 10 Prozent, also vier Jahre lang (1948 bis 1952) etwas über 300 Mio $. (1950 betrug das BIP der BRD 49, 69 Mrd. DM).

Schon das historische Original ist also ein bloßer ökonomischer Mythos, der aus Gründen des ideologischen Wohlverhaltens im Sinne einer Westbindung der BRD erfunden wurde. In Wahrheit kam dem Marshall-Plan kaum mehr als symbolische Bedeutung zu. Der wirkliche Take-off des Nachkriegsbooms war die militärisch vermittelte Konjunktur des Korea-Kriegs; und das nachfolgende sogenannte Wirtschaftswunder speiste sich aus den immanenten Potentialen der Zweiten industriellen Revolution (Fordismus, „Automobilmachung“ usw.) zur erweiterten betriebswirtschaftlichen Vernutzung menschlicher Arbeitskraft. Der Marshall-Plan hatte damit gar nichts zu tun. Und nichts davon ist heute wiederholbar. Die neue Weltkrise der Dritten industriellen Revolution besteht ja gerade darin, dass das kapitalistische Potential zur Absorption von Arbeitskraft unter dem Eindruck der neuen mikroelektronischen Produktivkräfte erlischt, dass deshalb immer neue Massen von „Überflüssigen“ erzeugt werden und immer größere Gebiete der Erde aus der Weltmarktfähigkeit herausfallen.