Einfach fragen in Licht und Schatten - Nadja Oehlmann - E-Book

Einfach fragen in Licht und Schatten E-Book

Nadja Oehlmann

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Beschreibung

Als Eigensprache oder Idiolekt bezeichnet man die individuelle Wortwahl und Ausdrucksweise eines Menschen, seinen sprachlichen "Fingerabdruck". Wenn man in der traumatherapeutischen Begleitung achtsam zuhört und auf einfache und offene Art und Weise nach Schlüsselworten und Bildern fragt, werden Belastungen gewürdigt und Ressourcen aktiviert. Das innere Wissen der Klient:innen und ihre Kompetenzen entfalten sich und sie finden eigene Wege zu ihren Zielen. Die daraus erwachsende Sicherheit, die Selbstbestimmung und das Selbstbewusstsein sind positive Kontrasterfahrungen zu der Bedrohung, der Ohnmacht und der Hilflosigkeit, die traumatisierte Menschen belasten. Die idiolektische Gesprächsführung bereichert und erleichtert die Traumatherapie und -beratung und wirkt für beide Seiten entlastend. Sie kann gemeinsam mit vielen weiteren Methoden angewandt werden.

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Für unsere Klientinnen und Klienten, die so viel Mut zeigen,ihre Wege zu gehen, auf eigene Art und mit eigenem Sinn.

»Federn lassen und dennoch schweben,das ist das Geheimnis des Lebens.«

Hilde Domin

Nadja Oehlmann, Tilman Rentel

Einfach fragenin Licht und Schatten

Das Potenzial der Eigensprachein der Traumatherapie

Mit einem Geleitwort von Wolfgang Woellerund einem Vorwort von Luise Reddemann

2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Hypnose und Hypnotherapie«

hrsg. von Bernhard Trenkle

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagmotiv: © Tilman Rentel

Illustrationen: Sibylle Reichel, www.sibylle-reichel.de

Redaktion: Veronika Licher

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0473-5 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8433-1 (ePUB)

© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

Vorbemerkung

Einleitung

Einfach Fragen in Licht und Schatten?

Das Potenzial der Eigensprache in der Traumatherapie?

Worum geht es in diesem Buch?

Was ist Eigensprache?

Was ist Idiolektik?

Wozu Eigensprache in der Traumatherapie?

Teil 1: Einfach fragen in Licht und Schatten

1Geschichte der Idiolektik

Wie ist die Idiolektik entstanden?

Wie hat sich die Idiolektik weiterentwickelt?

Wo findet Idiolektik heute Anwendung?

Wie wird Idiolektik vermittelt?

2Haltung in der Idiolektik

Verhältnis von Haltung und Technik

Würdigung und Resonanz

Gute Gründe

Innere Weisheit

Zieloffenheit

Erlebniseinladungen: Haltung in der Idiolektik

Zusammenfassung: Haltung in der Idiolektik

3Technik der Idiolektik

Achtsames Zuhören

Was ist »achtsames Zuhören« und wie geht es?

Wofür ist achtsames Zuhören gut?

Erlebniseinladungen: Achtsames Zuhören

Zusammenfassung: Achtsames Zuhören

Eigensprache und Schlüsselworte

Was ist Eigensprache?

Wie entwickelt sich die Eigensprache?

Wie kommt man vom Idiolekt zur Idiolektik?

Wie geht man mit der Eigensprache im Gespräch um?

Beobachtungs- und Wahrnehmungsebenen von Eigensprache

Was sind Schlüsselworte?

Wofür ist es gut, dass Schlüsselworte neue Räume öffnen?

Wie könnte man das Phänomen Eigensprache in einem Bild beschreiben?

Welchen Nutzen hat die Eigensprache für Therapie und Beratung?

Wie kann Eigensprache Halt geben und den Kontakt zu sich selbst ermöglichen?

Wie hängen Eigensprache und »Fremdsprache« zusammen?

Erlebniseinladungen: Eigensprache

Zusammenfassung: Eigensprache

Einfach offen fragen

Was sind einfache offene Fragen?

Was ist der Vorteil des einfachen offenen Fragens?

Wie kann man sich dieses einfache offene Fragen vorstellen?

Welche Art von Fragen werden in der Idiolektik konkret gestellt?

Wie stellt man idiolektische Fragen?

Was sind spezielle idiolektische Interventionstechniken?

Wie geht man damit um, wenn Fragen vom Gegenüber als nicht passend empfunden werden?

Wenn so einfach und offen gefragt wird, was passiert dann?

Woher könnte der Mut kommen, als Therapeut ohne Fahrplan zu fahren?

Wie könnte man diese Orientierung am Prozess bildhaft beschreiben?

Erlebniseinladungen: Einfach offen fragen

Zusammenfassung: Einfache offene Fragen

Ressourcenorientierung

Was sind Ressourcen?

Was ist Ressourcenorientierung in der Idiolektik?

Was ist der Vorteil von Ressourcenorientierung?

Wie kann man Ressourcen finden?

Was hat Ressourcenorientierung mit Selbstfürsorge der Therapeuten zu tun?

Was hat Ressourcenorientierung mit dem Paradigmenwechsel in der Psychotherapie zu tun?

Erlebniseinladungen: Ressourcenorientierung

Zusammenfassung: Ressourcenorientierung

Metaphern und Paralogik

Was sind Metaphern und was ist Paralogik?

Woher kommen Bilder und Metaphern in der Sprache?

Wie sieht der idiolektische Zugang zu den Sprachbildern aus?

Wie entstehen Verknüpfungen zwischen dem »Spielraum« der Metaphern und der realen Ebene?

Was passiert eigentlich im Gehirn bei paralogischen Gesprächen?

Erlebniseinladungen: Metaphern und Paralogik

Zusammenfassung: Metaphern und Paralogik

Körpersprache

Wie wird die Körpersprache in der Idiolektik beachtet?

Der Körper als Wegweiser – Wie benutzt man die Körpersignale zur Orientierung?

Was ist mit der Körpersprache der Therapeuten und Begleiterinnen?

Welche Vorteile hat die Resonanz auf der körpersprachlichen Ebene?

Was spricht der Körper über sich selbst?

Wie kann man respektvoll mit unwillkürlichen Körpersignalen umgehen?

Wie kann die Eigensprache von Körperteilen oder Symptomen im Gespräch aufgegriffen werden?

Was ist präverbale Wahrnehmung und wie kann man sie nutzen?

Erlebniseinladungen: Körpersprache

Zusammenfassung: Körpersprache

4Ein Überblick über die Idiolektik

Über Flüsse, Steine und Sandkörner

Welches sind die methodischen Bausteine der Idiolektik?

Wie entstehen aus den methodischen Bausteinen die »Sandkörner« idiolektischer Technik?

Wie beginnt ein idiolektischer Gesprächsfluss und wie beendet man ihn?

Über Berg und Tal in Licht und Schatten

Was findet man auf dem Berg und im Tal?

Licht und Schatten

Bergwanderungen

5Wie wirkt die Idiolektik?

Idiolektische Gespräche aus der Perspektive der Klientinnen

Idiolektische Gespräche aus der Perspektive der Therapeuten und Begleiterinnen

Über Weniges in der Wüste

Idiolektische Gespräche aus der Perspektive menschlicher Grundbedürfnisse

Idiolektische Gespräche aus der Perspektive psychotherapeutischer Wirksamkeitsforschung

Werden bei einer konsequenten Ressourcenorientierung Probleme vermieden?

Idiolektische Gespräche aus der Perspektive der Neurophysiologie

Zusammenfassung: Wirkungen der Idiolektik

6ZwEI Geschichten zwischen Teil EIns und Teil zwEI

Die Geschichte vom Ei

Die Geschichte einer EInzigartigen HEIlung

Teil 2: Das Potenzial der Eigensprache in der Traumatherapie

7Einführung in die Psychotraumatologie und Traumatherapie

Grundlegende Aspekte der Psychotraumatologie

Was ist ein Trauma?

Was sind traumatische Reaktionen?

Welche traumatischen Prozesse gibt es?

Zusammenfassung: Grundlegende Aspekte der Traumatherapie

Die Geschichte der Psychotraumatologie

Wie entsteht Wissen über Traumata – und wieso gerät es immer wieder in Vergessenheit?

Welches sind wichtige Quellen psychotraumatologischen Wissens?

Zusammenfassung: Geschichte der Psychotraumatologie

Elemente und Prinzipien der Traumatherapie

Welches sind die Elemente der Traumatherapie?

Was sind wichtige Prinzipien der Traumatherapie?

Zusammenfassung: Elemente und Prinzipien der Traumatherapie

8Idiolektik in der Traumatherapie

Beziehungsaufbau und -gestaltung

Wie kann eine Beziehung traumasensibel gestaltet werden?

Was sind die neurobiologischen Grundlagen einer als sicher erlebten Beziehung?

Was kann Idiolektik dazu beitragen?

Was sagt die Psychotherapieforschung zur Beziehungsgestaltung?

Wo gab es solche Ideen schon einmal in der Geschichte?

Erlebniseinladung: Beziehungsaufbau und -gestaltung

Zusammenfassung: Beziehungsaufbau und -gestaltung

Anamnese und Diagnostik

Anamnese und Eigensprache

Pendeln bei der Anamneseerhebung

Diagnostik und Eigensprache

Symptome als Kompetenzen wahrnehmen und utilisieren

Wie kann man die Funktionalität unwillkürlicher Muster erkunden?

Individuelle Krankheitsmodelle entwickeln

Archaische Relikte

Symptome als therapeutische Ressourcen nutzen

Erlebniseinladungen: Anamnese und Diagnostik

Zusammenfassung: Anamnese und Diagnostik

Stabilisierung und Ressourcenaktivierung

Äußere Stabilität und Sicherheit

Stabilisierung und Eigensprache

Selbstregulation auf beiden Seiten

Neutrales und Unverfängliches fokussieren

Wahrnehmung im Außen fokussieren

Fokussieren von Verben und Kompetenzen steigert Handlungsfähigkeit

Stabilisierende Kompetenzen aus einer Metapher entwickeln

Ressourcenaktivierung und Eigensprache

Ebenen des Erlebens

Allgemeine Ressourcen

Spezifische Ressourcen

Spektrum zwischen Ressourcenaktivierung und Bearbeitung von Belastungen

Erlebniseinladungen: Stabilisierung und Ressourcenaktivierung

Zusammenfassung: Stabilisierung und Ressourcenaktivierung

Traumabearbeitung und -integration

Elemente schonender Traumabearbeitung

Emotionale Aktivierung der Belastung sowie Bearbeitung belastender Emotionen in der Eigensprache

In der Zeit zurückgehen, um Ressourcen zu finden, und diese in der Zeit vorwärts wirken lassen (»Re-Sourcieren«)

Exkurs: Eierprobleme und Hühnerlösungen

Versorgung und Trost innerer verletzter Anteile in der Eigensprache

Das Pendeln in der Traumabearbeitung

Arbeit mit kontrollierenden und verletzenden Anteilen in der Eigensprache

Eigensprache und Traumatherapie am Modell der strukturellen Dissoziation

Traumatherapeutische Elemente als heilsames Netz

Erlebniseinladungen: Traumabearbeitung

Zusammenfassung: Traumabearbeitung

Trauer und Neuorientierung

Trauer und Eigensprache

Neuorientierung und Eigensprache

Erlebniseinladung: Trauer und Neuorientierung

Zusammenfassung: Trauer und Neuorientierung

Alltagstransfer

Visionen motivieren zu Handlungen

Alltagstransfer unterstützen

Die Nachhaltigkeit der eigenen Bilder und Lösungsideen

Hindernisse bei der Umsetzung des Alltagstransfers würdigen

Erlebniseinladung: Alltagstransfer

Zusammenfassung: Alltagstransfer

Randbereiche und Grenzen der Idiolektik

Randbereiche und Grenzen des Gesprächssettings

Randbereiche und Grenzen der Klientinnen

Eigene Randbereiche und Grenzen der Begleitenden

Zusammenfassung: Randbereiche der Idiolektik

Verbindungen mit anderen traumatherapeutischen Methoden

Hypnotherapeutische und hypnosystemische Methoden

Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR)

Imaginative traumatherapeutische Methoden (z. B. PITT, IRRT)

Bildschirm- und Beobachtertechnik

Körpertherapeutische Methoden

Ego-State-Therapie

Kreativtherapien

Clean-Prozesse nach David Grove

Zusammenfassung: Verbindungen mit anderen traumatherapeutischen Methoden

9Der Anfang vom Ende oder das Ende vom Anfang?

Erlebniseinladung: Weiterführende Gedanken, Bilder, Handlungen

Ausblick und Aus(bildungs)gänge

Nachwort

Anhang

Anhang 1: Übersicht über allgemeine idiolektische Wahrnehmungs- und Fragedimensionen mit Beispielfragen

Anhang 2: Übersicht über die Kompetenzfelder und Fähigkeiten in der Idiolektik

Verzeichnis der Praxisbeispiele

Literatur

Zitierte Literatur

Weiterführende Literatur

Über die Autorin und den Autor

Geleitwort

Sich auf eine Patientin oder einen Patienten einzulassen heißt, ihre Einzigartigkeit zu würdigen, ihre Subjektivität radikal ernst zu nehmen. Ihre Perspektive erfahren zu wollen, sich selbst zurücknehmen zu können, um ihnen zuzuhören, sich für das Andersartige zu interessieren – all das gilt gemeinhin als Voraussetzung für eine gute Psychotherapie. Die Psychotherapieforschung lässt keinen Zweifel daran. Auffällig ist, dass diese Fähigkeiten wenig in psychotherapeutischen Ausbildungen gelehrt werden.

Dass ein respektvoller und wertschätzender Umgang mit Patienten unerlässlich ist, wird niemand bestreiten – doch was gibt uns die Sicherheit, dass das, was wir für respektvoll und wertschätzend halten, auch von unseren Patienten so wahrgenommen wird? Wenn wir unsere Aufgabe darin sehen, einen Konflikt herauszuarbeiten oder eine Ressource zu aktivieren, um ein Fähigkeitsdefizit unserer Patienten zu beheben – was macht uns so sicher, dass wir ihre Welt und ihre Bedürfnislage erfasst haben? Wenig bekannt ist, wie oft es zu Brüchen auf der Mikroebene der therapeutischen Beziehung kommt, die, wenn sie von den Therapeuten nicht bemerkt und rechtzeitig geklärt werden, Patienten in dem Gefühl zurücklassen, nicht verstanden worden zu sein. Nicht allein unser Fachwissen, sondern auch unser ernsthaftes und neugieriges Interesse sowie die Bereitschaft, uns auf das subjektive Erleben, die Weltsicht und die Sprache unserer Patienten einzulassen, wird zu einer hilfreichen Therapieerfahrung beitragen. Was im Grundsatz für alle Patienten gilt, trifft auf Menschen mit traumatischen Lebenserfahrungen, deren Bedürfnisse missachtet und denen eine fremde Bedürfniswelt aufgezwungen wurde, in besonderem Maße zu.

Auch wenn Psychotherapie ein Handwerk ist und nicht ohne die Beherrschung von Methoden und Techniken auskommt, bleibt es von entscheidender Bedeutung, ob wir die Anliegen unserer Patienten wahrnehmen können, ob wir hören können, was sie uns sagen wollen, ob wir versuchen, ihre Sprache zu verstehen. Die Hinwendung zur „Eigensprache“ der Patienten ist das Anliegen des Ansatzes der Idiolektik. Diesen Ansatz aufgegriffen und für die therapeutische Beziehung zu traumatisierten Menschen nutzbar gemacht zu haben, ist das schätzenswerte Verdienst der Autoren dieses Buches. Was viel zu oft der therapeutischen Intuition überlassen wurde, hat hier eine didaktische Form gefunden. Offenbar lässt sich – entgegen einer weit verbreiteten Meinung – eine gute therapeutische Beziehungsgestaltung doch lehren! In gut verständlicher Diktion geschrieben, mit einer übersichtlichen Gliederung versehen und mit zahlreichen praktischen Beispielen angereichert, schließt das Buch eine noch immer bestehende Lücke in der psychotherapeutischen Lehre. Es sei nicht nur Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die im engeren Sinne mit traumatisierten Menschen arbeiten, empfohlen, sondern – in Anbetracht der Bedeutung und Verbreitung psychischer Traumatisierungen – allen therapeutisch Tätigen.

Bonn, im März 2023

Dr. med. Wolfgang Woeller

Vorwort

Menschen drücken mit ihrer Eigensprache das aus, was sie im Moment bewegt, schreiben Nadja Oehlmann und Tilman Rentel im vorliegenden Buch. Dies bedeute für die, die begleiten: »Zuhören statt reden, fragen statt raten,respektieren statt recht haben und vielleicht verstehen.« Eine aus meiner Sicht bedeutsame Einstellung, die insbesondere in der Arbeit mit seelisch verletzten Menschen zu beherzigen ist. Auch die bescheidene Ankündigung von »vielleicht verstehen« beeindruckt mich. In diesem Buch geht es um respektvolle Begegnungen in der Behandlung traumatisierter Menschen auf der Basis eines Konzeptes, das beinhaltet, Menschen bei ihrer ureigenen Ausdrucksform zu begleiten und ernst zu nehmen. Die Fallbeispiele im Buch machen das sehr deutlich. Es lohnt sich, sie auf sich wirken zu lassen und vielleicht auch den Mut aufzubringen, zu schauen, wie gehe ich – als Therapeutin – mit meinem Gegenüber um. Habe ich nicht gelernt, dass es zu verstehen, zu deuten oder auch zu belehren gilt? Dass wir unseren PatientInnen ein paar Schritte voraus sein sollten? Das mag durchaus hilfreich sein, jedoch halte ich den Idiolektikansatz für inspirierend, dass wir uns vielleicht – zumindest gelegentlich – fragen, ob ein Mitsein und Verweilen bei den Worten und Gesten der PatientInnen mehr Wirkung haben kann, als man es meist gelernt hat. Die herkömmliche ärztliche und psychotherapeutische Haltung geht ja eher von einem Defizitmodell aus, wonach PatientInnen eben gerade nicht wissen, was sie »wirklich« umtreibt.

Verweilen bedeutet hier auch in einem Sinn, dass wir damit beginnen, bei dem, was PatientInnen uns sagen, zu bleiben. Das setzt Vertrauen in die Fähigkeit von PatientInnen voraus, dass sie selbst am besten wissen, was sie brauchen. Für mich heißt das auch, dass wir uns irren können, wenn wir meinen, wir wüssten mehr und besser, was PatientInnen brauchen. Das könnte ein nicht mehr ganz stimmiges Konzept sein, das aber immer noch weitverbreitet ist. »Um jemanden in seiner Einzigartigkeit zu würdigen, erachtet die Idiolektik das gute Zuhören und das einfache Nachfragen nach den Worten des Gegenübers als wertvoll. Es ist der unverwechselbare Fingerabdruck, den das Leben in der Sprache eines Menschen geformt hat. Die Worte, die Menschen verwenden, enthalten den Erfahrungsschatz ihres Lebens.«

Würden Fachleute für Fingerabdrücke diese anders deuten als etwas, das einzigartig für das Individuum steht und insoweit auch keiner Interpretation bedarf?

Das »einfache Nachfragen«, das im Buch aufgezeigt wird, scheint mir der Schlüssel im Sinn eines aufrichtigen Interesses an diesem Fingerabdruck zu sein. Diese Art des Nachfragens bedeutet vermutlich für viele TherapeutInnen etwas Irritierendes. Haben die meisten von uns ja eher gelernt, dass wir genauer als die PatientInnen/KlientInnen wissen, was in ihnen vor sich geht oder welche Lösungen es geben könnte. Insbesondere sehr belastete PatientInnen, die schwer an den Folgen von Traumatisierungen leiden, scheinen uns herauszufordern, baldmöglichst Erklärungen zur Verfügung zu stellen und Wege zur Besserung aufzuzeigen. Sicher ist das oft sinnvoll, dennoch scheint es mir lohnend, diesen idiolektischen Weg besser kennenzulernen und womöglich zu gehen.

Die aktuelle Psychotherapieforschung belehrt uns darüber, dass wir begleiten sollen, wohlwollende Beziehungen anbieten, da sind und mit sind, häufiger vielleicht, als dass wir einzuordnen versuchen, ohne uns zu vergewissern, ob die Patientin für sich nicht längst Lösungen und Antworten gefunden hat.

In diesem Sinn wünsche ich dem Buch viele LeserInnen, die bereit sind, »einfach« zu fragen und der Weisheit der PatientInnen mehr zu vertrauen.

Rinnen, im Dezember 2022

Luise Reddemann

Vorbemerkung

Wir schreiben dieses Buch sowohl für Therapeutinnen als auch für Beraterinnen und allgemein für Menschen, die beruflich in Kontexten mit traumatisierten Menschen arbeiten. Aus diesem Grund sprechen wir manchmal von Therapeutinnen, bisweilen auch von Begleitern sowie auf der anderen Seite von Klienten und in Fallbeispielen aus der Praxis auch von Patientinnen.

In unserer Ausdrucksweise wählen wir hin und wieder die Möglichkeit, einen Sachverhalt in Form eines Bildes zu beschreiben. Dies machen wir, um den Lesern die Freude an Bildern und auch deren Sinnhaftigkeit nachvollziehbar zu machen. Aus dem gleichen Grund haben wir uns für eine Illustrierung entschieden, die genau diese Bildhaftigkeit der Sprache aufgreift. Unser herzlicher Dank geht hierfür an Sibylle Reichel, die mit ihrer einfühlsamen Art unsere Worte mit ihren Bildern begleitet und bereichert.

Wir möchten allen unsere Dankbarkeit aussprechen, die unsere Arbeit beeinflusst haben. An erster Stelle danken wir unseren Klienten und Klientinnen für die vielen Tausende mitrei(s)sender Stunden, in denen wir sicher die wertvollsten Lektionen gelernt haben. Außerdem haben sie tatsächlich einen großen Teil dieses Buches selbst geschrieben, indem sie in den Therapiestunden ihre Erkenntnisse und Bilder in ihrer eigenen Sprache aus ihrer inneren Weisheit geschöpft haben und einverstanden waren, dass Gesprächsausschnitte daraus in den Praxisbeispielen veröffentlicht werden.

Außerdem möchten wir Adolphe Desiderius (genannt »David«) Jonas und seiner Frau Doris F. Jonas danken, die die Idiolektik entwickelt haben. Unser Dank gilt ebenso ihren Schülern, die uns die Idiolektik gelehrt haben. Sie haben uns mit ihrer Begeisterung angesteckt und über viele Jahre ermutigt, unseren Klientinnen und Klienten Vertrauen zu schenken.

Die weiteren Impulse für dieses Buch kamen aus sehr verschiedenen Bereichen, wie Weiterbildungen in anderen Methoden der Traumatherapie (wie z. B. PITT, IRRT, Ego-State-Therapie, EMDR, TRIMB, Somatic Experiencing, Clean Language). Auch hat sich über die Jahre sehr viel Input von Kolleginnen und nicht zuletzt Seminarteilnehmern angesammelt. Dadurch hat sich die Art und Weise der Idiolektik herausgebildet, wie wir sie heute in der Traumatherapie anwenden und hier darstellen. Aus dieser Sammlung von Erfahrungen und Wissen haben wir für dieses Buch Informationen verdichtet, die uns wertvoll erschienen.

Um die Gleichstellung und die Vielfalt der Geschlechter sprachlich abzubilden, werden in diesem Buch Personengruppen mal mit der männlichen, mal mit der weiblichen Form benannt. Damit sollen ausdrücklich auch Personengruppen mit non-binären Identitäten mitgemeint sein.

Praxisbeispiele

Da unsere methodischen Überlegungen vor allem in der Praxis relevant sind und dort aus unserer Sicht auch am besten verstanden werden können, haben wir durchgehend versucht, passende Praxisbeispiele auszuwählen und in den Text einzufügen. Zum besseren Verständnis haben wir diese in Bezug auf den methodischen Schwerpunkt des Abschnitts kommentiert.

Was in den Transkripten nicht sichtbar wird, sind die Körpersprache, die stimmlichen Qualitäten sowie die vielen Pausen und die Verlangsamung, aber auch die Wechsel im Tempo des Gesprächsflusses, die oft wichtiger Bestandteil eines idiolektischen Gesprächs sind. An manchen Stellen haben wir sie in Klammern […] sichtbar gemacht.

(Kommentare, im Text kursiv, geben exemplarisch Hinweise auf die verwendeten Techniken.)

Fett gedruckt werden die Schlüsselworte und ihr Aufgreifen in den Fragen.

Kommentar: Hier werden wichtige Zusammenhänge zum Fließtext des Abschnitts hergestellt.

Einladungen zum eigenen Erleben

Damit Sie als Leserinnen und Leser nicht nur im rezeptiven Modus unsere Erfahrungen aufnehmen, sondern sie auch teilen können, stehen am Ende eines jeden Abschnitts kleine Einladungen für Experimente oder Beobachtungsideen, mit deren Hilfe Sie bestimmte Aspekte der methodischen Möglichkeiten selbst erleben können.

Zusammenfassung

Hier werden wichtige Punkte aus dem vorangegangenen Kapitel bzw. Abschnitt in kurzen Sätzen zusammengefasst.

Einleitung

Zuhören statt reden,

fragen statt raten,

respektieren statt recht haben

und vielleicht verstehen.

Einfach Fragen in Licht und Schatten?

Traut man sich in der Begleitung einfach zu fragen, können Antworten reichhaltig und erfüllend sein. Fragt man einfach in Licht und Schatten, werden Leid und Freude des Lebens gewürdigt. So können beide (wieder) Verbindung zueinanderfinden und sich miteinander ausbalancieren.

Das Potenzial der Eigensprache in der Traumatherapie?

Wird die Eigensprache im Gespräch gewürdigt und aufgegriffen, können Klienten sich daran erinnern, selbst etwas zu wissen, selbst etwas zu können und eigene Wege zu ihren Zielen finden. Das daraus erwachsende Selbstbewusstsein, die Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung sind positive Kontrasterfahrungen zu den traumatischen Qualitäten der Bedrohung, der Ohnmacht und der Hilflosigkeit. So kann der achtsame Umgang mit der Eigensprache der Klienten die Traumatherapie bereichern, erleichtern und für beide Seiten entlastend sein. Dies erlaubt es, den Fokus vom Machen und Heilen auf das Da-Sein und Halten zu legen.

Wachstum und Selbstheilung kann so aus einer Resonanzverbindung miteinander und Rückverbindung zu sich selbst geschehen.

Worum geht es in diesem Buch?

Dieses Buch wurde in zwei Teilen geschrieben. Beide ergänzen sich und stellen unterschiedliche Perspektiven auf die traumatherapeutische Arbeit der Autorin und des Autors dar. Wir freuen uns, wenn für Sie als Leserinnen und Leser über diesen »doppelten Aufmerksamkeitsfokus« (vgl. S. 222) eine Integration beider beruflicher Erfahrungswelten angeregt werden kann.

Die erste Perspektive vermittelt die Erfahrungswelt der Eigensprache und Idiolektik sowohl als Ressource als auch als positiven Kontrast in der Traumatherapie und wird in Teil 1 des Buches beschrieben. Darin wird die Idiolektik als Lehre von der Eigensprache mit ihrer Geschichte, Haltung und Technik sowie ihren Wirkungen anhand von Beispielen aus der traumatherapeutischen Praxis der Autorin und des Autors vorgestellt.

In Teil 2 dieses Buches wird auf die zweite Perspektive eingegangen, die aus Sicht der Traumatherapie darstellt, wie diese durch die idiolektische Haltung und Technik bereichert werden kann. Nach einer Einführung in die Grundlagen und die Geschichte der Psychotraumatologie werden die methodischen Möglichkeiten der Idiolektik in Bezug gesetzt zu den Grundprinzipien der Traumatherapie. Es wird auf Randbereiche und Grenzen der Idiolektik eingegangen und es werden Verbindungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen traumatherapeutischen Modellen, Methoden und Therapieformen aufgezeigt.

Wer vor der Lektüre des ersten Teils eine Einführung in die Fragen bekommen möchte, was ein Trauma ist, was es für Folgen hat und wie man in der Therapie grundsätzlich damit umgeht, ist eingeladen, Kapitel 7, »Einführung in die Psychotraumatologie« (vgl. S. 182), vorab zu lesen.

Was ist Eigensprache?

Da in diesem Buch von der Eigensprache, dem Idiolekt, die Rede ist, folgt eine kurze Definition dieses Wortes und auch der danach benannten Gesprächsmethode, der Idiolektik (diese wird im ersten Teil des Buches ausführlich dargestellt):

»Idiolekt nennt man die Sprachmuster, die eine Person verwendet, inkl. all ihrer phonetischen, grammatikalischen und die Wortwahl betreffenden Vorlieben« (Encyclopaedia Britannica 1980, S. 287; Übers.: H. Poimann).

Es ist der unverwechselbare Fingerabdruck, den das Leben in der Sprache eines Menschen geformt hat. Die Worte, die Menschen verwenden, enthalten den Erfahrungsschatz ihres Lebens. Menschen drücken mit ihrer Eigensprache das aus, was sie im Moment bewegt.

Was ist Idiolektik?

Idiolektik ist eine elegante und innovative Gesprächsmethode, um sich persönlich weiterzuentwickeln oder Schwierigkeiten zu klären. Ihr Ziel ist es, neue Wege zu sich selbst und anderen zu ermöglichen. Der Kern besteht in einer Würdigung der Einzigartigkeit und des tiefgehenden Wissens der Klientinnen. Es wird achtsam zugehört und in ihrer Eigensprache (Idiolekt) einfach und zieloffen nach Schlüsselworten gefragt. Dadurch werden die Begleiter mitgenommen auf eine Reise in die Welt der Klienten und ihr Erleben und inneres Wissen kann sich entfalten. So kommen Menschen zu Wort, werden gehört und gesehen und finden neue Perspektiven und eigene Lösungen.

Die Methode geht zurück auf Adolphe Desiderius (genannt »David«) Jonas, einen Psychotherapeuten, der diese Form der Gesprächsführung in den 1970er-Jahren in der Arbeit mit psychosomatisch erkrankten Menschen entwickelte. Heute wird die Methode in vielen Bereichen eingesetzt, von Ärztinnen, Psychologen, (Trauma-)Therapeutinnen, Hospizhelfern, Seelsorgerinnen, ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern, Lehrerinnen, Erziehern, Kindergärtnern, Führungskräften oder auch u. a. im Qualitätsmanagement.

Abb. 1: Was ist Idiolektik? Achtsames Zuhören – Aufgreifen von Eigensprache und Schlüsselworten – einfaches offenes Fragen – Zieloffenheit – Zugang zu innerem Wissen

Das Faszinierende an der bedingungslosen Würdigung der Sichtweise der Klientinnen ist, dass sich hierdurch tatsächlich viel rascher Perspektivenwechsel ergeben, die etwas Neues im Sinne neuer Einsichten oder Ausblicke ermöglichen. Damit tauchen sogenannte Emergenz-Phänomene auf, d. h. die Herausbildung von neuen Strukturen infolge des Zusammenspiels einzelner Elemente. Das bedeutet, dass die Wirkung deutlich größer ist als die Summe der einzelnen »Zutaten«, und diese Wirkung entsteht im System der Klientinnen selbst.

Es geht uns im vorliegenden Buch nicht darum, noch eine Methode zu den vielen schon bestehenden hinzuzufügen, sondern sozusagen den Lebensfluss und die Lebensenergie der Klienten wieder zurück ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Durch die Idiolektik kann die Wirksamkeit bestehender Methoden verstärkt und ihre Anwendung spezifischer an die Prozesse der Klienten angepasst werden.

Viele therapeutische Methoden wurden aus Überlebensstrategien von Klienten entwickelt. Ein Beispiel ist das Wegträumen, das traumatisierte Kinder häufig nutzen. Dies wird als Imaginationsübung im therapeutischen Kontext wiederaufgegriffen. Ein anderes Beispiel ist, dass Kinder in belastenden Situationen anfangen, Dinge zu zählen. Solche kognitiven Ablenkungsstrategien werden Klienten oft als »Skills« angeboten.

Auf umgekehrtem Wege kann die Idiolektik dazu beitragen, dass die Patienten die für sie geeigneten therapeutischen Methoden und Modelle selbst passgenau für sich aus den eigenen Überlebenskompetenzen entwickeln.

Praxisbeispiel: »Selbst draufkommen«

Eine Patientin in der stationären Traumatherapie sagte dazu einmal: »Ja, Sie fragen einfach immer nur nach, und manchmal denkt man sich, warum zeigt er mir nicht, wie es geht, aber es ist schon sehr toll, wenn man selbst draufkommt, dann erinnert man es viel besser und macht es am Ende auch eher.«

Wozu Eigensprache in der Traumatherapie?

Traumata sind seelische Verletzungen. Viele dieser Verletzungen können heilen oder man lernt mit den Folgen gut zu leben, sie »vernarben«. Es braucht jedoch dazu günstige Bedingungen. Traumatherapie versucht, diese günstigen Bedingungen gemeinsam mit den Menschen zu fördern, die noch unter den Folgen ihrer seelischen Verletzungen leiden. Dies gilt für viele Menschen, die psychisch erkrankt sind. Daher ist die Traumatherapie zu einem Schwerpunkt unserer psychotherapeutischen Arbeit geworden.

Auch wenn die idiolektische Methode nicht speziell für die Traumatherapie entwickelt wurde, stellt sie mit ihrer Haltung und Technik für diese Arbeit ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich eine gute Resonanz in der Beziehung aufbauen lässt. Auf diesem sicheren Boden können mit diesem Instrument dann die Themen der Klientinnen respektvoll begleitet und passgenaue Wege und Lösungen gemeinsam improvisiert werden.

Der würdigende Umgang mit der Eigensprache ist jedoch nicht nur für Therapeuten interessant, sondern ebenso für Menschen, die in ganz anderen Bereichen mit Menschen Umgang haben, welche unter den Folgen seelischer Verletzungen leiden.

In traumatherapeutischen und traumapädagogischen Seminaren taucht häufig die Frage auf, woran man denn nun traumatisierte Menschen erkennen könne und wie man mit den »anderen« umgehe. Die Antwort ist dann meist, dass das oft nicht gleich zu erkennen ist, dass aber alle Menschen mehr oder weniger Verletzungen in ihrem Leben erfahren haben. Eine achtsame und würdigende Haltung und ein respektvoller Umgang mit der Eigensprache und den Grenzen der Menschen hat noch niemandem geschadet. Im Gegenteil, Menschen sind dankbar, wenn sie gehört und gesehen werden, so wie sie sind, und nicht nur so, wie sie für irgendjemand anderes sein sollten. Daher können die Inhalte dieses Buches durchaus allgemein für alle Menschen von Nutzen sein, die mit anderen Menschen Gespräche führen.

Teil 1:Einfach fragen in Licht und Schatten

1Geschichte der Idiolektik

»Wir sind gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.«

Bernhard von Chartres1

Wie ist die Idiolektik entstanden?

Adolphe Desiderius (genannt »David«) Jonas, geboren am 12. April 1913 in Zemun, heute ein Stadtteil von Belgrad, studierte Medizin in Wien und arbeitete zunächst in der Tropenmedizin am Universitätsklinikum von Catania, Italien. Nach der Übersiedelung in die Vereinigten Staaten von Amerika wirkte er am Riverside Hospital in Virginia, anschließend zunächst als Allgemeinarzt, dann als Psychiater in New York, später auf den Philippinen und knapp drei Jahrzehnte lang in privater psychiatrischer Praxis wieder in New York. Lehraufträge an Universitäten führten ihn nach London, Würzburg und Wien. Wie die meisten seiner damaligen Kollegen war er psychoanalytisch ausgebildet. Insbesondere in der Arbeit mit psychosomatischen Patienten bemerkte er jedoch die Notwendigkeit, die streng psychoanalytischen Gesprächs- und Deutungsmuster zu verlassen.

Angeregt durch seine Beschäftigung mit Linguistik, Anthropologie und Ethnologie entwickelte er zusammen mit seiner zweiten Frau Doris F. Jonas ihren evolutionären Ansatz in der Medizin und Psychologie. Daraus entstand im Rahmen seiner psychotherapeutischen Praxis mit der eigensprachlichen Methode, die er später »Idiolektik« nannte, eine besondere Form des therapeutischen Gesprächs. Diese lehrte er in den folgenden Jahren an Universitäten und in Seminaren (Jonas u. Daniels 1987). Einige Elemente des tiefenpsychologisch fundierten Psychosomatikansatzes nach Felix Deutsch (1953) können als Vorformen der heutigen idiolektischen Methode angesehen werden.

Eine weitere wichtige Wurzel der Idiolektik ist der evolutionäre Ansatz in der Psychotherapie und Psychosomatik, wie er bezogen auf psychosomatische Symptome erstmals von W. B. Cannon (1915) beschrieben wurde. Darin wurden evolutionär bedingte unmittelbare Reaktionen beschrieben, mit denen sich der Organismus auf Bedrohungssituationen mit abrufbaren Reaktionsmustern wie Angriff, Flucht und Verteidigung vorbereitet. Dieser Ansatz war auch die Grundlage sowohl für die heutige Stressforschung sowie für die Erforschung der evolutionären Grundlagen von Verhalten und Körperreaktionen des Menschen.

A. D. Jonas beschrieb auf der Basis von biologischem, physiologischem, medizinischem, psychologischem und psychosomatischem Wissen bereits in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine Fülle von »archaischen Relikten« (vgl. S. 252), d. h. seelisch und körperlich manifestierte Verhaltensmuster, die aus unserer frühmenschlichen und sogar vormenschlichen Vergangenheit stammen und die bei der Entwicklung psychosomatischer Symptome abhängig von spezifischen auslösenden Erziehungs-, Erlebens- und Verhaltensmustern eine wesentliche Rolle spielen. Er baute diese archaischen Muster in sein psychotherapeutisches Konzept ein, indem er sie als ressourcenorientierte Erklärungsmodelle nutzte, um unverständliche und Angst machende, anscheinend »ver-rückte« Reaktionen des Körpers in einem biologischen Sinnzusammenhang wieder »zurecht-zu-rücken« (Jonas 1985).

Zudem ließ sich Jonas aus der Art der einfachen und von nonverbalen Signalen geprägten Kommunikation der Primaten, die er während seiner Forschungen im ethologischen Bereich beobachtete, zu einer radikalen Vereinfachung der psychotherapeutischen Gesprächs- und Kommunikationsmethodik inspirieren, und zwar mittels gezielter Berücksichtigung und Verwendung nonverbaler Signale. Diese folgen analog den Grundmustern des genetisch fundierten sozialen Austausches des Menschen, wie er etwa im »Plaudern« zum Ausdruck kommt« (Poimann 2016). Weitere wichtige Einflüsse, die die Arbeit von Jonas geprägt haben, waren ressourcenorientierte und systembezogene Ideen im Zuge der entstehenden Familientherapien.

Wie hat sich die Idiolektik weiterentwickelt?

Jonas arbeitete von 1974 bis 1985 als Psychiater am Würzburger US-Army Hospital und lehrte in dieser Zeit die Idiolektik am Psychologischen Institut. Neben seinen Vorlesungen hielt er regelmäßig Seminare in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in denen er seine Erfahrungen mit der idiolektischen Gesprächsführung weitergab.

Hier konnten einige der heute bekannten Vertreter der Psychotherapie die idiolektische Gesprächsführung und Jonas’ evolutionäre Konzepte kennenlernen. Beispielsweise haben Gunther Schmidt im Bereich der Hypnotherapie und systemischen Therapie sowie unter anderem der Gründer und die spätere Leiterin der Süddeutschen Akademie für Psychotherapie Wilhelm Ritthaler und Nesmil Kasumlu im Bereich der humanistischen Verfahren Jonas’ Erkenntnisse in ihre Arbeit integriert.

Als Jonas 1984–1985 seine Vorlesungstätigkeit nach Wien verlagerte, gründeten einige seiner Schüler aus der Schweiz, Deutschland und Österreich 1985 die Gesellschaft für Idiolektische Gesprächsführung (GIG). Diese hatte zunächst zum Ziel, Seminare für Jonas zu organisieren. Dieser verstarb jedoch 1985 plötzlich in Wien. Die Gründungsmitglieder der GIG entschlossen sich daraufhin, das bisher Gelernte selbst weiterzuvermitteln und zu lehren.

Idiolektik-Geschichten von Lehrern und Schülern

Was wäre ein Kapitel über die Geschichte der Idiolektik ohne eine kleine Geschichte von einem der wichtigsten Schüler von Jonas und gleichzeitig Idiolektik-Lehrer der Autorin und des Autors? Dr. Hans-Hermann Ehrat, Allgemeinarzt und Psychotherapeut aus Schaffhausen, erzählt auf die Frage, was ihm zur Geschichte der Idiolektik einfällt:

EHRATWas mir zuerst einfällt, ist ein väterlicher Freund und Kollege, der mich mitgenommen hat ins Adler-Institut, um David Jonas zu hören, weil seine Begründung war: »Da wirst du einen Kollegen sehen, der das anders macht als wir und viel effizienter.« Da bin ich mitgegangen und wir haben sofort Kontakt gefunden, der David und ich. Ich habe ihn nachher noch mitgenommen nach Hause. Wir haben da gemütlich Kaffee getrunken, und er hat mir ein bisschen erzählt von der idiolektischen Methode und hat gesagt: »Wenn du das lernst, wirst du dich nie mehr langweilen.« Und da habe ich viele Jahre dran gedacht. Das ist stark, wirklich fantastisch.

RENTELWas hast du da gedacht, als du dann später in den Jahren dran gedacht hast?

EHRATDas fand ich immer etwas ganz Treffendes. Es ist jedes Mal eine Exkursion ins Unbekannte und das fasziniert total. So hat das angefangen.

RENTELWas ist dann geschehen?

EHRATDann habe ich gedacht, da muss ich irgendwie dieses »Land« wiedersehen, und dann waren die Seminare in Bad Grönenbach, und da bin ich hingefahren und war da mit einigen Schweizer Kollegen immer unterwegs, und die waren wie ich total begeistert. Nach den Kursen oder in den Pausen sind wir immer rausgegangen und haben uns gegenseitig zugesprochen, wie fantastisch das ist und dass wir das unbedingt lernen wollen.

RENTELWas war so fantastisch daran?

EHRATAls Erstes mal die idiolektische Gesprächsführung und zweitens diese absolute Klarheit in der Offenlegung jeder Situation sowohl diagnostisch als auch menschlich, psychologisch. Es gab keine Tabus, es wurde einfach offengelegt, und das kannte ich vorher nicht. Ich komme noch aus einem Milieu, in dem der Arzt sehr distanziert ist und der Allwissende und sich nichts sagen lässt, und der Patient weiß sowieso nichts. All diese Dinge, die mussten zuerst abgelegt werden. Das habe ich dort gesehen in Bad Grönenbach, und ich war tief beeindruckt, wie Patienten sich gemeldet haben. Sie wollten unbedingt ein Gespräch bekommen. Und da war eine Japanerin, die hat während der Vorlesung gesagt: »Herr Professor, wenn Sie mich heute nicht drannehmen wollen, dann werde ich Sie verklagen.« Also, das war natürlich unglaublich, dass Leute so einen Drang hatten nach Idiolektik.

RENTELWas glaubst du, was die da gedrängt hat, sich zu melden?

EHRATDie haben nach meiner Wahrnehmung einfach entdeckt, dass hier ein Mensch sitzt, der sie ohne Wenn und Aber lässt und sich interessiert, was für sie entscheidend ist und wichtig.

Auch wenn David Jonas seiner damaligen Zeit weit voraus war, indem er ein revolutionäres Maß an Vertrauen in die Klienten und ihre Fähigkeiten setzte, brachte er noch häufiger spezifische Interventionen und Erklärungen aus der Sicht des ärztlichen bzw. therapeutischen Experten in die Patientengespräche ein.

Die Gründungsmitglieder der GIG (Gesellschaft für Idiolektische Gesprächsforschung) entwickelten und verbreiteten die idiolektische Methode im Folgenden in Seminaren und Fortbildungen weiter. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Schwerpunkte der Methodik noch mehr verschoben in Richtung der Wahrnehmung der Kompetenzen der Klienten. Außerdem hat die Idiolektik in vielen weiteren Anwendungsfeldern außerhalb des klassisch therapeutischen Rahmens einen wichtigen Platz gefunden.

Wo findet Idiolektik heute Anwendung?

Heute wird Idiolektik überall dort angewendet, wo es wichtig ist, eine gute Kooperation zwischen Menschen aufzubauen und Vertrauen zu fördern. Solches ist in vielen Bereichen des Gesundheitswesens unterstützend: Neben der Psychotherapie und der ärztlichen Gesprächsführung findet die Idiolektik in der Pflege, in der Palliativversorgung und Hospizarbeit sowie in der Seelsorge Anwendung. Darüber hinaus hat sie im Bereich Beratung und Coaching sowie in pädagogischen Kontexten Umsetzung gefunden. Hier ist der Einsatz in der Begleitung von Kindern und Jugendlichen herauszuheben, da diese besonders dankbar aufnehmen, wenn sie in ihrer Sprache und mit ihren Ideen gehört und respektiert werden.

Aber auch überall dort, wo es wichtig ist, anderen Menschen passende Angebote zu machen, z. B. im Verkauf und der Wirtschaft, kann die idiolektische Methode einen förderlichen Beitrag leisten, um authentische Informationen über die Wünsche und Bedürfnisse von Gesprächspartnerinnen zu erhalten. Im Managementbereich findet sie Anwendung z. B. im Bereich der Qualitätssicherung und der Mitarbeiterführung. Weiterhin werden im Bereich qualitativer Forschung idiolektische Fragen eingesetzt, um authentische Informationen zu generieren.

Wie wird Idiolektik vermittelt?

Die Verbreitung von Idiolektik geschieht zwar auch in Vorträgen und Publikationen, meist jedoch wird sie auf sehr praxisorientierte Weise in Seminaren unterrichtet. Eine besondere didaktische Methode, welche auch David Jonas schon genutzt hat, ist das »Mikroteaching«: Hierbei werden Live-Gespräche mit Klienten während kurzer Unterbrechungen direkt kommentiert. Oder Seminarteilnehmer führen unter Live-Supervision mit Klienten oder auch mit anderen Seminarteilnehmern Gespräche und es können verschiedene mögliche Vorgehensweisen während des laufenden Gesprächsprozesses ausprobiert und evaluiert werden. Das hat den großen Vorteil, dass man in den Aus- und Weiterbildungen zur idiolektischen Gesprächsführung nicht nur lernt, die Steuerung durch die Klienten implizit zu erspüren, sondern sie sich auch explizit durch ein Live-Feedback einzuholen. Das stärkt die Wahrnehmungsfähigkeiten für die Passung von Fragen und Interventionen.

Darüber hinaus erlebt man als Teilnehmer selbst die Wirksamkeit der Methode durch ein hohes Maß an praktischen Übungen. Dies entspricht dem sparsamen Umgang mit Konzepten und dem Schwerpunkt der Methode auf der feinen Wahrnehmung der Prozesssignale im Hier und Jetzt. Zu den konkreten Formaten und Möglichkeiten, Idiolektik zu erlernen, verweisen wir auf den Ausblick am Ende des Buches.

1Zitiert in Johannes von Salisbury (1159): Metalogicon 3, 4, 47–50.

2Haltung in der Idiolektik

»Haltung ist eine kleine Sache, die einen großen Unterschied macht.«

Winston Churchill

Nach einigen Sätzen über das Verhältnis zwischen Haltung und Technik beschreibt das folgende Kapitel die Würdigung als ein zentrales Element, welches den Umgang mit dem Gegenüber prägt und Resonanz ermöglicht. Das positive Menschenbild geht davon aus, dass jeder Mensch gute Gründe für das jeweilige Verhalten zu einem bestimmten Zeitpunkt hat. Die Zieloffenheit in der Begleitung baut auf dem Vertrauen in die innere Weisheit des Gegenübers auf.

Verhältnis von Haltung und Technik

»… denn ob etwas Leben werden kann, das hängt nicht von den großen Ideen ab, sondern davon, ob man sich aus ihnen ein Handwerk schafft, ein tägliches. Etwas, das bei einem aushält bis ans Ende.«

Rainer Maria Rilke

Haltung und Technik bedingen und fördern sich gegenseitig. Einerseits ist die Haltung, das zu würdigen, was ist, die beste Voraussetzung für eine angemessene Anwendung der Technik des offenen und interessierten Nachfragens nach Schlüsselworten. Andererseits führt einen eine saubere Anwendung der Technik wie ein Geländer auf einem Weg, auf dem man das Individuelle und die »Schönheit« in den Menschen erkennen und dadurch zu einer würdigenden und wertschätzenden Haltung gelangen kann.

Um Idiolektik zu lernen und zu lehren, ist es sehr wichtig, im Blick zu behalten, dass es sich bei dieser Art, Gespräche zu führen, mehr um eine Kunst des Improvisierens handelt, wie sie in der Musik und im Tanz gelebt wird. Es kommt viel mehr auf das feine Spüren im Moment an als auf das Umsetzen von Konzepten. Es geht nicht um eine Antwort auf die Frage »Was ist richtig?«, sondern darum, sich zu erlauben, eine fragende Haltung einzunehmen und darauf zu achten, was jetzt und hier für diesen Menschen gerade passend sein könnte.

Es braucht eine Offenheit, sich jederzeit durch den Prozess und die Klientinnen korrigieren zu lassen. Wenn in diesem Buch einzelne Elemente beschrieben und Techniken erläutert werden, soll dies nicht wie ein Rezeptbuch oder Manual verstanden und angewendet werden, sondern eher wie ein Farbkasten, mit dem man eigene Bilder entstehen lassen kann, oder wie eine Kiste voller Instrumente, die zum Improvisieren einladen.

Würdigung und Resonanz

»Liebe ist, wenn ich das andere im anderen als Bereicherung erleben kann.«

Jean Charon

Abb. 2: Den Raum halten für das Mitgeteilte

Die Grundhaltung in der Idiolektik ist gekennzeichnet durch eine gelassene und interessierte Zuwendung sowie eine gewisse Lust, etwas Neues zu erkunden. Es ist die Bereitschaft, sich auf eine Reise in ein unbekanntes Gebiet zu begeben. Verbunden wird dies mit einer betrachtenden Ruhe; es wird nicht gedrängt und nicht gewollt. Es geht mehr um eine Haltung des »Da-Seins« als eine Haltung des »Machens«.

Hintergrund dessen ist die Anerkennung der Tatsache, dass wir in Bezug auf unser Gegenüber wirklich nichts wissen und deshalb nur von ihm lernen können. Diesen Raum für das Mitgeteilte offen zu halten, ermöglicht Resonanz. Das Gesagte kann mit seinen leisen Zwischentönen »zurück-klingen« und so vom Erzählenden besser wahrgenommen werden.

In der Begleitung ist eine freudige Bereitschaft zum Scheitern ebenso hilfreich wie eine unbekümmerte Fehlerfreundlichkeit. Beide geben den Klientinnen die Möglichkeit zu korrigieren, was immer für sie nicht als passend wahrgenommen wird. Und letztlich öffnet es in allem Ernst den Raum für Humor und eine Leichtigkeit im Umgang mit der Schwere.

Etwas würdigend anzuschauen bedeutet, mit seiner Aufmerksamkeit dort zu sein, wo man hinschaut. Es bedeutet auch, in Gedanken nicht schon dabei zu sein, was man damit machen wird. Man nimmt die Dinge wahr, wie sie sind. Es geht um ein nichtwertendes Betrachten und Erkunden von verschiedenen Seiten. Wahrnehmungen werden nicht schnell »einsortiert«, sondern es wird davon ausgegangen, dass man sich das Berichtete eben noch nicht wirklich genau vorstellen kann, obwohl man es vielleicht selbst schon gehört und gesehen hat.

Es ist hilfreich, sich die Dinge, die gehört werden, bildlich vorzustellen und die eigenen Vorstellungen durch eine erkundende und fragende Haltung immer weiter zu aktualisieren, um sie dem anzunähern, was der Wahrnehmung der Klientinnen entspricht. Man versucht sozusagen, weniger mit-zu-denken als vielmehr mit-zu-bildern und mit-zu-spüren. Durch die Ruhe und das sich Einlassen beim Betrachten entsteht eher ein Mit-gehen als ein von außen Drum-rum-gehen.

Diese Offenheit, das Nichteinsortieren, erlaubt eine Mehrdeutigkeit, die es ermöglicht, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, insbesondere aus der Perspektive der Klienten. Diese können wiederum neue Blickwinkel für sich entwickeln, da sie durch einfache Fragen eingeladen werden, noch einmal genau hinzuschauen.

Stiegler (2022) spricht von einer empfangenden Grundhaltung, die den eigenen Blick öffnet und weitet:

»Beim Empfangen gibt es keine klare Absicht und damit keinen speziellen Fokus. Damit entsteht ganz viel Raum, aufzunehmen und mit den Dingen zu spielen. Beim Empfangen gehen wir auch nicht auf die Dinge zu, um sie zu ergreifen oder zu erledigen, sondern wir lassen die Dinge auf uns zukommen. Wir lassen uns ergreifen. Das ist eine völlig andere Bewegung als beim Tun und hat eine völlig andere Wirkung in unserem Erleben, da wir uns hier berühren lassen. Es entsteht eine völlig andere Wahrnehmung und ein Begegnungspotenzial.«

Würdigend zuzuhören bedeutet, seinen eigenen »Innenraum« wie bei einem Instrument zu einem Resonanzkörper werden zu lassen für das, was von den verschiedenen Seiten der Klientinnen hörbar wird. Es geht darum, nicht nur Inhalte zu registrieren, sondern sich anklingen zu lassen von den Schwingungen des Mitgeteilten, diese wie Musik aufzunehmen und sie in sich nachklingen zu lassen. Indem man sich selbst in der Begleitung durch eine nichtwertende Offenheit schwingungsfähig hält, kann das Gesagte zurückklingen und eine innere Resonanz bei den Klientinnen fördern.

Würdigen hat laut Duden zwei Bedeutungen2:

»1. jemandes Leistung, Verdienst, den Wert einer Sache erkennen und in gebührender Weise lobend hervorheben […].

2. (jemandem, einer Sache) etwas Bestimmtes zuteilwerden lassen, dessen er, sie für würdig erachtet wird.«

Würde wird als ein vergessener Wert in der Psychotherapie von Luise Reddemann (2008) in einem wunderbaren Buch zu diesem Thema angemahnt. Als ersten Punkt einer würdeorientierten Therapie für Menschen, die Traumata erlitten haben, benennt sie die Bewusstmachung des eigenen Menschenbildes, das die Haltung und damit die Handlungen beeinflusst:

»Hält man z. B. den Patienten/die Patientin für grundsätzlich schwach und unfähig, das für sie Richtige zu erkennen, führt dies zu einem anderen Umgang, als wenn man mit der Prämisse arbeitet, dass jeder Mensch in sich eine tiefe, möglicherweise auch verborgene, Weisheit habe, die ihr oder ihm helfe, das für sie oder ihn Richtige herauszufinden. Ein Menschenbild, das dazu führt, dass man mit Selbstheilungskräften rechnet, führt eher zu einer an Ressourcen interessierten Haltung« (Reddemann 2008, S. 135).

In dem Begriff Würdigung klingt an, einen Menschen als etwas einzigartiges Ganzes zu sehen, das in einem noch größeren Ganzen vernetzt und aufgehoben ist und in sich das Potenzial trägt, zu wachsen. Es kann bedeuten, für und mit Menschen da zu sein, ihnen beizustehen und sie so zu sehen und anzuerkennen, wie sie sind. Es meint, ihre Lebensleistung und -kunst wertzuschätzen, mit ihnen zu gehen und ihnen dabei ihren Raum zu lassen, in dem sie sich entwickeln können.

Zur Einzigartigkeit haben die Begründer der assoziativen Mind-Map-Methode, Tony und Barry Buzan (2002), in einem Experiment (vgl. S. 46) Menschen gebeten, zu ein und demselben Wort mehrfach eigene Assoziationen aufzuschreiben. Sie kommen dadurch zu einer interessanten Aussage:

»Die Tatsache, dass den Menschen so wenige gemeinsame Assoziationen für ein vorgegebenes Wort, Bild oder eine Idee einfallen, bedeutet, dass wir uns alle auf unvergleichliche, nahezu unheimliche Weise voneinander unterscheiden. Anders ausgedrückt ist jeder Mensch weit individueller und einzigartiger als bislang vermutet. Auch in Ihrem Gehirn gibt es Billionen von Assoziationen, die von keinem anderen Menschen in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft geteilt werden. Ein einzigartiges Mineral bezeichnen wir als ›Juwel‹, als ›unbezahlbar‹, ›wertvoll‹, ›selten‹, ›schön‹ oder als ›unersetzlich‹. Angesichts der Ergebnisse über das menschliche Gehirn sollten wir allmählich uns selbst und unsere Mitmenschen mit diesen Begriffen beschreiben« (Buzan u. Buzan 2002, S. 68).

Um jemanden in seiner Einzigartigkeit zu würdigen, erachtet die Idiolektik das gute Zuhören und das einfache Nachfragen nach den Worten des Gegenübers als wertvoll. Besonders in Momenten emotionaler Berührtheit kann sie sich auch durch eine haltende Präsenz äußern oder dadurch, dass man in der Begleitung das, was man mitfühlt, in Worte fasst und als Resonanz anbietet. Besonders wichtig kann eine würdigende Haltung in Momenten des Widerstandes und bei Verhaltensweisen sein, die problematisch, schmerzhaft oder belastend erlebt werden. Hier kann das Erarbeiten der »guten Gründe« für dieses Verhalten eine Hilfe sein (vgl. nächsten Abschnitt).

Es gibt auch Grenzen, die es einem schwer machen, die beschriebene würdigende Haltung einzunehmen. Diese werden im Abschnitt »Randbereiche und Grenzen der Idiolektik« dargestellt (vgl. S. 353).

Gute Gründe

»Das Herz hat Gründe, die die Vernunft nicht kennt.«

Blaise Pascal

Die Haltung in der Idiolektik geht von der Grundannahme aus, dass sich lebendige Systeme selbst organisieren (Maturana u. Varela 1987). Diese Selbstorganisation geschieht unter bestimmten Bedingungen und bringt daher etwas Adaptives und Funktionales bezogen auf den jeweiligen Kontext hervor. Dies ist eine der Grundannahmen der Idiolektik, wie sie von den ersten Idiolektikdozenten in den 1990er-Jahren in Volkach formuliert wurden (»Volkacher Axiome«):

Abb. 3: Gute Gründe

2)In der Eigensprache, im Idiolekt, kommt der andere in seiner Gesamtheit zum Ausdruck.

Dies ist die Grundlage dafür, dass für alles, was Klienten mitteilen, »gute Gründe« unterstellt werden, auch wenn diese nicht im Hier und Jetzt erkennbar sind. Sie liegen vielleicht in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, in anderen Kontexten begründet. Es geht um eine Haltung, aus der die Dinge weniger defizitorientiert oder pathologisierend gesehen werden, sondern von der Frage geleitet werden: Unter welchen Umständen, an welchem Ort, zu welcher Zeit erfüllt das beobachtete Phänomen oder die Verhaltensweise, von der berichtet wird, eine Funktion, hat sie einen Vorteil oder ergibt Sinn?

Manche Klienten werten sich und ihre eigenen Reaktionen ab oder spüren sogar einen inneren Widerstand dagegen, irgendetwas Positives an sich zu entdecken. Wenn sie aber merken, es werden ihnen »gute Gründe« unterstellt, kann sich auch bei ihnen eine wertschätzende, erforschende Haltung sich selbst und den eigenen Reaktionen gegenüber entwickeln. Hier hilft häufig das Betrachten der erlebten Phänomene in anderen Kontexten, z. B. durch das Beschreiben in einer Metapher. Wenn die Klienten die Funktionalität ihrer Reaktionen dann entdecken können, ist das eine große Erleichterung und vor allem schafft es eine gemeinsame Basis, von der aus man wertschätzend weiterschauen kann.

Praxisbeispiel: »Gute Gründe großer Wellen«

Eine Klientin, die schon einen längeren therapeutischen Weg gegangen ist, beschreibt eine Verunsicherung darüber, dass sie immer wieder von starken emotionalen Wellen überflutet wird, für die sie keinen Auslöser in der Gegenwart erkennen kann.

THERAPEUTWas möchtest du, das passiert?

KLIENTINIch hätte gerne, dass diese großen Wellen sich abschwächen, sodass das Meer wieder ruhiger wird und ich auch die kleinen Wellen der Freude wieder wahrnehmen könnte.

THWas könnte es dafür brauchen?

KLDas wird seine Zeit brauchen wie beim richtigen Meer.

THWie entstehen große Wellen eigentlich im richtigen Meer?

KLDa gibt es so Plattenverschiebungen im Untergrund. Es gibt auch Wind oder auch Schiffe, die umfallen, die solche großen Wellen auslösen können. Aber es fühlt sich nicht an wie Wind oder Schiffe. Sondern ich halte es für wahrscheinlicher, dass es Plattenverschiebungen im Untergrund sind.

THWie verschieben sich diese Platten?

KLSie schwimmen auf etwas im tiefen Inneren der Erde, was auch Strömungen verursacht.

THUnd wie ist das, auf dieses Bild zu schauen mit den Platten, die auf den Strömungen schwimmen, und den großen Wellen, die dadurch entstehen?

KLDas ist halt so. So ist die Erde.

THUnd was könnte der Vorteil daran sein, dass diese Platten sich bewegen?

KLJa, manchmal finden sie einen passenden Platz, einen neuen Platz, der passender ist.

THUnd wie ist das, wenn die einen passenden Platz finden?

KL(Lächelt und wirkt entspannter) Ja, das ist sehr gut, dann ist es ruhig. […] bis sie sich wieder bewegen.

THUnd was geschieht, bevor die Platten einen neuen Platz gefunden haben?

KLDa rumst es gewaltig.

THWie wäre das für eine Expertin von Plattenverschiebungen, zu wissen, dass das »Rumsen« und die Wellen ein Zeichen dafür sind, dass die Platten dabei sind, einen neuen Platz zu finden?

KLDas ist sehr gut.

THUnd was ist das Gute daran?

KLDas ändert die Bewertung, die man den Wellen gibt.

Kommentar:

In diesem Gesprächsausschnitt kann die Klientin mithilfe ihrer eigenen Metapher der Meereswellen etwas mehr über die Entstehungsbedingungen ihrer emotionalen Wellen herausfinden, die sie trotz langjähriger therapeutischer Arbeit gegenwärtig immer noch erlebt. Die Frage nach dem Vorteil der Plattenbewegungen hilft ihr, die guten Gründe der Wellen zu verstehen und sie als Zeichen dafür zu erkennen, dass etwas in ihr einen neuen guten Platz findet. Dies verhilft ihr dazu, sie annehmen zu können, und dadurch zu mehr Sicherheit im Umgang damit.

Innere Weisheit

»Niemand kann euch etwas eröffnen, das nicht schon im Dämmern eures Wissens schlummert. Der Lehrer, der zwischen seinen Jüngern im Schatten des Tempels umhergeht, gibt nicht von seiner Weisheit, sondern eher von seinem Glauben und seiner Liebe. Wenn er wirklich weise ist, fordert er euch nicht auf, ins Haus seiner Weisheit einzutreten, sondern führt euch an die Schwelle eures eigenen Geistes.«

Khalil Gibran3

Durch eine positive Haltung und einen freundlichen wertschätzenden Blick, in Abgrenzung zu einer kritischen, sezierenden und analysierenden Haltung, kann rasch Vertrauen entstehen, und dadurch fällt es Klienten leichter, von sich zu erzählen und mit sich selbst in Verbindung zu gehen. Die wertschätzenden Augen der Begleiterin nehmen den Wert von dem, was mitgeteilt wird, wahr und spiegeln ihn. Der Klient lernt dadurch, dass das Schauen nach innen auch eine Freude sein kann, und dass sich im Unbewussten nicht ausschließlich »Drachen und Monster« aufhalten. Es ist dann als würde man vor einer großen Schatzkiste stehen, die man miteinander erkundet und nicht vor einer Grube mit lauter Schlangen. Das kann für traumatisierte Menschen eine neue Erfahrung sein. Verliert das Innere so seinen Schrecken, dann bekommen Menschen mehr Vertrauen und Motivation, in ihr Inneres zu schauen und dieses zu erforschen. Dadurch kann es passieren, dass ihnen ihr Innenleben ein Stück vertrauter wird, und dass sie dort Dinge entdecken, die stärkend sind. In einer solchen neuen Haltung können sogar bei dysfunktional oder zerstörerisch verhaltenden inneren Anteilen positive Aspekte entdeckt werden (vgl. S. 327). Oft ist bei Traumatisierten das Innere eine Quelle von Schrecken und Horror und von Bildern und Gefühlen, die überflutend sind. Sie erleben es als wertvoll, dass sie durch die Idiolektik nicht mehr immer nur im Außen eine Ablenkung suchen müssen, sondern in ihrem Inneren auch Quellen von Stärke und Sicherheit oder Licht sichtbar werden.

Abb. 4: Innere Weisheit

Praxisbeispiel: »Schmetterling«

Eine Klientin bricht in der Therapie erstmalig das Schweigen über eine Entführung und Vergewaltigung vor über 20 Jahren. Im Gespräch entwickelt sie das Bild, mit »hundert Säcken« beladen zu sein. Durch idiolektische Fragen kann sie die Säcke beschreiben, aber noch nicht loswerden. Die Belastung und die Beeinträchtigung über die vergangenen 20 Jahre werden ihr immer deutlicher. Einige Wochen später antwortet sie auf die Frage, was man denn mit den Säcken machen könne …

KLIch möchte wie ein Schmetterling sein. Der hat keine Säcke auf dem Rücken, sondern Flügel.

Die Therapeutin hat keine Vorstellung, wie das möglich sein kann, und fragt idiolektisch nach. Sie stellt beeindruckt fest, dass die Klientin für sich bereits die Lösung aus ihrer Belastung gefunden hat. Es entwickelt sich ein Gespräch von Woche zu Woche, in dem die Klientin berichtet, wie der Stoff der Säcke heller wird, wie sie leichter werden, wie die Nähte der Säcke aufplatzen und Steine herausfallen, wie sie das Wachsen ihrer Flügel förmlich spüren könne, wie diese immer größer würden und wie sich schließlich der ganze Schmetterling entfaltet habe.

Kommentar:

Dies ist ein Beispiel für eine Ressource aus dem Inneren der Klientin, die ihr einen Weg zeigt und die ihr die Kraft und den Mut gibt, die belastenden »Säcke« zu transformieren. Der erste Schritt ist, das innere Belastungsgefühl nach außen in die Metapher der »hundert« Säcke zu projizieren. Die spätere Frage nach dem Umgang damit regt einen Suchprozess im Inneren an, der die Klientin zu der Zukunftsvision des Schmetterlings führt. Hiermit beginnt der Transformationsprozess, bei dem sich die inneren Veränderungen in der Metapher bildhaft manifestieren und sich verstärkend auf die beginnende Selbstentfaltung auswirken.

In so einem Moment wächst das Vertrauen der Klienten in sich selbst, der Mut, im Inneren nach Quellen zu suchen, und das Vertrauen, dass dort etwas Hilfreiches zu finden ist. Diese Quelle wird »innere Weisheit« genannt. Gemeint ist damit der Schatz an implizitem Wissen, welcher aus der gesamten Lebenserfahrung der Klienten erwachsen ist, welcher aber auch archaische und evolutionär entwickelte Überlebensprogramme und Körperweisheit umfasst (vgl. S. 252).

Aus diesem Grund steht die Beziehung der Klienten zu sich selbst im Fokus. Sie lernen mit jeder an sie gestellten öffnenden Frage, dass sie ganz viel Wissen, Können und Ideen in sich haben. Die Therapeutin begleitet das gemeinsame Schauen. Dadurch lernen die Klienten, sich selbst mit einem Blick zu sehen, der freundlich erkundend ist.

Es ist ein Versuch, zu sehen, was mit der Klientin in Ordnung ist, was mit ihr stimmt, und dass sie sich selbst ein Stück zustimmen kann. Es geht in der Beziehungsgestaltung und Haltung darum, Vertrauen auszuleihen, dass Klienten wachsen werden. Dieses Vertrauen ist ansteckend und kann von Patienten als Haltung sich selbst gegenüber nach und nach übernommen werden, denn das Ziel ist es, dass die Klienten irgendwann diesen freundlichen Blick und diese wertschätzende und würdigende Haltung selbst in sich aufnehmen.

Praxisbeispiel: »Wertschätzende Selbstgespräche«

Eine Klientin, die seit einiger Zeit idiolektische Gespräche erlebt hatte, berichtete davon, dass sie zwei imaginäre Freundinnen habe, die sie mit offenen Fragen zu ihren Schlüsselworten in einer Art idiolektischem Gespräch mit sich selbst begleiten würden. Eine sei eher für berufliche Themen zuständig und habe einen etwas anderen Stil der Begleitung als die zweite imaginäre Freundin, die eher für Privates zuständig sei.

Kommentar:

Die wiederholte Erfahrung, achtsam mit einfachen offenen Fragen begleitet zu werden, nimmt die Klientin in sich auf und personifiziert sie als imaginierte, idiolektisch begabte Freundinnen, die ihr in wertschätzenden Selbstgesprächen den Zugang zu ihrer inneren Weisheit ermöglichen.

Zieloffenheit

»Ich komme selten dort an, wo ich hinwollte, aber oft lande ich dort, wo es notwendig ist zu sein.«

Douglas Adams4

Abb. 5: Zieloffenheit

Die Haltung in der Idiolektik ist geprägt von einer Offenheit, was inhaltliche Ziele des Gesprächs betrifft. Eigene therapeutische Intentionen werden eher hintangestellt, d.h., die Klienten werden als Experten für ihre eigenen Ziele gesehen, auch wenn diese ihnen selbst zu Beginn des Gesprächs nicht immer bewusst sind. Manchmal stellt sich im Verlauf der Begleitung heraus, dass der Weg das Ziel ist, manchmal erscheint es so, als stehe das Ziel eher im Weg. Ziele können uns verführen, Dinge am Wegesrand nicht mehr wahrzunehmen und wichtige Umwege nicht zu gehen.

Wie im nächsten Kapitel näher ausgeführt wird, besteht die technische Umsetzung dieser Zieloffenheit im Gespräch darin, dass es sich um eine iterative Methode handelt. Das bedeutet, dass das Ergebnis einer Interaktion den Ausgangspunkt der nächsten Interaktion darstellt: Die Klientin erzählt etwas, und im weiteren Gesprächsverlauf wird vom Therapeuten ein Schlüsselwort aufgegriffen. Nach diesem wird auf eine solch offene Weise gefragt, dass die Klientin weiterhin das Maximum an Steuerung und Kontrolle über den inhaltlichen Verlauf des Gesprächs behält. Die Antwort der Klientin dient wiederum als »Ausgangsmaterial« für die nächste Frage. So ergibt sich ein Weg, der wenig planbar oder vorhersehbar ist, der jedoch interessanterweise sehr rasch zu den Kernthemen der befragten Klientin führt.

Spüren die Klienten die Sicherheit, die mit ihrer Kontrollmöglichkeit der Themen einhergeht, sind sie viel schneller bereit, für sie zentrale Themen von sich aus anzusprechen. Schon in einer alten Zen-Geschichte erklärt der Meister dem ungeduldigen Mönch, dass es länger dauert, wenn er alles in sehr kurzer Zeit erlernen möchte.

»Es ist dein übermäßiges Wollen, das dir Kraft entzieht. Wenn du ein Auge auf dem Ziel hast, kannst du nur noch mit einem Auge auf den Weg schauen« (unbekannter Verfasser).

Die zieloffene Haltung ermächtigt die Klienten, ihre eigenen Ziele zu finden und eigene Wege zu entdecken. Als Begleitende hilft uns ein methodischer Minimalismus, die notwendige Präsenz und Eingelassenheit in der Haltung aufzubauen:

Minimale Intention – nicht wollen – aufseiten des Therapeuten hilft unseren Gesprächspartnern, eigene Motive, Visionen und Ziele, aber auch Probleme und Belastungen anzusprechen. Wenn der Therapeut seine Ziele loslässt, können die Ziele des Gegenübers klarer zum Vorschein kommen.

Minimale Interpretation – nicht wissen und werten – hilft unseren Gesprächspartnern, implizites Wissen zu entdecken und eigene Werte zu verwirklichen.

Minimale Intervention – nicht machen –, sondern kurz, einfach und offen nachfragen hilft, diesen »Entwicklungsprozess« zu unterstützen, ohne ihn zu stören.

Praxisbeispiel: »Nebel«

Eine Klientin schildert ihre Schwindelsymptome vor dem Umfallen wie einen Nebel.

THWas wünschen Sie sich, das mit dem Nebel passiert?

KLEs wäre gut, wenn die Sonne käme, damit er ein bisschen weniger dicht wäre.

Die Klientin erzählt, was sie mit der Sonne noch verbindet, nämlich Wärme und Sommer, um dann selbst zu bemerken, dass es aber auch gefährlich wäre ohne Nebel.

THWofür könne Nebel denn gut sein?

KLUm nicht zu sehen und nicht gesehen zu werden.

THWann wäre das sinnvoll?

KLWenn etwas ganz Schreckliches passiert […].

Kommentar:

Der Therapeut lässt hier seine Bewertungen des Nebels hintanstehen und geht mit den Zielen der Patientin mit (weniger dichter Nebel). Dadurch verändert sich die Bewertung des Nebels durch die Klientin und diese kann sich der Ziele ihrer unbewusst ablaufenden instinktiven Defensivreaktionen bewusst werden. Sie erlangt damit wieder mehr »Selbst-Bewusstsein« und »Selbst-Verständnis«.

Eine weitere Facette dieser Zieloffenheit beleuchtet folgende Erfahrung des Autors [T. R.] am Ende seiner klinischen Ausbildung zum Kinder- und Jugendpsychiater. Er erzählt in einer seiner Supervisionen von seiner Unsicherheit vor anstehenden Familiengesprächen. Er zweifele an sich, da er nach acht Jahren klinischer Ausbildung mehr professionelle Souveränität von sich erwartet habe. Sein Supervisor macht ihn auf einen »guten Grund« dieser Unsicherheit aufmerksam. Er sagt: »Wenn Sie sicherer wären, wären Sie nicht mehr so offen für diese einzigartige Familie, die jetzt vor Ihnen sitzt. Vielleicht hilft Ihnen Ihre Unsicherheit sogar, offen dafür zu sein, dass diese Familie anders ist als die vorigen 100 Familien, die Sie gesehen haben, vielleicht anders funktioniert und etwas anderes von Ihnen braucht.«

Am meisten kann durch eine feine Beobachtung gelernt werden und vor allem durch den Mut, Klienten nach ihren eigenen Erfahrungen und Ideen zu fragen.

Eine häufige Kritik am zieloffenen Vorgehen der Idiolektik besteht darin, dass die therapeutischen Prozesse sich ziellos in Bahnen bewegten, die die Klienten schon oft gegangen seien. Sie würden nicht umsonst die Hilfe von Therapeutinnen oder Beratern aufsuchen, damit diese ihnen den Weg wiesen. Um die Unterschiede zwischen Zielfestlegung, Zieloffenheit und Ziellosigkeit zu verdeutlichen, eignet sich die folgende Geschichte über verschiedene Navigationstechniken in der Seefahrt.

In der westlichen Welt werden bei der Navigation Ausgangspunkt und Ziel vorher festgelegt. Während der Reise wird idealerweise versucht, den vereinbarten Kurs zu halten, also auf einer möglichst geraden Linie vom Ausgangspunkt ans Ziel zu gelangen, welche Stürme oder Strömungen auch immer dazwischenkommen. Es geht bei dieser Art von Navigation um die Fähigkeit, so nah wie möglich an einer vorher festgelegten Route entlang zu navigieren. Eine therapeutische Begleitung in diesem Sinne wäre auf ein vorher festgelegtes Ziel ausgerichtet.

Abb. 6: Polynesische Navigation

In Polynesien, inmitten des Pazifischen Ozeans, gibt es eine andere traditionelle Vorgehensweise bei der Navigation: Hierbei werden das Ziel und der Kurs nicht im Vorhinein festgelegt, es geht vielmehr um die Fähigkeit, Informationen aufzugreifen, die sich im jeweiligen Moment anbieten; also Strömungen und Winde, die während der Reise auftauchen, bestmöglich für das Vorankommen zu nutzen. Hieraus ergibt sich dann das Ziel, an dem man ankommt. Das, was am Ausgangspunkt und auf dem Weg bereits vorhanden ist, wird beeinflussen, wo man am Ende der Reise landet. Eine therapeutische Begleitung dieser Art wäre also eine am Prozess orientierte (Wilson 2017, S. 150).

Die Zieloffenheit im idiolektischen Gespräch ähnelt in diesem Sinne mehr der polynesischen Fähigkeit, die Informationen, die auf dem Weg liegen, zu nutzen und sich nicht an ein vorher festgelegtes Ziel zu klammern. In idiolektischen Gesprächsprozessen wird häufig erkennbar, dass die Ziele, die Therapeuten und Klienten vom Verstand her anvisiert hatten, gar nicht die Ziele sind, bei denen es notwendig ist, zu sein oder anzukommen.

Die Tatsache, dass Therapeuten die eigenen Hypothesen im Wege stehen können, kann die folgende kleine Fabel5 illustrieren: