Einmal Rebellin - Nadine Stenglein - E-Book

Einmal Rebellin E-Book

Stenglein Nadine

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Beschreibung

Nach dem Tod Monias, Marleys Lieblingstante, vererbt diese ihrer Nichte einen Stapel Briefe und einen Diamanten, der aus ihrer Asche gepresst wurde, sowie eine Reise nach Indiana, USA. Marley stößt durch die Briefe auf Monias Geheimnis. In Indiana, der Kleinstadt Fairmount, wo James Dean einst aufwuchs, lebte deren große Liebe Tom. Der Diamant ist für ihn bestimmt. Als Marley dort ankommt, trifft sie auf seinen Sohn Jayden, einen Hobbyrennfahrer, der ebenfalls Musik liebt. Sie freunden sich an. Doch Jaydens Mutter Avery ist gegen die Verbindung, bis das Schicksal eingreift.

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Seitenzahl: 398

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Kurzbeschreibung:

Nach dem Tod Monias, Marleys Lieblingstante, vererbt diese ihrer Nichte einen Stapel Briefe und einen Diamanten, der aus ihrer Asche gepresst wurde, sowie eine Reise nach Indiana, USA. Marley stößt durch die Briefe auf Monias Geheimnis. In Indiana, der Kleinstadt Fairmount, wo James Dean einst aufwuchs, lebte deren große Liebe Tom. Der Diamant ist für ihn bestimmt. Als Marley dort ankommt, trifft sie auf seinen Sohn Jayden, einen Hobbyrennfahrer, der ebenfalls Musik liebt. Sie freunden sich an. Doch Jaydens Mutter Avery ist gegen die Verbindung, bis das Schicksal eingreift.

Über die Autorin:

Nadine Stenglein lebt mit ihrer Familie in Deutschland, Bayern. Schon als Kind liebte sie es sich Geschichten auszudenken und diese niederzuschreiben. Ihr Debütroman wurde bei Feelings veröffentlicht, Aurora Sea, Fantasy-Romance. Ihr zweiter Roman ist ein neuartiger Vampirroman mit dem Titel Rubinmond, der 2018 übersetzt wurde und auch in den Niederlanden erschienen ist. Die Autorin schreibt in den Genres Romance, Crime und Fantasy, sowie auch Gedichte und Songtexte. Bald erscheinen weitere Romane von ihr. Schreiben ist für Nadine pure Leidenschaft. Derzeit arbeitet sie an neuen Projekten. Vertreten wird sie durch die Literaturagentur Ashera, Inhaberin Alisha Bionda. 

Weitere Titel der Autorin bei Edel Elements

Ein Erbe zum Verlieben  Pages - Die Zeilen meines Lebens 

Nadine Stenglein

Einmal Rebellin

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Nadine Stenglein

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel “Einmal Rebellin”

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-192-8

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Das Erbe

Unvergänglich

Fliegende Worte

Unter der Oberfläche

Neue Pfade

Aufbruch

Warten

Über den Wolken

Am anderen Ende der Welt

Ankunft

So nah und doch so fern

Kennenlernen

Lebwohl

Atemlos

Sternenklar

Miles

Ein neuer Aufbruch

Nordwind

Forever yours

Eiszeit

Vom Winde verweht

Streit

Sturmwogen

Mitternachtsschatten

Bangen

Eine zweite Chance?

Wie ein Regenbogen

Ein Silberstreif am Horizont

Remember: Life is short, break the rules (they were made to be broken). Forgive quickly, kiss slowly, love truly, laugh uncontrollably. And never regret anything that makes you smile. The clouds are lined with silver and the glass is half full (though the answers won`t be found on bottom). Don`t sweat the small stuff. You are who you are meant to be. Dance as if`s no one`s watching. Love as if it`s all you know. Dream as if you`ll live forever. Live as if you`ll die today.

-James Dean-

Das Erbe

Marley Oswald blickte in den azurblauen Frühsommerhimmel, der sich vor ihrem inneren Auge allmählich in einen sternenübersäten Nachthimmel wandelte, je weiter sie ihre Gedanken schweifen ließ. Monia hatte die Sterne oft betrachtet. Vor etwa zwei Monaten, im Alter von erst 46 Jahren, war sie selbst zu einem geworden. Aus der Vergangenheit hörte Marley die helle, sanfte Stimme ihrer Tante zu sich dringen.

„Einer von ihnen gehört mir. Na ja, sozusagen“, hatte sie einmal gesagt und dabei geheimnisvoll gelächelt. Seitdem hatte Marley oft darüber nachgedacht. Denn schon seit Längerem ahnte sie, dass es da ein Geheimnis gab, das Monia tief in ihrem Herzen vergraben trug. Sie erinnerte sich an das Strahlen, das sich in die Augen ihrer Tante geschlichen hatte, während sie davon sprach. Monia hatte die Weite des Himmels, die Sterne und ihr magisches Leuchten geliebt. Sie war nicht nur Marleys Lieblingstante, sondern zudem eine wundervolle Freundin und wie eine Mutter für sie gewesen. Das würde sie auch bis in alle Ewigkeit bleiben, in der sie einander hoffentlich wiedersehen durften.

„Und das werden wir feiern wie noch kein Fest zuvor“, flüsterte Marley, als wäre Monia bei ihr. Sie dachte an den Tag, an dem sie ihre Tante das letzte Mal in ihren Rosengarten begleitet und gefragt hatte: „Also, welcher von ihnen ist es, der dir gehört?“. Die milde Nacht hatte sie beide eingehüllt wie ein wärmender Mantel, während Marleys Onkel Eugen auf der nahegelegenen Terrasse gestanden und ihnen kopfschüttelnd nachgeblickt hatte. Von Romantik verstand er genauso wenig wie vom Lachen.

„Das verrate ich dir ein anderes Mal. Wenn wir ganz unter uns sind. Oder ich vererbe dir das Geheimnis“, hatte Monia ihre Frage beantwortet und es wieder sorgsam in der Büchse der Pandora verschlossen.

Danach sprachen sie nie wieder darüber.

Seitdem entführte die Neugierde Marley an die wildesten Phantasieorte. Ihre Mutter Eleonor schien von dem Geheimnis Monias, ihrer Schwester, zu wissen. Doch sie hielt sich bedeckt und reagierte genervt, wenn Marley auch nur im Entferntesten auf das Thema zu sprechen kam. Sie tat es als „sentimentales Geschwätz“ ab. Und so blieb Marley nichts anderes übrig, als ihre Neugierde zu Liedern zu verarbeiten. Bis dato waren es drei Songs, die sie über das Geheimnis ihrer Tante geschrieben hatte. Kreativ zu sein, in die Musik einzutauchen, half ihr ein wenig über die Trauer um Monia hinweg.

Die einstigen Träume, nach dem bestandenen Abitur Musik zu studieren, hatten ihre Eltern, vielmehr ihre Mutter, damals sogleich vereitelt und ihr fortlaufend und in gleichbleibenden Abständen gepredigt, dass ein Geld bringender, sicherer Job wichtiger und sinnvoller sei. Denn genügend Geld zum Leben, das war Eleonors felsenfeste Überzeugung, würde Marley durch die Musik mit absoluter Sicherheit nie verdienen können. Eine Weile später war ihr Vater Charlie zudem an Krebs gestorben und hatte Marley und ihrer Mutter einen Berg Schulden hinterlassen, was den Traum in eine noch unerreichbarere Sphäre schleuderte.

Nachdem Marley davon erfahren hatte, sah sie ein, dass es an der Zeit war, die Träume und Umstimmungsversuche endgültig aufzugeben. Monia allerdings wollte ihre Musikkarriere unterstützen, was Eugen aber von Anfang an vehement untergrub. Außerdem wollte und konnte Marley die Hilfe ihrer Tante nicht annehmen. Seit dem Tod ihres Vaters musste sie ihrer Mutter noch mehr beistehen als zuvor. Eleonor litt an chronischer Migräne und fühlte sich seit dem Tod ihres Mannes auch psychisch nicht in der Lage, sich eine Arbeit zu suchen.

Seit Marley denken konnte, war ihre Mutter Hausfrau gewesen und hatte damit die Erwartungen ihrer Eltern erfüllt, die ihre beiden Töchter von Anfang an in diesem Sinn erzogen hatten. Eleonor hatte einen zunächst bodenständigen Mann geheiratet, dessen Eltern genauso dachten wie ihre. Marleys Eltern hatten sich verlobt, im Jahre 1990 geheiratet, Marley bekommen, ein kleines, aber feines Haus gekauft und einen Baum gepflanzt.

Marleys Vaters Charlie hatte als Versicherungskaufmann immer gut verdient, aber irgendwann angefangen, große Teile seines Einkommens zu verspielen und Schulden zu machen. Eine schleichende Sucht, die sich wie ein Geschwür immer weiter ausgebreitet und Eleonors bis dahin geradliniges Leben auf den Kopf stellte. Sie verstand nicht, wie ihr Mann so naiv sein konnte. Unüberlegtes Handeln war in Eleonors Welt bis dahin für ihre fünf Jahre jüngere Schwester Monia reserviert gewesen.

Nur einmal hatte Charlie erwähnt, dass man auch hin und wieder etwas im Leben riskieren müsse, um zu fühlen, dass man noch lebendig sei. Eine Aussage, die Eleonor nicht gelten ließ und sie zu der Bitte veranlasste, er möge doch einen Psychiater aufsuchen. Seitdem hatte sich Charlie komplett verschlossen und auch nicht mehr gekämpft.

Seit seinem Tod wohnte Marley mit ihrer Mutter im Haus ihrer Großeltern in der ehemaligen Westzone Berlins.

Marley konnte gut verstehen, dass ihre Mutter nicht auch noch ihr Elternhaus verlieren wollte. Also unterstützte sie Eleonor mit ihren zweiundzwanzig Jahren finanziell bereits, so gut es ihr möglich war, was auch ausdrücklich von ihr verlangt wurde. Zudem hatte Marley auch ihren Großeltern vor deren Tod auf nachdrücklichen Wunsch hin versprochen, sich um Eleonor und die Erhaltung ihres Hauses zu kümmern, das sie einst, wie sie früher wiederholt betonten, mit viel Schweiß und Fleiß erbaut hatten. Sie waren kurz nacheinander, zwei Jahre nach Charlie, verstorben und hatten ihnen laut Eleonor nicht viel mehr als das Haus hinterlassen.

Nachdenklich blickte Marley auf die alte Holzkiste, die ihr der Notar vor ein paar Stunden zusammen mit einem winzigen Schlüssel überreicht hatte. Die Kiste war mit einem kleinen, silbernen Schloss und schwarzen, ledernen Verstrebungen versehen. „Ein persönlicher Schatz für meine Lieblingsnichte. Sicher erinnerst du dich noch, was ich dir früher einmal erzählt habe, und ich weiß, dass er bei dir in guten Händen ist.“ Mit diesem Kommentar ihrer Tante hatte Dr. Bergler, der Notar, ihr die Kiste übergeben. Danach begann Eugen mit ihrer Mutter zu flüstern. Die beiden bekamen einiges von Monias Vermögen, aber es schien ihnen merklich zu wenig zu sein. Dabei hatte Eleonor Monias Hilfe aus Stolz früher immer ausgeschlagen. Jedenfalls sahen für Marley zufriedene Gesichter anders aus. Sie musste den Kopf darüber schütteln. Mit seinen breiten Schultern baute sich Eugen vor ihr auf und riss sie damit aus ihren Tagträumen. Mit zwei Fingern strich er sich über seinen grauen Schnäuzer, der seinen schmalen Mund wie ein Rahmen zierte und sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der geraden, spitzen Nase noch schmaler wirken ließ. Wie immer stand er kerzengerade. Seit Monias Tod war ihm noch kein Wort der Trauer über den Verlust über die Lippen gekommen, und auch Eleonors Reaktion war verhalten ausgefallen.

„Wo ist er?“, fragte er und zog die kaum sichtbaren Brauen nach oben. Die wenigen Härchen besaßen dieselbe weiße Farbe wie sein gescheiteltes Haar. Eugens hellblaue Augen scannten jede Regung ihrer Mimik. Aber Marley wusste wirklich nicht, wovon er sprach.

„Wer?“, fragte sie deshalb.

„Der größte Teil von Monia!“ Sein Gesicht verfinsterte sich, als er auf die Holzkiste blickte. Abermals schüttelte Marley den Kopf. Was war los mit ihm? Wurde Eugen langsam verrückt? Konnte Gier wahnsinnig machen? Sie glaubte, darüber schon einmal etwas gelesen zu haben. „Er meint den Diamanten“, flüsterte Eleonor ihr zu und seufzte tief. Sie und Eugen sprachen seit Jahren kaum miteinander. Doch dieses Thema schien ihr sonstiges gegenseitiges Schweigen gebrochen zu haben.

„Welcher Diamant?“

Plötzlich fiel Marley ein, dass Monia einmal erwähnt hatte, sie wolle ihre sterblichen Überreste vielleicht als Schmuckstück weiterexistieren lassen, in dem sich das Licht ihrer Seele spiegeln konnte. Marley hielt das Ganze zuerst für einen ihrer Witze, aber Monias Gesichtsausdruck war ernst geblieben, als sie es sagte. Erst als Eugen und ihre Mutter, die alles gehört hatten, dazukamen, hatte sie gelacht und es vor ihnen als Scherz abgetan. „Das wäre ja auch völliger Blödsinn, absolut verrückt“, hatte Eugen die Idee damals kommentiert.

Marley jedoch berührte der Gedanke, machte sie aber gleichzeitig auch traurig.

Eugen klopfte mit einem Finger auf die Holzkiste. „Der muss da drin sein. Die Urne hatte nur einen kleinen Teil ihrer Asche für die Beerdigung enthalten. Öffne die Kiste mal. Er gehört mir, das ist doch wohl klar. Im Grunde war es ja sowieso mein Geld, das sie dafür aus dem Fenster geworfen hat. Ich kann nicht glauben, dass sie es wirklich durchgezogen hat. So ein Irrsinn.“

„Ich weiß nicht, was darin ist.“

Eleonor rückte ihren kleinen, roten Hut zurecht und schüttelte ihre Locken über die Schultern, die genauso naturblond waren wie Marleys. „Du hast doch gehört, was Doktor Bergler gesagt hat. Der Inhalt ist allein für Marley bestimmt, Eugen. Aber interessieren würde es mich auch.“

„Das kann schon sein. Aber es ist mein Recht, an Marleys Verstand und Gewissen zu appellieren.“

Marleys Mutter sah ihre Tochter an, die die Luft in ihren Lungen gefangen hielt, um nichts Falsches herauszuposaunen.

„Ich werde mir den Inhalt zu Hause in Ruhe ansehen und dich dann anrufen“, sagte sie letztendlich und lächelte Eugen freundlich zu. Schließlich war er neben ihrem Onkel auch ihr Boss und Besitzer einer mehrfach modernisierten Kfz-Werkstatt mit Bürotrakt. Die Büroarbeit war für Marley, wenn auch wenig kreativ und erfüllend, in Ordnung, die Launen ihres Onkels hingegen schwer zu ertragen. Sie hoffte, dass ihre neuen Bewerbungen bald ein positives Feedback brachten und sie von dort entkommen würde. Ihre Mutter wusste noch nichts davon, und auch Eugen wollte Marley natürlich (noch) nicht auf die Nase binden, dass sie bereits auf dem Absprung war. Doch die Zeit für diesen Schritt empfand sie als längst überreif.

„Wenn er da drin ist, dann gib ihn mir. Ich leihe ihn dir auch hin und wieder, wenn du möchtest“, schlug Eugen mit einem unterdrückten Knurren vor.

Für Marley roch die Sache faul. Warum konnte er Monias Wunsch nicht einfach respektieren und war damit zufrieden, wenn sie, Marley, ihm den Diamanten, sollte sich dieser tatsächlich in der Kiste befinden, ab und zu auslieh. Wollte er ihn am Ende vielleicht sogar verscherbeln? Marley glaubte, die Antworten auf diese Fragen zu kennen, und schauderte. Seit sie wusste, dass Eugen seine eigene Mutter in die Geschlossene hatte einliefern lassen, da diese einen verständlichen Wutanfall bekommen hatte, nachdem er sie für Stunden eingesperrt hatte, traute sie ihm vieles zu. Außerdem schien Geld sein zweiter Vorname zu sein, wenn nicht sogar sein Gott. Das jedenfalls, erinnerte sich Marley, hatte Monia einmal leise erwähnt, obwohl sie ansonsten kaum böse Worte gegen ihn fand. Vielmehr hatte sie stets Mitleid mit ihm gehabt. Marley fragte sich, warum Monia ihn überhaupt geheiratet hatte. Darüber wollte ihre Tante nie wirklich reden.

Einmal sagte sie: „Tief in sich hat er auch gute Seiten.“

Erleichtert atmete Marley auf, als David mit seinem weißen BMW Cabrio auftauchte, hupend ein paar Meter entfernt parkte, auf seinen Sitz sprang und ihr zuwinkte. Dabei kaute er Kaugummi und starrte über den Rand seiner Sonnenbrille. David war ein verrückter, liebenswerter Möchtegernmacho und der beste Freund, den sie sich vorstellen konnte.

„Ich muss los“, sagte sie, reichte anstandshalber Eugen die Hand und gab ihrer Mutter einen ehrlich gemeinten Kuss auf die rechte Wange. Diese nickte. „Geh schon“, flüsterte sie.

Ohne weiteres Zögern rannte sie zu David, die Kiste fest gegen die Brust gedrückt.

„He, was soll das, junge Dame? Wir sind noch nicht fertig. Denk daran, ich bin nicht nur dein Onkel, sondern auch dein Chef.“

Es ist widerlich, wie oft Eugen das heraushängen lassen muss, dachte sie und tat, als hätte sie seine Worte nicht gehört. David rutschte unterdessen auf den Fahrersitz zurück, während sie die Holzkiste auf den Rücksitz stellte. Lächelnd sah ihr bester Freund sie an. Seine Zähne blitzten noch weißer als bei ihrem letzten Treffen vor drei Tagen, fiel ihr auf. Sie erwiderte sein Lächeln. David war frisch verliebt – in seinen Zahnarzt.

„Hallo, hübsche Frau! Na wo soll es hingehen?“, wollte er wissen, sah dann an ihr vorbei und nickte Eugen und Eleonor zu. „Was ist mit deinem Onkelchen los? Er sieht ein bisschen verbittert und bleich um die spitze Nase aus.“ David winkte mit seinem auffälligen Charme und rief dabei ein übertriebenes „Hiiiiiiii!“

Marley wollte lieber nicht wissen, wie sich die Miene ihres Onkels daraufhin verzog.

Bezüglich David hatte er nur einmal angemerkt: „Sag mir, mit wem du dich umgibst, und ich sag dir, wer du bist.“

„Ihm ist der Termin nicht bekommen. Ich brauche erst einmal einen Kaffee. Fahr besser.“ Sie lehnte sich aufatmend zurück und war froh, Eugen und der ganzen Situation erst einmal entkommen zu sein.

Ihre Bitte ließ sich David nicht zweimal sagen und gab Gas. Auffällig oft prüfte er während des Fahrens kurz seine Zähne im Innenspiegel, weshalb Marley ihn mahnte, besser auf die Straße zu achten.

David winkte ab, kam ihrer Bitte aber nach. Sie hielten bei einem kleinen Café und setzen sich an einen der runden, weißen Tische auf die Terrasse. Es war Mitte Juli, blauer Himmel, Sonnenschein, milder Wind. Nun lag der Nachmittag, an dem Monia gestorben war, schon über einen Monat zurück. Das Wetter an jenem Tag war das Gleiche gewesen. Wehmütig atmete Marley den Duft des Flieders ein, der in großen Kübeln blühte, die die Caféterrasse vom Gehsteig abgrenzten. Monia hat Flieder geliebt, besonders den violetten.

David betastete sein gegeltes, blond gesträhntes Haar. „Sitzt es noch gut?“, fragte er dann leise.

Lächelnd verdrehte Marley die Augen und nickte. Sie und David kannten sich seit der Berufsschule. Wie sie, war auch er in einem Büro tätig und träumte schon lange davon, auszubrechen. Von Anfang an hatten sie sich blendend verstanden. Es erschien Marley, als würden ihre Träume von Freiheit einander anziehen wie zwei Magnete und sie zusammenschweißen. Zudem mochte er genauso wie sie kreative Menschen. Er liebte das Malen, die Musik und Bücher.

„Hast du wieder etwas Neues komponiert?“, fragte er sie.

Sie schüttelte den Kopf.

„Warum nicht?“

Marley atmete tief durch. „Mein Herz ist leer im Moment. Ich vermisse sie so sehr.“

„Das kann ich verstehen, Süße.“

David stützte die Ellbogen auf dem Tischchen ab, faltete die Hände und spitzte die dünnen Lippen, die er mit einem leicht pinken Lippenstift geschminkt hatte, passend zu seinem gleichfarbigen Sakko und den Sneakers. Die weiße Jeans bildete dazu einen stechenden Kontrast, der die Blicke mancher Passanten regelrecht auf sich zog. David liebte so etwas. Schließlich war er früher, wie er oft erzählte, meist übersehen und bei Mitschülern sowie Eltern als unscheinbarer Langweiler gehandelt worden.

„Wie war der Termin für dich?“, wollte er wissen, was sie zuerst mit einem tiefen Seufzen kommentierte. „Okay. Wenn du nicht darüber reden willst, dann kann ich auch das verstehen“, räumte David ein.

„Doch. Ich muss mich nur erst einmal noch ein bisschen sammeln.“

Ein junger Grieche in schwarzem Frack und weißem Hemd nahm ihre Bestellung auf. Seine tiefliegenden braunen Augen und die buschigen Brauen gefielen nicht nur Marley. Davids Blicke sprachen Bände. Allerdings ließ sie der Grieche unerwidert. Marley musste ein Grinsen unterdrücken, als er stattdessen ihr zulächelte, was auch David nicht entging.

Irgendwie sehnte sie sich nach einem Seelenpartner. Doch Mr Right war noch nicht in ihrem Leben aufgetaucht, wahrscheinlich befand er sich nicht einmal in der Nähe ihrer Umlaufbahn. Seit Ben, mit dem sie vor drei Jahren ein paar Monate liiert gewesen war, war sie zudem sehr vorsichtig geworden, was die Gattung Mann betraf. Er hatte sie betrogen, es aber bis zuletzt geleugnet und sie als Wahnsinnige mit Halluzinationen und einem Hang zur Dramatik und krankhaften Eifersucht hingestellt, obwohl die Beweise gegen ihn eindeutig gewesen waren. Monia hatte ihn von Anfang an seltsam gefunden und mehr zu sich selbst als zu Marley gesagt: „Manchmal täuscht der erste Eindruck nicht und man sollte an ihm festhalten, anstatt sich von Masken und der Angst vor dem Alleinsein blenden zu lassen, bis es zu spät ist.“

Eleonor hingegen sah in Ben vor allem eine gute Partie. Er war ein aufstrebender Jura-Student, der im Anschluss seinen Doktor machen wollte.

„Schade!“, flüsterte David, als der Kellner weg war, um ihnen zwei Cappuccinos mit einer extra Portion Mini-Marshmallows zu bringen.

Lachend erwiderte Marley: „Ja, er hatte nur Augen für mich.“

„Und für all die anderen Ladys hier. Zumindest für die, die in sein Beuteschema fallen“, bemerkte David und ließ den Blick zu einem der anderen Tische schweifen. Kurz drehte sich Marley um und erkannte, dass er recht hatte. Mr Universum schenkte gerade einer grazilen Brünetten sein Lächeln.

„So sind die Männer!“, seufzte Marley.

„Nicht alle, Schatz! Levin ist garantiert ganz anders!“, schwärmte David und stöhnte sehnsüchtig.

Der hübsche Grieche servierte ihren Cappuccino und zwinkerte Marley zu. Das Kompliment nahm sie dennoch gerne mit und bedankte sich für das Bringen, so wie es auch David tat, der den jungen Mann erneut von oben bis unten scannte.

„Ich verstehe nicht, wie du flirten kannst, wenn du anderweitig verliebt bist“, stellte Marley fest, als der Kellner verschwunden war.

David weitete die Augen. „He, es ist nur eine Schwärmerei. Und ich weiß doch noch nicht mal, ob er überhaupt schwul ist! Aber … ich war kurz davor, ihn zu fragen.“

„Und warum hast du es nicht getan?“

Er nippte von seinem Cappuccino, wobei ihm ein rosa Marshmallow an der Lippe hängenblieb. Marley genoss den Anblick ein paar Sekunden, dann zupfte sie den Marshmallow weg und schob ihn David in den Mund.

„Ich lag bei ihm sozusagen unter dem Messer. Zudem war wie immer einer seiner Assistenten dabei. Auch hübsch. Es arbeitet keine einzige Frau bei ihm. Das ist doch seltsam, oder? Und er ist immer umringt von seinen Mitarbeitern. Ich hatte ja gehofft, dass wir dieses Mal wenigstens für eine Minute alleine sein würden, aber nichts zu machen.“

Marley musste grinsen. „Für mich klingt das nach fauler Ausrede.“

„Das liegt daran, dass ich in Wahrheit nur dich liebe“, gab David mit blitzenden Augen zurück, nahm ihre Hand und hauchte ihr einen Handkuss darauf, was eine junge Frau anscheinend so hinreißend fand, dass sie sehnsüchtig aufstöhnte. Sofort ließ er Marleys Hand los und räusperte sich.

„Ich sollte so was in Zukunft besser lassen. Die denken alle, wir sind ein Paar. So bekommst du nie jemanden ab, wenn ich in deiner Nähe bin“, überlegte er laut.

„Monia war immer der Meinung, dass das, was zusammengehört, auch zusammenfinden wird.“

Sie wurde nachdenklich und erinnerte sich, dass immer, wenn ihre Tante so etwas gesagt hatte, ein trauriger Ausdruck in ihre Augen getreten war. Einmal sagte sie dabei: „Nur manchmal wissen dunkle Kräfte es zu verhindern. Doch aus dem Herzen löschen können sie den anderen nicht.“

David schnippte mit den Fingern. „Erde an Marley! Willst du mir nicht von dem Notartermin erzählen?“

Das tat sie, und Davids Neugierde und Unfassbarkeit wuchs dabei mit jedem Wort, das sie von sich gab.

„Du hast die Kiste also wirklich noch nicht geöffnet?“, wollte er wissen, sobald sie fertig war.

„Nein! Ich wollte das in Ruhe und für mich tun.“

„Richtig so! Und wenn du Hilfe dabei brauchst … also, du weißt ja, wo du mich findest.“

„Ich werde deine Neugierde stillen. Keine Sorge“, lachte sie, froh, dass David hier war und sie auffing.

„Dein Onkel ist wirklich ein seltsamer Kauz. Und mit Vorsicht zu genießen. Besonders jetzt.“

Marley nickte. Als David noch einmal von seinem Cappuccino nippte, entfuhr ihm ein lautes, langgezogenes Zischen, wobei er das Gesicht zu einer ungewollten Grimasse verzog.

„Was ist?“, wollte Marley wissen.

„Verdammt! Manchmal tut es höllisch weh.“

„Ah! Du hast dir die Zähne wirklich noch einmal nachbleichen lassen?“

„Ja“, gab David zu und schmollte.

„Meine Güte! Es muss ihm doch auffallen, dass du seit ein paar Wochen beinahe jeden zweiten Tag etwas an deinen Zähnen machen lässt. Du lässt dich für den Mann foltern und kommst keinen Schritt weiter. Was willst du als Nächstes machen lassen?“

„Zahnzwischenraumreinigung und Massage des Zahnfleisches steht noch aus. Ich musste ihn richtig zum Nachweißen überreden. Aber der Patient ist König.“

Marley verdrehte die Augen. „Frag ihn einfach, okay? Das ist auf jeden Fall gesünder.“

David pustete die Wangen auf und antwortete dann: „Du hast ja recht. Arschbäckchen zusammenkneifen und los! Ja, das nächste Mal tue ich es.“

„Sehr gut!“

Ihre Gedanken kehrten zu Monias Kiste zurück und sie begann, auf ihrer Unterlippe herumzuknabbern. Die Sehnsucht nach ihrer Tante traf sie wieder einmal mit voller Wucht. „Ich glaube, ich möchte jetzt lieber nach Hause, David.“

Unvergänglich

Sie winkte David, der sie zu Hause abgesetzt hatte, und ging danach durch den kleinen, weiß umzäunten Garten auf das graue Haus mit den kaminroten Ziegeln zu. Am Himmel bildeten sich graue Wolken und es wurde schneller dämmrig als sonst. Ein Gewitter schien aufzuziehen, da auch der Wind zunahm.

Marley vernahm das aufgeregte Rauschen der Blätter des Ahornbaumes, der im Sommer den paar Blumenbeeten, die sie und ihre Mutter mit einer Saatmischung bepflanzt hatten, Schatten spendete. Einer der blauen, alten Fensterläden, von denen an einigen Stellen Farbe abblätterte, schlug leicht gegen die Fassade.

Heute Nacht wird man wohl keine Sterne sehen können, durchfuhr es Marley und sie drückte die Kiste an sich. Der Schmerz und das Vermissen waren noch genauso intensiv wie an dem Tag, an dem Monia gegangen war. Die Kiste aber war dennoch ein kleiner Trost. Sie barg einen Teil von Monia in sich, auf den Marley schon gespannt war. Vor allem hoffte sie auf ein paar persönliche Zeilen, die ihr zumindest ein wenig das Gefühl geben würden, Monia würde noch einmal mit ihr sprechen. Immer wenn sie an sie dachte, kam ihr in letzter Zeit eine bestimmte Szene in den Sinn. Ein Blatt, das im Glanz des Sternenlichtes, beschützt von dem Dach eines großen Baumes, durch die Luft schwebte. Dorthin, wohin es schon immer hatte fliegen wollen, um sich anschließend an jenem Ort niederzulassen, wo immer er sich auch befinden mochte.

In ihrem Zimmer angekommen, stellte sie die Kiste behutsam in die Mitte ihres Bettes. Eleonor war noch unterwegs, was Marley ganz gelegen kam. Bestimmt hätte sie sie sonst sofort wieder mit Fragen bombardiert. Zur Sicherheit sperrte sie ihre Zimmertür ab und schaltete den CD-Player ein. Ein Song von Snow Patrol erfüllte leise den Raum. Die Musik tat gut. Leicht tänzelnd öffnete sie das große Halbbogenfenster. Wie gern Monia getanzt hatte. Sie lächelte tief durchatmend. Der Wind ließ die beiden lachsfarbenen Seidenschals in fließenden Bewegungen fliegen und wehte ein paar Notenblätter von Marleys Schreibtisch. An der Wand über ihrem Himmelbett hing ein Regenbogen, den Monia einmal fotografiert hatte, als sie gemeinsam spazieren waren. Wie Monia wollte auch Marley an die Geschichte mit der Regenbogenbrücke glauben. Der auf dem Foto war erschienen, nachdem Jasper, Marleys weißes Hermelinkaninchen und Seelentröster, gestorben war. Zwei Jahre war das her, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen. Sie hatte lange um den kleinen, treuen Freund mit den himmelblauen Augen getrauert. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes ein zu großes Herz gehabt, das ihm letztendlich die Luft raubte. Marley hatte sich durchgerungen, ihn zu erlösen, und war bis zu seinem letzten Atemzug bei ihm geblieben.

„Du wirst ihn wiedersehen, denn er war ein besonderer Freund. Er ist über die Regenbogenbrücke gegangen, in ein Land voller duftender Wiesen, wo er mit vielen anderen Tieren spielen kann. Er vermisst dich, wie du ihn, aber eines Tages werdet ihr wieder zusammen sein, und dann für immer. Daran glaube ich. Das gibt mir Trost und dir hoffentlich auch. Er wird dich abholen, wenn es soweit ist“, hatte Monia damals gesagt. Die Vorstellung hatte Marley tatsächlich geholfen und tat es auch nun.

Da der Wind stärker wurde, schloss sie das Fenster wieder. Erste Regentropfen trommelten an die Fensterscheibe.

Ein Lächeln wanderte über ihre Lippen, als sie sich auf dem Bett niederließ und das Foto betrachtete.

„Du hast es ein Zeichen, einen Beweis genannt“, flüsterte sie und lenkte ihren Blick zurück auf die dunkelbraune Holzkiste. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen, als sie den Schlüssel aus ihrer Jeanstasche holte, ihn in das kleine silberne Hängeschloss steckte und langsam drehte, bis ein Klick andeutete, dass es sich entriegelt hatte. Tief einatmend hob Marley den Deckel an und klappte ihn schließlich ganz nach hinten. Das Erste, was sie von dem Inhalt sah, war ein Kuvert, auf dem mittig ihr Name stand. Mit zittrigen Händen nahm sie das Kuvert an sich. Das Papier glänzte wie eine Perle.

„Öffne es doch, Schatz“, hörte sie Monias Stimme so deutlich in ihren Ohren, dass sie einen Moment lang glaubte, sie sei real. Ein zarter Luftzug flog durchs Zimmer und streichelte Marleys Wangen. Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Bist du hier? … Was für eine blöde Frage. Ich spüre dich. Ja, das tue ich“, flüsterte Marley, und ihr wurde ein wenig wärmer. „Ich danke dir, Monia.“

Das Kuvert war nur an einem Punkt verklebt, sodass sie es öffnen konnte, ohne es zu beschädigen. Danach zog sie das ebenfalls perlengleich glänzende Briefpapier heraus, das an den Ecken abgerundet war. Es roch nach Monia. Ein Duft nach Vanille und Lilien. Ihre Tante hatte den Brief von Hand geschrieben. Schwarze Tinte, wohlgeschwungen. Die Buchstaben kippten leicht nach rechts und liefen wellenförmig aus, ein Tick von Monia, den Marley kreativ fand.

Während sie die Zeilen las, versiegten die Tränen und wandelten sich mehr und mehr in Dankbarkeit für das, was ihre Tante ihr damit schenkte – einen Einblick in ihr geheimstes Innerstes und tiefes Vertrauen. Marley fühlte sich geehrt, umarmt und Monia ganz nah. Ein Gefühl, das ihr das gab, was Monia sich für sie immer gewünscht hatte – mehr Selbstvertrauen in das eigene Tun, in sich selbst. Es war immer da gewesen, wenn Marley mit Monia zusammen war, und sie hoffte, es eines Tages auch aus eigener Kraft halten zu können.

Liebe Marley,

mein Segel auf stürmischer See. Die Ärzte geben mir nur noch sehr wenig Zeit. Es wird nicht allzu viel geben, das ich vermissen werde, wenn ich gehe. Aber Du und er, Ihr gehört definitiv dazu.

Vielleicht konnte ich Dir einen Teil meines Geheimnisses bereits erklären, so dass Du nun weißt, wen ich meine.

Im Geiste bin ich noch die alte Monia, aber der Körper, den ich bewohne, wird immer schwächer. Ihn alleine lasse ich hier zurück. Also, sei nicht traurig. Du wirst mich wiedersehen und ich Dich. Ich bin nur schon früher zu Hause, und ich hoffe inständig, dass ich gut genug war, um in den Himmel zu kommen. Auch wenn ich feige war! Ich habe Dir oft gesagt, Du sollst an Deinen Träumen festhalten und sie dir nicht von anderen Menschen ausreden lassen. Ich selbst habe meinen größten Traum aufgegeben, weil ich mir letztendlich doch ein schlechtes Gewissen habe einreden lassen und nicht wollte, dass der Mann meines Lebens durch mich das Wichtigste verliert, das er hat. Du wirst mich besser verstehen, wenn Du meine Tagebücher und die Briefe gelesen hast.

Ich werde Jasper von Dir grüßen, mein Engel. Du hast so ein großes, gutes Herz, so viel Talent. Zu Deiner Vollkommenheit fehlt nur noch eins – Vertrauen in Dich selbst. Vielleicht kann ich Dir dazu nun einen Stups geben und möchte Dich gleichsam um etwas bitten.

Einen großen Teil meiner Asche werde ich zu einem Diamanten pressen lassen. Eugen hat diesen Wunsch ja mitbekommen. Nun, es wäre wohl besser gewesen, er wüsste nichts davon.

Bitte schenke Tom diesen Teil von mir. Falls er ihn jedoch nicht mehr möchte, was ich verstehen könnte, dann behalte Du ihn. Als ein Versprechen und fühlbares Symbol, dass ich immer bei Dir sein und ihn und auch Dich stets im Herzen trage werde. Den anderen Teil meiner Asche bitte ich Dich in Indiana zu verstreuen, um Tom zu zeigen, wie gerne ich dort mein Leben mit ihm geteilt hätte, und dass ich auf ihn warten werde, so wie ich es versprochen habe. Er soll bis dahin glücklich sein und ich hoffe, er kann mir verzeihen. Das würde mir sehr, sehr viel bedeuten.

Liebe und wahre Freundschaft sind der größte Reichtum, den ein Mensch besitzen kann. Was sonst können wir mit uns nehmen als das? Was sonst erfüllt uns mehr, außer der Glaube an Gott? Du weißt, dass Du den Glauben nie verlieren darfst. Bitte, Liebes! Du weißt auch, dass es mir immer geholfen hat, zum Himmel zu beten. Wir sind nicht allein, auch wenn es manchmal den Anschein hat.

Die Asche befindet sich in dem roten Samtsäckchen. Ich habe eine gute Freundin gebeten, sie nach meinem Ableben dort hineinzufüllen und in die Kiste zu geben. Verzeih Eugen, wenn er zetert, weil ich Dir das Geld und den Diamanten vermacht habe. Meine Güte, ich kann ihn schon jetzt beinahe hören. Ach, mein Eugen, er weiß es nicht besser.

Lass Dich nicht umstimmen, wenn Du den Weg gehen willst, den ich Dir hier vorschlage – von keinem. Aber ich will Dich auch nicht drängen. Wie immer Du Dich auch entscheidest, ich stehe in Gedanken hinter Dir.

Sage Deiner Mutter liebe Grüße von mir. Ich liebe sie, auch wenn wir uns manchmal gezankt haben wie zwei Katzen.

Ich lege mein vergangenes Leben, mein Herz in Deine Hände. Das Wichtigste davon bewacht diese kleine Kiste, die mein Lieblingsmensch neben Tom nun in Händen hält. Von diesem Geheimnis wussten nur meine Eltern und Deine Mutter. Später erfuhr durch Eleonor auch Eugen davon. Er hat nie verstanden, wie ich mich überhaupt auf einen Ausländer, wie er es sagte, einlassen konnte. Und was Deine Mutter angeht, ich habe ihr verziehen. Sie ist, wie sie ist.

Mit tausend Küssen und guten Wünschen,

Deine Tante Monia

Marley ließ den Brief sinken. Sie hätte endlos weiterlesen mögen, wenngleich die Zeilen ihre Gedanken durcheinanderwirbelten. Fragen über Fragen. Vorsichtig, als wäre er zerbrechlich, steckte sie den Brief in das Kuvert zurück. Danach nahm sie das Säckchen heraus und drückte es eine Weile an ihr Herz. Ihr Blick wanderte zu ihrer alten Gitarre, für die sie damals lange gespart hatte. Monia hatte es geliebt, wenn sie ihr darauf etwas vorspielte. Erneut überrollte Marley die Sehnsucht.

Schließlich nahm sie eine kleine schwarze Schatulle aus der Box, in der sich wohl der Diamant befand, der für diesen Tom bestimmt war. Ihre Tante schien in ihn verliebt gewesen zu sein. Aber wer war er, dieser Ausländer, wie Eugen ihn nannte? Sie wusste, dass der Rest des Inhaltes ihr darauf Antwort geben würde, so wie Monia es in ihrem Brief versprochen hatte.

Langsam öffnete sie die Schatulle. Ihr Herz verkrampfte sich, als sich das Licht ihrer kleinen Schreibtischlampe in dem kleinen Diamanten verfing, der darin gebettet lag. Glitzernd hing er an einer silbernen, feinen Kette und es kam Marley vor, als würde er das ganze Licht des Universums in sich vereinen. Nachdenklich nahm sie die Kette heraus und ließ den Diamanten in ihre rechte Handfläche gleiten. Lange saß sie einfach nur da und betrachtete ihn. Noch immer fegte der Sturm ums Haus, während der kleine Edelstein eine Wärme ausstrahlte, die tief in sie kroch und sie lächeln ließ. Behutsam öffnete sie den Verschluss und hängte sich die Kette um den Hals.

Danach tasteten ihre Finger nach einem dicklichen Kuvert in der Kiste. Es war blau wie ein Sommerhimmel. Auf die Oberseite hatte Monia in Schreibschrift die Worte Trau Dich geschrieben. Marleys Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Schließlich öffnete sie den Umschlag und warf einen Blick in sein Inneres. Das Erste, was sie sah, war ein Bündel Geldscheine. Staunend zog sie es heraus und las, was auf dem Zettel stand, der daran hing:

Sag jetzt nicht, das kannst Du nicht annehmen. Du kannst! Ob Du die Reise nun machst (was ich hoffe) oder nicht. Als mir die Idee kam, da sagte mir eine innere Stimme, dass es der richtige Weg für Dich wäre. Sie war ganz deutlich, deshalb bin ich so überzeugt davon. Aber wenn Du das anders sehen solltest, dann erfülle Dir mit dem Geld einen Traum. Und bitte hab dabei bloß kein schlechtes Gewissen. Denke daran, dass es mich glücklich macht, wenn Du es bist. Außerdem – es ist nur Geld! Aber benutze es nur für Dich – für Deine Träume. Versprich mir das! Ich habe genug an Deine Mutter vererbt, dass sie einige Hypothekenraten ohne Deine Hilfe bezahlen kann. Denke ausnahmsweise einmal an Dich, Liebes.

„Du bist verrückt, Tante Monia! Mein Gott!“ Marley brauchte nicht zu zählen, wie viel es war, denn ein kleiner Vermerk auf der anderen Seite des Zettels verriet es ihr – fünfzehntausend Euro. Noch nie zuvor hatte Marley so viel Geld auf einmal besessen. Für ein, zwei Sekunden stockte ihr der Atem.

Inzwischen war das Gewitter von dannen gezogen und es fiel nur noch ein leichter Regen. Marley warf einen weiteren Blick in das Kuvert, griff hinein und zog ein Flugticket heraus, das allerdings nur ein Muster war. Die Stirn in Falten gelegt betrachtete sie es. Das Flugziel hatte Monia selbst eingetragen.

„Nach Amerika, Indiana?“, flüsterte Marley und betrachte die Rückseite, auf der Monia vermerkt hatte:

Tom liebte die Weite des Landes. Er sagte, dort würde der Wind singen, wenn er über die riesigen Felder und Wiesen streift. Ich hätte es zu gern einmal gehört. Ich reise mit Dir, wenn Du Dich dazu entschließt. Flieg, wann immer Du willst.

„Tom kommt also von dort“, flüsterte sie und umschloss den Diamanten mit einer Hand. Aus der Kiste leuchtete ihr ein weiteres Kuvert entgegen, grasgrün wie die Hoffnung. Mittig auf der Vorderseite prangte ein glitzernder silberner Stern. Daneben stand: Für Tom von Monia

„Den soll ich ihm wohl geben“, flüsterte Marley, nahm dem Umschlag heraus und legte ihn zur Seite. Er war verklebt, und sie hatte nicht vor, ihn zu öffnen, denn es gab keinen Zettel, der sie darum bat. Sie wusste, Monia hätte es sie wissen lassen, hätte sie gewollt, dass sie die Zeilen las.

Marley fühlte sich wie in einem Traum. Die Farben in ihrem Zimmer waren noch nie heller, satter und zugleich sanfter gewesen.

Fliegende Worte

Ein Klopfen an der Tür riss Marley aus ihren Gedanken. Inzwischen hatte sie die Kiste gänzlich ausgeräumt und den gesamten Inhalt drumherum platziert.

„Marley?“, drang die Stimme ihrer Mutter vom Flur aus zu ihr. Der Türgriff bewegte sich.

„Ich komme gleich“, rief Marley, warf die Decke über die Kiste und ihren Inhalt, schaltete den CD-Player aus und schloss die Tür auf. Mit hochgezogenen Brauen und erhobenem Kopf trat Eleonor ins Zimmer und musterte ihre Tochter von Kopf bis Fuß. Da fiel Marley ein, dass sie den Diamanten ja noch trug. Zu spät! Der Blick ihrer Mutter hatte sich bereits daran festgesaugt, ihr Mund öffnete sich.

„Also ist es tatsächlich wahr!“, flüsterte sie und schlug sich dann die Hand vor den Mund. Dicht vor Marley blieb sie stehen. Ohne die Augen abzuwenden, begann sie den Kopf zu schütteln und murmelte: „Ich verstehe sie immer noch nicht.“

„Du kennst ihr Geheimnis!“, hörte Marley sich sagen. Eleonor hob den Blick und sah ihrer Tochter in die Augen.

„Erinnere mich nicht daran. Das waren Hirngespinste. Damit hatten unsere Eltern völlig recht. Sie hat dir also davon erzählt?! Eigentlich habe ich sie gebeten, das nie zu tun. Außerdem dachte ich, sie wollte mit niemanden mehr darüber reden.“

Marley zuckte mit den Schultern. „Liebe ist kein Hirngespinst“, verteidigte sie ihre Tante.

„Hast du das bei deinem letzten Freund nicht auch gedacht? Und was ist dabei herausgekommen? Am Anfang hättest du noch beide Hände für diesen Ben ins Feuer gelegt.“

„Moment! Du warst es doch, der Ben beinahe bis zuletzt in den Himmel gehoben hat. Ein angehender Anwalt in der Familie …“

„Deine Tante ist für diesen Amerikaner damals auch nur ein Abenteuer gewesen. Im Grunde wusste sie das auch. Was wirst du nun mit dem Diamanten machen? Eugen wird nicht aufgeben, bevor er ihn hat“, lenkte Eleonor ab.

„Ich werde ihn behalten. Er ist ein Teil von Monia.“

Eleonor seufzte und blickte ihre Tochter forschend an. „Hat sie dir auch Geld vererbt?“

„Ein wenig“, antwortete diese.

Eleonor biss sich auf die Unterlippe. „Und wieviel?“

„Ein paar hundert Euro.“

Das war im Grunde nicht gelogen, dachte sich Marley.

„Nun ja. Wir müssen Eugen ja nicht sagen, dass wirklich ein Diamant in der Kiste war. Uns fällt schon etwas ein.“

Ihre Finger näherten sich dem Edelstein, was Marley zurückweichen ließ.

„Meine Güte! Ich entreiße ihn dir schon nicht. Ich meine nur, er würde sicher einiges in die Familienkasse einbringen. Du weißt, dass wir die Raten weiterbezahlen müssen. Und das bisschen, das Monia mir vererbt hat, wird nicht lange reichen. Ich habe das ganze Leben auf ihre Hilfe verzichtet, was Geld anbelangt. Da hätte sie eigentlich schon mehr springen lassen können. Naja. Außerdem hätte ich mal wieder richtig Lust, mir etwas zu gönnen, ohne jeden Cent dafür zweimal umdrehen zu müssen.“

„Das verstehe ich doch.“

Eleonor lächelte. „Schön! Wir können ihn ja schätzen lassen. Soweit ich weiß, hat es schon einiges gekostet, ihn pressen zu lassen. Einen Teil bekommen wir doch auf jeden Fall wieder.“

„Ich meinte damit, ich verstehe, dass du nicht jeden Cent zweimal umdrehen möchtest, wenn du dir hin und wieder etwas Schönes leisten willst. Aber was den Diamanten angeht – das ist nicht irgendein Diamant. Er ist aus Tante Monias Asche. Sie war deine Schwester. Wie kannst du überhaupt auch nur daran denken, ihn zu verkaufen? Außerdem habe ich vor, ihr damit den letzten Wunsch zu erfüllen.“

Habe ich da gerade eine Entscheidung getroffen? fragte sich Marley selbst. Schon oft hatte sie von Amerika geträumt, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Monia war ein großer Fan von James Dean gewesen und hatte ihrer Nichte seine Geschichte nach und nach nahegebracht, bis diese selbst fasziniert war von seiner Person und seinen Filmen. Nach dem frühen Tod seiner geliebten Mutter war er bei seinem Onkel und seiner Tante in der Kleinstadt Fairmount im Herzen Indianas aufgewachsen. Monia und Marley hatten ein paarmal zusammen Deans Filme angesehen und in den Augen des jungen Mannes vieles erkannt, das sie selbst fühlten. Monia bewunderte ihn dafür, dass er ausgebrochen war, um seine Träume zu leben, über alle Grenzen hinweg. Insgeheim wünschte sich Marley dasselbe.

„Nur einmal Rebellin sein“, flüsterte sie für sich selbst und lächelte.

„Was hast du gesagt?“

Marley winkte ab. „Ach, nichts!“

„Du musst dich ja nicht sofort entscheiden. Aber in einem hat Eugen recht. Man muss an deinen Verstand und dein Gewissen appellieren.“

„Ist gut, Mutter.“

„Mutter? Es klingt immer so hart, wenn du mich so nennst. Mama gefällt mir besser. Auch wenn du deinen Vater Dad genannt hast, wo er doch halb Engländer war.“

„Also auch ein Ausländer. Stimmt! Seltsam, wo doch …“

„Aber einer, der mit beiden Beinen fest im Leben stand und dazu noch verantwortungsbewusst war. Was ihn dann später in die Spielsucht trieb … Ich weiß es bis heute nicht. Monia hat immer gesagt, ihm hätte es gefehlt, das Leben hinter dem Leben zu spüren, weil seine Eltern ihm eingeredet haben, Träume wären Schäume, genau wie unsere. Monia kann von Glück reden, dass Eugen sie damals wollte und sie zurechtgestutzt hat, auch wenn er dabei zu Anfang eine Maske getragen und so getan hat, als wäre er wie sie. Er ist heuchlerisch, ja. Aber es war ihre Rettung, davon bin ich überzeugt, und unsere Eltern waren das auch. Seinem Schicksal kann man nicht reinreden. Mutter sagte immer: Schuster bleib bei deinen Leisten. Und das stimmt. Aber Monia konnte all diese abgehobenen Gedanken wohl bis zuletzt nicht für sich behalten.“

Ihr Tonfall war eine Mischung aus Wut, Angst, Verzweiflung und Selbstmitleid.

Marley erinnerte sich, dass ihr Vater mit den Jahren immer stiller geworden war und manchmal davon träumte, die Welt zu umrunden, was ihre Mutter immer als völligen Unsinn abtat. Zudem vermisste er die Kleinstadt in Oxfordshire, in der er aufgewachsen war. Eleonor allerdings mochte weder seine Verwandtschaft noch England, auch wenn es feine Leute waren.

Sie drängte sich an ihrer Tochter vorbei zum Bett. „Versteckst du die Kiste unter der Decke? Was war noch darin?“

„Mama, bitte!“

Dann folgte, was Marley hatte kommen sehen. Ihre Mutter erlitt einen spontanen Migräneanfall, der sie müde auf den Schreibtischstuhl sinken ließ.

„Meine Tochter hat Geheimnisse vor mir.“

„Es sind nur ein paar persönliche Zeilen von Monia und … ein Flugticket.“

Der Migräneanfall verflog anscheinend so plötzlich, wie er gekommen war, und Eleonor blickte mit großen Augen zu Marley auf.

„Was?“, rief sie.

Marley ärgerte sich über ihre lose Zunge.

„Nur ein Musterticket. Als … kleiner Wink, dass ich mal über meine Grenzen hinausfliegen sollte.“

Eleonor lachte höhnisch. „Ich sage es ja, sie war verrückt. Dir solche Flöhe ins Ohr zu setzen … Genau wie deinem Vater. Ja, ich glaube wirklich, er wäre normal geblieben, wenn sie die Finger nicht im Spiel gehabt hätte. Von allein wäre er nie auf die Idee gekommen, ausbrechen zu wollen. Eigentlich war sie eine verbitterte Hexe. Wenn sie hier wäre, dann würden wir nun wohl wieder streiten. Und du willst das Geld jetzt für eine Reise ausgeben, nur weil sie dir das vorgeschlagen hat? Ich glaube nicht, dass Eugen dir dafür Urlaub geben wird.“

„Es wäre mein Recht. Ich habe sogar noch einige Urlaubstage aus dem letzten Jahr übrig, Mama.“

Eleonor stand auf und befühlte ihre Stirn. „Das hätte ich nicht von dir gedacht, dass du mich im Stich lässt.“

„Mama! Das würde ich nie tun.“

Ohne eine Antwort verließ Eleonor den Raum. Marley atmete tief durch und ließ sich neben der Kiste und deren Inhalt aufs Bett fallen. Danach nahm sie die darüber geworfene Decke weg und griff nach dem Stapel Briefe, der mit einer roten Schleife umwickelt war.

Der milde Abendwind blies Marley eine blonde Locke ins Gesicht und kitzelte ihre Nase. Tief sog sie die frische Luft in ihre Lungen und drehte dabei das Autofenster ganz herunter. Das schlechte Gewissen drückte sie, denn eines wurde ihr von Minute zu Minute klarer: Sie wollte diese Reise machen. Ihre innere Stimme war noch nie so klar und deutlich gewesen.

„Aber ich werde Mutter ein paar hundert Euro von dem Geld geben, bevor ich aufbreche, Tante Monia. Sei mir nicht böse! Das bin ich ihr schuldig.“

Marley passierte das Ortsschild in südlicher Richtung und blickte in die Wolken, die wie zerzauste Wattebausche vor einem graublauen Himmel hingen.

Sie hatte ihre Gitarre dabei und die Briefe sicher in einem Rucksack verstaut. Mit ihrem klapprigen, silbernen Golf Cabrio, der mehr Roststellen besaß, als sie Sommersprossen auf Nase und Wangen, fuhr sie zu ihrer Lieblingswiese in der Nähe einer kleinen Waldlichtung, durch die sich ein Bach schlängelte. Das Auto hatte sie sich durch viele Überstunden verdient. Einen Teil des Geldes dafür hatte sie von Monia als Geburtstagsgeschenk bekommen.

Monia hatte jahrelang in einem Blumenladen gearbeitet, der ihr sehr am Herzen lag. Die Besitzerin war eine gute Freundin von ihr. Durch die Arbeit bewahrte sie sich auch ein Stück Unabhängigkeit. Ein Auto gehörte für sie unabdingbar dazu. Eleonor hingegen mochte Marleys fahrenden Untersatz nicht. Sie empfand es als völlig unnötig, ein Auto zu besitzen, wenn man in einer großen Stadt wohnte. Für Marley aber bedeutete es Freiheit, auch wenn sie aus Kostengründen nicht sehr oft damit fuhr.

„So stelle ich mir das Paradies vor“, hatte Monia einmal zu ihr über die Wiese mit dem Bach gesagt. Sie beide waren oft hier gewesen, um die Welt auszuschalten, wie sie es nannten.

Am Ufer des Baches stand eine Bank, die leicht knarzte, wenn man sich darauf niederließ. Marley setzte sich und legte die Briefe neben sich. Noch einmal dachte sie über Monias Zeilen nach, während sie die Gitarre nahm und darauf zu spielen begann. Zarte Klänge erhoben sich in die Lüfte, die Marley umtanzten und ihr ein Stück Frieden schenkten. Dabei wich die Schwere in ihrem Herzen allmählich, wenn auch nicht ganz, und der Himmel schien noch ein Stückchen mehr aufzuklaren. Nach einer Weile legte sie die Gitarre zur Seite und zog vorsichtig den obersten Brief aus dem Stapel. Er war an Monias Elternhaus adressiert und trug Toms Absender auf der Rückseite.

Tom Priestly, 405 W Bristol Road, 46928-1960 Fairmount-Indiana

Gespannt und mit leicht feuchten Fingern öffnete Marley das weiße Kuvert. So wie es aussah, hatte auch Monia den Brief mit viel Sorgfalt geöffnet. Die Klebestellen waren dabei nur wenig beschädigt worden.

Toms Schrift war der ihrer Tante sogar ähnlich, wenn auch einen Tick größer. Die Zeilen waren mit marineblauer Tinte und auf Englisch geschrieben, was für Marley wegen ihres Vaters allerdings kein Problem darstellte.

Liebste Monia,

ich muss Dir nun einfach schreiben. Auch wenn ich zurückkehren musste, habe ich eines doch bei Dir gelassen. Mein Herz! Behalte es, denn es wird für immer Dir gehören, auch wenn es nun so gekommen ist. Ich frage mich: Was hat der Himmel nur mit uns vor? Ich kann Dich nicht vergessen, Dich nicht aufgeben. Du willst nicht mehr telefonieren, weil es Dir zu wehtut, meine Stimme zu hören. Das verstehe ich. Es geht mir genauso. Gut, lass uns dafür schreiben. Du hast geschrieben, Du bist diejenige, die den Postkasten immer leert, und dass ich Dir meine Briefe ruhig nach Hause schicken kann, also tue ich das.

Marley merkte, dass ihr das Herz bis in den Hals schlug. Ihre Tante war in einen Amerikaner verliebt gewesen, der in jener Stadt wohnte, in der James Dean aufgewachsen war. Es war unglaublich. Die Surrealität löste einen Adrenalinschub in ihr aus, der bis in die letzte Faser ihres Körpers drang. Erneut lenkte sie den Blick auf die Zeilen und las weiter:

Ich muss es noch einmal wiederholen. Du musst mir glauben, dass zwischen Avery und mir schon nichts mehr war, als ich im Sommer 1989 als Soldat nach Deutschland gekommen bin. Wir hatten es nur noch nicht offiziell ausgesprochen. Bei meinem Kurzurlaub in Amerika wegen einem Herzinfarkt meiner Mutter Mitte Februar 1990 kannten du und ich uns ja noch nicht. Avery und ich haben beim Wiedersehen einiges getrunken, uns ausgesprochen und …

Tags darauf aber haben wir wieder gestritten und ich sagte ihr, dass es keinen Sinn mehr hätte.