Kapitalismus - verstehen - abschaffen - George Kaufmann - E-Book

Kapitalismus - verstehen - abschaffen E-Book

George Kaufmann

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Beschreibung

Was ist los mit der Welt? Nach allgemeiner Auffassung entwickelt sich alles immer höher, besser und schneller. Es müsste folglich jedem Menschen beständig besser gehen. Aber wir fühlen im Innersten und finden es empirisch im Alltag bestätigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Flüchtlingsströme, Kriege, Arbeitslosigkeit, Kaufkraftverlust, Selbstmordattentate, Rassenhass, Fundamental-Ideologien, Nationalismus... sind unsere beständigen Wegbegleiter. Weil die Welt inzwischen vollständig kapitalistisch globalisiert ist, gibt es keine wie auch immer geartete Erscheinung, die nicht ein original kapitalistisches Produkt wäre. Hier erfährst Du, woher der Kapitalismus kommt, was er auf seiner über 400 Jahre währenden Reise mit der Welt und vor allem mit uns Menschen gemacht hat. Und Du erhältst einen Einblick darin, was wir dieses kapitalistische System mit uns selbst machen ließen. Schließlich bekommst Du das Wissen, wie wir uns dieses Monster vom Hals schaffen können. Erwarte keine Rezepte; aber nach dieser Lektüre gehörst Du zu den Wissenden. Mach was draus!

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Seitenzahl: 512

Veröffentlichungsjahr: 2016

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George Kaufmann

Kapitalismus - verstehen - abschaffen

Wo kommt das Biest her, was richtet es beständig an und wie bringen wir es um?

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© 2015 George Kaufmann

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7323-7674-2

Hardcover:

978-3-7323-7675-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kurz lesen

Einleitung

Was tun? Was tun!

Wir alle spüren es, die Entwicklung in der Welt führt zu immer schlechteren Ergebnissen für uns Menschen. Statt dass es uns allen ständig immer bessergeht, denn wir entwickelten und entwickeln unsere Produktivkräfte zu einem nie vorher erreichten Stand, geht es immer mehr Menschen auf dieser Erde immer schlechter. Obwohl alle Ressourcen überreichlich vorhanden sind, um allen Menschen ohne Ausnahme ein zufriedenes und glückliches Leben zu gewährleisten, werden diese Ressourcen destruktiv fehlgeleitet und sogar vernichtet. In jedem Jahr wird Millionen von Menschen das Leben genommen. Der Grund besteht darin, dass wir seit 300 bis 400 Jahren zugelassen haben, ein System der menschlichen Lebensweise sich entwickeln zu lassen, das wir heute als Kapitalismus bezeichnen. Es ist ein komplett irrationales System, das alle Lebensäußerungen von uns Menschen dem Geldfetisch und dessen Wirkungsfeldern der Warenproduktion durch „Arbeit“, dem Markt und der Konkurrenz unterwirft. Und obwohl wir von diesem System vollkommen unterworfen wurden, also domestiziert, gewissermaßen „verhausschweint“ (Robert Kurz) sind, gibt es ein dumpfes Unwohlsein und Auflehnungen, die zum Teil sehr gewaltsame Formen angenommen haben. Dennoch bleiben all diese Auflehnungen bis heute diffus und blind. Denn sie richten sich nur vermeintlich gegen das System, indem sie sich nur gegen dessen innere Erscheinungen richten. „Die Politiker“; „die da oben“; „machen eine falsche Politik“; „mehr Demokratie“; „tötet die Ungläubigen“; Deutschland den Deutschen“; „Ausländer raus“; „wir sind das Volk“; „wir sind die 99 Prozent“; „die gierigen Banker“; „gegen die Islamisierung des Abendlandes“. All solche Auflehnungen sind vergebens, gewissermaßen vergeudete Energie, da sie nicht an den Kern dieses perversen kapitalistischen Systems rühren, nämlich die Verwertung des Werts.

Das liegt daran, weil das Massenbewusstsein systemisch verseucht ist, es kann nicht zu diesem Kern des Systems vordringen, solange es nicht weiß, was Kapitalismus, also das System überhaupt ist. Man kann nur etwas abschaffen, das man kennt, von dem man weiß, wie es funktioniert. Und um das zu wissen, muss man sehr viel lernen, indem man zahlreiche Bücher liest, in denen dieses Wissen vermittelt wird. Ja, solche Bücher gibt es. Sehr wichtig ist jedoch allein schon, die wirklich hilfreichen Bücher auszuwählen. Hilfreich im Sinne des Erkennens auch dessen, was nicht zur Abschaffung dieses Systems beträgt, weil sich dieses

Wissen bereits blamiert hat, und hilfreich in dem Sinne, zu finden was uns hilft, den Kapitalismus, dieses zutiefst irre System tatsächlich abzuschaffen und die „Vorgeschichte der Menschheit“ (Marx) zu beenden. Gelesen werden sollten dafür wenigstens große Teile Marx, Engels, etwas Lenin, etwas Kant, etwas Hegel, etwas Stalin, etwas Kautsky, aber alles von Kurz: Robert Kurz. Im Minimum hättest Du so etwa 50.000 Seiten zu lesen und daraus die wesentlichen Passagen zu extrahieren. Aber wer macht das schon? Robert Kurz hat es getan. Er lebt nicht mehr, weil man ihn 2012 zu Tode operiert hat. Kurz war der Gesellschafts-Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum, der uns den radikal antikapitalistischen Marx zeigt und mit Marx dennoch weit über ihn hinausweist. Aus seinem Gesamtwerk habe ich hier etwa 260 Seiten so zusammengestellt und im letzten Teil durch eigene Bemerkungen mit aktuellem Bezug ergänzt, dass Du letztlich wissen wirst, was Kapitalismus ist, seine Funktionsweise verstehst und ableiten kannst, wie dieses System abzuschaffen ist, bzw. was dazu nicht geeignet ist.

In meinen Bemerkungen verwende ich das „Du“; es meint Dich mit allergrößtem Respekt als Mensch.

An vielen Stellen, in denen von „heute“ gesprochen wird, habe ich dahinter immer wieder die Jahreszahl „2015“ vermerkt. Nicht etwa, weil ich Dich für blöd halte, sondern um beharrlich darauf aufmerksam zu machen, dass wir im 21. Jahrhundert leben und es höchste Zeit ist, im Sinne dieses Textes aktiv zu werden.

Für die im Text abgedruckten Zitate findest Du am Schluss das entsprechende Literatur-Verzeichnis. Zusätzlich habe ich Literatur angegeben, die sich bei weitergehendem Interesse anzuschauen lohnen kann.

Ein gewisser Bestand an Fremdwörtern ließ sich leider nicht ganz vermeiden. Halte Dir daher, falls erforderlich, ein Fremdwort-Lexikon parat.

Auf eine Gliederung des Textes wurde verzichtet. Die Ausführungen folgen einer zeitlichen Chronologie von den Anfängen dieses irren Systems bis heute (2015) und geben schließlich Anregungen dafür, was zu tun wäre, um das System zu entsorgen. Daher lies, wenn es Dir irgend möglich ist, den Text von vorn durch; Drüberlesen bringt nichts. Eher etwas Zeit nehmen.

Das im Titel verwendete „Kurz lesen“ hat durchaus eine doppelte Bedeutung: Zum einen die, das Werk von Robert Kurz zu lesen (analog zu seinem Buchtitel: „Marx lesen“) und darüber hinaus die, dass die hier geschriebenen etwas über 400 Seiten für das vermittelte umfangreiche Wissen absolut „kurz“ sind.

Kapitalismus - verstehen - abschaffen

Was ist das? Kapitalismus? Es ist die letzte Fetisch-Gesellschaft in der menschlichen Entwicklung. Damit ist sie, wie Marx feststellte, die letzte Stufe der menschlichen Vorgeschichte.

Jeder Mensch weiß, dass er im Kapitalismus lebt aber kaum jemand von uns (vollkommen unabhängig von der Zugehörigkeit zu irgendeiner sozialen Schicht, also „oben“ oder „unten“) kann erklären, was Kapitalismus ist. Wir wissen nicht, wo er herkommt und warum er so ist, wie er ist. Aber wir haben das dumpfe Gefühl, dass das Leben auf unserer so schönen Erde beständig nur schlechter und schwerer wird. Wir fühlen es und viele erleben es täglich sogar durch die Vernichtung ihrer Existenz bzw. ihres nackten Lebens: Kapitalismus ist ein brutales Gewinner-Verlierer-Spiel, dessen totalitärer Charakter die pure soziale und selbst die physische Existenz als Einsatz nicht ausspart; und er hat von Anfang an mehr Verlierer als Gewinner hervorgebracht. Seine bisherige Gesamtbilanz ist nicht nur negativ, sondern verheerend. Dass der Kapitalismus einige wenige reich, die Masse aber bettelarm macht, ist eine historische Grunderfahrung.

Die Protagonisten des Systems, die überwiegend zur winzigen und immer weiter schrumpfenden Minderheit der (relativen) Gewinner und zu den zynischen Rechtfertigungs-Ideologen dieser absurden und antihumanen Gesellschaftsform gehören, erzählen uns von der „Alternativlosigkeit“ dieser „besten aller bisherigen Gesellschaftsformen“ und von ihrer „Wohlfahrtssteigerung“. Die Grausamkeiten seien nur politischen Fehlern geschuldet, die durch eine „richtige Politik“ und die „richtigen“ Leute vermieden werden können. Auffällig ist, dass es eine kapitalistische Geschichte offenbar nicht gibt. Es ist eben wie es ist, also basta. Aber es gibt sie eben doch, diese Geschichte des Kapitalismus, und sie entlarvt den Wahnsinn dieses Systems vollständig. Das ist natürlich einerseits von den Protagonisten nicht erwünscht und andererseits besteht in uns selbst eine systembedingte Erkenntnis-Schranke: denn wir wurden durch eine jahrhundertelange Domestizierung zu einem dem zynischen Realismus verfallenen Markt-menschen, der sich einbildet, das aufgeklärteste Wesen der Welt zu sein. Dabei lassen wir aber nahezu alles mit uns machen und nehmen die unglaublichsten Zumutungen fatalistischer hin als ein orientalischer Mystiker und lassen uns größeren Unsinn einreden als ein mittelalterlicher Bauer. Weil wir jeden Maßstab verloren haben, können wir weiß und schwarz nicht mehr unterscheiden; und ob uns etwas wehtut, müssen wir den Diagnosen von Experten oder der Statistik entnehmen. Erst dieser komplette, seiner kritischen Vernunft beraubte und entmündigte Idiot ist reif für eine flächendeckende Marktwirtschaft, an deren „Gesetze“ er glauben darf wie der feudale Hintersasse an die Realexistenz von Hölle und Fegefeuer.

Aber schauen wir uns dennoch und umso gründlicher an, wie das mit dem Kapitalismus losging und wie er sich bis heute entwickeln konnte. Und lassen wir es darauf ankommen, ob wir Idioten bleiben (wollen):

Irgendwann am Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts muss es irgendwo in einer südwestdeutschen Alchimistenküche einen gewaltigen Knall gegeben haben; eine unvorsichtig zusammengestellte Mischung aus Salpeter, Schwefel und anderen Chemikalien flog in die Luft. Der wissbegierige Mönch, der dieses Experiment veranstaltete, hieß, nach allem, was wir heute wissen, Bertold Schwarz. Genaueres wissen wir nicht von ihm. Aber jene Explosion ist wahrscheinlich der eigentliche Urknall der Moderne gewesen. Die Chinesen kannten das Schießpulver übrigens schon lange vorher und nutzten es außer für prachtvolle Feuerwerke gelegentlich auch militärisch. Aber sie kamen nicht auf die Idee, mit Hilfe dieses Explosivstoffes weittragende Distanzwaffen für Projektile herzustellen, deren Wirkung im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagend war. Diese Anwendung blieb den frommen Christen Europas vorbehalten. Nachgewiesen ist der Einsatz eines Geschützes erstmals für das Jahr 1334, als Bischof Nikolaus I. von Konstanz damit die Stadt Meersburg verteidigen ließ. Damit war die „Feuerwaffe“ geboren, bis heute (2015) das allgemein gebräuchliche Mordwerkzeug. Diese Basisinnovation der Moderne zog zunächst jene „Militärische Revolution“ (Parker) nach sich, die den historischen Aufstieg des Westens kennzeichnen sollte. Schon im Mittelalter hatte man die Folgen von wirksamen Distanzwaffen für die traditionelle gesellschaftliche Ordnung geahnt. Einschlägige ideologische Vorbehalte wurden geltend gemacht, als um das Jahr 1000 aus dem Orient die Armbrust als neuartige Distanzwaffe auftauchte. Das zweite Lateranische Konzil verbot 1129 den Einsatz dieses Kriegsinstruments als „unritterliche Waffe“. Nicht umsonst wurde seither die Armbrust zur Hauptwaffe der Räuber, Outlaws und Rebellen.

Die Feuerwaffe machte das stolze Rittertum vollends militärisch lächerlich. Allerdings befanden sich die „Feuerrohre“ nicht mehr in den Händen von Außenseitern. Denn sobald sich die Möglichkeiten der neuen Waffentechnik abzeichneten, gab es kein Halten mehr. Aus Furcht, ins Hintertreffen zu geraten, rissen sich die großen und kleinen Herrscher um die explosiven Wunderwaffen. Da hätte kein Konzil mehr geholfen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das know how der neuen Vernichtungsmaschinen. Besonders in den oberitalienischen Städten der Renaissance mit ihrer relativ fortgeschrittenen handwerklichen Kunstfertigkeit schritt auch die Technologie der Feuerwaffen rascher voran als anderswo. Alle Leistungen und Entdeckungen in dieser Geburtsepoche der modernen Welt wurden überlagert von der Kunst, Kanonen zu bauen und einzusetzen. Am Anfang des 16. Jahrhunderts beschreibt der Norditalienische Theoretiker Antonio Cornazano diese alles entscheidende Rolle der Feuerwaffen, er besingt die Kanone geradezu und bezeichnet sie recht persönlich als >Madama la bombarda, die zum Sohn das Gewehr hat. Diese teuflische Kunst hat alle anderen ausgeschaltet und öffnet den Feinden die befestigten Städte und macht mit ihrem Dröhnen ganze Armeen erzittern< (zit. nach: zur Lippe 1988, 37).

Immer bessere (!) Gewehre wurden gebaut und vor allem immer größere Kanonen, die immer weiter schießen konnten. Die größten Feldgeschütze bekamen sogar Eigennamen. Im Gegenzug entwickelte sich die Technik des Festungsbaus. So war der erste Schub der Modernisierung identisch mit einem Rüstungswettlauf und dieser Vorgang hat sich bis heute geradezu als Wesensmerkmal der Moderne periodisch wiederholt. Je größer und technologisch ausgereifter aber die Kanonen und Bollwerke wurden, desto deutlicher trat auch der gesellschaftsverändernde Charakter der „militärischen Revolution“ zutage.

Es stellte sich sehr schnell heraus, dass die Innovation der Feuerwaffen keineswegs nur auf eine Veränderung der militärischen Technologie beschränkt blieb. Die daraus folgende Umwälzung in der Organisation und Logistik des Krieges schnitt noch viel tiefer in die Verhältnisse ein. Bis dahin waren in fast allen agrarischen Gesellschaften die bürgerliche und die militärische Organisation der Gesellschaft weitgehend identisch gewesen. In der Regel war jeder freie Vollbürger auch eine kriegspflichtige Militärperson. Ein Heer sammelte sich nur, wenn die jeweilige oberste Instanz in Gestalt von Kaiser, König, Herzog, Konsul usw. die Männer (!) „zu den Waffen rief“, um einen Kriegszug zu führen. Zwischen diesen Gelegenheiten existierte normalerweise kein nennenswerter militärischer Apparat. Zwar hatten einige Großreiche wie das chinesische oder das spätrömische bereits mehr oder minder starke Armeen ständig unter Waffen. Aber so aufwändig diese militärische Dauerbelastung des Öfteren auch sein mochte, sie konnte doch die allgemeine Produktions- und Lebensweise nur äußerlich berühren. Der entscheidende Unterschied liegt im Problem der Ausrüstung. Der vormoderne Krieger brachte seine Waffen mit und trug sie auch im Alltag oder bewahrte sie zu Hause auf. Helm, Schild und Schwert konnten nahezu in jeder Dorfschmiede produziert werden. Und jeder Hirtenjunge wusste, wie man Pfeil und Bogen oder eine Schleuder herstellt. Auch die gesamte Logistik der Kriegführung konnte dezentral organisiert werden. Dies entsprach ganz den weitgehend dezentralen Verhältnissen in der agrarischen Hochkultur. Die Zentralgewalt, selbst die despotische, war hier immer nur begrenzt wirksam, und ihr Arm reichte kaum in das alltägliche Leben hinein.

Damit war es nun für immer vorbei. Musketen und vor allem Kanonen konnte man nicht mehr in jedem Dorf herstellen und zu Hause aufbewahren oder sie gar gewohnheitsmäßig bei sich tragen. Das Mordwerkzeug war plötzlich überdimensional geworden und überstieg den Rahmen der menschlichen Verhältnisse. In der Kanone finden wir also gewissermaßen den Archetypus der Moderne, nämlich das Werkzeug, das seinen Schöpfer zu beherrschen beginnt. Es entstand eine neuartige Rüstungs- und Todesindustrie, die das Urbild oder die Matrix der späteren Industrialisierung bildete und deren Leichengeruch die modernen Gesellschaften einschließlich der Weltmarktdemokratien unserer Tage nie mehr losgeworden sind.

Der militärische Apparat begann, sich von der bürgerlichen Organisation der Gesellschaft loszulösen. Das Kriegshandwerk wurde zum spezialisierten Berufsstand und die Armee zu einer ständigen Einrichtung, die die übrige Gesellschaft zu dominieren begann, wie Geoffrey Parker in seiner Untersuchung zeigt: >Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung nahm die Größe der Armeen in ganz Europa zu, die bewaffneten Streitkräfte einiger Staaten wuchsen zwischen 1500 und 1700 um das Zehnfache, und die Strategien für den Einsatz dieser größeren Armeen wurden ambitionierter und komplexer {…} Schließlich führte die militärische Revolution dazu, dass sich die Auswirkungen des Krieges auf die Gesellschaft in dramatischer Weise verschärften: die Kosten stiegen, die Schäden mehrten sich und die größeren Armeen stellten höhere Anforderungen an die Verwaltung< (Parker 1990, 20).

Auf diese Weise wurden die gesellschaftlichen Ressourcen in einem nie dagewesenen Umfang für militärische Zwecke umgeleitet. Sicherlich hatte es auch früher schon gelegentlich eine Art Vergeudungsmilitarismus gegeben, aber niemals derart dauerhaft und mit einem so hohen Anteil am Sozialprodukt. Der neue Rüstungs- und Militärkomplex entwickelte sich rasch zum unersättlichen Moloch, der ungeheure Mittel verschlang und dem die besten gesellschaftlichen Möglichkeiten geopfert wurden. „Madama la bombarda“ verschlang aber nicht nur einen unverhältnismäßig großen Teil des gesellschaftlichen Produkts, sondern sie gab auch der bis dahin sehr begrenzten Geldwirtschaft den entscheidenden Schub. Vermittels der steigenden landwirtschaftlichen und handwerklichen Produktivität allein wäre dieser Durchbruch des Geldes zur beherrschenden anonymen Macht niemals möglich gewesen. Über die Jahrtausende hinweg hat es zwar immer wieder technische Neuerungen gegeben. Aber in der Regel zogen es die Menschen vor, den Produktivitätsgewinn für Mußezeit und sinnliches Wohlleben statt für die Akkumulation von Geldkapital zu verwenden. Eine derart verrückte Form der Entwicklung von Produktivkräften konnte nur zwangsweise von außen durchgesetzt werden. Und die aus der Gesellschaft herausgelöste neue Rüstungs- und Militärmaschine bot die besten Voraussetzungen dafür.

Weil die Produktion von Feuerwaffen nicht mehr dezentral im Rahmen der agrarischen Haus- und Naturalwirtschaft zu betreiben war, musste sie gesellschaftlich konzentriert werden. Dasselbe galt für die stehenden Heere und Militärapparate, deren Angehörige nunmehr hauptberufliche Auftragsmörder waren und sich aus keiner eigenen hauswirtschaftlichen Produktion mehr ernähren konnten. Das einzig mögliche Medium für die Reproduktion der herausgelösten Militärmaschine war das Geld. Der Abstraktion (Herauslösung) des Feuerwaffen-Apparates von den materiellen gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprach die Abstraktionsform Geld als adäquates Medium. Die permanente Rüstungsökonomie der Kanonen und strukturell verselbstständigten Großarmeen wurde also gesellschaftlich in eine entsprechende Ausdehnung der Geldvermittlung übersetzt. Sie speiste sich zwar aus verschiedenen Quellen, die aber allesamt den Konsequenzen der „militärischen Revolution“ entsprangen.

Und erst in dem Maße, wie Clans von Kaufleuten – z.B. die berüchtigten Fugger – zu Kriegsfinanziers der Feuerwaffenherrschaft aufstiegen, wurde das Interesse auf schiere Geldakkumulation umgeschaltet. Als Gläubiger der Fürsten waren diese Finanziers an einer möglichst exorbitanten, zu versilbernden Kriegsbeute interessiert. Dieses von allen gesellschaftlichen Bindungen losgelöste abstrakte Gewinnkalkül wiederholte sich bei den Söldnerführern. Die abstrakte Rationalität der modernen Betriebswirtschaft kam also aus den Gewehrläufen und Kanonenrohren von berufsmäßigen Mordbrennern, nicht aus dem Interesse an gesellschaftlicher Wohlfahrt.

Die frühmodernen Söldnerführer (Condottieri) ebenso wie ihre Untergebenen, die einfachen Kanoniere und Musketiere, waren die ersten ganz aus der agrarischen naturalen Reproduktion freigesetzten und also bindungslos gewordenen Subjekte. Damit bildete ihre Daseinsform den Prototyp der Subjektform überhaupt, die erst in der Moderne als Abstraktion der Tätigkeit von den Bedürfnissen zum allgemeinen gesellschaftlichen Prinzip werden sollte. Die Betätigung der Musketen und Kanonen war gewissermaßen die Frühform der „abstrakten Arbeit“ (Marx). Vor diesem Ausdruck stutzen noch heute die meisten Menschen, obwohl nicht schwer zu begreifen ist, was er sagen will. „Abstrakte Arbeit“ ist eine Tätigkeit, die gegen Geld verrichtet wird und bei der das Geldinteresse entscheidend, also der Inhalt relativ gleichgültig geworden ist. In der Urform moderner Geldsubjektivität ging diese Gleichgültigkeit unmittelbar bis zur Vernichtung, wobei auch die eigene in Kauf genommen wurde. Die Objektivierung der Welt für eine gleichgültige Plusmacherei schloss die Selbstobjektivierung durch das Todesrisiko ein. Das identische Subjekt-Objekt der Geschichte waren prototypisch die Todesunternehmer und Todesarbeiter gleichermaßen, die Söldnerführer alias Manager ebenso wie die Soldaten alias Lohnarbeiter. Es ist gleichgültig, gegen wen und wofür man Krieg führt, in welchen Produktionszweig investiert wird, welche Art von Arbeit man verrichtet, Hauptsache die Kohle stimmt, mag darüber auch die eine oder andere Welt zugrunde gehen. Diese Vernichtungsmacht des Geldes verkleidete sich zuerst noch in Bilder des bäuerlichen Lebens. Vor der „Kohle“ war das „Heu“ der Slang- Ausdruck für das abstrakte Geldinteresse. „Geld wie Heu“ wollte man „machen“, sonst war alles egal.

Die einfachen Soldaten in den entstehenden Militärapparaten verrohten und wurden gleichzeitig mangels eigener Produktionsmittel sozial degradiert. Diese armen Schweine waren auch die Ersten, die arbeitslos werden konnten. Wenn kein Geld mehr in den Kassen der Kriegsherren war, schmolzen die Arbeitsplätze in den Armeen dahin. Viele Musketiere und Kanoniere wurden Opfer von Massenentlassungen; sie standen dann ohne jede Absicherung buchstäblich auf der Straße und waren gefürchtet als herumstromernde Bettler, Räuber und Gelegenheitstotschläger. Der Typus des entwurzelten und oft arbeitslosen Soldaten war eine Massenerscheinung.

Kriegsbeute und Verschuldung bei den handelskapitalistischen Kriegsfinanziers waren aber unzureichend, um die Militärmaschine am Laufen zu halten. In demselben Maße, wie diese Maschine gefüttert werden musste, wurde die gesamte gesellschaftliche Reproduktion für diesen Zweck abgeschöpft und eben deshalb gleichzeitig der Geldform unterworfen. Zunächst hieß es, die bisherigen naturalen Abgaben zu monetarisieren. War die naturalwirtschaftliche Steuer noch an den realen agrarischen Ertrag gebunden, so abstrahierte die Geldsteuer völlig von den natürlichen Bedingungen und übertrug damit die Logik des militärischen Apparates auf den lebensweltlichen Alltag. Der unersättliche Geldhunger der Feuerwaffenherrschaft wurde zum bestimmenden Moment. Nach neueren Berechnungen stieg die steuerliche Belastung zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert um nicht weniger als 2200 Prozent. Dieses Aufzwingen der Geldform demoralisierte die Menschen dieser Zeit vollkommen. Steuereintreiber bildeten nach den Kriegsfinanziers und Condottieri einen weiteren Prototypen des freien Unternehmertums, indem sie dem Staat gegen eine Pauschale das Recht zur Eintreibung des Geldes abkauften. Und wer nicht bezahlen konnte, dem wurde vom Gerichtsvollzieher notfalls die letzte Kuh oder das Handwerkzeug konfisziert, um daraus Geld zu machen. Aber auch die Verwandlung der Naturalleistungen in Geldsteuern und deren exorbitante Erhöhung konnte den Geldhunger der Kriegsmaschinen nicht befriedigen. Die Militärdespotien der sogenannten Modernisierung gingen dazu über, eigene Produktionsunternehmen außerhalb der Gilden und Zünfte zu gründen, deren Zweck nicht mehr Bedürfnisbefriedigung, sondern einzig und allein Geldbeschaffung war. Diese staatlichen Manufakturen und Plantagen produzierten erstmals für einen großräumigen anonymen Markt, der schließlich zur Voraussetzung der freien Konkurrenz werden sollte. Und weil sich niemand freiwillig für die billige Lohnarbeit hergab, setzte man Sträflinge, gefangen gehaltene Geisteskranke und in der Peripherie auch Sklaven ein. Es wurden sogar eigens Delikte erfunden, um massenhaft Zwangsarbeiter zu bekommen. Die Herren Direktoren der neuen Zucht- und Arbeitshäuser für den im Zuge der gesellschaftlichen Zwangsmonetarisierung entstehenden freien Markt vervollständigten die illustre Gesellschaft von Prototypen des freien Unternehmertums.

Die Condottieri, die sich und ihre Privatarmeen an den meistbietenden Stadt- oder Landesherrn verkauften, waren nur eine Übergangserscheinung. Bald nahmen die zunächst nur als Auftraggeber in Erscheinung tretenden fürstlichen Administrationen die Sache selbst in die Hand. Was später zum Entwicklungsgesetz der modernen Ökonomie werden sollte, setzte sich zuerst auf der Ebene der mit Feuerwaffen Krieg führenden Mächte durch; die großen Fische fraßen die kleinen.

Einmal durch die selbst tragende Dynamik der „militärischen Revolution“ in Gang gesetzt, prallten die frisch gebackenen frühmodernen Staatsgebilde in einer Expansionsbewegung aufeinander. In bis dahin beispiellosen Blutbädern maßen sie ihre erstmals großtechnologisch fundierten Kräfte, um die Vorherrschaft in Europa neu auszukämpfen. Zutreffend hat der liberalkonservative Schweizer Historiker Jacob Burckhard vom „Staatsbildungskrieg“ der frühen Neuzeit gesprochen, denn damals entstanden die Grundstrukturen der heute noch gültigen Machtgebilde und dessen, was wir – als Kehrseite der monetarisierten Reproduktion – Politik nennen. Hier wollen wir festhalten, dass Politik grundsätzlich lediglich eine Handlungsform ist, um nach außen abzugrenzen und eigene Machtansprüche dorthin gegebenenfalls gewaltsam durchzusetzen und nach innen den irrealen Selbstzweck des „Geldmachens“ zu sichern also das Menschenmaterial dafür zu domestizieren und zu verwalten. Politik ist folglich immer Gewalt, auch wenn wir Marktidioten alles mit uns freiwillig machen lassen. Zugleich ist Politik ein Produkt der Staatsbildung und so an den Staat gebunden. Den Staat gibt es nur im Plural. Das Ende des Staates bedeutet das Ende der Politik. Wir werden später sehen, worin hier die Bedeutung liegt.

Die damals mit der „militärischen Revolution“ erreichte Dynamik wurde durch die Entdeckung Amerikas noch beschleunigt. In demselben Maße, wie die moderne Kriegstechnik ins Rollen kam, entwickelte sich aus dem Geldhunger der Militärmaschinen auch die koloniale Expansion in beide Teile Amerikas, die ohne Feuerwaffen undenkbar gewesen wäre. Bekanntlich metzelten Abenteurer wie Pizarro mit ein paar Kanonen und einer Hand voll Musketiere ganze Indianervölker nieder. Rüstungsökonomie und Kolonialismus schaukelten sich gegenseitig hoch. Der permanente Transit über den Atlantik erforderte riesige Flottenprogramme, die wiederum nur mit abstrakter Geldökonomie bewerkstelligt werden konnten. Der „Staatsbildungskrieg“ nahm transkontinentale Dimensionen an. Hinter der Logik der Kanonen lauerte die Hybris der Weltherrschaft. Denn wo sollte es ein Ende geben? So war der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763 zwischen Preußen und England auf der einen und Österreich, Russland und Frankreich auf der anderen Seite der erste eigentliche Weltkrieg, weil er gleichzeitig in Europa und in den Kolonien der Neuen Welt stattfand. Die Geschichte bestand nun aus einer immer rascheren Folge von militärischen Konflikten. Geoffrey Parker zufolge ist die Neuzeit sowohl hinsichtlich der Häufigkeit als auch der Dauer und des Ausmaßes der Kriege die am wenigsten friedliche in der gesamten Menschheitsgeschichte. Diese Verdichtung des Krieges und die Militarisierung der Ökonomie gingen notwendigerweise mit einer Zentralisierung der Gesellschaft einher. Nicht nur äußerlich, also im zwischenstaatlichen Bereich, fraßen die großen Fische die kleinen. Auch im Inneren der von der Kanone definierten Staatsgebilde wurde die Herrschaft neu formiert. Bis zum 16. Jahrhundert hatte es keine organisierte Verwaltung von oben nach unten gegeben. Die Leute mussten Abgaben leisten in Form von Naturalien oder Arbeitsdiensten, ansonsten blieben sie in ihrem Alltag sich selbst überlassen. Die meisten Angelegenheiten wurden von ebenso beschränkten wie autonomen Institutionen geregelt. Es existierten sogar große Regionen mit freien Bauern und Handwerkern, die selbstständig bewaffnet waren und gar keinen Feudalismus kannten; der regressive Charakter der Strukturen bestand hier vor allem in der Enge der blutsverwandtschaftlichen Verhältnisse. Modernisierung hieß zunächst nichts anderes, als diese Formen einer „bornierten Autonomie“ gewaltsam zu zerstören, um die Menschen den Erfordernissen jener „politischen Ökonomie der Feuerwaffen“ zu unterwerfen, also der monetären Besteuerung, und sie schließlich in direkte Verausgabungseinheiten von abstrakter Arbeit zwecks Geldvermehrung zu verwandeln. Von den Bauernkriegen des 15. und 16. Jahrhunderts bis zu den „Maschinenstürmern“ des frühen 19. Jahrhunderts wehrten sich die unabhängigen Produzenten in verzweifelten Aufständen gegen ihre Zurichtung zum Funktionsmaterial der Kriegsmaschine und ihrer abstrakten Geldökonomie. Dieser Widerstand wurde blutig erstickt. Die auf der Basis der Feuerwaffen-Innovation entstandenen absolutistischen Staatsapparate setzten ihre Imperative gewaltsam durch. Denn nichts sonst war der Zweck ihrer Existenz.

Hinter dem allgegenwärtigen modernen Zwang zum Geldverdienen steht letztlich also die Logik der donnernden Kanone. Die davon ausgelöste Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen begann im 18. Jahrhundert, ihre Väter zu fressen. Das System der „politischen Ökonomie“ eines aus der Gesellschaft herausgelösten, nur noch mittels abstrakter Arbeit zu betreibenden Rüstungsund Militärapparates verselbstständigte sich von seinem ursprünglichen Zweck. Aus dem Geldhunger der frühmodernen Militärdespotien wurde das Prinzip der „Verwertung des Werts“, das seit dem 19. Jahrhundert als Kapitalismus firmiert. Die starre Hülle des staatlich-militärischen Dirigismus wurde nur gesprengt, um die nunmehr verselbstständigte Geldmaschine als puren Selbstzweck einer aus allen sozialen und kulturellen Bindungen „herausgelösten Ökonomie“ (Karl Polanyi) weiterlaufen zu lassen und der anonymen Konkurrenz freie Bahn zu geben.

Aber halt, greifen wir nicht voraus, sondern schauen uns an, wie sich seither alles entwickelte, was mit unserem Bewusstsein geschah und welchen Einfluss darauf bestimmte Personen hatten.

Setzen wir also daran an, dass die agrarkapitalistische Sklaverei, das Irrenhaus und die Staatsmanufaktur als die Urformen der modernen industriellen Fabrik und des Systems der „Arbeitsplätze“ bereits in der Welt waren. Die Menschen hatten noch keine Ahnung davon, dass sie im Frühkapitalismus lebten. Der Begriff des „Kapitalismus“ ebenso wie derjenige der dazugehörigen „Marktwirtschaft“ tauchte erst im 19. Jahrhundert auf. Die Menschen merkten nur, dass die Bedeutung des Geldes stieg und ihre eigene sank. Die große Mehrheit war nicht Subjekt, sondern Objekt der ständigen Ausdehnung von Markt- und Geldbeziehungen seit dem 16. Jahrhundert. Die Masse der Produzenten war und galt nur als das Menschenmaterial, die „abstrakte Gesamtarbeitskraft“ des jeweiligen Staates, die im Wirtschaftskrieg um den abstrakten Geldreichtum in die Waagschale zu werfen war. Den absolutistischen Staatsbürokraten war natürlich bewusst, dass sich die Geldwirtschaft viel intensiver in der gewerblichen Produktion forcieren und abschöpfen ließ, als in der Landwirtschaft und sie bot dem „Exportismus“ ein viel weiteres Feld für eine positive Handelsbilanz. Die Auflösung der handwerklichen Zünfte mit ihren lokal beschränkten Märkten und traditionellen Produktionsmethoden war nur ein erster Schritt in dieser Richtung. Gleichzeitig schuf der Staat selber vielfältige Institutionen der Zwangsarbeit in Gestalt von Zuchthäusern, Armenhäusern, Irrenanstalten usw. Die Menschen sollten zu Zugochsen der „abstrakten Arbeit“ gemacht, nämlich einer fremdbestimmten, jenseits der eigenen Bedürfnisse und außerhalb der eigenen Kontrolle liegenden Tätigkeit unterworfen werden. Indem sie nur noch durch das Joch der „Arbeitsmärkte“ an die Reproduktion ihres eigenen Lebens herankommen konnten, mussten sie ihre gesamte Tätigkeit dem abstrakten Selbstzweck des Geldes (aus Geld mehr Geld machen) ausliefern.

Die Kreaturen des Marktes, die sich als Subjekte der „neuen Beweglichkeit“ dachten und es auch waren, fühlten sich von der staatsbürokratischen Reglementierung der absolutistischen Apparate zunehmend eingeengt und drangsaliert. So mussten sie eine eigene Herrschaftsideologie hervorbringen, die nicht nur ihre spezifischen Interessen legitimieren, sondern auch eine Welterklärung und ein umfassendes Bild des Menschen formulieren konnte, wie es seither für das gesamte westliche Denken der Moderne bis zum heutigen Tag hegemonial werden sollte. Umso mehr sollte es für uns von großem Interesse sein, die historischen Wurzeln dieser marktwirtschaftlichen Ideologie dieses sogenannten Liberalismus freizulegen.

Schon der Name ist nicht allein irreführend, sondern geradezu eine perfide Verdrehung. Denn diejenige Betätigung und Mentalität, die bis dahin bei allen Völkern und Zeiten als eine der niedrigsten und verächtlichsten gegolten hatte, nämlich die Verwandlung von Geld in mehr Geld als Selbstzweck, die darin eingeschlossene abhängige Lohnarbeit und damit die unaussprechliche Selbsterniedrigung des Sichverkaufen-Müssens, wurde zum Inbegriff menschlicher Freiheit umredigiert. Diese Besudelung des Freiheitsbegriffs, die im Lobpreis der Selbstprostitution gipfelt, hat die erstaunlichste Karriere in der Geschichte des menschlichen Denkens gemacht.

Als der erste große Stammvater des Liberalismus kann der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) bezeichnet werden. Dass Hobbes gleichzeitig als Theoretiker des Absolutismus gilt, ist keineswegs ein Widerspruch. Es zeigt nur an, dass es eine Gemeinsamkeit von Absolutismus und Liberalismus gibt, gehören doch beide derselben historischen Entfesselungsbewegung des Geldes und der „abstrakten Arbeit“ an. Der Liberalismus stammt vom Absolutismus ab, enthält wie dieser ein totalitäres Moment und ist letzten Endes nur eine Spielart des modernen Totalitarismus selbst; nur dass er einen mehr „ökonomistisch“ fundierten Totalitarismus des Marktes vertritt, dem sich die Menschen bedingungslos unterwerfen sollen. Wie so oft in der Geschichte handelt es sich bei der Wendung des Liberalismus gegen die autoritäre staatsabsolutistische Doktrin nur um einen Vatermord innerhalb derselben historisch-gesellschaftlichen Konstellation, nicht um einen Wesensunterschied. Hatte die vormoderne Gesellschaft die Individuen und ihre Tätigkeit für den Lebensunterhalt noch in einen wenn auch oft rohen und beschränkten „Kosmos“, in eine kulturelle Einheit eingebunden, die sowohl soziale Kontrolle als auch ein gewisses Maß an Geborgenheit vermittelte, so tendiert die kapitalistische Modernisierung dazu, jedes Gemeinwesen vollständig aufzulösen und an die Stelle kulturell bestimmter Gemeinsamkeit und gegenseitiger Verpflichtung die reine Geldbeziehung treten zu lassen. Auf diese Weise erscheint die Gesellschaftlichkeit der Menschen absurderweise nicht mehr als menschliche, sondern als dingliche. Auch die soziale Kontrolle wird damit nicht etwa überwunden, sondern vielmehr ebenfalls verdinglicht, „subjektlos“ und nicht mehr persönlich verhandelbar, also so gnadenlos wie niemals zuvor. In diesem paradoxen System ist jeder Mensch im Prinzip als soziales Wesen ein „vereinzelter Einzelner“, obwohl die Funktionsteilung und gesellschaftliche Komplexität gleichzeitig ständig zunimmt. Ungeachtet der Tatsache, dass zu seiner Zeit die soziale Kooperation noch weitaus vielfältiger und noch keineswegs von der Logik des Geldes vollständig zersetzt war, sah Hobbes „der Zukunft zugewandt“ den Menschen bereits als abstrakten Einzelnen, der um seine individuelle Selbsterhaltung kämpft: >Unter dem Naturrecht, von den Gelehrten gewöhnlich ius naturale genannt, versteht man die Freiheit jedes Menschen, seine Kräfte nach seinem eigenen Ermessen zu gebrauchen, um für seine Selbsterhaltung, d.h. für die Sicherung seines Lebens zu sorgen – und folglich auch die Freiheit, alles zu tun, was ihn seinem Urteil und seinen Überlegungen zufolge dieses Ziel am besten erreichen lässt< (Hobbes 1965/1651, 102).

Er lässt auch keinen Zweifel daran, welcher Natur diese „Freiheit“ ist, der sich die Bürger erfreuen dürfen. >Sie haben {…} die Freiheit, zu kaufen und zu verkaufen und miteinander Handel zu treiben< (a.a.O., 167). Die Menschen sollen nicht mehr die Freiheit haben, sich nach eigenen Bedürfnissen und Vereinbarungen kooperativ zu verhalten, sondern nur noch unter dem Diktat der Geldwirtschaft; und es sollte ein Wesenszug des Liberalismus bleiben, dass er jede Kooperation und jeden sozialen Zusammenschluss, der die Ohnmacht des „vereinzelten Einzelnen“ gegenüber den Gesetzen des Geldes aufzuheben droht, mit Misstrauen verfolgt und notfalls administrativ oder sogar gewaltsam zu verhindern sucht. Da die Verallgemeinerung der Geldbeziehungen aber nur durch die Konstitution anonymer, großräumiger Märkte möglich war, musste sie zusammen mit der Tendenz zur totalen Vereinzelung auch die Tendenz zur totalen Konkurrenz bringen. Denn der anonyme, sozial unkontrollierte Vergleich der Waren weit voneinander entfernter Produzenten, die in keinerlei kommunikativer Beziehung mehr zueinander stehen, entfesselt das sogenannte „Gesetz von Angebot und Nachfrage“. Die Waren müssen über den Preis miteinander konkurrieren und somit unterliegt auch die Produktion dem stummen Zwang der Konkurrenz. Das bedeutet, dass der gesellschaftliche Zusammenhang der „vereinzelten Einzelnen“ nur noch negativ durch die ökonomische Konkurrenz hergestellt wird. Jedes Wolfsrudel ist sozialer organisiert als wir marktwirtschaftlichen Menschen. Deswegen muss es als eine Verunglimpfung der Wölfe zurückgewiesen werden, vom „Wolfsgesetz der Konkurrenz“ zu sprechen.

Hobbes witterte diese Logik der Konkurrenz, ohne sie für grundsätzlich kritisierbar zu halten.

>Das Zusammenleben ist den Menschen also kein Vergnügen, sondern schafft ihnen im Gegenteil viel Kummer, solange es keine übergeordnete Macht gibt, die sie alle im Zaum hält {…} So sehen wir drei Hauptursachen des Streites in der menschlichen Natur begründet: Wettstreben, Argwohn und Ruhmsucht. Dem Wettstreben geht es um Gewinn, dem Argwohn um Sicherheit, der Ruhmsucht um Ansehen. Die erste Leidenschaft scheut keine Gewalt, sich Weib, Kind und Vieh eines anderen zu unterwerfen, ebenso wenig die zweite, das Geraubte zu verteidigen, oder die dritte, sich zu rächen für Belanglosigkeiten {…} Und hieraus folgt, dass Krieg herrscht, solange die Menschen miteinander leben ohne eine oberste Gewalt, die in der Lage ist, die Ordnung zu bewahren. Und es ist ein Krieg, den der Einzelne gegen jeden führt< (a.a.O., 98 f).

Das schwarze Leitbild des Liberalismus stellt den Menschen noch unter die Tierwelt, denn derart auf einen „Krieg aller gegen alle“ wie bei Hobbes sind nicht einmal die tierischen Instinkte konditioniert. Das „Recht des Stärkeren“ ist die innere Konsequenz dieser „Freiheit“, wobei das vorgeschaltete Kriterium immer schon die Durchsetzungskraft in der Banalität von Marktbeziehungen ist, diese Definition von „Stärke“ also einen besonders schäbigen Typus bevorzugt. Rassismus und Faschismus sind nur die Fortsetzung dieser liberalen Konkurrenzideologie mit anderen Mitteln, indem das Konkurrenzschema des Liberalismus auf Ethnien, „Völker“ und andere irrationale Kollektivsubjekte übertragen wird. Insofern ist es keineswegs eine Übertreibung, den Faschismus als historischen Abkömmling des insgesamt in der Modernisierungsideologie hegemonialen Liberalismus zu bezeichnen. Wir werden also noch sehen. Gleiches gilt letzten Endes auch für die Frage des repressiven Staates und seiner Apparate der Menschenverwaltung. So musste sich also Hobbes nach jener „übergeordneten Macht“ umsehen, die den angeblichen menschlichen Raubaffen zur negativen Gesellschaftlichkeit zähmen sollte. Damit die abstrakten Individuen sich in ihrer mörderischen Konkurrenz nicht gegenseitig völlig zerfleischen und auffressen, konstruierte er also den Staat als notwendige Zwangsgewalt, die über den Individuen stehen muss und der er den Namen des biblischen Ungeheuers „Leviathan“ gab. Die vielen kleinen Ungeheuer des marktwirtschaftlichen Konkurrenz-Individualismus sollen durch das große Gesamt-Ungeheuer des staatlichen „Leviathan“ gebändigt und an die Kette der Ordnung gelegt werden, damit sie Verträge miteinander schließen können, ohne gleich danach mit Zähnen, Klauen und Messern übereinander herzufallen. Eine entzückende Art der Gesellschaftlichkeit, die in dieser Form weder Pygmäen noch Aboriginals und nicht einmal die Horden des Dschingis Khan jemals kannten. Aber für das moderne Denken (nicht nur des liberalen, sondern ebenso für das konservative und rechtsradikale) ist dieses Motiv der „institutionellen Zähmung des Raubtiers Mensch“ konstitutiv geworden. Der Leser möge sich selbst hinterfragen. Denn der Staat hebt die totale Konkurrenz nicht auf; er ist nur eine repressive und den sozialen Einzelkämpfern äußere Gewalt, ein Apparat, der notdürftig gemeinsame Rahmenbedingungen für die tobsüchtigen Subjekte des Marktes herstellt. Daran hat sich seit Hobbes nichts geändert. Und das Furchtbarste ist, dass wir menschliche Individuen uns nach mehr als 400 Jahren Marktwirtschaft inzwischen selber als diese wahnsinnigen Raubaffen unterstellen, zu denen man uns ideologisch deklariert hat, obwohl wir in unserer Mehrheit tatsächlich ausschließlich das lebende Futter für den Verwertungsprozess des Kapitals sind. Hobbes war kein Kenner der „menschlichen Natur“, sondern ein bitterer, finsterer Prophet der Marktwirtschaft.

Und so lässt heute ein zeitgenössischer Liberaler wie Ralf Dahrendorf seinen gewöhnlich milden reflexiven Ton beiseite, wenn es ums Eingemachte geht:

>Doch sind alle diese Hoffnungen Illusionen. In der Praxis verlangt alle gesellschaftliche Assoziation Herrschaft, und das ist auch gut so {…} Was immer uns Ethnologen an Geschichten über „Stämme ohne Herrscher“ erzählen mögen, hat wenig Plausibilität {…} Gesellschaft heißt Herrschaft {…} Gesellschaft ist eben nicht nett, sondern nötig< (Dahrendorf 1992, 47 ff). Wir werden noch sehen, wo er das abgeschrieben hat.

Der Liberalismus hat so wenig Zutrauen zu den wohltuenden Wirkungen seiner „Freiheit“, dass er sich immer wieder dem „Leviathan“ anheimgeben muss: Einerseits unterstellt er „den Menschen“, also alle Menschen ohne Ausnahme, als einander grundsätzlich spinnefeinde Einzelkämpfer, die den Staatsapparat als Moderator brauchen, um überhaupt leben zu können; andererseits wird der Leviathan aber auch gebraucht, um all diejenigen zu knuten und zu kujonieren, die sich dem negativen Menschenbild nicht beugen und ihm nicht entsprechen wollen, weil sie anderes kennen oder es sich vorzustellen vermögen. Deshalb ist der Liberalismus nicht nur dem Haupt des Absolutismus entsprungen, sondern er kann auch jederzeit wieder eine absolutistische Gestalt annehmen. Auch in dieser Hinsicht sind sowohl der Faschismus als auch der Staatssozialismus (und überhaupt alle Modernisierungsdiktaturen) nur Varianten oder Erscheinungsformen des liberalen Originals gewesen, deren gemeinsamer Nenner wie schon bei der Urform des 16. und 17. Jahrhunderts immer die Expansion und der gesellschaftliche Anspruch von Warenform und Geldbeziehungen zu einer der Tendenz nach totalen „Ökonomisierung“ oder „Inwertsetzung“ der Gesellschaft war. Überall, wo Menschen zu den Kunststücken des Geldes und der „abstrakten Arbeit“ dressiert werden wie Zirkustiere, müssen die Dompteure im Namen der Macht mit der Peitsche drohen und mit klebrigen kleinen Belohnungsbonbons locken.

Repräsentierte Hobbes als Stammvater dieser Ideologie noch beide Momente (Markt und Staat) gleichermaßen, so hat sich die Polarität der repressiven „Modernisierung“ seither nach Ländern und Epochen schwerpunktmäßig ausdifferenziert: England und später die angelsächsische Welt insgesamt gelten als Heimat des ökonomischen Liberalismus, der europäische Kontinent (insbesondere Deutschland) und der Osten dagegen als Heimat des staatlichen Absolutismus, obwohl die beiden Elemente des modernen Herrschaftsanspruchs sich überall wechselseitig durchdrungen und bedingt haben.

Es bestand zunächst aber eine gewissermaßen moralische Schwierigkeit für den weiteren Fortgang des Liberalismus und seiner „freien“ Marktwirtschaft. Denn bei Hobbes ist das pseudo-natürliche individuelle Konkurrenzsubjekt bedauerlicherweise rein negativ bestimmt, als die zu zähmende Raubnatur des Menschen. Der kapitalistische Idealmensch erscheint hier noch als ein monströses Vieh, während die positive Seite allein dem staatlichen Dompteur zukommt, der freilich seinerseits die Züge eines Ungeheuers annehmen muss, um seinen Beruf erfüllen zu können. Wenn aber nun dieses Verhältnis mit umgekehrtem Vorzeichen belegt und das Konkurrenzsubjekt selber positiv bestimmt werden sollte, dann mussten Eigenschaften, die in der Menschheitsgeschichte bis dahin immer als schlecht, bösartig und minderwertig gegolten hatten, in den moralischen Adelsstand erhoben werden. Die große Bresche in die Mauer aller bisherigen Moralvorstellungen schlug einer der brillantesten Zyniker des modernen Denkens, ein knallharter Pamphletist und publizistischer Draufgänger, der als großer Anreger allerdings nicht immer gern zugegeben wird. Bernard Mandeville (1670-1733), ein Engländer holländischer Herkunft, Arzt, Aufklärer und wohlvertraut mit den frühkapitalistischen Verhältnissen auf dem Kontinent wie auf den britischen Inseln, hat eine Vorgabe geliefert, die in ihrer Klarheit und Schärfe nie wieder erreicht worden ist:

>Jeder weiß, dass es eine große Zahl von Gesellen bei Webern, Schneidern, Tuchmachern und zwanzig anderen Handwerkern gibt, die kaum zu bewegen wären, am fünften Tag zu arbeiten, wenn ihr Lebensunterhalt mit vier Tagen bestritten werden könnte, und dass ferner tausende von Arbeitern aller Art existieren, die ihren Lebensunterhalt zwar kaum finanzieren können, die aber gern fünfzig Unannehmlichkeiten auf sich nähmen, ihre Arbeitgeber verärgerten, hungerten und Schulden machten, nur um sich einen Feiertag zu verschaffen. Wenn die Menschen eine so außerordentliche Neigung zu Müßiggang und Vergnügen haben, welchen Grund hätten wir zu glauben, sie würden jemals arbeiten, wenn sie nicht durch die unmittelbare Notwendigkeit dazu gezwungen (!) würden? {…} Was würde bei einer solchen Entwicklung aus unseren Manufakturen werden? Wenn der Kaufmann Tuch exportieren wollte, müsste er es selbst herstellen, denn der Tuchmacher könnte nicht einen Mann bekommen von den zwölfen, die bei ihm zu arbeiten pflegten {…} Von hieraus lässt sich zeigen, dass Überfluss die Arbeitskräfte billig macht, sofern man die Armen gut im Griff hat; zwar sollte man sie nicht verhungern lassen, aber sie dürften auch nicht die Möglichkeit zum Sparen bekommen. Wenn hier und da einer aus der niedersten Klasse durch ungewöhnlichen Fleiß und Absparen vom Munde sich aus seinen ursprünglichen Lebensverhältnissen emporarbeitet, sollte ihn niemand daran hindern. Ja, es ist unleugbar der klügste Weg für alle Menschen einer Gesellschaft und jede private Familie, genügsam zu sein; aber es liegt im Interesse aller reichen Nationen, dass der größte Teil der Armen kaum jemals müßig ist und doch ständig ausgibt, was er einnimmt.< (Mandeville 1988/1723, 177 ff).

Hier wird erstmals eine Mentalität deutlich, die den Liberalismus als fundamentale Ideologie, das Denken der kapitalistischen „Macher“, der Funktionäre, Vorstände, Eliten, Erben von Vermögen und der Vertreter bürgerlicher Ehrbarkeit, Seriosität und Solvenz bis heute von Grund auf kennzeichnet: nämlich das aufreizend unverschämte Grundempfinden, man selbst sei zu Besserem geboren und zu Höherem berufen qua Geldmacherei und marktwirtschaftlicher „Durchsetzungsfähigkeit“, während es eine minderbemittelte Masse von Menschenmaterial geben muss, das zur „Arbeit“ schicksalhaft ausersehen, jedoch auf eine uneinsichtige und geradezu „unmoralische“ Weise störrisch und von Natur aus faul ist, also der starken Hand einer vormundschaftlichen Herrschaft bedürfe, um seiner untergeordneten Bestimmung zugeführt zu werden.

Hier möchte ich ausdrücklich festhalten, dass dieser Text nahezu ausschließlich für diese „störrischen“ und „faulen“ marktwirtschaftlichen Idioten geschrieben ist, damit er ihnen subversives Wissen vermittelt. Bitte „subversiv“ im Fremdwortlexikon nachschlagen. Falls andere Idioten diesen Text lesen, haben sie es wahrscheinlich, was dieses, unser System betrifft, erstmals mit wirklichem Wissen zu tun und es wird ihnen natürlich nicht schaden.

Aber lesen wir Mandeville noch weiter:

>Übergroße Nächstenliebe fördert meist Trägheit und leistet kaum etwas für ein Staatswesen, als Nichtstuer hervorzubringen und den Fleiß zu zerstören. Je mehr Asyle und Armenhäuser man baut, desto mehr braucht man {…} Ich plane nichts Grausames und ziele nicht im Entferntesten auf etwas ab, was nach Unmenschlichkeit schmeckt. Genügend Hospitäler für die Kranken und Verwundeten zu haben halte ich im Frieden wie im Krieg für eine unerlässliche Pflicht unerlässliche. Kleiner Kinder ohne Eltern, hilfloser Greise und aller Arbeitsunfähigen sollte man sich mit Liebe und Eifer annehmen. Aber wie ich einerseits keinen vernachlässigt sehen möchte, der ohne eigenes Verschulden Hilfe braucht, so will ich andererseits Bettelei und Faulheit der Armen nicht unterstützen. Alle sollten zur Arbeit angehalten (!) werden, die irgend dazu fähig sind, und selbst die Kranken sollten daraufhin untersucht werden. Für die meisten unserer Lahmen und Blinden ließe sich dann eine leichte Beschäftigung (!) finden {…} < (a.a.O., 250).

Das sinnverdrehende „Doppeldenk“ und „Neusprech“ des Liberalismus seit dem 18. Jahrhundert redet auch in dieser Hinsicht mit professioneller Doppelzüngigkeit: „Im Prinzip“ bekennt man sich zu den „Geboten der Menschlichkeit“, aber nur „soweit notwendig“; und diese Notwendigkeit soll auf den dürftigsten überhaupt denkbaren Grad heruntergeschraubt werden, um selbst noch die Alten, Kranken und Schwachen, die Blinden und Lahmen in die Verwertungs-maschine des Kapitals einzuspannen und das letzte an Reserven aus ihnen herauszuholen. Und im Zuge seiner Abrechnung mit dem „übertriebenen Mitleid“ fällt Mandeville sogar über die „Armenschulen“ her, die bürgerliche Heuchelei und schlechtes Gewissen ins Leben gerufen hatten:

>Als nächstes müssen wir gutes Benehmen und Höflichkeit in Betracht ziehen, die den Armen in den Armenschulen beigebracht werden sollen. Ich bekenne, dass es nach meiner Meinung völlig unnütz, wenn nicht gar schädlich ist, diese Eigenschaften in irgendeinem Maße zu besitzen; zumindest gibt es für die arbeitenden Armen (!) nichts Überflüssigeres. Was wir von ihnen haben wollen, sind nicht Komplimente, sondern ihre Arbeitskraft und ihre Dienstbeflissenheit< (a.a.O., 254).

Das ist es in Wahrheit, was hinter der glatten liberalen Stirn immer gedacht wird. und Mandeville kommt das Verdienst zu, es freimütig ausgesprochen zu haben. Noch viel mehr gilt das für seine messerscharfen Ausführungen über die Schulbildung als Luxus oder Notwendigkeit:

>Aus dem Gesagten wird klar, dass in einer freien Nation (!), wo Sklaven nicht erlaubt sind, der sicherste Reichtum in einer großen Zahl arbeitsamer Armer besteht, denn abgesehen davon, dass sie einen nie versiegenden Naturquell für Flotten und Armeen bilden, gäbe es ohne sie kein Vergnügen, und kein Produkt irgendeines Landes könnte einen Wert (!) haben. Um die Gesellschaft glücklich und die Menschen unter den bescheidensten Umständen zufrieden zu machen, ist es erforderlich, dass eine große Anzahl von ihnen nicht nur arm, sondern auch unwissend ist {…} Gedeihen und Glück jedes Staates und Königreiches erfordern daher, dass die Kenntnisse der arbeitenden Armen auf den Bereich ihres Berufes beschränkt bleiben und niemals über das hinausgehen (in Bezug auf sichtbare Dinge), was mit ihrer Tätigkeit verbunden ist. Je mehr ein Schäfer, Pflüger oder sonstiger Landmann von der Welt weiß und von Dingen, die seiner Arbeit oder Beschäftigung fremd sind, umso weniger wird er geeignet sein, ihre Strapazen und Härten heiter und zufrieden zu ertragen. Lesen, Schreiben, und Rechnen sind sehr notwendig für jene, deren Tätigkeit eine solche Qualifikation verlangt, aber wo der Lebensunterhalt der Leute von diesen Künsten nicht abhängt, verderben sie die Armen, die ihr täglich Brot mit ihrer täglichen Arbeit verdienen müssen. Nur wenige Kinder machen Fortschritte in der Schule, wären aber sehr wohl in der Lage, in dieser Zeit einer produktiven Beschäftigung nachzugehen, so dass jede Stunde, die Kinder armer Leute über ihren Büchern zubringen, ebenso viel verlorene Zeit für die Gesellschaft ist. Schulbesuch, verglichen mit Arbeit, ist Müßiggang, und je länger Knaben diese bequeme Art von Leben fortsetzen, umso ungeeigneter werden sie zu wirklicher Arbeit, sowohl in Bezug auf Kraft als auch Neigung, wenn sie heranwachsen. Menschen, die bis ans Ende ihres Lebens in einer arbeitsreichen, ermüdenden und entbehrungsvollen Stellung verbleiben sollen, werden sich umso geduldiger und dauerhafter damit abfinden, je früher sie diesen Bedingungen unterworfen werden {…} Ein Mann, der etwas Bildung genossen hat, mag sich den Beruf eines Landwirts erwählen und bei der schmutzigsten und schwersten Arbeit fleißig sein; er muss es aber dann in seinem eigenen Interesse tun {…} Er wird aber kein guter Lohnarbeiter werden und für ein erbärmliches Entgelt Dienst bei einem Farmer leisten; zumindest ist er dafür nicht so gut geeignet wie ein Tagelöhner, der schon immer mit dem Pflug und Mistkarren umgegangen ist und sich nicht daran erinnert, jemals anders gelebt zu haben. Wenn Ergebenheit und niedere Dienste erforderlich sind, werden wir stets feststellen, dass sie niemals so bereitwillig und freudig geleistet werden wie von Niederen gegenüber Höheren; ich meine Niedere nicht nur in Besitz und Rang, sondern ebenso in Kenntnissen und Verstand. Ein Diener kann keinen ehrlichen Respekt vor seinem Herrn haben, sobald er klug genug ist zu bemerken, dass er einem Narren dient {…} Kein Geschöpf unterwirft sich zufrieden seinesgleichen, und wäre ein Pferd klug wie ein Mensch, so möchte ich nicht sein Reiter sein< (a.a.O., 274 ff).

Wenn hier etwas „klar“ wird, dann ist es die wahre Natur der westlich-kapitalistischen „freien Nationen“, wo zwar „Sklaven nicht erlaubt“ sind (was keineswegs immer die Regel ist, wie die Geschichte des Agrarkapitalismus bis heute zeigt), der Liberalismus aber fast 300 Jahre lang daran gearbeitet und es geschafft hat, eine neue Art der Sklaverei mit unsichtbaren Ketten zu installieren. Und das kapitalistische Wissen darf nie und nimmer freie Erkenntnis sein, sondern muss stets bloßes Funktionswissen der Selbstverwurstung bleiben für einen monströsen Zweck jenseits aller Erkenntnis. Übertroffen wird der Zynismus eines Mandeville nur noch von dem berühmten Marquis de Sade (1740-1814), der nicht ohne Grund die zweifelhafte Ehre besitzt, dass die Folterlust des Sadismus seinen Namen trägt.

>Alle Kreaturen sind vom Tage ihrer Geburt an einsam und bedürfen einander nicht {…} Mein Nachbar ist ein Nichts für mich, zwischen mir und ihm gibt es aber auch nicht die geringste Beziehung< (zit. nach. Luckow 1998, 184).

Und selbst noch gegen die kümmerlichste Staatsfürsorge der Armenhäuser weiß er:

>Zerstört diese ekelhaften Häuser, reißt sie gnadenlos ab, in denen ihr dreist die Früchte der Zügellosigkeit dieser Armen sammelt, diese scheußlichen Kloaken, die Tag für Tag einen widerlichen Schwarm von neuen Geschöpfen auf die Gesellschaft ausspeien, die nur auf eins hoffen können, auf eure Börse. Wozu dient es, frage ich, dass man solche Kreaturen mit so viel Mühe am Leben erhält? {…} Diese überschüssigen Wesen sind wie Schmarotzerpflanzen, die unweigerlich den Stamm zugrunderichten, von dem sie leben. Erinnert euch, dass jedesmal, wenn die Bevölkerung in ganz gleich welchem Gemeinwesen größer ist als die Existenzmittel, dieses Gemeinwesen dahinsiecht {…} Kein Asyl für die schimpflichen Früchte der Zügellosigkeit: man lässt diese grässlichen Folgen zurück wie Verdauungsprodukte {…} < (De Sade 1980/1795, 126 f).

Und de Sade geht noch weiter. Er formuliert ungeheuer wirkmächtige Gedanken voraus, die erst der Sozialdarwinismus an der Schwelle des 20. Jahrhunderts systematisieren und schließlich auf deutschem Boden in die gesellschaftliche Mordtat umsetzen sollte:

>In der griechischen Republik wurde jedes Kind, das zur Welt kam, sorgfältig untersucht, und wenn es nicht für tauglich befunden wurde, später einmal die Republik zu verteidigen, wurde es sofort umgebracht: dort hielt man es nicht für unerlässlich, den unwerten (!) Abschaum der menschlichen Natur in kostspieligen Anstalten zu bewahren {…} Es steht zu hoffen, dass die Nation (!) diese höchst überflüssige Ausgabe streichen wird; ein Wesen, dem von Geburt an alle Voraussetzungen fehlen, eines Tages der Republik von Nutzen sein zu können, hat kein Recht auf Leben; ihm sofort ein Ende zu machen, ist noch immer die beste Lösung {…} Die menschliche Rasse muss von der Wiege an ausgelesen werden; folglich muss ausgemerzt werden, was aller Voraussicht nach der Gesellschaft niemals nützen wird {…}< (a.a.O., 284 ff).

Und die Frau sei, so de Sade > {…} ein so entartetes Geschöpf, dass auf dem Konzil zu Macon während mehrerer Sitzungen in ernstliche Erwägung gezogen worden, ob dieses bizarre Individuum, dass sich vom Manne ebenso unterscheidet, wie der Wildaffe vom Menschen, einen Anspruch auf die Bezeichnung Mensch habe und ob sie ihr mit Recht zugestehen kann {…}< (a.a.O., 342).

Woher kommt diese bis heute anhaltende Abwertung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft? Vom Beginn der kapitalistischen sogenannten Modernisierung (deren früheste Anfänge ja bis in die Renaissance zurückreichen), als die Markt- und Geldwirtschaft nur eine marginale Rolle spielten, war die materiell-ökonomische Reproduktion auf das Hauswesen von Bauern, Handwerkern und Gutsbesitzern konzentriert. In diesem Kontext hatten die Geschlechter abgegrenzte, mehr oder weniger gleichberechtigte Aufgabengebiete; das patriarchalische Muster beschränkte sich auf die äußere Repräsentanz dieses Hauswesens. Mit der Entfesselung der Geldwirtschaft entstand jedoch eine „abgespaltene Ökonomie“ jenseits des Hauswesens – nicht für die erweiterte Bedürfnisbefriedigung, sondern eben als abstrakter Selbstzweck (ursprünglich für die „Bedürfnisse“ der frühmodernen Militärmaschinen), in den die zunächst männlichen Produzenten (zunächst als Soldaten) gewaltsam eingespannt wurden. Das moderne warenproduzierende System (alias Kapitalismus) brachte also erstmals im großen gesellschaftlichen Maßstab so etwas wie eine „öffentliche Ökonomie“ hervor, noch dazu in den Anfängen verwoben mit der militärischen Entwicklung – daher auch als strukturell „männliche Angelegenheit“. Für die Frau blieb dann nur noch der sekundäre „Rest“ des alten Hauswesens mitsamt den damit verbundenen emotionalen Momenten, die von den aufkommenden männlichen Konkurrenzsubjekten als minderwertig angesehen wurden. Die moderne verschärfte Degradierung der Frau und die Entwertung der unmittelbaren Produzenten sind also die beiden Seiten ein und desselben Prozesses; strukturell untrennbar mit der verselbstständigten Geld- und Konkurrenzwirtschaft verbunden. Tatsächlich wird die Frau auf diese Weise nicht nur in die Privat- und Familiensphäre gebannt, also etwa zuständig für kapitalistisch nicht fassbare Tätigkeiten („Hausarbeit“ und „Mitleidsfunktionen“ (Kinderbetreuung, Altenpflege usw.) gemacht, sondern damit auch zur Repräsentantin von angeblichen „Naturmomenten“, und insofern wird sie auch zum strukturellen Ärgernis, denn ihre bloße Existenz erinnert das selbstherrliche Konkurrenzsubjekt ständig daran, dass es in der Welt etwas gibt, was sich dem Totalitätsanspruch des kapitalistischen Selbstzwecks entzieht, Kosten verursacht und Scherereien macht, aber gesellschaftlich absolut notwendig ist. Zur Zeit de Sades war dieses Problem noch nicht gesellschaftlich verallgemeinert; es bezog sich zunächst auf das ständische Bürgertum bzw. den in die Geldwirtschaft eingebundenen Adel, also auf die Familien der Herrensubjekte selbst: Die „arbeitenden Armen“ und die eigenen Frauen und Kinder erschienen plötzlich auf einer Linie als „Material“ einer zu domestizierenden „Natur“ in Gestalt einer sperrigen „Unnatur“. Frauen und „arbeitende Arme“ müssen also gleichermaßen dazu erzogen werden, sich dem männlichen Konkurrenzsubjekt zu unterwerfen. Also schrieb Rousseau:

>So muss sich die ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer vollziehen. Ihnen gefallen, ihnen nützlich zu sein, sich von ihnen lieben und achten zu lassen, sie großziehen, solange sie jung sind, als Männer für sie zu sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süßes Dasein bereiten; das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muss< (Rousseau 1986/1762, 733).

Und ganz in diesem Sinne meint de Sade: >Ich bediene mich einer Frau nur auf Grund eines Bedürfnisses, so wie man im Falle eines anderen ein Nachtgeschirr benutzt< (De Sade 1998/1787, 135).

>Wenn man so eingestellt ist wie ich, so will man überall gevögelt werden, und in welchen Teil eine Maschine (!) auch immer eindringt, man ist glücklich, sie dort zu fühlen< (De Sade 1980/1795, 189).

>Während der Dauer des Koitus mag ich wohl dieses Gegenstands bedürfen, der daran teilhat; doch sobald er vollzogen ist, was bleibt dann, ich bitte Sie, noch zwischen mir und diesem Gegenstand? Und welche konkrete Verpflichtung wird die Folgen dieses Koitus an ihn oder an mich binden? {…} tausend andere, ähnliche und oft bessere Gegenstände werden uns über den Verlust dieses einen hinwegtrösten; alle Männer, alle Frauen sind gleich: es gibt keine Liebe, die vernünftiger Überlegung standhalten könnte {…} Was wünscht man sich beim Liebesgenuss? Dass alles um uns sich mit uns beschäftigt, nur an uns denke, nur um uns besorgt sei. Wenn die Geschöpfe, die uns bedienen, selber zur Lust gelangen, so beweist das, dass sie wohl mehr mit sich als mit uns beschäftigt sind und folglich unseren Genuss trüben< (a.a.O., 215 f, 297).

In Erinnerung an Hobbes stellt sich die sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau so als eine Art Sodomie dar: >Die Bestimmung der Frau ist es, der Hündin zu gleichen, der Wölfin: sie soll allen gehören, die sie begehren< (a.a.O., 131).

Die Freiheit und Gleichheit der Frau besteht also gerade darin, dass sie ihrer zugeschriebenen „Natur“ zufolge die allgemeine Sexsklavin abgibt; Und jede Brutalität ist erlaubt, wenn sie diese „Natur“ verleugnet.

Das immer weitere Eindringen des „Geldverdienens“ in immer mehr Bereiche des allgemeinen Lebens erforderte und beförderte auch ein komplexeres Denken, zuerst bei den Funktionseliten. So beeilte sich zum Beispiel Mandeville, neben der offenen Verhöhnung der „arbeitenden Armen“ gleichzeitig gewisse soziale Gratifikationen in Aussicht zu stellen, die vermittels der „privaten Laster“ nicht nur dem Abstraktum des Staates, sondern ein wenig auch der Bevölkerung als „gesellschaftliche Vorteile“ zugutekommen sollten:

>Eine der Folgen aus der Ehrenhaftigkeit und Genügsamkeit einer ganzen Nation wäre ohne Zweifel, dass niemand mehr neue Häuser bauen oder neue Materialien benötigen würde, solange die alten noch ihren Dienst tun. Dadurch wären drei von vier Steinmetzen, Zimmerleuten, Maurern usw. ohne Arbeit, und wenn das Baugewerbe einmal darniederliegt, was wird aus dem Malen, Schnitzen und den anderen Künsten, die dem Luxus dienen und welche von jenen Gesetzgebern streng verboten wurden, die eine brave und ehrliche Gesellschaft einer blühenden und wohlhabenden vorziehen und sich bemühen, ihre Untertanen eher tugendhaft als reich zu machen< (a.a.O., 206).

Aber dieses scheinbare Zugeständnis kommt nicht ohne ein gewisses Grinsen in der Argumentation aus. Denn Mandeville unterstellt hier bereits eine zu seiner Zeit noch gar nicht ganz durchgesetzte soziale Unmündigkeit der Menschen; er tut so, als stünden sie ohne „Arbeit gebende“ Kapitalisten völlig hilflos wie kleine Kinder da und wären unfähig, für sich selbst nach Maßgabe ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten Häuser zu bauen, Kunstwerke anzufertigen usw. Er setzt damit bereits jene totale „Privatisierung der Welt“ voraus, deren Kehrseite die ebenso totale Lohnabhängigkeit der Massen ist. Der Selbstzweck der Kapitalverwertung schiebt sich zwischen Mensch und Natur, enteignet die Kooperationsfähigkeit und überträgt sie auf die Kapitalform, so dass sich die Individuen daran gewöhnen sollen, nichts mehr für sich und füreinander tun zu können ohne Dazwischenkunft eines „Geldverdienens“. Ganz selbstverständlich sollen die eigene Tatkraft, die Produktionsmittel und die Naturreichtümer eher brachliegen oder sogar zerstört werden, wenn sie nicht „rentabel“ für die abstrakte Gewinnproduktion vernutzt werden können. Das Bauen von Häusern richtet sich dann nicht mehr nach dem Vorhandensein von Materialien, Fähigkeiten und Bedürfnissen. Wurde in den vorkapitalistischen Gesellschaften der soziale Raum der Produktion für den Bedarf meistens eher äußerlich durch Herren-Ansprüche angezapft (z.B. in Form von Tributen, Abgaben, Frondiensten etc.), so propagiert Mandeville bereits das unheimliche Einsickern dieses Anspruchs in die direkte persönliche Reproduktion, so dass der Zugriff der „fremden Macht“ auf das Leben lückenlos wird und es kein Gut mehr geben kann, das nicht durch ihre ökonomische Mühle gedreht worden ist. Die durch den Markt von der Kontrolle über ihre eigenen Produktionsbedingungen abgeschnittenen Menschen werden in ökonomisch querschnittsgelähmte und sozial autistische Wesen verwandelt, die nach einem „Investor“ schmachten müssen, damit sie „Arbeit“ haben. Das ist bis heute (2015) so, nur vollkommener, als jemals zuvor. Diese Absurdität ist der geheime Kern des gesamten Aufklärungsdenkens bereits im 18. Jahrhundert. Im diesbezüglichen Teil seiner Argumentation geht Mandeville bereits über eine nur moralische Legitimation hinaus. Dass das Leben der Massen nur noch als Abfallprodukt der kapitalistischen Profitproduktion geduldet ist, wird in ein „Wohlfahrtsmoment“ des Kapitals umgelogen; gleichzeitig deutet sich der Gedanke eines gesellschaftlichen „Systems“ an, in dem sich die trickreiche Dialektik von privaten Lastern und angeblichen Vorteilen in das Räderwerk einer (bei de Sade bereits angedeuteten) gesellschaftlichen Maschine verwandelt. Damit ergibt sich der nächste ideologische Winkelzug des Liberalismus, der die Verdichtung und Objektivierung der Marktwirtschaft begleitet. Zu den Geistesgrößen, die dieses neue Systemdenken auf den Weg brachten, gehört auch Immanuel Kant (1724-1804), vielleicht der wirkungsmächtigste Philosoph der Modernisierungsgeschichte – und auch ein liberaler Verteidiger der Konkurrenz egoistischer Einzelner, die er in seinem Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ geradezu auf ein göttliches Gesetz zurückführt: >Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft, sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzlichen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonismus die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d.i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist {…} Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden, und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet, und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien, und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann. Ohne jene, an sich zwar eben nicht liebenswürdige, Eigenschaft der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen notwendig antreffen muss, würden in einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe, alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht erfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß es besser, was für seine Gattung gut ist; sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus den letztern heraus zu ziehen. Die natürlichen Triebfedern dazu, die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele Übel entspringen, die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwicklung der Naturanlagen antreiben, verraten also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt habe< (Kant 1993/1784, 37 ff).

Auch Kant argumentiert also ganz im Sinne von Hobbes; er bekennt sich hinter der aufklärerischen Fassade zu demselben Ideal des „kläffenden Hundsmenschen“. Wie alle Ideologen der Modernisierungsgeschichte nimmt auch Kant die vorgefundenen Formen des Kapitalismus, soweit sie sich als negative „Errungenschaften“ der Modernität bereits durchgesetzt haben, für das Entwicklungsgesetz der Menschheit schlechthin. Auch er vertritt die eingefleischte Herrenvermutung von der „angeborenen Faulheit“ der Massen, die durch den heilsamen Konkurrenzdruck überwunden werden müsse. Gilt Kant bis heute im bürgerlichen Denken als verehrungswürdiger Begründer ethischer Prinzipien der Demokratie, so verrät er selber deren wahren Charakter, wenn er das „moralische Ganze“ des kapitalistischen Ensembles aus einer „pathologisch-abgedrungenen Zusammen-stimmung“ hervorgehen sieht.

Bemerkenswert an Kants Hymne auf die Konkurrenz ist aber vor allem, dass er über die vagen Andeutungen bei Mandeville hinaus nicht mehr nur ein moralisches Zusammenstimmen von „privaten Lastern und gesellschaftlichen Vorteilen“, sondern so etwas wie ein abstraktes System der Vernunft am Werk sieht, das für sich steht und gar nichts mehr mit Lastern oder Vorteilen zu tun hat. Kants Vernunft ist die monströse Vernunft des Kapitals. Er erhebt sich über den bloßen sozialen Paternalismus der Herrenklassen, um als kapitalistische Zwangsgewalt, die „weiß, was für die Gattung gut ist“, die Natur selbst und endlich „die Anordnung eines weisen Schöpfers“ geltend zu machen. Nicht mehr nur der kapitalistische Raubaffe des abstrakten Egoismus ist der „natürliche Mensch“ und der Markt eine quasi-physikalische Tatsache der menschlichen Existenz, sondern die innere Gesetzmäßigkeit dieses großen Ganzen erscheint als ein einziger großer Plan der „zweiten Natur“ jenseits der bloß subjektiven Natur der Menschen, der gewaltige Mechanismus des weltumspannenden Kapitals als ein Werk der „Hand Gottes“, das seinerseits den subjektiven Faktor des „natürlichen“ Einzelegoismus lenkt und leitet. Die vielen egoistischen Willenshandlungen der „vereinzelten Einzelnen“ sind also das Resultat eines von göttlicher Vorsehung bestimmten Gesamtzusammenhangs, einer „höheren Natur“ des Systems. Und für diese neue Denkweise hatte Kants Zeitgenosse Adam Smith (1723-1790) in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ gute Vorarbeit geleistet: