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Jörg Alt

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Beschreibung

Klimakatastrophe, Armut, Flüchtlingsbewegung – das sind nur einige der großen Probleme unserer Zeit. Viele dieser Schwierigkeiten gehen nach Ansicht von Jörg Alt auf das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zurück, das gemeinhin als Neoliberalismus bezeichnet wird. Dass niemand trotz der zunehmend sichtbar werdenden schwerwiegenden Auswirkungen dieses System ernsthaft infrage stellt, liegt daran, dass es bislang nicht gelungen ist, seine verheißungsvollen Versprechen durch ebenso verheißungsvolle Alternativen zu ersetzen. Daher geht es in diesem Buch zunächst darum, wie eine solche Alternative aussehen könnte. Und dann, wie diese neue Idee von weltweiter Gesellschaft ganz konkret umgesetzt werden kann. Letztlich geht es um einen Perspektivwechsel, der Mut macht, die dringend notwendigen Veränderungen in unserer Welt anzugehen und sie wirklich umzusetzen – eben einfach anzufangen!

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Seitenzahl: 144

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Jörg Alt

Einfach anfangen!

Bausteine für eine gerechtere und nachhaltigere Welt

Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2021

ISBN 978-3-7365-0402-8

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2021

ISBN 978-3-7365-0398-1

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart

www.vier-tuerme-verlag.de

Inhalt
1 | Warum dieses Buch?
2 | Einleitung
3 | Wissen, Erzählung und Bedeutung
3.1 Problemveranschaulichung
3.2 Individuelle Erzählungen
3.3 Große Erzählungen
3.4 Kennzeichen einer guten Erzählung
4 | Eine alternative Erzählung
5 | Hintergrund Sehen: Enttarnung der alten Erzählung
5.1 Grundlagen dominierender Überzeugungen
5.2 Auswirkungen dominierender Überzeugungen
5.3 Zwischenbilanz
6 | Hintergrund Urteilen: Grundlegung einer neuen Erzählung
6.1 Befreiung 1: Das Denken dekolonisieren
6.2 Befreiung 2: Wertfundamente neu entdecken
6.3 Grundlagen einer gesellschaftlichen Transformation
6.4 Orte für den Neubeginn
6.5 Ziel: Gemeinwohl. Start: Leidverminderung
6.6 Instrumente und Mechanismen zur Entscheidungsfindung
6.7 Zwischenbilanz
7 | Hintergrund Handeln: Umsetzung einer neuen Erzählung
7.1 Befreiung 3: Abwendung. Befreiung 4: Zuwendung
7.2 Ungleichheit und Partizipation
7.3 Abhängigkeit und Manipulation sichtbar machen
7.4 Pfadabhängigkeiten verstehen
7.5 Neue Wohlfahrtsmaßstäbe
7.6 Umgang mit dem Wachstum
7.7 Kapital muss dienen
7.8 Digitalisierung und Künstliche Intelligenz
7.9 Wirtschaften für das Leben
7.10 Arbeit neu denken
7.11 Grundeinkommen
7.12 Eigentum
7.13 Energiewende
7.14 Verkehrswende
7.15 Landwirtschaftswende
7.16 Finanzierung und Sicherung der Transformation
7.17 Institutionen des Wandels: Städte und Regionen
7.18 Institutionen des Wandels: Staaten
7.19 Institutionen des Wandels: Europäische Union
7.20 Institutionen des Wandels: die Vereinten Nationen
7.21 Netzwerke des Wandels: Koalitionen der Willigen
7.22 Zwangsmigration
7.23 Zwischenbilanz
8 | »Never waste a good crisis!«
8.1 Corona: Rückenwind oder Rückschlag?
8.2 Das Richtige und das Recht
8.3 Bildung, Training, Bewegung
8.4 Es gibt nichts Gutes, außer man tut es
8.5 Und die Kirche?
8.6 »Linke Politik«?
9 | Schluss
10 | Literaturverzeichnis

1 | Warum dieses Buch?

Mein Buch »Handelt!« (Alt, 2020) wurde gut angenommen und stieß eine Fülle von konstruktiven Diskussionen an. Zugleich fanden viele LeserInnen das Buch doch recht abstrakt – zu wenig handlungsorientiert und handlungsermutigend. So hieß es etwa: »Es ist ja recht und schön, was die Katholische Soziallehre gut findet. Aber deckt sich das mit dem, was in der realen Welt diskutiert wird und machbar ist?« Nachfolgend versuche ich, diese Fragen ausführlicher zu beantworten.

Dabei habe ich immer wieder Zweifel, ob ich als Soziologe berechtigt bin, auch über fachfremde Herausforderungen und Probleme zu sprechen. Andererseits merke ich zunehmend, wie wichtig es ist, dass Menschen ein umfassenderes Verständnis der aktuellen Krisen und ihrer Ursachen haben. Zu viele sehen nur die Komplexität und werden mutlos oder haben das Gefühl, sich bei Symptomkurierung zu verzetteln. Oder sie haben ihren Spezialbereich, in dem sie dieses und jenes zum Besseren verändern wollen, und übersehen aufgrund wachsender globaler Vernetzung die Gefahr negativer Wechselwirkungen mit anderen Teilbereichen. Einen solch umfassenden Blick zu vermitteln, erfordert eine leicht verständliche Zusammenstellung von Kerneinsichten, nicht aber komplexe Fachdiskussionen. Auch dies ist ein Ziel dieses Buchs.

Zudem möchte es Hoffnung machen. Es werden bereits die richtigen Diskussionen geführt, es gibt vieles, mit dem wir die Dinge in die richtige Richtung lenken können. Je mehr Menschen den Mut haben, Horizont und Perspektive zu weiten, desto eher gelingt es, jenen ExpertInnen Gehör zu verschaffen, deren Vorschläge unsere Welt sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger gestalten können.

Bevor es losgeht, noch dies:

Ich schreibe über das, was mir persönlich hilft, die Seite zu wählen, auf der ich in diesen kritischen Zeiten stehen möchte. Natürlich können die Dinge auch anders gesehen werden. Darüber muss dann eben geredet werden. Zur Gewährleistung besserer Lesbarkeit verzichte ich auf konsequentes Gendern. Ich bitte um Verständnis.Mein Schwerpunkt liegt auf der katholischen Tradition, da ich die protestantische nicht gut genug kenne.Ich danke den 19 Test- und GegenleserInnen. Deren Rückmeldungen haben sehr zur Lesbarkeit dieses Buchs beigetragen. Vergelt’s Gott!Sicher werden auch Sie wie viele der GegenleserIn­nen an vielen Stellen sagen: »Dazu bräuchte es einen Beleg« oder »Dazu würde ich gerne mehr lesen«. Hierfür biete ich eine nach (Unter-)Kapiteln angelegte, ausführliche Bibliografie online an unter https://tinyurl.com/EinfachAnfangen.Dieses Buch berücksichtigt aktuelle Entwicklungen bis Mitte Juni 2021.

2 | Einleitung

Wer heute mit Menschen über die ernste Situation unseres Planeten und der Menschheit spricht, wundert sich oft, dass er mit all seinen Argumenten nicht »landen« kann. Man fragt sich: Warum bestreiten Gesprächspartner einfach, dass die Lage so schlimm ist, wie sie zu sein scheint?

Die Antwort ist relativ einfach: Weil es in der Aus­einan­dersetzung um große Richtungsänderungen in Wirtschaft und Gesellschaft nie nur um Fakten geht, sondern eher um das, was heute unter dem Stichwort »Erzählung« oder »Narrative« diskutiert wird. Gemeint ist damit die Rahmung oder »Verpackung« von Fakten und Prognosen auf dem Fundament der ihr zugrundeliegenden Vision und deren Wertannahmen. Diese entscheiden, welche Analyse- und Lösungs­instrumente gewählt und welche Hoffnungen damit zur Erlangung verschiedenster Ziele verbunden werden. Wenn man die Bausteine und Baupläne solcher Erzählungen kennt, ist es zudem leichter möglich, die Stärken und Schwächen eines »Systems« zu erfassen.

Folgendes Bild soll das veranschaulichen: Es geht heute nicht darum, dass wir mit vorhandenen Farben einfach ein vorhandenes Bild in einem vorhandenen Rahmen übermalen. Es geht um die Entwicklung eines neuen Rahmens (»frame«), innerhalb dessen wir dann mit vorhandenen und neuen Farben ein ganz neues Bild malen können. Noch einmal anders: Stellen Sie sich vor, dass die Werte und Ziele eines Gesellschaftssystems ein Magnet und die unterschiedlichen Modelle von (Geld-)Wirtschaft, Handel oder öffentlichen Institutionen Eisenspäne sind. Heißt dieser Magnet »Neoliberalismus« oder »Verschwörungstheorie«, werden Eisenspäne anders angezogen und sortiert, als wenn der Magnet »Gemeinwohlökonomie« heißt.

Meiner Ansicht nach können viele Probleme, die uns heute plagen, ursächlich auf die Erzählung des neoliberalen Finanz- und Offshorekapitalismus zurückgeführt werden. Darunter verstehen unterschiedliche Menschen Unterschiedliches. Aber das ist angesichts der Geschichte und Komplexität dieser Erzählung auch nicht verwunderlich. Wie ich im Folgenden darlegen werde, ist dabei eine exakte Definition des Neoliberalismus gar nicht nötig. Denn das Problem ist ja gerade, dass viele – auch Nichtexperten – mit Inbrunst zentralen Glaubensüberzeugungen anhängen, ohne deren ideologische Herkunft und Heimat zu kennen, zum Beispiel: »Werden Reiche reicher, nützt das den Armen!« (Trickle-Down-Theorie). Solche Sätze werden, wenn man sie nur oft genug hört, selbstverständlich und verfestigen sich irgendwann tief in unserem Unbewussten mit anderen Glaubenssätzen zu einer Erzählung von Verheißung und Erfolg, der wir bereitwillig folgen.

Weil also Erzählungen oder Narrative so wichtig sind, erkläre ich zuerst, was man darunter versteht, wie sie zustande kommen und warum sie eine solche Macht über Menschen haben. Deren Kenntnis stellt den wesentlichen Verständnis- und Interpretationsrahmen dar, innerhalb dessen alles, was ab Kapitel 5 folgt, anders eingeordnet werden kann, als es in vielen aktuellen Diskussionen der Fall ist. »Erzählungen« sind ein komplexer und komplizierter Gegenstand. Doch entsprechende Kenntnis verleiht die Fähigkeit, mit Finanzkapitalisten oder Verschwörungstheoretikern ganz anders über »Fakten« zu diskutieren.

Das Kapitel »Sehen« soll die Schwächen in der aktuellen Erzählung ebenso aufzeigen wie meine Überzeugung, dass eine neue Erzählung Fakten dieser Welt besser zu deuten vermag. Im Kapitel »Urteilen« präsentiere ich Werte und anderes Grundlegendes, das ein Umsteuern hin zu einer sozial-ökologischen Transformation befördern kann. In den weiteren Kapiteln folgen praktische Handlungsvorschläge.

Wenn all dies Ihnen hilft, sich über Ihre eigenen Visionen, Träume und Hoffnungen in der heutigen Krisenzeit klarer zu werden und Sie sich dann trauen, Ihre eigene Erzählung zu schreiben, die Ihnen fortan Orientierung gibt, dann ist mein Ziel erreicht.

3 | Wissen, Erzählung und Bedeutung

3.1 Problemveranschaulichung

Wie finden Sie das folgende Zitat:

Zentrale Werte unserer Zivilisation sind in Gefahr. In weiten Teilen unserer Erde sind die essenziellen Voraussetzungen für Menschenwürde und Freiheit bereits verschwunden. In anderen sind sie konstant bedroht durch laufende Entwicklungen in der Politik. Die Stellung des Individuums und freiwilliger Zusammenschlüsse werden zunehmend untergraben durch die Ausübung willkürlicher Macht. Selbst der wertvollste Besitz des westlichen Menschen, Gedanken- und Meinungsfreiheit, ist bedroht durch jene Glaubensbekenntnisse, die Toleranz beanspruchen, wenn sie in der Minderheit sind, dann aber, wenn sie eine Machtbasis erlangt haben, alle anderslautenden Sichtweisen zu unterdrücken suchen.

Klingt es vertraut? Knüpft es an Ihre Erfahrung an? Spiegelt es Zeitgeist und Zeitgeschehen wider? Ich möchte wetten, Sie denken an Populismus, Verschwörungstheorie, Meinungsmanipulation, Donald Trump und Brexit.

Und schon hätten Sie sich geirrt. Denn so geht es weiter: Unsere Gruppe

ist der Auffassung, dass diese Entwicklungen genährt werden durch eine Sichtweise von Geschichte, die absolute moralische Standards leugnet und durch das Wachstum von Theorien, die die Herrschaft des Rechts als nicht wünschenswert betrachten. Die Gruppe ist weiter der Auffassung, dass diese Entwicklungen genährt werden durch die Abnahme des Glaubens an Privatbesitz und einen wettbewerbsorientierten Markt, denn ohne die Verteilung von Macht und Initiative, die diese Institutionen mit sich bringen, ist eine Gesellschaft schwer vorstellbar, die Freiheit effektiv zu bewahren vermag. Das Ziel der Gruppe ist, indem sie den Austausch von Gedanken unter jenen ermöglicht, die von gemeinsam geteilten, bestimmten Idealen und Begriffen inspiriert werden, zur Bewahrung und Verbesserung der freien Gesellschaft beizutragen.

Es handelt sich um die 1947 formulierte Absichtserklärung (»Statement of Aims«) der Mont Pelerin Society, der Keimzelle des heutigen Neoliberalismus, die sich und ihrem weltumspannenden Netzwerk aus Think-Tanks, Lehrstühlen, Lobbyisten und Unternehmern seither und bis heute zum Ziel gesetzt hat, entsprechendes Gedankengut zu verbreiten.

Und damit sind wir mitten im Thema, um das es geht: Das »Statement of Aims« enthält alles an Dramatik und Schablonen, was eine gute Erzählung braucht: eine Krise! Die Warnung vor weiteren Gefahren und Bedrohungen! Eine Ermutigung durch den Aufweis von Helden und Waffen, die Schutz, Gemeinschaft, Kampf für Verteidigung und Befreiung verheißen! Und als Happy End eine herrliche Zukunft!

Das »Statement of Aims« ist die inspirative Quelle der jahrzehntelangen weltweiten Dominanz von Profit, Wettbewerb und Wachstum. Propheten eines Wandels verkündigen in dieser »Bergpredigt« in wenigen Sätzen eine großartige Vision. Es ist wie eine Brille, durch die man auf das Durcheinander dieser Welt blickt. Plötzlich erkennt man Struktur, Ordnung und Orientierung. Alles fällt an seinen Platz. Man sieht, was man tun muss, damit eine bessere Welt für alle möglich wird. Wer dies liest und hört, ist angesprochen, vielleicht begeistert. Und schon ist man Fan und Anhänger einer Ideologie, deren Handlungsrezepte man bereitwillig übernimmt und die man dann energisch gegen Andersdenkende oder widersprüchliche Fakten verteidigt.

Die heute dominierende neoliberale Erzählung rechtfertigt aus drei Gründen eine genauere Analyse. Zum einen, weil es ihr weltweit gelang, nationale und kulturelle Interessen zu überlagern und sie deshalb zurecht als »Große Erzählung« gelten kann (siehe 3.3). Zum Zweiten, weil sie eine wichtige Ursache hinter den vielen Gegenwartsproblemen ist und deshalb – drittens – eine Fülle von Gegenerzählungen provozierte, von denen national-völkisch-populistische »kleine« Erzählungen lediglich besonders virulente sind.

All dies legt nahe, dass jeder Einsatz gegen die heute dominierende Erzählung sowie die dadurch provozierten populistischen Gegenerzählungen eine eigene, alternative Erzählung braucht, die eine gleich starke Verheißung und »Frohe Botschaft« anbietet. Dabei wird es sich auch um eine Erzählung von Konflikt, Kampf und Befreiung handeln, im Fall dieses Buchs freilich um eine, die die Gebote der christlichen Bergpredigt, die Erfahrungen eines Gandhi oder Martin Luther King sowie neueste Erkenntnisse der Forschung zu Bewegungen zivilen Widerstands einbezieht.

Bevor wir aber dahin kommen, zunächst einige Darlegungen, wie Erzählungen entstehen.

3.2 Individuelle Erzählungen

Wenn wir über aktuelle Themen diskutieren, halten wir uns für intelligent und rational, so wie es sich für den »Homo Sapiens« gehört. In den Debatten über die Beschränkungen in und die Folgen der Coronakrise wurde aber zuletzt wieder deutlich, dass Menschen sich in dieser Welt nicht nur rational-logisch, sondern auch »irrational«, emotional und oft unbewusst aus dem Bauch heraus über existenziell und tief verankerte Erkenntnis- und Bedeutungsmechanismen orientieren. Dies hat frühkindliche Wurzeln, denn die früheste Wissensgewissheit, die ein Mensch hat, ist keine intellektuelle, sondern die emotionale Gewissheit von Angenommensein durch die Eltern. Recht bald im Anschluss an den Spracherwerb sind Märchen und Sagen erste Instrumente, die Kindern helfen, eine als ungeordnet-chaotisch erlebte Umgebung zu ordnen und zu verstehen. Durch deren Bilde(r)kraft erwerben sie ihr Wissen über Richtig und Falsch sowie Gut und Böse. Sie werden gefesselt durch Erzählungen von Helden, Schurken, Gefährtenschaft, Abenteuer, Kampf und Verteidigung, Treue und Verrat. Sie sind gefangen von den Verheißungen, der Suche und dem Auffinden unermesslicher Schätze und so weiter. Durch die gemeinsame Sprache und die gemeinsam geteilte Bilderwelt entstehen Vertrautheit und Vertrauen in einer Gemeinschaft ebenso wie unreflektiert geteilte Werte und Normen. Diese prägenden Ordnungskategorien werden zeitlebens mithilfe von Opern, Literatur, Kinofilmen und Netflix-Serien verfeinert und vertieft. Mit diesen Prozessen beschäftigen sich heute nicht nur Biologen und Psychologen, sondern auch Futurologen, Soziologen, Anthropologen, Linguisten, Politikwissenschaftler, Historiker, Journalisten und Ökonomen.

So erwerben und bilden wir unseren Common Sense, den gesunden Menschenverstand. Das sind jene einfachen, eingängigen, ja selbstverständlichen Leitlinien, nach denen wir uns in der Regel unbewusst und unreflektiert persönlich, gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich richten und organisieren. Durch die Brille dieser Erzählungen deuten wir Fakten bzw. versuchen wir in verwirrenden Situationen, den Fakten Bedeutung für uns abzugewinnen. Setzt sich solch eine hilfreich-nützliche Erzählung fest, ist sie kaum zu erschüttern und wird zäh verteidigt. Das hat seinen Grund im sogenannten confirmation bias (Bestätigungsvorurteil). Dieser Ausdruck bezeichnet die menschliche Neigung, sich Fakten und Informationen so zu suchen, auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen erfüllen. Letztlich besitzt niemand eine objektiv unbestreitbare Wahrheit. Eben weil jeder seinen Zugang zu Welt und Wirklichkeit nur durch seine individuelle Brille sieht, kann er auch nach außen nur seine subjektive Sicht der Dinge kommunizieren.

Um das zu verstehen, stellen Sie sich Folgendes vor: Jemand ist glücklich und engagiert in seinem Job und bekommt viel positive Rückmeldung von Kunden, Kollegen und dem Chef. Plötzlich wird er dennoch entlassen.

Die Welt, wie er sie kennt, bricht zusammen, und er fragt sich: Warum ich? Warum nicht andere? Habe ich in den letzten Jahren die Signale falsch gedeutet? Lag der Fehler bei mir? Oder doch bei anderen? Ich bin doch der Held der Geschichte! Wer also ist der Bösewicht? Waren es die bösen Kapitalisten, die Unternehmensbereiche »outgesourct« haben? Oder »Asylanten«, die mir den Job wegnehmen? Und wo liegt die (Er-)Lösung? Wie kann ich diesen unerwarteten Schritt für mich aufarbeiten und verständlich machen? Und wenn ich um Rat und Meinung frage: Wem glaube ich? Meinem Chef? Meinen Kollegen? Den Medien? Kurz und gut: Man biegt sich die Dinge zurecht.

Dieses Beispiel veranschaulicht erneut, wie viele andere Formen von Wissen und Gewissheit es für Menschen gibt: intellektuelle, emotionale, intuitive usw. Weltbilder sind dabei umso stabiler, je mehr ihnen anhängen und je ausgeprägter das geteilte Wir-Gefühl ist. Populisten wissen das und arbeiten damit. Genau das wird deutlich, wenn AfD-Politiker Pazderski bekräftigt: »Perception is reality«. Und es erklärt, warum es dort, wo keine »Ausländer« wohnen, besonders einfach ist, ausländerfeindliche Mythen zu verankern: Da niemand einen realen Ausländer trifft und kennenlernt, sind Vorurteil und Feindbild unerschütterlich.

Dieses Beispiel macht zudem andere Probleme verständlich, mit denen wir dieser Tage auf gesellschaftlicher Ebene zu kämpfen haben, etwa beim Klimawandel: Weil jeder nur einen subjektiven Zugang zur Wirklichkeit hat, funktioniert auch Wissenschaft »nur« nach Regeln, die zwischen Subjekten, also intersubjektiv, vereinbart wurden. Diese legen dann fest, welche Methoden beweiskräftig sind oder aufgrund welches Beweises welche Aussagen als wahr und richtig überprüft oder widerlegt werden. Insofern ist Wissenschaft nicht objektiv, sondern intersubjektiv, wenngleich es selbst in komplexen Fällen zu einem wissenschaftlichen Konsens kommen kann.

Viele Menschen haben heute im Persönlichen wie im Globalen zunehmend Probleme, den Durchblick zu behalten. Forscher berichten, dass gerade Menschen, die von der Komplexität der Welt überfordert sind, unter Kontrollverlust und Abstiegsangst leiden.

Diese seien besonders empfänglich für Mythen, die dies auffangen und kompensieren – vielleicht sogar dem Hörer das Gefühl vermitteln, über Geheimwissen zu verfügen, das ihm gegenüber der Masse der Bevölkerung einen Machtvorteil verschafft.

Mit Appellen, Belächeln und Beschimpfung dagegen anzugehen, hilft nicht, sondern erreicht eher das Gegenteil. Gelingt es nicht, die Lücke zwischen Verschwörungstheoretikern, Populisten und dem Mainstreamwissen zu überbrücken, dann suchen sich Menschen weiter das zu ihrer Gewissheit passende Wissen an anderer Stelle und igeln sich mit Gleichgesinnten ein. Die Folge: Die Gesellschaft zerfällt in Teilöffentlichkeiten, Filterblasen und Echokammern.

3.3 Große Erzählungen

Dies leitet über zu dem, was der Philosoph Jean-François Lyotard als »Große Erzählungen« bezeichnet (Lyotard, 1979). Große Erzählungen bieten weit über Einzelpersonen, weltanschauliche Grüppchen, ja Völker und Nationen hinaus einen gemeinsamen Deutungs- und Referenzrahmen. Darin entwickeln Menschen trotz aller Verschiedenheit etwa gemeinsame Vorstellungen von Fortschritt oder Wohlstand. Als Beispiele nennt Lyotard die mittelalterliche Weltordnung, die von der Kirche bestimmt war, das Zeitalter der Aufklärung oder den Marxismus. Es gibt zudem Anhaltspunkte, dass Lyotard die heutige Ausformung des Kapitalismus und dessen Weg zur »Schaffung von Reichtum« den Großen Erzählungen zurechnete.

Wie im Kleinen, so im Großen: Wie oben anhand des plötzlich arbeitslos Gewordenen gezeigt, geht es auch hier um Sätze, Werte, Grundannahmen und -überzeugungen und andere Bausteine, die man nehmen und zu einem Referenzrahmen für den Umgang mit der Welt und darin bestimmte Ziele verknüpfen kann. Wie dies im größeren Rahmen funktioniert, habe ich oben (3.1) anhand des »Statement of Aims« gezeigt: Dort »verpackte« eine Gruppe Annahmen und Überzeugung mit einem bestimmten Zweck und einer bestimmten Absicht. Dieser Vorgang ist als »Framing« (Rahmung) bekannt, und das Ergebnis ist ein Deutungsrahmen, in den jeder bewusst oder unbewusst Informationen und Fakten stellt.

Wie wichtig das Verhältnis zwischen »Fakt« und »Frame« ist, möchte ich anhand von zwei Beispielen aus meiner eigenen Arbeit schildern. In der Kampagne für das Verbot von Anti-Personen-Landminen ging es darum, das Framing der Streitkräfte (»Landminen sind unabdingbar für die Sicherheit des Landes und den Schutz unserer Soldaten«) durch eine humanitäre Sicht zu ersetzen (»Landminen verletzen vor allem Unschuldige, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind«).