Eingeweihte oder Was glaubt ihr, wer ihr seid - Renate Dorrestein - E-Book

Eingeweihte oder Was glaubt ihr, wer ihr seid E-Book

Renate Dorrestein

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf dem Weg in die Ferien kommt ein biederes holländisches Ehepaar mitten im schönsten Streit mit dem Wagen von der Deichstraße ab. Hilfesuchend geraten Max, Laurie und ihre zwei verzogenen Söhne in ein einsames Haus. Fernab von der Welt lebt dort eine seltsame Gemeinschaft: die alte Agrippina mit ihrer Vorliebe für frisches Blut; ihr Sohn Lupo, der seinen Unterhalt mit dem Schreiben von Liebesbriefen verdient; ein äußerst gegensätzliches eineiiges Zwillingspaar; ein schwachsinniges Kind und ein einfältiger Knecht. Offenbar ist hier niemand, was er zu sein vorgibt. Manches deutet darauf hin, daß es sich bei dem Haus am Deich um eine Art Irrenhaus handelt. Was für Folgen wird der Zusammenprall von Agrippinas ‹gestörter› Sippschaft und Max' und Lauries ‹normaler›, wenngleich unerträglicher Familie haben? Während Schürzenjäger Max sich vom aufreizenden Charme der pubertierenden Zwillinge in den Keller locken und zwischen Kisten und Kästen voller Zuchtmäuse einsperren läßt, treiben die beiden Jungen sadistische Spiele mit dem wehrlosen Kind. Laurie hingegen wittert eine nie gekannte Freiheit. Sie vergißt ihren Ehemann und Unterdrücker und flirtet unbeholfen mit dem angesichts solcher Zuneigung völlig verschreckten Lupo. Inzwischen jedoch sind alle Hausbewohner vollauf mit den Vorbereitungen für ein bizarres Fest beschäftigt, dessen Höhepunkt ein grausames Blutopfer zu sein scheint ... Doch geschehen all diese Ereignisse wirklich, oder entspringen sie lediglich der zerrütteten Phantasie Lauries, einer unterdrückten, vom Leben ausgeschlossenen Frau? Wie immer die Antwort lautet, Laurie wird die Grundfragen ihres Daseins neu überdenken müssen. Renate Dorrestein hat mit dieser absurd-satirischen Attacke auf die Künstlichkeit unserer festgeschriebenen Wahrnehmung der Realität in Holland großes Aufsehen erregt. «Eingeweihte oder Was glaubt ihr, wer ihr seid» führt geradewegs in ein psychisches Labyrinth tief in uns, in dem Fabel, Legende, Phantasie und Groteske zu einer Einheit verwoben sind.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 284

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Renate Dorrestein

Eingeweihte oder Was glaubt ihr, wer ihr seid

Aus dem Niederländischen von Dirk van Gunsteren

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Auf dem Weg in die Ferien kommt ein biederes holländisches Ehepaar mitten im schönsten Streit mit dem Wagen von der Deichstraße ab. Hilfesuchend geraten Max, Laurie und ihre zwei verzogenen Söhne in ein einsames Haus. Fernab von der Welt lebt dort eine seltsame Gemeinschaft: die alte Agrippina mit ihrer Vorliebe für frisches Blut; ihr Sohn Lupo, der seinen Unterhalt mit dem Schreiben von Liebesbriefen verdient; ein äußerst gegensätzliches eineiiges Zwillingspaar; ein schwachsinniges Kind und ein einfältiger Knecht.

Offenbar ist hier niemand, was er zu sein vorgibt. Manches deutet darauf hin, daß es sich bei dem Haus am Deich um eine Art Irrenhaus handelt.

Was für Folgen wird der Zusammenprall von Agrippinas ‹gestörter› Sippschaft und Max’ und Lauries ‹normaler›, wenngleich unerträglicher Familie haben?

Während Schürzenjäger Max sich vom aufreizenden Charme der pubertierenden Zwillinge in den Keller locken und zwischen Kisten und Kästen voller Zuchtmäuse einsperren läßt, treiben die beiden Jungen sadistische Spiele mit dem wehrlosen Kind. Laurie hingegen wittert eine nie gekannte Freiheit. Sie vergißt ihren Ehemann und Unterdrücker und flirtet unbeholfen mit dem angesichts solcher Zuneigung völlig verschreckten Lupo. Inzwischen jedoch sind alle Hausbewohner vollauf mit den Vorbereitungen für ein bizarres Fest beschäftigt, dessen Höhepunkt ein grausames Blutopfer zu sein scheint ...

Über Renate Dorrestein

Renate Dorrestein, 1954 in Amsterdam geboren, ist eine niederländische Autorin, Journalistin und Feministin.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel

1

Schon bevor das Auto auf dem Deich aus der Kurve flog und im Wasser landete, waren Max und Laurie bedrückt. Sie hatten Streit. In dem Augenblick, in dem die Räder von der Straße abkamen, dachte Max: Jetzt kriegst du mich endlich dahin, wohin du mich haben willst – in einen Rollstuhl.

Laurie dachte an gar nichts; sie schrie. Ihr war zumute, als habe ihr letztes Stündlein geschlagen. Aber das stimmte nicht: Als der Wagen zum Stehen gekommen war, ragte er noch halb aus dem Fluß. Das Vorderteil war unter Wasser, aber die Hinterräder standen noch auf dem Ufer.

Ihre beiden Jungen auf dem Rücksitz gaben keinen Laut von sich. Sie hatten gerade gewettet, wer von ihnen am längsten die Luft anhalten konnte, und wollten lieber ersticken als verlieren. Das war ein glücklicher Zufall, denn beim Verlassen des Fahrzeugs mußten sie mit dem Kopf unter Wasser. Dagegen war es kein Zufall, daß der Wagen in den Fluß gestürzt war.

 

«Warum sagt Papa nichts?» fragte das eine Kind.

«Weil Papa sich furchtbar erschrocken hat», antwortete Laurie zähneklappernd.

«Warum heulst du nicht? Du heulst doch sonst auch immer», sagte der andere Junge.

Laurie zog es vor zu schweigen. Sie dachte an die Pässe, die sie im Handschuhfach vergessen hatte. Sie dachte an den Kofferraum voller gebügelter Urlaubsblusen. Sie dachte an die Brote mit Pastete und Brie, die jetzt den Fluß hinabtrieben. Sie dachte: Hoffentlich bezahlt das die Versicherung.

«Max», sagte sie, «wir müssen irgendwo telefonieren.»

Ihr Mann kauerte zusammengesunken am Straßenrand. Er hob langsam den Kopf und sah sie ausdruckslos an. An seiner Schläfe glänzte ein schmaler Streifen Schlamm. Das Kerbelkraut duftete.

«Max», sagte Laurie noch einmal. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. «Wir müssen etwas tun.»

Max öffnete den Mund. Mit tonloser Stimme sagte er: «Quaak, quaak, quaak.» Das war alles. Es war ziemlich wenig.

Nun fing ihr Jüngster an zu heulen. «Jetzt wird es wieder nichts mit unseren Ferien …» Und der Ältere jammerte: «So ist es doch, nicht wahr, Mama? Oder fahren wir jetzt einfach mit dem Zug weiter, Mama?»

«Das hier», sagte Laurie ratlos, «ist ja noch besser als damals, als wir den Dachgepäckträger verloren haben und alle Autos über unsere Sachen gefahren sind. Das wird das tollste Abenteuer, das wir je erlebt haben. Gleich kommt ein großer Abschleppwagen und zieht unser Auto aus dem Wasser.»

Ihr jüngerer Sohn hörte auf zu weinen. «Sind jetzt Frösche in unserem Auto?»

«Stichlinge!» rief der Ältere rechthaberisch.

«Vielleicht auch eine Seejungfrau», sagte Laurie ungeachtet der ernsten Lage.

«Quaak, quaak, quaak», ließ Max sich in diesem Augenblick wieder vernehmen.

Jetzt mußte langsam doch etwas geschehen. Laurie sah sich um. Auf der Straße regte sich nichts. Nirgends Anzeichen dafür, daß in dieser Gegend Menschen wohnten, und doch mußte es hier irgendwo ein Dorf geben. «Wir sind im am dichtesten bevölkerten Land Europas», sagte Laurie beschwörend. «Es muß doch hier nur so wimmeln von Menschen.»

«Ich sehe bloß ein kleines Mädchen», sagte der Jüngste.

Auf dem Treidelpfad am Deich näherte sich eine kleine Gestalt. Das weißblonde Haar, in dem Blumen steckten, glänzte in der Sonne. Das Kind wackelte mit dem Kopf und gestikulierte mit den Händen. Offensichtlich war es in ein ernstes Selbstgespräch vertieft.

«Nicht ganz dicht», erklärte der Ältere. Breitbeinig, die Hände in den Taschen seiner Jeans, stand er im Gras. Er hatte den Kopf zurückgelegt, und seine feuchten Haare kräuselten sich im Nacken. Ich habe sehr schöne Kinder, dachte Laurie ganz unvermutet.

Das kleine Mädchen kam näher. Seine mongoloiden Gesichtszüge waren jetzt gut zu erkennen. Schlamm klebte an seinen nackten Beinen. Es hatte viel zu große gelbe Stiefel und eine altmodische Schürze an. Während es ganz nahe an ihnen vorbeiging, brummte und summte es mit einer tiefen, kehligen Stimme vor sich hin.

«He, Kleine!» rief Laurie. Ihre Söhne kicherten und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Das Kind blieb stehen und sah sich ohne Verwunderung um. Nasser Mann, nasse Frau, nasse Jungen. Dann ging es weiter.

«Los, Kinder», sagte Laurie, «hinterher. Sie läuft hier bestimmt nicht einfach so in der Gegend herum. Sie muß irgendwo in der Nähe wohnen. Also, Beeilung.»

Das Mädchen hüpfte vor sich hinsingend im Zickzack davon. Laurie stieß Max eilig an. Dann packte sie ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Er sah einfach durch sie hindurch. Sie fühlte eine furchtbare Wut in sich aufsteigen. Sie fand das alles schrecklich unfair.

 

Max war jemand, der ständig im Mittelpunkt stehen mußte, während Laurie immer hoffte, unbemerkt zu bleiben. Max lebte nur für seine Karriere. Lauries Karriere bestand darin, daß sie Max und seine zwei Söhne versorgte. Max fand seine beruflichen Leistungen hervorragend, die seiner Frau dagegen nur recht mäßig. Seit sie wußte, daß er eine Geliebte hatte, begriff auch Laurie, daß sie ihre Bestimmung, den Sinn ihres Lebens verfehlt hatte: für andere unentbehrlich zu sein.

Gott sei Dank brauchten die Kinder sie noch. Max gab sich nur mit ihnen ab, wenn seine Geliebte, seine Arbeit oder sein Cricket-Club ihn nicht in Anspruch nahmen. Er sah phantastisch aus in seinem seidenen Pyjama, seinem grauen Flanellanzug und seinem strahlend weißen Sportdress. Wenigstens im Waschen und Bügeln war Laurie allen anderen voraus.

Max faßte die Seinen immer unter folgendem Nenner zusammen: eine ganz normale, glückliche Familie. Er wußte nicht, daß Laurie jeden Tag ein Pfund Kirschpralinen aß. Das brauchte er auch nicht zu wissen. Er hatte jetzt Urlaub, und das war nicht der richtige Moment, sich mit Problemen zu beschäftigen.

Zu den vielen Problemen, die Max und Laurie hatten, gehörte auch, daß ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit sich voneinander unterschied. So etwas kann weitreichende Folgen haben.

 

Laurie zog Max wie einen Schlafwandler hinter sich her und schloß sich dem seltsamen Zug an. Sie kam sich vor wie im Märchen vom Rattenfänger von Hameln. Ihre Söhne machten die Schritte und Gebärden des kleinen Mädchens nach und hielten sich die Seiten vor Lachen.

Das Kind sprang leichtfüßig den Deich hinauf und überquerte die Straße. «Vielleicht wohnt sie da drüben. Ist da ein Weg?» fragte Laurie und deutete auf den Wald neben der Straße.

«Sie geht in die Büsche», meldete der Ältere. «Hinterher», befahl Laurie. Es gab keinen Weg. Grüner, frischer Duft stieg ihnen in die Nase. Wieselflink verschwand das Mädchen zwischen den Büschen.

«Mama», quengelte der Jüngere, «hier ist überhaupt kein Haus, bloß lauter Brennesseln.»

Vom Ziehen und Zerren an Max, der noch immer völlig geistesabwesend war, begann Lauries Arm zu schmerzen. Ungeduldig zog sie ihn durch einen blühenden Weißdornbusch.

«Papa blutet», sagte der Ältere beunruhigt.

«Das kommt von den Zweigen», sagte Laurie bissig. Sie hatte große Lust, Max der Länge nach ins Farnkraut zu werfen.

Weiter vorn schimmerte der weiße Kittel durch das Grün. Das Mädchen hockte auf einer kleinen Lichtung und pinkelte. «Sie hat keine Unterhose an», bemerkte der Ältere.

Das Kind schaufelte mit beiden Händen Erde auf die Pfütze. Es zerrieb ein paar trockene Blätter. Dann arrangierte es Zweige und Steine zu einem Mosaik auf seinem Kunstwerk. Dabei sang es die ganze Zeit. Es dauerte ein Weilchen, bis Laurie in der getragenen, monotonen Melodie das Lied «Die Eule saß in den Ulmen» erkannte. Ohne eine einzige Zeile auszulassen, sang das Mädchen mit tiefer Stimme das Lied zu Ende. Dann wischte es die Hände am Kittel ab, drehte sich um und ging den eben zurückgelegten Weg wieder zurück.

Als sie wieder im prallen Sonnenlicht auf dem Deich standen, kam Laurie sich ziemlich idiotisch vor. Die Gesichter ihrer Kinder sahen mit einemmal ganz alt aus. Max hing wie ein Bleigewicht an ihrem Arm. Und das Auto war anscheinend inzwischen noch weiter in den Fluß gerutscht. «Quaak, quaak, quaak», schrie Max unvermittelt. «Vorwärts», sagte Laurie grimmig.

Das Mädchen schien jetzt zielbewußter zu gehen. Es machte große Schritte und schwenkte die Arme. Schließlich blieb es stehen und sah sich über die Schulter nach ihnen um, als habe es die ganze Zeit gewußt, daß es nicht allein war. Es lächelte freundlich und sagte: «Hier ist es.»

Der Torweg war so überwachsen, daß er fast nicht zu sehen war. Ohne das Kind wären sie sicher daran vorbeigelaufen. An seinem Ende erhob sich ein dunkelrotes Haus mit blinden Fenstern.

«Das sieht aber düster aus, Mama. Wie ein Geisterhaus», flüsterte der Ältere.

«Hauptsache, die Geister haben ein Telefon», antwortete Laurie, obwohl sie selbst nicht daran glaubte. Sie dachte an den gemähten Rasen in ihrem eigenen Vorgarten und an die blitzblanken Fenster mit den schneeweißen Vorhängen.

«Kommt doch», sagte das Mädchen, das jetzt an der Hecke stand, sehr deutlich. Wie ein Irrlicht huschte es vor ihnen her über die von dunklen Erlen überschattete Auffahrt. Der Weg führte an dem Haus vorbei in einen großen verwahrlosten Garten. Der Rasen war mit Maulwurfshügeln übersät. Auf einem baufälligen Mäuerchen nagte ein roter Kater an etwas herum, das nur eine Maus sein konnte. Dahinter sah man verstreute Nebengebäude. Ein Wellblechschuppen. Ein eleganter Pavillon, von dem jedoch die Farbe abblätterte. Ein Bootshaus über einem Seitenarm des Flusses. Ein Wohnwagen, dessen Tür offenstand. Hier und da waren große Töpfe mit wuchernden Geranien aufgestellt, als habe jemand ziel- und planlos versucht, den Garten zu verschönern. An einem Baum hing eine Schaukel, und in einer altmodischen Badewanne mitten im hohen Gras lag ein Berg Kinderspielzeug.

«Seht euch das an», sagte der Ältere voller Ehrfurcht.

«Da geh ich aber nicht rein», sagte der Jüngere und hängte sich an Lauries freien Arm.

«Seid froh, daß wir hier sind», sagte sie.

«Wo sind wir denn?» fragte der Ältere trocken.

 

Es war das Haus, in dem Agrippina mit ihrer Familie wohnte. Na ja, was man so Familie nennt. Nur Lupo war ihr eigener Sohn. Wibbe war sozusagen adoptiert, die Mädchen hatte man ihr als Kleinkinder mehr oder weniger aufgedrängt, und Marrie war ein Findelkind. Ein Glück, daß Agrippina auch noch Evertje Polder hatte.

Ihr Name war noch nicht das Bemerkenswerteste an Agrippina: darüber hinaus fand sie großen Geschmack an frischem Blut. Alle vermuteten das, aber absolute Gewißheit wollte sich keiner verschaffen. Nur Evertje Polder kannte Agrippinas Geheimnis. Das war einer der Gründe für die seelische Verbundenheit zwischen den beiden. Sie waren nun schon so lange zusammen, daß sie die Jahre nicht mehr zählen konnten. Agrippina hatte mit dem Zählen von Jahren ohnehin nicht viel im Sinn. «Ich bin keine achtzehn mehr», gab sie seit ihrem achtundsechzigsten Geburtstag zu. Es war schon ein Weilchen her, daß sie achtundsechzig geworden war. Und was Evertje Polder anging, so wurde jedem, der auszurechnen versuchte, wie alt sie mittlerweile sein mochte, bald schwindlig.

Der Tag, an dem für Max und Laurie der Urlaub begann, war für Agrippina der Tag des Festes. Lange bevor Max und Laurie miteinander streitend in den Fluß gefahren waren, war Agrippina aufgewacht und hatte gedacht: «Heute ist das Fest.» Es war so früh, daß alle anderen noch schliefen. Ohne sie zu wecken, verließen Agrippina und Evertje Polder das Haus. Auf dem Treidelpfad am Wasser war es noch ziemlich kühl, aber Agrippina merkte nichts davon. Von all der Hast war sie schon wieder müde und verschwitzt – es war erstaunlich, wie lange sie neuerdings für alles brauchte. Wenn es nur keine Zeit gäbe, dann käme sie auch nie zu spät. «Der Fluß stinkt», sagte sie übelgelaunt. «Vielleicht kriegen wir jetzt endlich bald einmal Regen. Was trödelst du denn so herum?»

Agrippinas Augen waren hellblau, die von Evertje Polder braun. Auch sonst hatten sie keinerlei Ähnlichkeit miteinander.

Das Kind, das am Fluß spielte, sah die beiden wie eine Luftspiegelung in der Ferne näher kommen: Agrippina mit ihren leuchtendrosa Halstüchern und ihrem orangen Sonnenschirm, und Evertje Polder wie immer treu an ihrer Seite. Das Kind hatte kein Zeitgefühl, es wußte nichts von früh aufstehen oder zeitig zu Bett gehen, es kam und ging, es tat und ließ, es handelte nach seinen Bedürfnissen. Jetzt gerade rutschte es auf seinem Hintern durch die lauwarmen Pfützen am Ufer und stand dann einen Augenblick reglos mit seinen schreiendgelben Stiefeln im Matsch. Es begann hin und her zu überlegen. Es wiegte den Kopf und zählte murmelnd die verschiedenen Möglichkeiten auf. «Tee», beschloß es schließlich und tat so, als deckte es einen Tisch. Sein Mund klappte auf, die Zunge schob sich heraus, und die kleine Brille verrutschte auf der Nase. Ohne einen Tropfen zu verschütten, schenkte es den Tee ein und kletterte, die dampfenden Tassen vorsichtig balancierend, den Deich hinauf. «Lecker!» rief es mit gebieterischer Stimme.

Agrippina und Evertje Polder erschraken sich fast zu Tode, als das Mädchen so plötzlich vor ihnen auftauchte.

«Marrie!» rief Agrippina. Sie fand das Leben schon anstrengend genug, auch ohne so ein Schachtelteufelchen. Wie sollte ein Tag, der schon so anfing, ruhig enden? Als sie sich einigermaßen gefangen hatte, sagte sie: «Wenn du irgend jemandem verrätst, daß du uns gesehen hast, werde ich dich gnadenlos ersäufen.»

Mar stand da und wartete, die Arme ausgestreckt, um nichts zu verschütten.

«In Gottes Namen», sagte Agrippina, klappte ihren Sonnenschirm zu und steckte ihn mit der Spitze in den Boden. «Also, dann komm. Was gibt es denn heute – Sahnetorte oder Champagner?»

«Tee», sagte Mar.

«Natürlich», sagte Agrippina. «Wie dumm von mir. Nur ganz wenig Milch, bitte. Und keinen Zucker für Evertje Polder, denn die ist jetzt schon ein wandelnder Pudding. Keine Widerrede, Evertje Polder!»

«Pudding!» krähte Mar und reichte Agrippina ein Schälchen.

Agrippina löffelte etwas aus der Luft. Sie blies die Wangen auf. Sie kaute. Niemand sollte sagen können, daß sie nicht ihr Bestes tat.

«Gemütlich», sagte Mar. Sie setzte sich in das Kerbelkraut. Evertje Polder folgte ihrem Beispiel.

«Großartig», sagte Agrippina. Sie bückte sich, um ihren linken Strumpf hochzuziehen. Plötzlich hatte sie ein Flimmern vor den Augen, und in ihren Ohren rauschte es. Sie brauchte ihre Medizin. Sie hatte keine Zeit für Mar. Sie vergeudete hier nur ihre Zeit, ihre kostbare Zeit.

«Wir müssen weiter», sagte sie zu Evertje Polder. «Wiedersehen, Mar. Marrie! Du brauchst nicht so zu tun, als wäre ich Luft. Du könntest mir schon einen Kuß geben.»

«Na gut», sagte Mar. Ihre Beziehung zu ihrer Umwelt war herrlich einfach. Sie liebte Menschen, Tiere und Gegenstände gleichermaßen und ohne Unterschied. Agrippina, die schon seit geraumer Zeit mit Liebe nichts mehr im Sinn hatte, beneidete sie. Sie zögerte. Dann sagte sie: «Soll ich dir eine Blume ins Haar stecken? Dann bist du das schönste Mädchen auf dem Ball. Nein, nicht die gelbe. Das ist Schöllkraut, das ist gut, wenn du mal was an der Leber hast. Gib mir lieber noch eine von den weißen … So, ich steck sie dir hinters Ohr.»

«Schön?» fragte Mar und betastete ihren runden Kopf. Ihre Bewegungen waren schnell, und ihre Augen schossen hin und her. Sie war so flink, daß es Agrippina schon ermüdete, ihr nur zuzusehen. Als das Kind ihr dann auch noch die Arme um den Bauch legte und um sie herumzutanzen begann, wurde es der alten Frau zuviel. «Paß auf meine Zehen auf!» sagte sie schroff. «Ich muß jetzt auch weiter – schließlich habe ich was zu tun. Sei schön brav, ja?»

Mar ließ sich ins Gras plumpsen und sah nicht auf, als Agrippina sich noch einmal umdrehte und winkte. Die alte Frau war beleidigt. Was hatte man schon an Gefühlen? Was hatte man schon davon, sich Nettigkeiten abzuringen, wenn man nichts dafür zurückbekam? Dann jagte eine Enttäuschung die andere. «Da ist es schon vernünftiger», sagte Agrippina, «in allen Lagen so kühl zu bleiben wie ein Eis am Stiel. Ich bewundere dich, Evertje Polder. Ich habe es noch nie erlebt, daß du dich zu irgend etwas hast hinreißen lassen. Wenn ich dich nicht hätte, würde ich auf der Stelle genauso verrückt werden wie die anderen. Müssen wir hier schon rechts ab? Ach nein, erst da vorn beim Schilf.»

Das Ufer roch nach Fäulnis. Es gärte und moderte. Es dampfte. Agrippina trat aus der Sonne in das Zwielicht des hohen Schilfs. Unter ihren Füßen gurgelte es. Ein angenehmer Schauer überlief sie. Sie wußte, was sie wollte, und sie wollte es sofort. O ja, Agrippina mochte frisches Blut! Sie brauchte es natürlich in erster Linie, um jung und schön zu bleiben, aber sie mochte ihre Medizin auch. «So ein Pech! Die Mutter sitzt auf dem Nest. Jag sie weg, Evertje Polder!»

Der große weiße Schwan ergriff aufgeregt die Flucht, als er Evertje Polders massiver Erscheinung ansichtig wurde. Er schlug panisch mit den Flügeln, während er aus einiger Entfernung zusah, wie Agrippina sich gierig über das Nest beugte. Der wurde fast schlecht vor Enttäuschung. Die Küken waren noch winzig – es hatte fast den Anschein, als würden sie nie größer werden. Tag für Tag mußte Agrippina einsehen, daß sie sich noch in Geduld fassen mußte, Tag für Tag tröstete sie sich mit dem Gedanken, daß zu große Eile nur ihr selbst schaden würde.

Schweißnaß vor Selbstbeherrschung richtete Agrippina sich auf. Die Gier hatte einen eigenartigen Geschmack in ihrem Mund erzeugt. Sie war stolz auf ihren eisernen Willen. Andererseits war es natürlich auch möglich, daß sie angesichts der Häufigkeit ihrer Besuche gar nicht imstande war, das Wachstum der Küken richtig zu beurteilen. Vielleicht waren sie in Wirklichkeit schon viel größer, als sie dachte.

Evertje Polders lakonischer Blick entging ihr nicht. Verlegen zog sie wieder ihren Strumpf hoch, brachte ihre Halstücher in Ordnung und begann, so unverfänglich wie möglich den Deich wieder hinaufzuklettern. «Wir gehen besser schnell nach Hause, bevor uns jemand vermißt», rief sie über die Schulter. Aber ihre Eile hatte noch andere Gründe. Sie hatte diesen Morgen ihre Belladonnatropfen völlig vergessen – nichts machte so schöne, glänzende Augen wie Belladonna. Und außerdem mußte sie noch Kuchen backen für das Fest. Sie mußte sich noch um alles mögliche kümmern – als ob ihr der Tag durch diese mikroskopisch kleinen Küken nicht schon verdorben genug gewesen wäre! Nicht daß sie etwas gegen Feste gehabt hätte. Agrippina hatte nur etwas gegen Feste, bei denen ein anderer als sie selbst im Mittelpunkt stand. Wann kam sie nun endlich wieder einmal an die Reihe? Sie wollte ihre Geschichten erzählen. Sie hatte so schrecklich viel zu erzählen. «Ich hab keine Zeit, Mutter», würde Lupo, ihr eigener Sohn, sagen. «Nicht jetzt», würde Biba sagen. «Das hast du doch schon hunderttausendmal erzählt», würde Ebbe sagen. Na und, dachte Agrippina verstimmt, eine gute Geschichte blieb doch trotzdem eine gute Geschichte, oder? «Ich würde Gott weiß was darum geben, wenn ich mich mal wieder so richtig mit jemandem unterhalten könnte», murmelte sie.

Evertje Polder, die den Sonnenschirm trug, schwieg.

So gingen sie auf dem Treidelpfad längs des Deiches am Fluß entlang. Der Löwenzahn stand schon in voller Blüte, während die Knospen der Sumpfdotterblumen noch geschlossen waren. An der Flußbiegung setzten sie sich ans Ufer, um ein wenig zu verschnaufen. Auf dem Deich wuchs Wiesenschaumkraut, und Agrippina pflückte einen Stengel, um darauf herumzukauen. Nichts machte einen so klaren Kopf wie Wiesenschaumkraut.

In der Kurve war eine neue, rot-weiß gestrichene Schranke über die Straße gestellt worden. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden, während sie innerlich ihr Schicksal beklagte. Was hatte man von einer Geschichte, wenn keiner zuhörte? Was hatte man von einem neuen Rock, wenn niemand da war, der ihn bewunderte? Was war ein Fest ohne Gäste? Agrippina kam zu dem Schluß, daß sie die Dinge selbst in die Hand nehmen mußte, wenn sie ihr Bedürfnis nach Gesellschaft befriedigen wollte. Sie stand auf, um die Schranke näher zu untersuchen. Die Konstruktion machte keinen sehr soliden Eindruck. Wenn Agrippina sie beseitigte, würde sie nicht nur sich selbst, sondern auch der Allgemeinheit einen Dienst erweisen: Diese Schranke war ja ein lebensgefährliches Hindernis.

«Beim nächsten Sturm wäre sie sowieso im Wasser gelandet», sagte Agrippina entschuldigend. «So, jetzt wird uns nichts mehr daran hindern, uns einen herrlichen Tag zu machen. Merk dir meine Worte, Evertje Polder: Es gibt immer etwas zu genießen. Und ich schätze, daß die Schwanenjungen in fünf oder sechs Tagen ganz brauchbar sein werden.»

Sie nahm sich vor, die Gegend nach Poleiminze abzusuchen. Kein anderes Kraut förderte das Wachstum so gut wie Poleiminze.

 

Wahrscheinlich war dies genau der Moment gewesen, in dem Laurie im Bett gelegen und geweint hatte, das Gesicht ins Kissen gedrückt, um Max nicht zu stören. Ihr war mit einemmal bewußt geworden, daß drei Wochen Urlaub mit Max drei Wochen Verlangen, Sehnsucht und Zähnezusammenbeißen bedeuteten. Eigentlich war es leichter, wenn er ganz normal zur Arbeit ging, hatte sie gedacht, denn dann konnte sie sich wenigstens tagsüber noch Illusionen hingeben.

 

Inzwischen schlugen Biba und Ebbe genau gleichzeitig die Augen auf. Sie waren grün. Außerdem hatten beide lange, blonde Haare.

«Ich begreife manchmal selbst nicht, wie ich sie eigentlich aushalte», sagte Agrippina jeden Tag zu Evertje Polder. Aber man konnte sich im Leben eben nicht immer alles aussuchen.

Gleich nach dem Aufwachen fingen Biba und Ebbe eins von jenen Gesprächen an, die sie so besonders interessant fanden. Anderen Zuhörern wurde meist ganz schwindlig davon. Das kam, erklärten Biba und Ebbe einstimmig, von der Verwirrung, die dadurch entstand, daß die beiden sich so ähnlich waren, wie es nur eineiige Zwillingsschwestern sein konnten. Man war jedoch allgemein der Ansicht, daß dies die Sache nur unvollständig erklärte.

«Das ist mein Rock, den du da in der Hand hast», sagte Biba.

«Sonst ist aber nichts sauber», sagte Ebbe.

«Du bist dran mit Waschen. Ich wasche schon seit drei Wochen. Ich wasche mich noch krumm und bucklig.»

«Schließlich haben wir ja auch getauscht.»

«Aber das heißt noch lange nicht, daß du einfach so meine sauberen Sachen nehmen kannst. Zieh den Rock aus!»

«Lieber reiß ich ihn in Fetzen.»

«Hör auf, Ebbe!»

«Was krieg ich von dir, wenn ich ihn ganz lasse?»

«Paß auf, er reißt schon! Von mir aus darfst du heute abend auf dem Fest die Perlmuttkette tragen.»

«Die hast du schon Agrippina geliehen.»

«Dann hol ich sie eben zurück.»

«Eine alte Frau bestehlen! Was krieg ich von dir, wenn ich Onkel Lupo nichts davon verrate?»

«Du kriegst eins auf die Nase.»

«Läßt du mich in Ruhe, wenn ich dir den Rock gebe?»

«Ja, aber der gehört ja sowieso mir.»

«Was wir brauchen», sagte Ebbe und zog ärgerlich den Rock aus, «ist eine Sekretärin, die genau Buch darüber führt, was in welchem Moment gerade wem gehört. So, wie es jetzt ist, kommen wir einfach nicht mehr nach.»

«Wir könnten ja an allen Sachen kleine Schilder befestigen», schlug Biba vor. Eine große Müdigkeit überkam sie – sie wußte jetzt schon, wer all die Schildchen würde schreiben müssen. «Zieh dich jetzt an, sonst sind wir nachher die einzigen, die nichts für Sterres Fest gemacht haben.»

Sterres Fest war für Biba der wichtigste Tag des Jahres.

Sie hatte wie ein kleines Mädchen die Nächte gezählt, die sie noch von dem Fest trennten. Ebbe übrigens auch. Sie gab nur aus Gewohnheit Widerworte. Sie sagte: «Mir ist zu warm zum Anziehen. Sieh mal, was für eine dicke Beule ich hier habe.»

«Zeig sie bloß nicht Onkel Lupo, sonst bildet er sich noch ein, daß er auch gleich die schrecklichsten Furunkel kriegt. Laß mal sehen. Das ist bloß die Krätze, weil du dich so wenig wäschst. Oder ein Flohbiß.»

«Nein, das ist ein Vampirkuß», sagte Ebbe, die nackt vor dem Spiegel stand.

Sie drehte den Kopf nach links und rechts und zog ein paar schreckliche Grimassen. Biba saß auf der Fensterbank und ließ die Beine baumeln. «Hast du deshalb so gestöhnt heute nacht?»

«Leidenschaft, meine Liebe», sagte Ebbe vor dem Spiegel, «Leidenschaft ist etwas Herrliches. Sehe ich nicht wahnsinnig interessant aus, wenn meine Haare so liegen?»

«Dein Pickel wirkt sehr dramatisch», sagte Biba. «Da läuft Wibbe. Du liebe Zeit, was hat der für eine blöde Mütze auf! Hallo, Wibbe!» Sie lehnte sich aus dem Fenster und winkte.

«Hallo, Ebbe», rief Wibbe nach oben. Er hatte sich ein paar Holzscheite auf die Schulter gepackt. Wibbe war hier das Mädchen für alles.

«Ich bin Biba», schrie Biba.

«Hallo, Biba», verbesserte Wibbe sich und winkte nochmals.

«Stimmt nicht, ich bin Biba. Hallo, Wibbe!» rief Ebbe.

«Hallo, Biba. Hallo, Ebbe», sagte Wibbe und ging weiter in Richtung Bootshaus.

«Aufregender Mann», sagte Ebbe.

«Zieh dir was an», zischte Biba, «oder du kriegst eins hinter die Löffel.»

«Zu Befehl, gnädige Frau», sagte Ebbe. Sie schnupperte an einer Bluse.

«Es ist ganz egal, was du anziehst – stinken wirst du so oder so», sagte Biba.

Ebbe zog die Bluse an und betrachtete sich im Spiegel. Sie steckte ihre Finger in die Ohren und streckte die Zunge heraus. Dann stand sie eine Weile auf einem Bein. Von solchen Sachen bekam sie nie genug. Ganz im Gegensatz zu Biba.

«Jetzt mußt du dir unten herum noch etwas anziehen», erinnerte Biba sie.

«Was bin ich so?»

«Die Dame ohne Unterhose.»

«Biba», sagte Ebbe, die immer noch auf einem Bein stand. Sie war ganz sicher keine Dame ohne Unterhose. Sie war ein mageres Mädchen, das das Erwachsenwerden vor sich herschob. «Biba, ich langweile mich so.»

«Wir haben jede Menge zu tun. Wir müssen noch alles für heute abend vorbereiten.»

«Aber ich langweile mich so. Wenn wir doch nur jemanden hätten, mit dem wir reden könnten.»

«Und was würdest du dann sagen?» fragte Biba. Biba besaß eine Engelsgeduld. Es gab fast niemanden, dem es schwerfiel, sie zu mögen. Auch Ebbe fiel es leicht. Ebbe drehte sich um. «Ich würde sagen: Nimm mich mit! Hol mich von hier weg! Nimm mich bitte mit!» rief sie.

Es hatte keinen Zweck, sich darauf eine Antwort einfallen zu lassen. Es gab auch nichts hinzuzufügen. «Komm von dem Spiegel weg», sagte Biba schließlich. Mit dem Spiegel war es so, als wären sie zu dritt.

 

Das war ungefähr in dem Moment, als Laurie das schöne weiße Leinenkostüm anzog, das Max so gern hatte. Sie hatte Frühstück gemacht, aber wegen des Reisefiebers hatte keiner einen Bissen hinuntergebracht. Sie hatte das Gepäck so unordentlich eingeladen, daß der Kofferraumdeckel sich nicht mehr schließen ließ. Max hatte noch einmal ganz von vorne anfangen müssen.

 

Lupo wachte an diesem Morgen erst spät auf. Er konnte das Dach des Wohnwagens in der Sonne knistern hören. Lupo wohnte anstandshalber in dem Wohnwagen am Ende von Agrippinas Garten – auf diese Weise hatten die Frauen das ganze Haus für sich allein.

Er zog an dem durchweichten Laken. Der rote Kater saß auf seiner Brust und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. «Hau ab, Bo!» krächzte er heiser. Über dem Tag lag eine dunkle Drohung, deren Ursache er nicht ganz begriff. Es mußte die Hitze sein, in Verbindung mit seiner leichten Depression. Ergo: Kein Grund zur Unruhe.

Bo saß immer noch auf ihm. Er schnurrte, leckte sich den Schwanz und schlug mit der Pfote nach einer Fliege, alles gleichzeitig. Schon allein vom Zusehen konnte einem ganz schwindlig werden.

Schwitzend schob Lupo den Kater von seiner Brust und richtete sich auf. Er setzte sich auf die Türschwelle, kratzte sich und strich sich über den vorzeitig kahl gewordenen Kopf. Es half nichts. Aus dem Bootshaus war Gehämmer zu vernehmen. Insekten summten über Agrippinas Erdbeerpflanzen. Im großen Haus am anderen Ende des Rasens war es völlig still.

Morgen für Morgen war Lupo erst dann von der Existenz seiner Welt überzeugt, wenn er sie gesehen, gehört und gerochen hatte. Inzwischen kniff und knetete er sich wach, wobei er heute bemerkte, daß einige seiner Brusthaare grau zu werden begannen. Er zog ein bißchen an ihnen, aber nicht zu fest, denn das konnte schädlich sein. Dann erhob er sich, um eine Hose anzuziehen, und ging, noch halb im Schlaf, hinüber zum Gartenhaus, wo seine Arbeit auf ihn wartete.

Er öffnete die Tür, auf die Ebbe mit ungelenken Buchstaben LUPOS LIEBESBRIEFFABRIK geschrieben hatte. Drinnen war es kühl und dämmrig. Unter einem karierten Küchentuch stand sein Frühstück bereit, daneben eine Thermosflasche mit Kaffee und ein Stapel Briefe. Ein ziemlich kleiner Stapel. Er würde wohl wieder einmal eine Anzeige aufgeben müssen, in der er seine Dienste anbot. Dann konnte er sich meist vor Aufträgen gar nicht mehr retten. William Blake: Die emsige Biene hat keine Zeit für Kummer und Sorgen, dachte Lupo. Noch beim Frühstück begann er, die ersten Briefe zu lesen.

Lupo mochte seine Arbeit. Er war sich bewußt, daß er einen ziemlich bemerkenswerten Beruf hatte. Er hatte ihn selbst erfunden. Manchmal fragte er sich, ob er wohl irgendwo auf der Welt Kollegen hätte. Meistens konnte er sich das nicht vorstellen – andere Dichter dichteten wahrscheinlich nur. Sie dachten, so schien es Lupo, einfach nicht oft genug an Joseph von Eichendorffs Worte: Der Dichter ist das Herz der Welt.

Die Post enthielt nur die üblichen Ansuchen: um einen Brief an eine durchgebrannte Freundin, an einen feurigen Liebhaber, an einen betrogenen Partner (zweimal), an eine Ehefrau, die im Krankenhaus lag. «Bitte betont dankbar» hieß es da. Eine Entbindung wahrscheinlich, dachte Lupo gelangweilt. Alles Routineangelegenheiten. Fließbandarbeit – genau das, womit ihn Ebbe immer aufzog. «Halt doch deinen großen Mund, Ebbe», pflegte Biba dann zu sagen.

Glücklicherweise hatte der letzte Brief einen interessanteren Inhalt. Eine junge Frau schrieb: «Seit etwa drei Monaten treffe ich bei der Arbeit fast täglich einen Mann im Aufzug, den ich gerne näher kennenlernen würde. Wegen meiner Kollegen wage ich aber nicht, auf ihn zuzugehen. Ich wüßte auch gar nicht, wie ich das machen sollte. Vielleicht würde es ihn verlegen machen, von einer Frau angesprochen zu werden. Er wirkt sehr konservativ, wissen Sie, mit Manschettenknöpfen und so. Da ich meinen Vater schon sehr früh verloren habe, fühle ich mich sehr zu dieser Art Männer hingezogen. Ich würde nun gerne Ihre Hilfe in Anspruch nehmen, damit ich ihm bald einen schönen Brief geben kann. Mit einem lieben Lächeln. Alle sagen, daß ich sehr nett aussehe, wenn ich lächle.»

Wie entzückend, dachte Lupo erfreut. Da war wenigstens einmal seine Kreativität gefordert. Die anderen Liebeserklärungen konnte er ohne große Mühe aus dem Ärmel schütteln. Das ging alles nach Schema F. Am besten fing er gleich damit an, dann hatte er das hinter sich.

Er griff zum Füller und entschied sich für ein weißes, handgeschöpftes Papier. Ohne Zögern begann er zu schreiben. «Liebster», schrieb er, «ich fühle mich wie ein Lied von Janis Jan. Ich bin verliebt. Ich will die Schlagsahne vom Leben lecken und den Kuchen stehenlassen, die Sauce Béarnaise auflöffeln, ohne den Spargel anzurühren. Ich will mit dir im Mondschein tanzen.» Und so weiter.

Erst als er zufällig aufsah und bemerkte, daß die Mädchen aus dem Haus kamen, fiel ihm Sterres Fest ein. Ebbe hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und Biba trug einen Korb. Sie beschattete ihre Augen mit der Hand und sagte etwas. Beide bekamen einen Lachanfall, der kein Ende zu nehmen schien. Lupo merkte, daß ihm Tränen in die Augen stiegen. Schnell öffnete er das Fenster. «Biba! Ebbe!»

Sie kamen näher, und sie waren so schön wie Hirtenmädchen aus Porzellan. Er hätte sie am liebsten in die Arme genommen und eine Beschwörung über sie gesprochen, um alles Böse von ihnen fernzuhalten.

«Onkel Lupo», sagte Ebbe und stützte ihre Arme auf die Fensterbank, «nun sag mir doch mal, warum du hier in diesem dunklen Loch vor dich hinvegetierst. Hast du Angst, daß du Augenkrebs kriegst von der Sonne?» Ihr Pferdeschwanz wippte.

«Bist du fertig mit deiner Arbeit? Können wir die Post mitnehmen?» fragte Biba.

Lupo räusperte sich. Er war sprachlos vor Liebe. Nein, er war noch nicht fertig. Heute war nämlich ein sehr komplizierter Fall dabei.

«Ergo: interessant», sagte Ebbe. Biba gab ihr einen Tritt. Sie fragte: «Warum hast du uns dann gerufen?»

Ja, das ließ sich nicht so einfach erklären.

«Ergo: gar nicht reagieren», sagte Ebbe und verschwand unter der Fensterbank.

«Du machst mich noch verrückt!» sagte Biba und stampfte mit dem Fuß auf.

«Was kriege ich von dir, wenn ich den Mund halte?» erklang Ebbes Stimme dumpf von unten. Lupo beugte sich aus dem Fenster. «Sitzt du einfach so auf dem Boden, oder hast du dir weh getan?» fragte er besorgt.

«Ich bete den Boden an, auf dem du gehst, Onkel Lupo», antwortete Ebbe, während sie aufstand. Sie hielt ihm ihre Wange hin. «Küßchen.»

Behutsam gab Lupo ihr einen Kuß. Er hoffte, daß Biba das nicht schlimm fand. «Paßt auf euch auf, ja?» rief er ihnen noch nach.

Klabong, klabong, dröhnte es aus dem Bootshaus. Das Fest fiel Lupo wieder ein. Es war wohl besser, er ging gleich einmal hinüber zu Wibbe und fragte ihn, ob er schon fertig war. Die Mädchen hatten einen Pfad in das hohe Gras getreten. Er folgte ihm ein Stückchen, obwohl er in die falsche Richtung führte. Vorsichtig setzte er seine großen, plumpen Füße in ihre Fußstapfen. Er atmete tief ein und aus. Er versuchte, an nichts zu denken.