Was keiner sieht - Renate Dorrestein - E-Book

Was keiner sieht E-Book

Renate Dorrestein

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Beschreibung

Christine Jansen hat Schreckliches auf dem Gewissen, und ihr bleibt nichts anderes übrig, als von ihrer Familie wegzulaufen. In Panik versteckt sich die Zehnjährige mit ihrem kleinen Bruder auf der Überfahrt zu einer schottischen Insel im Wagen einer pensionierten Lehrerin. Hinter dem Steuer ihres alten Volkswagens sitzt – ahnungslos – die siebzigjährige Agnes Stam. Sie ist mit der Asche ihres verstorbenen Bruders unterwegs zu dem Ferienhaus der Familie, um sie dort auszustreuen. Dutzende Male hat sie diese Reise schon gemacht, früher stets mit ihren zahlreichen Großneffen und Großnichten, mit denen sie jedes »Glen« und jedes »Loch« der Insel erforschte. In diesem Jahr fährt sie erstmals allein, was sie verdrießt. Ist sie inzwischen zu alt, um Kinder zu beaufsichtigen? Wird sie von der Familie nicht mehr für voll genommen? Ist sie die blöde alte Tante Agnes, nie verheiratet und nie geliebt? Die Entdeckung der beiden versteckten Ausreißer in ihrem Auto ist nur die erste einer Reihe bestürzender Überraschungen, die Agnes Stam erwarten, denn die Siebzigjährige fühlt sich sehr bald dem zehnjährigen Mädchen in einer Art Solidarität der Ausgenützten und der Mißbrauchten verbunden. Renate Dorresteins Roman mutet wie ein erschreckendes Märchen an und ist doch eine durchaus realistische Geschichte. Der originelle Plot dieser meisterhaften Erzählerin ist voll verblüffender Logik und überzeugender Argumentationskraft.

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Seitenzahl: 320

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Renate Dorrestein

Was keiner sieht

Aus dem Niederländischen von Jörg Schilling und Rainer Täubrich

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Christine Jansen hat Schreckliches auf dem Gewissen, und ihr bleibt nichts anderes übrig, als von ihrer Familie wegzulaufen. In Panik versteckt sich die Zehnjährige mit ihrem kleinen Bruder auf der Überfahrt zu einer schottischen Insel im Wagen einer pensionierten Lehrerin.

Hinter dem Steuer ihres alten Volkswagens sitzt – ahnungslos – die siebzigjährige Agnes Stam. Sie ist mit der Asche ihres verstorbenen Bruders unterwegs zu dem Ferienhaus der Familie, um sie dort auszustreuen.

Dutzende Male hat sie diese Reise schon gemacht, früher stets mit ihren zahlreichen Großneffen und Großnichten, mit denen sie jedes »Glen« und jedes »Loch« der Insel erforschte.

In diesem Jahr fährt sie erstmals allein, was sie verdrießt. Ist sie inzwischen zu alt, um Kinder zu beaufsichtigen?

Wird sie von der Familie nicht mehr für voll genommen? Ist sie die blöde alte Tante Agnes, nie verheiratet und nie geliebt?

Die Entdeckung der beiden versteckten Ausreißer in ihrem Auto ist nur die erste einer Reihe bestürzender Überraschungen, die Agnes Stam erwarten, denn die Siebzigjährige fühlt sich sehr bald dem zehnjährigen Mädchen in einer Art Solidarität der Ausgenützten und der Mißbrauchten verbunden.

Über Renate Dorrestein

Renate Dorrestein, 1954 in Amsterdam geboren, ist eine niederländische Autorin, Journalistin und Feministin.

Inhaltsübersicht

Dies ist ein ...Eins1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelZwei1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelDrei1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelVier1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelFünf1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelSechs1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelSieben1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel

Dies ist ein unwichtiges Buch,

denn es behandelt die Gefühle von Frauen

in einem Wohnzimmer.

Virgina Woolf

Eins

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …

Und Gott sprach: Es werde Licht!

Und es ward Licht …

Und Gott nannte das Licht Tag,

und die Finsternis nannte er Nacht.

Genesis 1

1

Chris hörte es immer an seiner Stimme. An der Art, in der er beim Nachhausekommen sagte: »So, mein Kleines.« Dann kam es ihr vor, als ob ein Elefant sich auf sie stellte. Ihre Knie wurden weich, und die Luft wurde aus ihren Lungen gepreßt. Es war wieder soweit. Immer wieder. Und doch war jedes Mal das erste Mal. Manchmal war es, als habe ihr Leben den Schluckauf: An den Schluckauf sollte man besser auch nicht denken, denn davon wird er nur schlimmer. Ihre Lehrerin hatte erzählt, daß schon einmal jemand am Schluckauf gestorben war. Ihre Lehrerin sah aus wie Barbie. Sie hatte nur kürzeres Haar. Kurz vor den Ferien war sie eines Nachmittags gekommen, weil sie sich Sorgen um Chris machte. Das sagte sie wenigstens. Und doch war sie kurz danach einfach auf die Kanarischen Inseln geflogen.

Jeder freute sich wie verrückt auf die Ferien.

Chris knabberte an ihren Nägeln. Da ihn nun seine Stimme verraten hatte, fürchtete sie sich vor der Art, wie er die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans hakte. Vor der Art, wie er in die Küche lief, zurückkam mit einer Dose Bier und sie öffnete. »Ah«, sagte er nach dem ersten Schluck. Schaum auf der Oberlippe. Das Auf und Ab seines Adamsapfels. Sie würden nach Schottland fahren, alle zusammen.

»Christine!« sagte ihre Mutter. »Hör auf, an den Fingern zu kauen!«

Schnell biß sie die letzte Ecke ihres Daumennagels ab und nahm die Hand vom Mund. Schweiß lief in Rinnsalen ihren Rücken hinunter. Es war noch immer schrecklich heiß, obwohl es schon nach sechs Uhr war. Das karierte Kissen auf dem neuen Gartenstuhl klebte an ihren nackten Kniekehlen. Die Nachbarn zur Linken hatten die gleichen Stühle, allerdings mit geblümten Kissen, und einen Grill, auf dem Würstchen brutzelten. Auch aus anderen Gärten stieg Grillgeruch auf, und überall klapperten Teller, Gläser, Gabel und Messer.

So weit das Auge blickte, saßen hinter den gerade erst angepflanzten Hecken halb entkleidete Menschen und aßen und tranken. Manche hatten, wie man sehen konnte, Fritten in dem neuen Einkaufszentrum geholt. IM SOMMER UND IM WINTER: SNACKS VON DE SPRINTER. Es fehlte nur noch das Straßenpflaster, und das Viertel war fertig. Dann würde es keinen Sand zum Spielen geben, keine Kanalröhren zum Verstecken. Es würden Straßenlaternen kommen, Schwellen zur Verkehrsberuhigung, Platten auf dem Bürgersteig. Jaap hatte gemeint, daß es nur noch eine Frage von Wochen sei.

»Unvorstellbar«, hatte ihre Mutter gesagt. Ihre Mutter konnte sich nie etwas vorstellen. Sie glaubte nur an das, was sie mit ihren eigenen Augen sehen konnte.

Unwillkürlich gab Chris dem Tischbein einen Tritt. Sie trug ihre neuen Turnschuhe, rot und weiß gestreift, im einen Schuh rote Schnürsenkel und im anderen weiße. Mädchenturnschuhe. Sie hatte sich Basketballschuhe gewünscht. Schuhe, mit denen man wenigstens richtig wegrennen konnte, mit denen man zutreten konnte.

 

»Nicht treten, Christine!« sagte ihre Mutter, die Sonja genannt werden wollte, seit sie Jaap kannte. Sonja war vierzig. Jaap noch längst nicht. »Denk an deine neuen Schuhe! Und an den Tisch!« Sie warf ihrer Tochter einen warnenden Blick zu. Verdirb jetzt nicht alles! Wir müssen uns alle ein bißchen Mühe geben! Dann schob sie ihren Stuhl etwas zurück, streckte ein langes, braungebranntes Bein aus und legte den Fuß auf das Knie ihres Freundes. Sie wußte, daß sie schöne Beine hatte. Und ein hübsches, jugendliches Gesicht, vor allem, wenn sie sich bemühte, ständig einigermaßen erstaunt zu gucken. Mit dem, was sich oberhalb dieser Beine und unterhalb dieses Gesichts befand, hielt sie sich lieber nicht allzu ausführlich auf. Sie hatte ihren Rumpf abgeschrieben, nach drei Kindern. Jaap umfaßte kurz ihre Zehen und ließ sie wieder los. »Nehmen wir noch einen?« fragte er träge.

»Gute Idee«, sagte Sonjas ältester Sohn Waldo ungefragt, ohne vom Sportmagazin aufzusehen, in dessen Lektüre er sich vertieft hatte, seit er vom Zeitungsaustragen zurück war.

Sonja stand auf. Sie ging in die Küche, um Bier, Cola, Mineralwasser und frische Eiswürfel zu holen. In Schottland würde es auf jeden Fall ein gutes Stück kühler sein. Sie bückte sich, zog den Riemen ihrer hochhackigen Sandale ein Loch fester und balancierte vorsichtig das volle Tablett nach draußen. »Waldo«, sagte sie, »hast du die Campingsachen endlich nachgesehen?«

Ihr Sohn verzog mürrisch das Gesicht. »Noch nicht«, sagte er. Er befand sich in diesem hoffnungslosen Alter, in dem Körperteile unabhängig voneinander zu wachsen scheinen: Seine Nase war zu groß und zu eckig für sein Gesicht, seine Arme waren zu lang im Verhältnis zu den schmalen Schultern. Eben noch hatte man sie in die Badewanne gesteckt, ihre Hintern gepudert und sie mit Babybrei gefüttert, und schon hatten sie Mitesser und Schamhaare.

»Ich schau’ gleich mal nach dem Zelt«, sagte Jaap.

»Nein, das ist seine Aufgabe. Los, Waldo, du wirst für euer Zelt selbst sorgen! Jaap kümmert sich schon um unseres.« Sogleich bereiteten ihr ihre Worte Unbehagen. Unser Zelt. Euer Zelt. So sollte sie nicht reden, das machte alles nur noch komplizierter. War »unser Zelt« nicht genauso wie »unser Bett«: eine Quelle dunkler, beunruhigender Gedanken für einen Pubertierenden? Als Waldo jünger war, hatte sie nie über solche Dinge nachdenken müssen. Sie dachte: Ich habe ihn immer viel zu sehr … Ich muß, ich werde – von jetzt an werde ich.

»Waldo und ich kontrollieren die Sachen heute abend zusammen«, sagte Jaap besänftigend. Er hing breitbeinig im Gartenstuhl, die kurzen Ärmel seines T-Shirts bis an die Schultern hochgekrempelt, so daß seine muskulösen Oberarme zu sehen waren. In seinen schwarzen, fast krausen Haaren steckte eine Sonnenbrille. Sie kannte niemanden, der so entspannt war wie er und gleichzeitig den Eindruck machte, sich jederzeit gewaltig ins Zeug legen zu können, wenn er wollte.

»Schön«, sagte Sonja, und Stille trat ein, in der man hören konnte, wie auf der anderen Seite der Hecke der Nachbar zu seiner Frau sagte: »Ich sage doch überhaupt nicht, daß du ein Luder bist.«

Weiter entfernt quengelte eine Kinderstimme, ein Hund bellte, ein Fernsehapparat verbreitete Gelächter. Jemand hämmerte mit langsamen, rhythmischen Schlägen; natürlich wieder eine Pergola. Sehr viele Leute hatten an ihr Gartenhäuschen schon eine Pergola gebaut und Knöterich gekauft, oder Klematis. Wir nehmen wilden Wein, dachte Sonja und umklammerte mit beiden Händen ihr kaltes Glas Mineralwasser, einen schönen weißen Van der Laan, geeignet für alle Bodenarten. Sie hatte immer ein Haus mit Garten haben wollen. Sie verstand nicht, wieso sie so bedrückt war.

»Und du, warum sitzt du die ganze Zeit so muffelig herum?« fragte sie ihre kleine Tochter schroff.

Christine zog ihre Schultern hoch und ließ den Kopf hängen. Trotz der Wärme trug sie ihr Lieblings-Sweatshirt, auf das ein galoppierendes Pferd appliziert war.

Sonja dachte: Wenn sie noch ein einziges Mal sagt, daß sie lieber auf den Ponyhof will – wenn sie das wagt –, von mir aus kann sie sich in dem Sweatshirt totschwitzen. »Nun?«

»Nichts«, sagte Christine mit Trauermiene.

»Soll ich ein paar Pommes holen gehen?« fragte Jaap.

»Ja, gern«, sagte Sonja dankbar. »Und Christine will sicher noch einen Hamburger dazu.«

Ihre Tochter schüttelte, ohne aufzusehen, den Kopf. Sonja spürte den unwiderstehlichen Drang, zu schreien: Und jetzt ist es aus, jetzt ist es aus!

»Was willst du denn dann, Kind?« fragte Jaap. »Oder fährst du schnell mit mir mit, um dir selbst was auszusuchen?«

»Nein«, sagte Christine.

»Nein, Jaap«, korrigierte Sonja sie. Sprich wenigstens zwei Worte! Sieh die Leute an, mit denen du redest! Und kämm deine Haare! Und halt dich gerade! Und zieh was Nettes an! Sei freundlich!

Waldo sagte: »Bring mir mal ’ne Frikadelle mit, Jaap! Doppelt Majo. Am besten, ich fahr’ mit dir mit.« Er stellte seine Bierdose ab, stand auf und streckte sich. Sein schwarzes T-Shirt rutschte bis weit über den Nabel nach oben, und der triefende rote Schriftzug darauf wurde unlesbar. Aber Sonja wußte, was auf der schmalen Brust ihres Sohnes geschrieben stand: IF IN DOUBT, KNOCK THEM OUT.

»Das ist nett von dir, Jaap«, sagte sie. Sie massierte ihre schmerzende Stirn, während sie ihm erschöpft zulächelte. Unlogisch dachte sie: Ich habe auch den ganzen Tag gearbeitet, oder?

Sonja verkaufte Hennaprodukte an Friseursalons.

Jaap verkaufte Tiefkühltruhen an Gaststätten.

Sie waren einander in einer Parkgarage begegnet.

»Hast du ein paar Gulden für mich für den Spielautomaten?« fragte Waldo.

»Nimm ruhig mein Portemonnaie! Fünf Gulden, Waldo. Nicht mehr!«

Christine schoß hoch. »Mama, ich hab’ mein Taschengeld noch nicht gekriegt.«

Sarkastisch sagte Sonja: »Ach nein, sie kann sprechen. Habt ihr das gehört? Einen ganzen Satz. Sie hat einen ganzen Satz gesagt.«

»Komm, wir gehen!« sagte Jaap.

»Wann krieg’ ich mein Taschengeld?« fragte Christine trotzig. Sonja erschlug eine imaginäre Fliege und schloß die Augen. Ihre Tochter war an einem eiskalten Januartag zur Welt gekommen, so schmerzlos und schnell, daß Sonja Tage danach unbewußt noch immer auf die Wehen gewartet hatte, auf die Prüfung, die noch kommen würde. Sie hatte sich auf den Arm genommen gefühlt: Das kleine Lebewesen, das von ihr all die Monate genährt worden war, hatte ihre Vermittlung kaum benötigt, um geboren zu werden.

Christine war ihrem eigenen Plan gefolgt, sie hatte sie überrumpelt wie ein Dieb in der Nacht, verstohlen und ohne sich anzukündigen. Sonja mochte das Plötzliche nicht; das Leben hatte sie gelehrt, daß das, was unerwartet kommt, selten gut ist.

»Mama! Sonja! Wann krieg’ ich mein Taschengeld?«

Sonja öffnete ihre Augen einen Spalt weit. »Du bekommst die nächsten vier Wochen keinen Cent«, sagte sie kurz. »Das weißt du sehr gut.« Bei der Erinnerung zog der Kopfschmerz wie ein Gewitter von ihrer rechten Schläfe zur linken und füllte ihren ganzen Schädel mit statischer Elektrizität. Christines Lehrerin hatte es ihr mit gedämpfter Stimme erzählt, während sie ziemlich unbequem auf der Kante des neuen Ledersofas saß. Dann hatten sie beide das Mädchen angesehen. Sonja entsetzt, mitten in dem neuen Wohnzimmer mit der neuen Teekanne in der Hand, die Lehrerin kopfschüttelnd und mit spitzen Lippen. Sie sagte: »Ich mache mir tatsächlich ein wenig Sorgen um dich, Chris.« Christine, feuerrot und an ihren Nägeln kauend, hatte mit zuckenden Schultern dagesessen. Sonja wurde erst nach einigen Sekunden klar, daß ihre Tochter nicht weinte, sondern nervös kicherte. Das war das Schlimmste gewesen. Sie hatte am Abend nicht gewagt, es Jaap zu erzählen, daß das Kind auf dem Schulhof das Gesicht einer Klassenkameradin mit einem rostigen Nagel bearbeitet hatte, einfach so, wegen nichts, sie hatte ihr am Fahrradständer aufgelauert mit dem Nagel in der Hand, es war ein Mädchen mit einer Brille und einer Zahnspange, ein schwaches Opfer, ein Mädchen mit schlechten Noten in Sport.

Sonja hatte Jaap auch verschwiegen, wie sie später Christines Barbie gefunden hatte: an einem Strick baumelnd, die schönen Haare abgeschnitten, den nackten, perfekten Körper mit rotem Filzstift beschmiert. Die Szene war so unheimlich gewesen, daß sich ihr die Nackenhaare gesträubt hatten. Sie hatte mit zitternden Fingern das Püppchen losgemacht und es saubergeputzt, nach Luft schnappend und beklommen. Sie hatte ihm ein Kleidchen angezogen, darüber einen Pullover, darüber einen Mantel, als ob sie es dadurch vor der seltsamen Boshaftigkeit ihrer Tochter hätte beschützen können. Sie hatte das Püppchen in Barbies Traumhaus ins Bett gelegt und ihm die Decke bis zur Stupsnase hochgezogen.

Sie hatte sich immer eine Tochter gewünscht, die mit einer Barbie spielen würde, eine Tochter, die vor Glück strahlte beim Anblick von roten fingernagelgroßen Plastikpumps.

Sie setzte sich auf. Schroff sagte sie: »Schau mal nach, wo Tommie rumhängt, damit wir essen können!«

Ihr gegenüber erhob sich ihre Tochter schweigend aus den karierten Kissen. Die dünnen blonden Haare hingen ihr über die Augen. Schlurfend und mit hängenden Schultern setzte sie sich in Bewegung. Verärgert dachte Sonja: Als würde sie einen Elefanten mit sich schleppen – ich muß etwas für ihre Haltung tun.

 

Auf der Sandbahn, die bald ihre Straße sein würde, standen Paletten mit Zierplatten für die Pflasterer bereit, aber die rostigen Bleche, über die die Lastwagen all die Monate hin und her gefahren waren, hatte man noch nicht entfernt. Ihre Enden federten hoch, eine Gefahr für Zehen und Finger, die man unter ihnen zermalmen konnte. Chris sprang auf eines der Enden und ließ ihr Gewicht drei-, viermal durchsacken. Danach machte sie ein paar Karatetritte in die flimmernde, luftleere Hitze. Ich bin ein Engel mit einem zweischneidigen Schwert, ich bin der Engel der Gerechtigkeit.

Es zu wissen war immer das Schlimmste. Daß man diesen Blick in seinen Augen sah, und dann mußte noch der ganze Abend vergehen. Sie zog das Bündchen ihres Sweatshirts über ihr Kinn und biß auf den Rand. Salzig. So salzig wie Tränen. Aber sie weinte nie. Sie hatte einfach Gitterstäbe vor ihren Augen heruntergelassen.

»Tommie!« rief sie. »Wo steckst du? Ich weiß, daß du hier irgendwo bist. Komm raus, oder es setzt was!«

Sofort kam hinter der Bauhütte ihr kleiner Bruder hervor. Er achtete nicht darauf, wo er lief, er trat in die Hundehaufen, er streckte die Arme nach ihr aus, er rief: »Chrissie, Chrissie!« Tränen groß wie Murmeln rollten über seine runden Wangen. Chris zog ihren Ärmel über die Hand, wischte und putzte mit ihm das Gesicht des Bruders und sagte streng: »Und jetzt schneuzen!«

Tommie schneuzte seine Nase in ihren Ärmel.

»Los«, sagte sie, »denk mal an was Schönes!«

Er packte mit zwei dicken Händen ihren Oberschenkel und legte seinen Kopf an ihre Hüfte.

»Daß du Geburtstag gehabt und Spaceman bekommen hast«, sagte sie.

»Aber sein B …, sein B …, sein Bein«, brachte das Kind heraus.

»Ist sofort abgebrochen«, half Chris nach. »Na, dann denk einfach an was anderes!«

Er konnte gut sprechen. Er war ja schon vier. Er hatte einfach keine Lust dazu. Oder vielleicht hatte er Angst, sich zu verplappern.

»Wir essen Pommes«, sagte sie. »Du brauchst also keinen Salat zu essen.«

Er setzte sich in den Sand. Sie bückte sich, packte sein Bein und zog daran. »Willst du auf dem Hintern nach Hause?«

Er nickte ernsthaft.

Chris drehte sich um, nahm unter jeden Arm ein Bein ihres kleinen Bruders, beugte sich vornüber und quälte sich durch den Sand, während sie ihn hinter sich her schleppte. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie ihn als Baby in seinem Kinderwagen herumgefahren hatte. Manchmal hatte sie damals kurz angehalten, bei einer kaputten Bürgersteigplatte oder an einer anderen Stelle, wo sich etwas Grünes durch den Beton hindurchgearbeitet hatte. Und sie hatte auf die Vögel in der Luft gezeigt, auf die Regentropfen, die Kiesel, den Rinnstein, die Läden, die Autos. Sie hatte Tommie die Welt gezeigt und die Namen aller Dinge gelehrt. Er gehörte ihr.

 

Es war zu warm zum Essen. Natürlich. Selbstverständlich. Das fand jeder. Aber das war doch kein Grund, es nicht zu versuchen. Sonja argumentierte und flehte. Mit einem leeren Magen kannst du morgen nicht mit in die Ferien, Christine! Falsch natürlich, falsch. Genau: Dann blieb sie eben zu Hause. Triumphierende Augen in dem blassen Gesicht. Aber das hatte sie sich so gedacht. Davon konnte keine Rede sein. Vernünftiger Ton, kein Zank am Tisch, kein Streit. Laßt uns freundlich bleiben! Und iß jetzt was, Jaap hat doch extra für dich … falsch, falsch.

’tschuldigung, bedeutete Sonja Jaap. Sie dachte: Prinzessin auf der Erbse – mit deinen Launen und deinem griesgrämigen Herumhängen und deinem Gemuffel – verschwinde aus meinen Augen – in Gottes Namen – zehn Minuten wären schon ein Segen – ich will hier nur zehn Minuten sitzen, ohne mich ständig zusammenreißen zu müssen – laß mich einen Moment Atem holen. Die Lüge ließ sie beinah erröten. »Selma hat darum gebeten, daß du noch vorbeikommst, bevor wir wegfahren.«

Christine sprang auf. Verschwunden war ihre Lustlosigkeit. Aus ihrer ganzen Haltung sprach Sehnsucht: Selma.

»Nicht zu lange, hörst du?« rief Sonja ihr automatisch nach. Tommie begann, mit beiden Fäusten zugleich auf den Tisch zu hauen. Seine Wangen waren dunkelrot. »Ich«, schrie er, »ich, ich, ich auch!«

Sonja packte seinen Arm. Unwillkürlich wandte sie nachdrücklich den Griff an, der unter dem Namen Stacheldraht bekannt ist. Erschrocken verstummte der Kleine. Seine Augen füllten sich mit Tränen, während er seinen Arm rieb.

»Heulsuse«, sagte Waldo. »Baby. Mäuschen.« Er hielt sein Gesicht direkt vor das des kleinen Bruders und zog schreckliche Grimassen.

»Bitte!« sagte Sonja. »Bitte jetzt!« Unter der Tischplatte bewegte sie ihre Finger, bestürzt über sich selbst.

»Zigarette?« fragte Jaap neutral.

Sie nahm eine aus seiner Packung, beugte sich vor über sein Feuerzeug, inhalierte. »Sollten wir nicht besser … Ich meine, der Abwasch steht noch da, und wir müssen noch einpacken, und ich wollte das Haus ein bißchen vernünftig zurücklassen, sonst ist es in zwei Wochen so ungemütlich daheim.« Sie konnte selbst nicht glauben, wie spießig das klang, wie abgenutzt.

»Warum machst du dir so’n Streß?« fragte er. »Wir haben noch den ganzen Abend. Soll ich das Spanferkelchen in der Zwischenzeit schon mal ins Bett bringen?«

»Nein«, rief Tommie, »nein!«

»Ja«, sagte Jaap, »jawohl.« Er packte das Kind und warf es lachend über seine Schulter. »Gute Nacht, Mama! Gute Nacht, Waldo!«

Tommie schrie.

»Jetzt ist Erwachsenenzeit, mein Schatz«, sagte Sonja. Bis morgen!« Sie haßte es, wenn Jaap sie Mama nannte. Aus mancherlei Gründen sah sie dann immer eine Kuh vor sich, mit enormem Euter. Sie zog so heftig an ihrer Zigarette, daß sie nur brennendes Papier schmeckte.

Ihr gegenüber wippte Waldo mit seinem Stuhl. »Sag mal, Ma«, begann er. Er gab sich selbst eine angedeutete Ohrfeige.

»Sag mal, Sonja.«

»Ach, hör auf!« sagte sie. »Was ändert es?«

Sie mußten beide lachen, und endlich entspannte sich Sonja. Ihr schmerzender Kopf stieß fast hörbar einen Seufzer aus. Ihre unruhigen Hände fielen untätig in ihren Schoß. Ihre Zehen streiften die Sandalen von den Füßen. Waldo war der einzige, in dem sie sich selbst wiedererkannte. Die beiden anderen Kinder erinnerten sie an deren Väter, und oft war es schwierig, ihnen das nicht übelzunehmen. Es konnte eine echte Aufgabe sein, die Folgen der eigenen Dummheiten zu lieben. Ihr Sohn klopfte einladend auf sein Knie. Sie schob ihren Stuhl zurecht und legte ihre Füße auf seinen Schoß. »Oh!« sagte sie erleichtert, als er an einem Zeh nach dem anderen zu ziehen begann, sanft und erfahren. Mit der anderen Hand strich er an ihren Fußsohlen, an ihren Knöcheln, ihren Waden entlang. »Mach weiter!« murmelte sie.

»Nur, wenn du dabei zuhörst«, sagte er.

»Ja. Ich höre.« Sie rieb ihre Ferse an seiner Handfläche. Als sie noch Friseuse war, hatten alte Frauen, einsame Frauen, häßliche Frauen ihren Kopf beim Waschen manchmal gegen ihre Finger gedrückt, voll Verlangen nach Berührung: abhängig von fremder Wärme. »Etwas tiefer, links«, murmelte sie.

»Dein Nagellack ist abgesplittert.«

»Was, wirklich? Der ist gerade frisch drauf.«

Er beugte sich über ihre Zehen. »Du hast einfach eine neue Schicht über die alte geschmiert, du Schlampe.«

»Ich hatte es eilig.« Ihre Füße prickelten und flehten: weitermachen, weitermachen. Aber er hatte sie losgelassen. Er drehte an dem kleinen Ring in seinem linken Ohrläppchen. Sein Haar war seit kurzem an einer Seite wegrasiert. Sonja hatte sich schon fast daran gewöhnt.

»Was hast du auf dem Herzen?«

»Ich habe vor, in Schottland ein bißchen allein herumzuziehen«, sagte er. »Auf ein paar Berge zu steigen und so.«

»Auf keinen Fall, Baby. Du gehst erst allein auf Tour, wenn du siebzehn bist.«

Seine Stimme überschlug sich. »Dann kann ich schon tot sein.«

»Verdammt«, sagte sie. »Verdammt, beschrei es nicht, Waldo!«

Er schüttelte eine Zigarette aus Jaaps Packung, zündete sie an und blies seiner Mutter den Rauch ins Gesicht. »Ich meine es ernst, Sonja.«

»Ich auch.«

»Nur ein paar Tage.«

Sonja sah Kieselsteine vor sich, Nebel und karge Strände. Sie dachte: Wir werden uns zu Tode langweilen, und die Kleinen werden widerspenstig sein. Auf einmal geriet sie in Panik bei dem Gedanken, daß ihr Sohn sie wirklich im Stich lassen könnte. Um Zeit zu gewinnen, sagte sie: »Gib mir auch eine!« Er reichte ihr Jaaps Zigaretten, gab ihr Feuer. Sie sah auf seine schmalen Handgelenke. Sie müßte ihm das Rauchen verbieten. Und das Biertrinken. Aber wahrscheinlich machen das alle Jungen in seinem Alter. Unruhig verlagerte sie auf dem neuen Gartenstuhl ihr Gewicht. Sie hatte nur eine vage Vorstellung von Jungen in seinem Alter. Vielleicht hatte er heimlich schon eine Freundin, mit der er alle möglichen Dinge anstellte. Ihr wurde noch heißer. Manchmal ertappte sie sich bei der Hoffnung, er könne homosexuell sein, als ob das weniger kompliziert wäre.

»Will jemand Kaffee?« fragte Jaap. Er stand in der offenen Tür zum Garten.

»Ja«, sagte Sonja, »oder nein, ich meine, wir müssen jetzt wirklich mal an die Arbeit.«

»Ist sie immer so, wenn sie in die Ferien fährt?« fragte Jaap Waldo.

Ihr Sohn sagte: »Wart erst mal bis morgen früh!«

Beide musterten sie mitleidig.

Pikiert drückte Sonja ihre Zigarette aus und stand auf. Man konnte Gift darauf nehmen, daß heute am späten Abend mindestens eine der Luftmatratzen sich als undicht erweisen würde und noch schnell repariert werden mußte, daß die Reißverschlüsse einiger muffeliger Schlafsäcke hakten, daß die Heringe nicht im Zeltsack sein und die Zeltplane schimmelig sein würde. Pässe würden unauffindbar sein, von jedem Paar Socken fehlte einer, an Blusen und Hosen waren noch Knöpfe anzunähen, unentbehrliche Kuscheltiere paßten in keine Tasche oder keinen Rucksack – wo waren übrigens der blaue Rucksack und die Kühlbox?

»Worüber regst du dich eigentlich so auf?« fragte ihr Freund.

»Wir schmieren morgen früh ein paar Butterbrote und machen die Tür hinter uns zu.«

»Du solltest mal lernen, ein bißchen weniger mitzunehmen, Ma!« sagte ihr Sohn.

Sonja fühlte wieder, wie ihre Schläfen pochten. So munter wie möglich bemerkte sie: »Wolltet ihr nicht das Zelt kontrollieren?«

Aus dem Schlafzimmerfenster rief Tommie schrill und verzweifelt: »Mama! Mama! Mir ist so heiß!«

Ohne aufzusehen, schrie Waldo nach oben: »Laß deine Mutter in Ruhe!«

Sofort hing der Nachbar entrüstet über der Hecke: »He, Sonja, bring deine Bälger zur Ruhe! Man kann ja sein eigenes Wort nicht mehr verstehen.« Sein Kopf war klein, verglichen mit dem Rest seines Körpers; er erinnerte sie immer an einen Dinosaurier.

Vielleicht sollte sie den Schlüssel besser bei Nummer 11 abgeben. »’tschuldigung, Fred«, sagte sie, »aber ihr seid auch nicht immer leise.« Sie lächelte schnell, versöhnlich. »Macht ihr noch Urlaub?«

Mit entsprechenden Lauten heuchelte sie Interesse, als er sich über seinen Wohnwagen ausließ. Ist es unsinnig, die Kleider zu bügeln, bevor man sie einpackt? Aber eine gebügelte Bluse kommt einem immer viel sauberer vor.

»Ja, Limburg ist herrlich«, sagte sie. »Na dann, in zwei Wochen sehen wir uns wieder, Fred, und viel Spaß!«

Als er wieder hinter der Hecke verschwunden war, merkte sie erst, daß Waldo und Jaap sich noch immer nicht in Bewegung gesetzt hatten.

Ihr Sohn gähnte und kratzte sich unter seinem T-Shirt. Müde sagte er zu Jaap: »Warum läßt du dir eigentlich nicht ’ne tolle Tätowierung machen? He, Ma, dafür hat er doch sicher genau die passenden Arme?«

»Mama!« quengelte ihr Jüngster ein Stockwerk höher.

»Nicht sexy«, sagte Sonja.

»Nicht sexy?« fragte Jaap. Er betrachtete seine Arme.

Sie schrak auf. Offenbar hatte sie ihren Gedanken laut ausgesprochen: Ihr Leben war einfach nicht sexy. Sie wollte einen schwarzen Fiat Panda ohne Beulen und Kratzer, und für immer rasierte Beine: Sie mußte, sie würde, von nun an würde sie.

»Was ist nicht in Ordnung mit meinen Armen?« fragte Jaap. »Oder meinst du, daß du Tätowierungen nicht sexy findest?«

Sicher vergaß sie Christines Ohrentropfen, wenn sie die jetzt nicht sofort einpackte. Sie setzte sich wieder. Sie sagte: »Ich glaube, ich möchte ein Glas Weißwein.«

»Sie heißt Sonja Maria«, sagte Waldo. »Wenn du das auf deinen Arm tätowieren läßt, Mann, SM, mit Herzchen und Pfeil.«

Sonja dachte: Er bestraft mich. Sie dachte: Wofür bestraft er mich?

Die Platten auf der neuen Terrasse brannten unter ihren Fußsohlen. Sie tastete mit ihren Zehen unter dem Tisch nach den Sandalen, sie berührte Waldos Bein und fühlte im selben Moment seine Hand um ihren Knöchel. Sie ließ sich im Stuhl zurückgleiten und legte ihren Fuß in seinen Schoß.

Über ihr lispelte Tommie: »Mam? Mami?« Noch einen Augenblick, und er fiel von selbst vor Erschöpfung auf der Fensterbank in Schlaf.

»Also will niemand Kaffee?«

»Sie will Wein, Amigo«, sagte Waldo. Er schnippte mit den Fingern der freien Hand.

»Ist noch Wein da?« fragte Jaap. Er hatte damals seinen Volvo neben ihrem alten Toyota in der Tiefgarage abgestellt, und sie waren zugleich ausgestiegen. Sie mit ihrem Musterköfferchen unterm Arm, er mit seiner Mappe voller Hochglanzprospekte. Während sie auf den Fahrstuhl warteten, hatten sie beide vor Kälte mit den Füßen gestampft. Als sie in den Lift traten, hatte Sonja ihren Handschuh fallengelassen. Sie hatte keine Absicht damit verfolgt. Sie kannte sich selbst und sie hatte bestimmt nicht vor, sich erneut zu verlieben. Durch Liebe entstanden Babys, in ihrem Fall zumindest, und genug war genug. Manchmal, wenn sie ihre Kinder betrachtete, überfiel sie das Gefühl, daß das Leben sich andauernd ihrem Griff entzog, es hatte sie nur hin und her geworfen, es war völlig anders verlaufen, als sie erwartet hatte, und sie war jemand geworden, der sie nie hatte sein wollen: eine alleinstehende Mutter mit Kindern von drei verschiedenen Vätern.

Man hätte auch sagen können, daß sie ihren ersten Fehler mit dem zweiten hatte gutmachen wollen und diesen wieder mit dem dritten.

Beide Versionen waren gleich deprimierend.

Eine normale Familie, das war das einzige, was sie sich jemals gewünscht hatte. Es schien kein großer Wunsch zu sein. Es gab ganze Straßen mit normalen Familien, manche sogar noch normaler als andere. Sie stellte sich vor, daß es bei solchen Menschen zu Hause immer nach getoastetem Brot roch, als wäre ständig Frühstückszeit, jener glückliche Augenblick des Tages, in dem die guten Absichten noch mit keiner Herausforderung konfrontiert worden und noch intakt sind, unbefleckt und ohne Eselsohren. Auf dem Tisch Teetassen mit Untertassen darunter, ein gesundes Müsli in lustig bemalten Schalen daneben. In solchen Familien hatte niemand einen Hausschlüssel an einer Schnur um den Hals oder ein triefendes Ohr, das wieder einen Arztbesuch erforderte, oder Kleider, die zu klein waren und dringend ersetzt werden mußten. Alle Geräte taten ihren Dienst. Die Steuererklärung wurde rechtzeitig abgegeben. Und wenn ein Kind einen Zahn verlor, kam sofort in derselben Nacht die Zahnfee zu Besuch.

Sonja hatte gar nicht bemerkt, wie müde sie war, bis sie Jaap getroffen hatte, vor einem halben Jahr. All ihren vernünftigen Vorsätzen zum Trotz war sie in seine Arme gefallen wie in einen Liegestuhl.

Sie zog ihren Fuß von Waldos Knien herunter. Sie sagte: »Hol du mal noch eben den Wein für uns. Ich hab’ dich heute noch keinen Finger rühren sehen.«

»Tatsächlich?« fragte ihr Sohn gelassen. Er hob seine bleichen, schmutzigen Hände und betrachtete sie sehr aufmerksam, bevor er der Reihe nach seine Finger mit einem harten Geräusch knacken ließ. Dann stand er auf, warf ihr einen überheblichen Blick zu und stapfte mit großen Schritten hinaus in den Garten. Nachdem er die Pforte mit einem Schlag hinter sich zugezogen hatte, drehte er sich noch einmal um und streckte den Mittelfinger seiner linken Hand hoch.

2

Chris fuhr laut klingend die Einfahrt hinaus, bog an der Kreuzung links ab und steuerte auf den letzten von sechs weißen Bungalows zu. Ihr Fahrrad hieß Mister Ed und konnte sich ganz toll aufbäumen, vor allem, wenn Leute zuschauten. Und hier gab es genug Publikum: Vor jedem Haus saßen kleine Gruppen von Behinderten, die Hände über dem Bauch gefaltet. Sie hörten auf, mit dem Kopf zu nicken, als Mister Ed herangaloppiert kam, um auf nur einem Rad seine Künste zu zeigen.

»He, Chris, willst du uns wohl was von unserem Rasen übriglassen?«

»Willem!« schrie Chris. Mitten in einer doppelten Volte sprang sie aus dem Sattel. Mister Ed landete auf seiner Flanke im Gras.

»Ich habe schon gefürchtet, du fährst in Urlaub, ohne uns tschüs zu sagen.«

»’türlich nicht, Mann«, rief sie. Sie hüpfte mit geballten Fäusten um ihn herum und nahm seinen Bauch aufs Korn. Er war der dickste von allen Gruppenleitern, aber er war blitzschnell, und wenn man von ihm einen Stoß abbekam, konnte man sich einpacken lassen. Eigentlich wollte sie gar nicht mit ihm boxen, es war viel zu heiß, aber nun, da sie damit angefangen hatte, konnte sie nicht mehr zurück. So war es immer. Aus Höflichkeit teilte sie noch ein paar Schläge aus, tauchte dann unter seinem Arm hindurch und suchte ihr Heil in der Flucht.

Sie stürmte in den Bungalow, den ihre Tante bewohnte. Atemlos klopfte sie an deren Schlafzimmertür. Sie hörte schlurfende Schritte.

»Chrissie!« sagte Selma, als sie ihren Kopf herausstreckte. Ihr breites, plattes Gesicht strahlte beim Anblick ihrer kleinen Nichte vor Freude. Wenn sie lachte, sperrte sie ihre Nasenlöcher weit auf, und wenn sie weinte auch. Sie war ganz anders als andere Menschen.

»Hallo!« sagte Chris.

Selma hatte noch ihre rote Uniformjacke an. Seit kurzem wurde sie jeden Morgen mit dem Kleinbus zu McDonald’s gebracht. Sie schnitt Tomaten wie eine Eins, sie wischte die Tische ab, füllte Pommes in Papiertüten, machte eigentlich alles, außer der Kasse. Man mußte ihr etwas nur einmal erklären, und sie behielt es für immer. Der Geschäftsführer sagte, daß das Experiment seiner Meinung nach geglückt sei. Selma war zusammen mit ihm auf einem Foto abgebildet gewesen, in der Zeitung. Sonja war darüber böse geworden. »Meine Schwester ist keine Jahrmarktsattraktion«, hatte sie gesagt, und dann hatten sie alle einen Big Mac gratis bekommen.

Wenn Chris das Gefühl hatte, daß nichts auf der Welt ihr wieder gute Laune verschaffen könne, ging sie meistens in Selmas McDonald’s einen Milkshake trinken.

In dem kleinen, heißen Zimmer setzten sie sich nebeneinander aufs Bett, vor den plärrenden Farbfernseher. Auf dem Schirm ging gerade ein Videoclip zu Ende, und der folgende begann. Wie von Stromstößen angetrieben, tanzten sechs halbnackte Mädchen in einem kahlen, verräucherten Raum zu pulsierender Musik. Chris schaute konzentriert zu. Neben ihr klopfte Selma mit ihren stumpfen Fingern den Takt auf dem Schenkel; ihr Mund stand ein Stückchen weit offen, und von Zeit zu Zeit schlürfte sie etwas Speichel hinunter.

Der Clip war noch nicht vorbei, und Chris stieß schon einen Seufzer nach dem anderen vor Zufriedenheit aus. Der Wurm, der so oft in ihren Gedärmen saß und dort an ihr nagte, war nirgends zu spüren. Auch der Elefant war weg. Und niemand ging ihr mehr mit Nervereien auf den Keks. Keine Fragen. Fragen waren das schlimmste. Denn was sollte man antworten, wenn man nichts sagen konnte?

Das folgende Filmchen begann. Sie kannte es schon, und so wanderte ihr Blick vom Bildschirm für einen Augenblick zu dem Foto auf dem Nachtschränkchen. Sonja hatte es gemacht, während des Krippenspiels im letzten Jahr. Selma war ein Engel gewesen, in einem hochgeschlossenen Nachthemd aus gestärkter weißer Baumwolle, mit zwei riesigen Flügeln auf dem Rücken, die Willem aus Schaumgummi gebastelt hatte. Auf dem Foto hielt sie mit beiden Händen eine Kerze fest. Unter dem Strahlenkranz aus Pappe glänzte ihr Gesicht in einem tiefen, besonderen Ernst.

Chris hielt es für das beste Foto, das sie je gesehen hatte. Es war ein Foto, das stimmte, das wahr war. Viele Leute dachten, daß Engel kleine Dummerchen seien. Sie wußten nicht, daß Engel sein harte Arbeit bedeutete.

Der Fernseher spie die letzten Akkorde einer Hardrocknummer aus. Dann erschien der Nachspann der Sendung. Ihre Tante richtete sich entrüstet auf, ihr ganzer Körper verspannte sich, als sie hervorstieß: »Kein Michael Jackson.«

»Vielleicht morgen«, beruhigte sie Chris.

Auf der Stelle entspannte sich Selma und gähnte. Sie legte ihren Kopf auf Chris’ Schulter. Zusammen lehnten sie sich zurück und folgten in aller Gemütlichkeit der ersten Runde einer Quizsendung. Die Fragen waren nicht sehr schwierig, und Chris gab im Kopf die richtigen Antworten. Wegen des nahezu ununterbrochen Applauses war nicht auszumachen, ob irgendwo im Haus bereits das Telefon ungeduldig klingelte. Aber vielleicht achtete ja Sonja nicht auf die Zeit, weil sie sich gemütlich mit Jaap unterhielt. Chris stellte sich das Gesicht ihrer Mutter vor, plaudernd und lachend. Sie begann, an ihren Nägeln zu kauen. Wenn nun Willem nicht da war, um das Gespräch anzunehmen und sie zu rufen? Er konnte schließlich immer noch draußen sein.

Selma schlief. Sie roch nach Gummi.

Vorsichtig stand Chris auf. Sie schob unter Selmas nickenden Kopf ein Kissen. Dann schaltete sie den Fernseher aus. Sanft sagte sie: »Tschüs dann!«

 

Draußen war es immer noch nicht dunkel. Der Straßenbelag schwitzte und stank nach Hund. Die Ruhe war trügerisch. Unverkennbar hing etwas in der Luft: Die Welt konnte durchaus noch untergehen, bevor sie zu Hause war.

Sie fuhr, so langsam sie konnte, aber die Zeit vermochte sie nicht anzuhalten. Der Abend war nun wirklich fast vorbei, fast vorbei. An der Ecke zu ihrer Straße hielt sie an. Sie stand still. Dann sprang sie rasch wieder in den Sattel, während sie mit der Zunge schnalzte, um Mister Ed anzuspornen. Er bockte ein wenig und trabte dann weiter, erfreut, daß die Zügel losgelassen wurden. Chris merkte recht schnell, daß er zur Schule wollte. Bei dieser Aussicht bekam sie eine Gänsehaut auf den Armen. Ich bin ein Engel mit einem zweischneidigen Schwert, ich bin der Engel der Gerechtigkeit.

Sie stellte Mister Ed im Fahrradständer ab, wo sie sich kürzlich diese trübe Tasse Irene vorgenommen hatte. Das war etwas unüberlegt gewesen. Nun würde sie sich etwas Besseres ausdenken. Mit den Händen tief in den Hosentaschen lief sie auf den ausgestorbenen Schulhof. Sie schoß eine Coladose gegen die Mauer. Das Klappern hallte über den ganzen Platz. Beim Turnreck nahm sie einen Anlauf, schwang sich hinauf und schaukelte mit gestreckten Armen hin und her, bis sie sich mit einem Plumps in den Sand fallen ließ.

Sie konnte jetzt direkt in ihr Klassenzimmer sehen. Vor ein paar Tagen, unmittelbar vor den Ferien, hatten sie dort noch ein neues Lied gelernt: »Ich hab’ so wa-wa-wa-wahnsinnig geträumt, ich wurd’ mit Ge-ge-ge-geschenken verwöhnt.« Wie fröhlich sie gesungen hatten. Und ihre Lehrerin hatte den Takt angegeben. Es war ein Lied von Kinderen voor Kinderen, das es auf CD und Video gab. Diese fröhlichen Kinder, die voller Energie tanzten, während sie sich die Lunge aus dem Leib sangen, so daß man wirklich dachte: Junge, die haben’s gut.

Die Platten rund um das Klettergerüst waren nachlässig verlegt. Man konnte die Finger leicht darunter schieben. In Zeitlupe sah Chris ein paar dicke Asseln wegkriechen, sie sah, wie sich ihre Hände mit einer grauen Platte unendlich langsam erhoben. Im nächsten Augenblick erklang ein ohrenbetäubendes Geklirr, und sie mußte sich ducken, weil es Glas regnete. Sie wartete, gespannt, minutenlang. Sie atmete in kurzen, schnellen Stößen. Aber es kam niemand. Niemand kam sie holen. Niemand nahm sie mit.

 

In der Küche lagen auf der Spüle noch die Papiertüten aus der Imbißbude. IM SOMMER UND IM WINTER: SNACKS VON DE SPRINTER. Wenn Selma wüßte, wo sie ihre Pommes holten, würde sie die Welt nicht mehr verstehen, vor Entrüstung würden sich ihre Nasenlöcher weit öffnen.

»Christine?« rief Sonja irgendwo im Haus. »Bist du endlich da?«

Schnell öffnete Christine den Kühlschrank und goß sich einen Becher Milch ein. Ihre Mutter kam mit einem Stapel Kleidung über dem Arm in die Küche gestürmt. Sie schnauzte: »Ist dir klar, wie spät es ist?«

»Viertel nach elf«, sagte Chris.

»Das ist keine Zeit, um sich allein auf der Straße herumzutreiben, das weißt du sehr gut. Da kann dir alles mögliche passieren.«

Von oben rief Jaap: »Sonja! Die Heringe sind nicht im Zeltsack.«

»Denk bloß nicht, daß dies das letzte Wort dazu war!« bellte ihre Mutter und stob aus der Küche.

Chris nahm ihre Milch mit in den dunklen Garten hinter dem Haus. Die Stühle waren schon im Gartenhäuschen verstaut. Sie setzte sich auf die Mülltonne neben der Küchentür. Hinter dem erleuchteten Schlafzimmerfenster sah sie ihre Mutter und Jaap hin und her laufen. Sie waren eifrig am Einpacken. Aber als die kleine Gartenpforte hinten im Garten mit einem Knall zuschlug, lehnte sich Sonja sogleich aus dem Fenster.

»Waldo?« rief sie erwartungsvoll.

»Ja!« schrie Waldo, der auf dem Gartenpfad herankam.

»Oh, zum Glück! Wir haben die Heringe nicht.«

»Weiß Chris nicht, wo sie sind?« rief Waldo nach oben. Er zeigte auf seine Schwester – auf der Mülltonne.

Jetzt streckte auch Jaap seinen Kopf aus dem Fenster und sah hinunter. »Los, Chris, heraus mit der Sprache! Wir müssen morgen früh raus.«