Pages - Die Zeilen meines Lebens - Nadine Stenglein - E-Book

Pages - Die Zeilen meines Lebens E-Book

Stenglein Nadine

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Beschreibung

Auf einem Trödelmarkt findet die junge Amy ein Buch, das sie magisch anzieht. Just kauft sie es und beschließt die Regeln des Klappentextes zu befolgen: Wer kein Unglück anziehen will, der beachte die drei folgenden Regeln zu diesem Buch: Das Geheimnis lernt nur der kennen, der die enthaltene Geschichte von hinten nach vorne liest und sie für sich bewahrt. Es darf vorher nicht wahllos darin geblättert werden. Es sollen keine Nachforschungen über das Buch angestellt werden. Liest man mit Bedacht, wird sich letztendlich bestimmt alles von selbst erklären und hoffentlich so manches auflösen. Ein geheimnisvoller Romance Roman

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Seitenzahl: 376

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Kurzbeschreibung:

Auf einem Trödelmarkt findet die junge Amy ein Buch, das sie magisch anzieht. Just kauft sie es und beschließt die Regeln des Klappentextes zu befolgen: Wer kein Unglück anziehen will, der beachte die drei folgenden Regeln zu diesem Buch: Das Geheimnis lernt nur der kennen, der die enthaltene Geschichte von hinten nach vorne liest und sie für sich bewahrt. Es darf vorher nicht wahllos darin geblättert werden. Es sollen keine Nachforschungen über das Buch angestellt werden. Liest man mit Bedacht, wird sich letztendlich bestimmt alles von selbst erklären und hoffentlich so manches auflösen.

Nadine Stenglein

Pages - Die Zeilen meines Lebens

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Nadine Stenglein

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Ashera Agentur

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Lektorat: Catherine Beck

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-243-7

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Schicksalsseiten

Das letzte Kapitel

Die Einladung

Begegnungen

Das neunte Kapitel

Gerüchteküche

Ein Traum aus Karamell

Geheimnisse

Das achte Kapitel

Wiedersehen

Zeichen

Marlon

Das siebte Kapitel

(K)ein Date

Das sechste Kapitel

Das fünfte Kapitel

Ein ungleiches Paar

Das vierte Kapitel

Das dritte Kapitel

Das Geheimnis

Verbotene Liebe

Das Angebot

Narben

Das zweite Kapitel

Erwachen

In jeder Sekunde

Hoffnung

Mein Herz

Schicksalsseiten

Es regnete beinahe ununterbrochen, und das schon seit drei Tagen. Dennoch wollten die Leute nicht auf den alljährlichen Gassentrödelmarkt der britischen Kleinstadt Swan in der Grafschaft Buckinghamshire verzichten. Mit einem Lächeln und etwas Wehmut erinnerte sich Amy daran, dass sich ihre Großmutter June bei ihrem letzten gemeinsamen Besuch in eine kleine, zauberhafte rote Standuhr verliebte, die sie auch prompt gekauft hatte. Damals war Amy fünfzehn gewesen. Bis heute glaubte sie nicht, dass es Zufall war, dass die goldfarbenen Zeiger der Uhr genau zu dem Zeitpunkt innehielten, an dem June ihren letzten Lebenshauch ausatmete. Es war kurz nach sechs Uhr abends gewesen, ein sonnendurchfluteter Sonntag im Herbst. Wenigstens, dachte Amy, ist June nicht in der Anstalt gestorben, sondern im Krankenhaus, auch wenn ich sie am liebsten nach Hause geholt hätte. In ihren letzten Minuten hatte Amy neben ihr gesessen, ihre dünn gewordenen Hände gehalten. June sah friedlich aus in ihrem weißen Nachthemd, während es Amy vorkam, als würde nicht nur die Uhr, sondern die ganze Welt in Stille und Starrheit verharren. Mit June waren die bunten Schmetterlinge verschwunden, die sie mit ihrer Art oft in das triste Leben Amys gebracht hatte. Bevor June eingeschlafen war, hatte sie ihr noch einmal zugelächelt. Ein wenig war es ihr auch vorgekommen, als hätte sie dazu gezwinkert. June fehlte ihr, jeden Tag. Für Amy war sie wie eine zweite Mutter und zugleich beste Freundin gewesen. Immer da, wenn sie Rat brauchte, meist einen lockeren Spruch auf den Lippen, und eine Frau, mit der nicht nur Mann Pferde stehlen konnte. Auch deswegen hatte ihr Mann Ermes, der Vater von Amys Vaters, sie geliebt, selbst wenn er die Zügel manchmal etwas fester halten musste. June nahm es ihm nicht übel, denn sie und Amy wussten, er meinte es nie böse. Im Gegenteil. Amy konnte sich nicht erinnern, schon einmal ein glücklicheres Paar erlebt zu haben als die beiden. Nach seinem Krebstod war ein Teil von June mit ihm gegangen. Amy wusste damals, June sehnte sich danach, ihm zu folgen, auch wenn sie es nie ausgesprochen hatte. Aber nach dem, was Amys Familie ihr angetan hatte, konnte diese das nur zu gut verstehen. Nun waren ihre Großeltern wieder zusammen, in Frieden, dieses Mal für immer. Jedenfalls war die Sache mit der Uhr für ihre Eltern, insbesondere für ihre Mutter Helena, nichts Außergewöhnliches. Ihre Reaktion erstaunte Amy nicht einmal. Sie dachte nüchtern und vernünftig – wie immer, und ihr Mann ahmte es nach. Amy hingegen glaubte, wenn auch nicht restlos, an das Übersinnliche … dass es mehr gab, als die Realität den Menschen weismachen wollte. Ob da nun etwas dran war oder nicht, sie fand allein den Gedanken interessant und magisch. Magie zog Amy an, weshalb sie auch am liebsten Fantasy-Geschichten und kleine Verse schrieb. Etwas, das Helena ebenso für Schwachsinn und Zeitverschwendung hielt. Nicht nur einmal hatte sie ihr gesagt, dass sie befürchtete, ihre Tochter habe etwas von Junes Verrücktheit in sich.

Bewundernd und staunend flog Amys Blick nach oben zu der wohl schönsten Überdachung, die sie je gesehen hatte. Entlang der Gasse spannten sich, an Seilen befestigt, dutzende bunte Regenschirme zwischen den Dachrinnen und sorgten dafür, dass die Marktstände weitgehend trocken blieben. Amy ließ sich mit der Menschenmenge treiben und den Blick von Tisch zu Tisch wandern. Sicher liegen zwischen dem Krimskrams hin und wieder wahre Schätze verborgen. Jeder Besucher hofft wohl, seinen eigenen zu finden. Ein bisschen erinnerte Amy das Ganze immer an Weihnachten, was sicher auch mit dem Duft der stadtbekannten gebackenen Apfel- und Zwetschgenringe zu tun hatte. Sie war sich sicher, dass es nirgends bessere gab als hier. An einem Tisch mit Perlenschmuck hielt sie inne. June hatte diese Art Schmuck am liebsten getragen.

„Darf ich?“, fragte Amy den alten Mann hinter dem Verkaufstisch und zeigte auf eine der Ketten.

Lächelnd nickte er.

Während sie die champagnerfarbenen Perlen durch die Finger gleiten ließ, durchfluteten sie Bilder der Erinnerung. Bei nicht wenigen musste sie innerlich lachen und äußerlich schmunzeln.

„Passt gut zu Ihrem roten langen Haar, junge Frau. Für Sie mache ich sogar einen Sonderpreis. Eigentlich zehn Pfund, für Sie die Hälfte. Na, ist das kein gutes Angebot für diese fabelhafte Qualität?“, fragte der bärtige, dickbäuchige Verkäufer und riss sie aus ihrem Gedankenkino.

„Ja, guter Deal.“ Schnell drückte sie ihm das Geld in die Hände, hängte sich die Kette um und schlenderte weiter. Das Meer aus Menschen schien dichter zu werden. Ein paar Meter weiter wurde sie gezwungen, an einem Tisch zu stoppen, der über und über mit Büchern beladen war. Jemand stieß sie von hinten an, sodass sie ungewollt gegen einen Mann gepresst wurde, der gerade in eines der Bücher vertieft war.

„Sorry“, entfuhr es ihr, während sie versuchte, sich von ihm zu lösen. Er hielt das Buch zur Seite und sah sie an. Wow, diese Augen. Ein grünbrauner See mit kleinen schwarzen Punkten. Verschmitzt lächelnd entgegnete er: „Nein, entschuldigen Sie sich nicht, Sie können ja nichts dafür. Ich habe das gleiche Problem, nur von der anderen Seite.“

Die Leute drängten weiter. Schließlich kam ihnen beiden die Situation so komisch vor, dass sie gleichzeitig lachen mussten. Amy spürte seinen durchtrainierten Oberkörper an ihrem. Sein schwarzes, leicht gewelltes Haar war von ein paar braunen Strähnen durchzogen. Fältchen umspielten seine Augen und den vollen Mund, während er lächelte. Sie schätzte ihn nur ein wenig älter, als sie selbst war. Mit einem Mal erhitzten sich ihre Wangen, woraufhin sie den Blick verlegen zum Büchertisch wandte. Sekunden später löste sich das Gedränge um sie herum ein wenig, was sie beinahe bedauerte.

Zögerlich schob sich der Fremde an ihr vorbei.

„Endlich wieder in Freiheit“, sagte sie und lächelte.

„Ach, ich empfand die kurze Gefangenschaft als sehr angenehm. Also dann. Ich habe meinen Schatz gefunden“, erwiderte er und zwinkerte ihr zu.

Was meint er denn damit? „Ihren was … Schatz?“

Auch wenn sie sich selbst nicht sah, wusste sie, dass ihre Wangen inzwischen wohl so rot waren wie der Himmel bei einem Sonnenuntergang. Erneut verschmitzt lächelnd zeigte er auf das Buch, das er bei sich trug.

Ah, jetzt verstehe ich.

„Oh, ja, ja … schön. Freut mich. Ich suche noch danach“, stotterte Amy und zeigte kurz hinter sich.

Noch immer lächelte er. „Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei. Ich glaube, Sie haben einen richtigen Schatz verdient.“

Mit diesen Worten wandte er sich um und ging. Amy sah ihm nach, bis er mit einer Traube aus Menschen verschwunden war. Gedankenversunken stapelte sie dann einige Bücher vor sich auf, ohne sie wirklich anzusehen. Was habe ich da nur für einen Stuss geredet – „Endlich wieder in Freiheit.“ Jetzt im Nachhinein kamen ihr die Worte unhöflich und dämlich vor. Im Grunde alles, was sie gesagt hatte. Wieder einmal ließ sie ihre Gedanken um tausend Ecken hechten, bis sie am Ende dann doch wieder in einer Sackgasse stecken bleiben würden. Verdammt. Gedankenstopp. Gedankenstopp!

Geri, ihre beste Freundin, hatte ihr dieses Wort ans Herz gelegt – oder besser gesagt in ihrem Kopf verankert. Bei unangenehmen oder zu ausschweifenden Gedanken sollte sie es sich immer wieder selbst sagen. Einen Tipp, den Geri in ihrem Psychologiestudium gelernt hatte. Gedankenstopp! Manchmal half es wirklich. Dieses Mal aber riss Amy die schrille, hohe Stimme der Buchverkäuferin aus dem Gedankenkarussell.

„Sehen Sie sich den Einband an. Roter Samt. Sehr edel. Der Titel und dieser kleine schwarze Rabe in der unteren rechten Ecke der Vorderseite sind eingestickt. PAGES – klingt einfach und macht doch neugierig. Finden Sie nicht?“

Amys Blick schärfte sich wieder. Die Frau mit dem Damenbart nahm das Buch, das ganz oben auf dem Stapel lag, und fuhr mit den Fingern darüber. Die Stickerei erinnerte Amy wieder an ihre Granny.

„Meine Großmutter hat auch gern gestickt. Um sich zu beruhigen, wenn sie innerlich aufgewühlt war. Kam nicht selten vor.“

„Ah, schön. Meine habe ich leider nicht mehr kennengelernt. Komisch. Ich kenne das Buch gar nicht. Das muss mein Mann zu den anderen gelegt haben. Vielleicht gehörte es seiner Mutter. Wissen Sie, sie liebte Bücher. Sammelte sie ihr ganzes Leben.“ Sie drehte das Buch um, starrte auf seinen Rücken und zog nach einer Weile die Brauen zusammen. „Der Rückentext ist ja seltsam. Aber irgendwie auch schlau. Mal etwas anderes, auch wenn ich nicht abergläubisch bin.“ Die Verkäuferin wollte gerade anfangen, in dem Buch zu blättern, als Amy fragte: „Kann ich mal sehen?“

„Natürlich, junge Frau.“ Sie reichte es ihr breit lächelnd über den Tisch.

Es fühlte sich wirklich gut an. Der Samt schmiegte sich regelrecht an ihre Finger, nicht umgekehrt. Plötzlich durchschlich Amy das sichere Gefühl, es haben zu müssen. Als sie den Klappentext las, intensivierte sich dieses Gefühl.

Wer kein Unglück anziehen will, der beachte die drei folgenden Regeln zu diesem Buch: Das Geheimnis lernt nur der kennen, der die enthaltene Geschichte von hinten nach vorne liest und sie für sich bewahrt. Es darf vorher nicht wahllos darin geblättert werden. Es sollen keine Nachforschungen über das Buch angestellt werden. Liest man mit Bedacht, wird sich letztendlich bestimmt alles von selbst erklären und hoffentlich so manches auflösen.

Am liebsten wollte Amy das Buch gar nicht mehr aus den Händen geben. Komischerweise waren weder auf der Vorder- noch auf der Rückseite ein Autoren- und Verlagsname zu finden. Vielleicht stand diesbezüglich ja aber auch etwas in der Geschichte.

„Wie viel wollen Sie denn dafür haben?“, fragte sie die Verkäuferin, die das Buch zurückwollte. Glaubte diese etwa, sie würde sich damit aus dem Staub machen? Widerwillig gab Amy es ihr.

„Nun ja. Sieht aus wie ein sehr altes Buch, nur gut gepflegt“, sagte die Frau und biss sich dann auf die Unterlippe.

Beinahe konnte Amy ihre Gedanken rattern hören. Natürlich, sie hatte ihr angemerkt, dass sie scharf darauf war. Doch mehr als zehn Pfund hatte sie nicht mehr dabei.

Die Frau wiegte den Kopf hin und her und spitzte die Lippen. „Na gut, zwanzig Pfund, und es gehört Ihnen“, rückte sie schließlich heraus.

Ganz klasse. Die nächste Bank war einige Straßen entfernt. Bei der Menge an Menschen, die an diesem Tag unterwegs waren, bräuchte sie sicher eine Weile, bis sie wieder zurück war. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass sie spätestens in einer halben Stunde zu Hause sein musste, wollte sie sich das Gemecker ihrer Mutter ersparen. Sie hatte ihr versprochen, pünktlich zum Abendessen zurück zu sein.

„Ich habe leider nur zehn dabei“, bemerkte Amy, woraufhin die Verkäuferin das Buch unter einen Stapel alter Zeitschriften schob und mit den Schultern zuckte.

„Alter Trick. Funktioniert bei mir aber nicht. Zwanzig Pfund. Kein Cent weniger.“

Amy weitete die Augen. „Das ist kein Trick. Ich muss in einer halben Stunde zu Hause sein. Mit meiner Mutter ist nicht zu spaßen. Außerdem sind zwanzig Pfund doch schon ein bisschen viel für ein gebrauchtes Buch. Oder?“

Die Frau winkte ab und hob die Brauen. „Kindchen, Sie müssen sich nicht bei mir rechtfertigen. Ich lasse mir aber auch nicht in meine Preispolitik reinreden. Das Buch ist schließlich nicht irgendeines.“ Sie senkte den Blick und schürzte die Lippen.

Amy war klar, dass sie sich gerade angehört hatte wie eine Zwölfjährige. Aber diese Dame kannte ihre Mutter nicht.

Schnell ging sie weiter, auch wenn sich dabei ihr Brustkorb zusammenzog. Es war merkwürdig, denn ihr war gerade so, als würde sie einen guten Freund zurücklassen müssen.

Nach wenigen Metern hörte sie die Stimme der Verkäuferin. „Okay, okay. Ich gebe es Ihnen für zehn.“

Amy hielt inne und warf einen Blick über die Schulter. „Wirklich?“

Die Frau hielt das Buch hoch und verzog einen Mundwinkel. „Ja, kommen Sie schon her.“ Räuspernd beugte sie sich nach vorne und flüsterte: „Ich glaube, wir haben etwas gemeinsam.“ Ihre Augen wurden groß.

„Und was?“, fragte Amy.

„Die gleiche Art von Mutter. Meine fährt ihre Krallen auch gern aus. Gehen Sie ihr von der Leine, so bald wie möglich. Ich habe es nie geschafft.“ Sie zeigte hinter sich.

„Red nicht so viel Unsinn“, fauchte eine dickliche Frau im Rollstuhl.

Amy hatte sie vorher gar nicht bemerkt.

„Sie versteht zwar oft nicht mehr, was ich sage, muss aber dauernd ihren Senf dazugeben. Egal, was ich tue, fast immer findet sie einen Grund zum Meckern.“

Verständnisvoll seufzte Amy. Das kannte sie nur zu gut. Manchmal glaubte sie wirklich, das sprichwörtlich schwarze Schaf in der Familie zu sein.

Mit einem mitfühlenden Blick reichte die Frau Amy das Buch. „Es gehört zu Ihnen. Das sagt mir mein Bauchgefühl.“

„Sei nicht wieder zu gutmütig mit dem Preis, Ashley. Hörst du?“, krächzte die Alte im Rollstuhl und reckte den Kopf, um zu sehen, wie viel Geld Amy ihrer Tochter zusteckte.

Die Verkäuferin atmete tief ein und rollte mit den Augen.

„Danke“, erwiderte Amy, nahm die Kette, die sie vorhin gekauft hatte, ab und reichte sie ihr über den Tisch.

„Oh. Für mich?“ Ihre Augen begannen zu glänzen.

Amy nickte. „Nehmen Sie. Nochmals tausend Dank.“

Lächelnd hängte sich Ashley die Kette um und ließ das Geld schnell in eine ihrer Jackentaschen verschwinden.

„Halt. Das habe ich gesehen. Hierher damit. Ich verwalte das Geld. Schon vergessen?“, raunte die Alte und verzog die Augen zu Schlitzen.

„Wenn ich mehr Geld hätte und vor allem nicht zu feige wäre, wäre ich schon längst über alle Berge “, murmelte Ashley und machte kehrt, nachdem sie Amy einen auffordernden Blick zugeworfen hatte. Ja, sie hat recht, verdammt recht, wurde Amy bewusst, und das bei Gott nicht zum ersten Mal. Aber auch sie war noch zu feige, um aus dem goldenen Käfig auszubrechen. Zudem war da noch ihr Vater, um den sie sich sorgte.

Das letzte Kapitel

Das Anwesen ihrer Eltern lag am anderen Ende Swans. In seiner Mitte stand eine ehemalige herrschaftliche weiße Villa aus dem Mittelalter, die schon mehrfach renoviert worden war. Amy hielt vor der großzügigen gepflasterten Einfahrt inne und fuhr mit den Fingern über den samtenen Einband des Buchs, das ihr ein unbewusstes Lächeln auf die Lippen zauberte. Durchatmend warf sie einen Blick Richtung Himmel. Der Regen hatte endlich aufgehört, und am Horizont zeigte sich sogar noch einmal die Sonne, die die aufgerissenen grauen Wolken in ein warmes Rot tauchte. Von der Straße stiegen Dunstwolken auf, als würde sie atmen. Noch einmal sog Amy die würzig riechende Luft tief in ihre Lunge und ließ sie langsam wieder daraus entweichen. Am liebsten hätte sie sogleich mit dem Lesen begonnen. Unweigerlich musste sie an die Worte des jungen Mannes vom Markt denken. Er hatte ihr gewünscht, dass sie ihren Schatz fand. Nun hatte sie das tatsächlich und freute sich schon darauf, ihn zu erkunden. So sehr, dass ihr die vorwurfsvollen Blicke ihrer Mutter wegen ihres Zuspätkommens von genau zwei Minuten gar nicht so viel ausmachten wie sonst, was diese wohl bemerkte. Prompt erntete sie dafür eine verbale Ohrfeige.

„Träumen kannst du nachts, Amy.“

„Ich habe nur nachgedacht“, erwiderte Amy und lud sich eine Portion Wildreis und ein Stückchen Fisch mit Weißweinsoße auf ihren Teller, ohne ihre Eltern eines Blickes zu würdigen.

„Lasst uns bitte in Ruhe essen, Helena“, warf ihr Vater ein, der stets darauf bedacht war, dass Frieden um ihn herrschte.

Helena stöhnte auf. „Ich möchte nur, dass sie sich normal verhält, Charles. Nicht dass sie am Ende so etwas in sich trägt wie deine …“, sagte sie schroff, unterbrach sich jedoch selbst. Charles tat, als hätte er es nicht gehört.

„Ich habe mich doch schon entschuldigt“, erwiderte Amy ruhig, obwohl es ihr schwerfiel. Laut zu werden brachte nichts, wie sie wusste. Helena würde mithalten und am Ende nur noch krähen, bis Amy die Ohren schmerzten. Tausend Dinge würden ihr wieder einfallen, die ihre Tochter in ihren Augen je falsch gemacht hatte und die sie mit absoluter Sicherheit noch falsch machen würde.

„Du bist eine Träumerin. Träumerinnen gehen in der Realität unter, und, noch schlimmer, verlieren sie dabei auch meist aus den Augen. Ich mache mir doch nur Sorgen um dich. Das ist die Aufgabe einer guten Mutter“, sollte das Ganze wohl rechtfertigen.

Eine Erwiderung konnte sich Amy nicht verkneifen: „Ich kenne die Realität nur zu gut und stehe mit beiden Beinen fest auf harter Erde.“

Ihre Antwort entlockte Helena nur ein höhnisches, kurzes Lachen. „Du weißt doch gar nichts vom richtigen Leben. Alles, was du kennst, sind deine Traumwelten. Was bitte hast du schon geschafft? Du bist hier aufgewachsen wie eine Prinzessin.“

„Ich habe einen sehr guten Schulabschluss“, erwiderte Amy weiterhin ruhig.

„Ja, und das Privatcollege, das wir dir dafür bezahlt haben, war reiner Unsinn für diesen Job, den du nun machst. Floristin“, gab Helena zurück und sprach es aus, als wäre es eine bedrohliche Krankheit. „Du hättest studieren können, Jura oder dergleichen. Sieh dir die Nachbarskinder oder die aus unserer Verwandtschaft an. Aus den allermeisten ist etwas geworden. Entweder sie …“

Amy seufzte. „… sind gut verheiratet mit passendem Zubehör oder haben einen Spitzenjob. Ich weiß.“

Ihre Mutter nickte. „Vorbildlich eben, mit klarem Verstand …“

„Ich sehe klar, oft zu klar. Vorbildlich, ja, wie schön, wie langweilig“, rutschte es Amy ein wenig lauter heraus. Sogleich biss sie sich auf die Zunge, stocherte in ihrem Essen herum und beschloss, sich wieder in sich selbst zurückzuziehen. Helenas Worte hallten in ihren Ohren nach und überschlugen sich dort, sodass sie nichts mehr von dem verstand, was ihre Mutter noch zu sagen hatte. Das musste sie auch nicht, im Grunde war es immer die gleiche Leier. Nun begann sie ihre Predigt schon, ohne dass ihre Tochter groß etwas sagte. Amy war klar, dass sie in ihren Augen ein Taugenichts war, und das, seit sie denken konnte. Auch wenn sie es gewohnt sein sollte, es tat immer wieder weh.

„Du kommst auch nach deinem Vater. Wenn er mich nicht gehabt hätte, hätte ihm sein ganzes Geld auch nichts genutzt“, war einer ihrer meist wiederholten Sätze.

Charles hatte nie etwas dagegen gesagt. Dass er nicht immer guthieß, was Helena so von sich gab, zeigte er jedoch nur selten.

Alles, was Amy anfasste, sagte oder tat, schien für Helena nichts wert zu sein. Lediglich ihren guten Abschluss hatte ihre Mutter mit einem wenn auch kurzen Lob kommentiert, das sogleich nach Beginn ihrer Ausbildung zur Floristin, die sie gut bestanden hatte, wieder wertlos geworden war. Dafür war Amy für die Umarmung ihres Vaters umso dankbarer gewesen, wenngleich er es beinahe heimlich getan hatte. Oft dachte sie, ihre Mutter würde sie hassen. Oder aber sie war ihr Sündenbock, weil sie selbst immer unzufriedener wurde mit sich und ihrer Umwelt. Ein Gedanke, den zumindest Geri hegte.

„Sie sollte mehr nach dem Mond leben. Sag ihr das“, hatte sie einmal vorgeschlagen.

„Ist das dein Ernst, Geri? Du weißt, wie sie da reagiert. Denk an June“, hatte Amy sie erinnert. Geri glaubte an die Kraft des Monds und richtete nahezu ihr ganzes Leben danach aus.

Gedankenstopp! Das sagte sich nun wohl auch Charles.

Er stand auf und verließ das Esszimmer, um in seinen Garten zu gehen. Die Liebe zu der Natur und den Blumen hatte Amy wohl von ihm und seiner Mutter geerbt. In und mit frischer Erde zu arbeiten, das tat er besonders gern, wenn dicke Luft herrschte. Vielmehr war er es, der sich in seine eigene Welt zurückzog, meist bepackt mit einer Schachtel Zigaretten.

Helena blickte ihm nach. „Urlaub bekommt ihm nicht.“

Nach einer Minute des herrlichen Stillschweigens fügte sie hinzu: „Außerdem interessiert deinen Vater das alles einen Dreck. Hauptsache, er hat seine Ruhe. Im Grunde seid ihr beide gleich. Träumer! Nur er ist wenigstens Jurist geworden. Ich sage dir noch einmal, bemühe dich um einen Studienplatz. Es ist noch nicht zu spät. Tante Amber und die anderen aus der Verwandtschaft fragen schon dauernd. Das bringt mich immer wieder in Verlegenheit. Mach was aus dir! Dann kannst du meinetwegen zwischendurch auch mal träumen und in lächerliche Geschichten eintauchen. Oder such dir verdammt noch mal einen richtigen Mann. Aber bitte nicht wieder einen Verlierer, wie die drei, die du bisher angeschleppt hast. Einen, den man voller Stolz vorzeigen kann.“

„Schon gut, schon gut“, erwiderte Amy schnell, stand auf und nahm ihren Teller mit.

Erstaunt blickte ihre Mutter zu ihr auf. „Was machst du damit?“

Amy war versucht die Augen zu verdrehen. „Ich bringe ihn zurück in die Küche.“

„Das macht das Personal, Herrgott. Stell ihn hin“, schnaubte Helena.

Amy biss die Zähne aufeinander, tat jedoch, was ihre Mutter sagte, und eilte danach in ihre vier Wände.

Dort beobachtete sie vom Fenster aus kurz ihren Vater, der an seinen selbst gezüchteten Rosen roch, wofür er sogar seine Zigarette weggeschnipst hatte. Amy seufzte. Im Grunde war sie nur noch seinetwegen hier. Er tat ihr leid. Sie wollte nicht, dass er ganz aufgab, wollte ihm den Mut geben, den sie selbst brauchte.

Ihre Verwandtschaft war ein Ausbund an Intellektuellen, wie auch ihre Eltern. Ihr Vater besaß eine eigene Kanzlei in London, Mayfair, für Klienten, die gut betucht waren und bevorzugt nur mit ebensolchen Leuten verkehrten. Wobei bevorzugt noch milde ausgedrückt war. Vielmehr verachteten sie brotlose Künstler und Träumer oder gar Leute, die nicht imstande waren, Geld zu machen, viel Geld. „Wenn man sich anstrengt, erreicht man auch etwas. Als Mann ein absolutes Muss, als Frau sollte man zumindest vorteilhaft heiraten“, war schon die Devise der Eltern Helenas gewesen. Das hatte June Amy einst verraten, als sie wieder einmal enttäuscht und wütend über Helena war. Ihr Ermes und sie hingegen hatten Charles, ihren Sohn, zu nichts gezwungen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre und es ihn glücklich gemacht hätte, hätte er auch Eseltreiber werden können. Er allein hatte in die Rechtswissenschaften einsteigen wollen und sich hochgearbeitet, weil er ein Stück Gerechtigkeit in diese Welt bringen wollte, wie er einmal gesagt hatte. Als er Helena kennenlernte, war die gerade dabei gewesen, selbst Jura zu studieren. Allerdings aus ganz anderen Gründen als er. Für sie zählten allein die Karriere und das Geld, das man nach erfolgreichem Abschluss erwirtschaften konnte. Zudem wollte sie ihre Eltern stolz machen und liebte die hohen Kreise, in die sie das Ganze brachte. Nach der Verlobung legte sie das Studium jedoch nieder, zudem sie auch Alleinerbin der elterlichen Firma geworden war, die sie später verkaufte. Dafür nahm sie Charles unter ihre Fittiche und zeigte ihm, wie man erfolgreich wurde. Er selbst sagte inzwischen oft, dass er ohne ihre stählernen Regeln niemals ein guter Anwalt geworden wäre. Helenas Schwiegermutter June hatte das Streben ihrer Schwiegertochter nach immer Höherem nie verstanden. Charles blendete es lange aus. Besonders nach Amys Geburt war zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter ein Kleinkrieg ausgebrochen, da June auch der harte Erziehungsstil Helenas missfiel. Dafür bekam Amy von ihr und auch Charles, von ihm vornehmlich hinter Helenas Rücken, viel Liebe.

Amy machte es sich auf ihrer bunten Ausziehcouch bequem und betrachtete noch einmal das Buch. Ihr apartmentähnliches Zimmer erinnerte sie an eine Blumenwiese, was von Anfang an reine Absicht gewesen war. Amy mochte viele verschiedene Farben auf einem Fleck, so wie bei den Schirmen über dem Markt. Helena hingegen betrat ihr Reich selten, und wenn, dann immer mit einem stillschweigenden Würgen, das ihr ins Gesicht geschrieben stand.

„Es erinnert mich an deine Großmutter. Sie mochte es genauso chaotisch bunt. Und was ist am Ende aus ihr geworden? Verrückt und krank wurde sie. Nun ja. Verrückt war sie eigentlich schon immer, nur nicht ganz so offensichtlich. Da wusste es dann jeder, was ich immer schon gesagt habe. Selbst dein Vater“, hörte Amy die Stimme ihrer Mutter aus der Vergangenheit. Die Worte über June hatten Amy mehr verletzt, als es eine Ohrfeige je vermocht hätte.

Als sie schließlich die letzte Seite des Buchs aufschlug, durchfuhr ein Kribbeln ihre Fingerspitzen und ihr Herz schlug einige Takte schneller. Dass die Geschichte, die es enthielt, eine besondere war, spürte sie schon, bevor sie überhaupt die erste Zeile gelesen hatte. Die Schrift war zwar gedruckt, dennoch waren die Buchstaben geschwungen, als wären sie von Hand geschrieben worden. Als Kapitel wurde lediglich die Zahl zehn genannt. Sie selbst wählte immer kleine Titel. Zurückgelehnt begann sie, in die Zeilen und die Geschichte dahinter einzutauchen und sich in eine andere Welt ziehen zu lassen. Das Licht der Abendsonne fiel durch die hohen Halbbogenfenster mit den blaugrünen seidenen Schals und zauberte einen dünnen Fluss auf den Boden, der immer näher in ihre Richtung kroch. Amy vergaß ihre Mutter und die dunklen Gedanken in diesen Augenblicken. Schon allein deswegen mochte sie dieses Buch. Es war lange her, seit sie eines gelesen hatte. Meist schrieb sie, wenn sie Zeit hatte.

-10-

Durch das Fenster drang Tageslicht. Wenn auch nur für Sekunden durchbrach es die Dunkelheit, die in ihm wohnte. Ein dunkler Abgrund mit Mauern aus Beton. Keine Rose, nicht einmal Unkraut, würde hier Wurzeln schlagen können. Da war sich Holly sicher. Die Luft war stickig, schien immer dünner zu werden. Dünner als je zuvor. Liege ich schon im Sarg? Lebendig begraben mit gerade einmal fünfzig Jahren? Die Welt hinter der Scheibe schien ein eigenes Universum zu bilden, aus dem man sie ausgeschlossen hatte. Ihre Hände, dünn und blass, legten sich auf das kühle Glas. So sehr sie sich auch anstrengte. Die Fantasie war weg und damit die Welt hinter der Scheibe, die sie sich so oft erbaut hatte, um wenigstens in ihren Träumen ein Stück von ihr leben zu dürfen. Innerlich schrie sie einen Namen. Seinen Namen. Wieder und immer wieder. Matteo. Vor langer, langer Zeit, wie aus einem anderen Leben, hatte ihn der Wind mit sich genommen – unwiederbringlich, unwiderruflich, endgültig. In ein Land, das sie weder zu Fuß noch mit dem Flugzeug, Zug oder per Auto erreichen konnte. Er hatte gewollt, dass sie mit ihm zusammen aufbrechen würde, in die Freiheit. Nun blieb ihr nur die Hoffnung. Sie war ein kleines Samenkorn. Trotzdem wusste Holly, dass sie es in Wüstensand gepflanzt hatte. Dennoch war der Glaube an Wunder noch irgendwo vorhanden, wenn auch tief begraben unter einem Berg aus dunklen Erfahrungen. Sie hielt ihn fest, so fest sie nur konnte, als die Gedanken abermals zu fliegen begannen, durcheinanderschwirrten, bis ihr schwindlig wurde. Warum hat Harrison das getan? Mich hierher gebracht? In diesen Sarg voll gleißendem Licht, die Türen ohne Griffe, die Fenster vergittert, die Nähte geschweißt. Sie wusste, dass ihre Mutter dem ebenfalls zugestimmt, sie aufgegeben hatte, sich für sie schämte. Es stimmte nicht, was er ihr und sicher auch den Kindern erzählte: dass sie sich umbringen wollte. Nur war sie tatsächlich eine Gefangene, in sich selbst wie auch außerhalb. Aber nicht verrückt! Harrison hatte nicht einmal ein Abschiedswort gefunden, dafür böse Blicke, verachtende Blicke, höhnische Blicke. Sie war sich sicher, dass er sie hier allein lassen würde. Entsorgt wie eine alte Puppe.

„Dort bist du in Sicherheit. Vor dir selbst. Sei vernünftig, Holly“, hatte er noch gesagt.

„Erzählen Sie mir, wie Sie sich heute fühlen?“, fragte später die Ärztin, zu der man Holly schon ein paarmal gebracht hatte. Immer wieder wollte sie das Gleiche von ihr wissen. Sie arbeitete in der Klinik in Kensington. Holly hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war. Alles erstickte in Monotonie, auch wenn die Flurwände der Klinik mit bunten Kunstdrucken übersät waren. Heuchelei. Aus manchen Zimmern drang ein dumpfes Wimmern, die Leute hier drin wirkten allesamt wie Schatten auf Holly. Des Öfteren verzerrte sich ihr Blick, und sie kam sich vor wie in einem endlosen Tunnel. Wahrscheinlich waren es die Medikamente, die man ihr regelrecht einflößte, seit sie sich das erste Mal dagegen gewehrt hatte, diese zu schlucken. Dazu hatte man sie mit Gurten an ihrem Bett fixiert, was sie in Tränen ausbrechen ließ. Eine weitere Erniedrigung in ihrem Leben, die sie nie vergessen würde.

„Das sagte ich Ihnen schon die letzten Male. Ausgeliefert. Ich will hier raus, ich gehöre hier nicht her. Meine Kinder wollen nicht mit mir telefonieren. Ich bin mir sicher, dass Harrison ihnen davon abrät, ihnen irgendetwas Verrücktes über mich, ihre Mutter, erzählt. Er sagt, ich wollte mich umbringen. Zum tausensten Mal, das stimmt nicht“, hörte Holly ihre eigene Stimme wie von weit her.

„Sie sind völlig durcheinander. Aggressivität bringt uns jedoch nicht weiter, liebe Mrs. Goodwin.“

Holly schluckte. Die wenigen Worte hatten sie angestrengt. Schon wieder fühlte sich ihre Kehle an wie ausgetrocknet. Hörte diese Frau mit der spitzen, langen Nase und dem runden Gesicht, das von schulterlangem schwarzem Haar umrahmt war, ihr überhaupt richtig zu?

„Ich bin nicht aggressiv. Hören Sie, ich will nach Hause. Wenn man es so nennen kann. Ich bin völlig normal. Was genau hat mein Mann denn erzählt?“

„Lassen Sie uns nicht über andere reden, Mrs. Goodwin. Sie sind wichtig! Also, wie fühlen Sie sich?“ Die Ärztin faltete die Hände auf der weißen Tischplatte und sah Holly mit großen braunen Augen an. Ihr Blick war stechend, fast hypnotisierend, weswegen Holly, die ihr gegenübersaß, ihm auswich.

„Müde“, antwortete sie resigniert.

„Verstehe“, gab die Frau zurück und tippte auf ihrer Computertastatur herum.

„Aber ich verstehe nicht. Das hier … mich wegzusperren ist eine Straftat. Man sollte meinen Mann hierherholen. Ich möchte mit ihm reden, ich muss.“ Holly erhob sich. Wie konnte diese Frau nur so ruhig bleiben? Die Ärztin hob den Blick, das Gesicht ohne Regung.

„Waren Sie nicht schon einmal vor Jahren in einer ähnlichen Klinik? Hat es Ihnen damals nicht geholfen? Ihr Mann sagte ja.“

„Was hat das jetzt damit zu tun?“

„Ganz ruhig. Setzen Sie sich. Erzählen Sie mir …“, sagte sie in dem gewohnt ruhigen Ton, der Holly an Harrison erinnerte. Er schimpfte selten laut, oft nur so, dass sie es hören konnte.

„Das ist ein einziger Albtraum“, rief Holly und fasste sich mit beiden Händen in die Haare, um daran zu ziehen. Der Schmerz erinnerte sie daran, dass sie überhaupt noch lebte. Das und diese unfassbare Grausamkeit, die schlimmer war als jede körperliche Folter dieser Welt. Denn niemand, so hatte es den Anschein, wollte ihr helfen. Steckten sie etwa alle mit ihrem Mann unter einer Decke?

„Ein Albtraum, den Sie sich selbst erschaffen haben. Ihr Mann hat ihren Abschiedsbrief gefunden. Können Sie sich nicht vorstellen, dass er und Ihre Söhne nur das Beste für Sie wollen? Deshalb sind Sie nun hier“, ergänzte die Ärztin und tippte erneut etwas in den Computer.

Starr blickte Holly sie an und dann auf den Brief, den sie erst vor Kurzem geschrieben hatte. Ein Brief an Matteo. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen. Der letzte Satz des Briefs fehlte. Er war einfach abgeschnitten worden. Natürlich! Harrison wusste genau, was er tat.

„Ich hätte es wagen sollen. Damals“, sinnierte Holly laut.

„Was meinen Sie?“, wollte die Ärztin wissen.

„Auszubrechen“, entgegnete Holly leise und ließ sich kraftlos zurück auf den Stuhl sinken, denn sie ahnte, dass sie hierbleiben würde, vielleicht sogar bis zum Ende ihres Lebens. Eine innere Stimme sagte ihr deutlich, dass Harrison und auch ihre Mutter schon dafür sorgen würden.

Die Einladung

Amy hatte den Rest des Abends und die halbe Nacht damit verbracht, über das Schicksal Hollys nachzudenken, obwohl sie sie erst seit ein paar Zeilen kannte. Dennoch kam es ihr vor, als wäre sie so etwas wie eine Freundin, die sie am liebsten umarmt hätte. Vielleicht lag es auch oder vor allem daran, dass sie die Geschichte an June erinnerte.

„Ich hätte damals energischer sein sollen“, erzählte sie Geri, die neben ihr auf der Verandaschaukel saß und zusammen mit ihr die Beine und Gedanken durch den milden Spätsommertag baumeln ließ. Amy hielt sich an die Regeln, und auch wenn sie ihr zu gerne von dem Buch erzählt hätte, behielt sie diese Sache unter Verschluss, schwieg darüber.

„Was meinst du damit?“, fragte Geri, die später einmal eine eigene Psychologiepraxis eröffnen wollte. Das Studium hatte zwar viel mit Mathematik zu tun, was nicht gerade ihr Herzensfach war, aber bisher hatte sie auch das hervorragend gemeistert. Das sprach sie auch ihrer Mondphilosophie zu.

„Geraldine ist zwar manchmal ein bisschen aufmüpfig, aber das machen ihr Fleiß und Streben auf eine abgesicherte Zukunft wieder wett“, hatte Helena einmal bemerkt. Vor allem deshalb hatte sie ihrer Tochter den Freifahrtschein für die Freundschaft mit Geri gewährt, ohne den die ansonsten wohl nicht einmal das Haus hätte betreten dürfen. Jeder, der mit Amy zu tun hatte, wurde einer genauen Prüfung unterzogen und sie selbst behandelt, als wäre sie noch minderjährig, was mehr als anstrengend war. Aber sie hätte sich die Freundschaft nicht verbieten lassen. Alles ließ sie sich von Helena schließlich nicht gefallen.

„Ich meine damit Granny“, gab Amy seufzend zurück.

„Sie hat seit Jahren ihren Frieden gefunden, Liebes. Lass sie ruhen“, riet Geri und strich ihr über einen Arm.

„Aber so, wie sie sie behandelt haben, das hatte sie nicht verdient. Sie war nicht verrückt oder dergleichen. Sie hat nur einen Fehler gemacht: Sie hat gesagt, was sie dachte.“

„Und sie hat an Übersinnliches geglaubt, was für deine Mutter wohl noch schlimmer war“, erinnerte Geri.

„Ich weiß nicht, was schlimmer war für Mutter. Ich weiß nur, ich hätte damals für Granny sprechen sollen, als sie es nicht konnte, man sie entmündigt hatte. Nach dem Tod meines Großvaters hat sie sowieso immer mehr aufgegeben. Er liebte sie über alles und hat ihr immer zugehört, war ihr mit Respekt begegnet. Das weiß ich noch ganz genau, obwohl ich noch so jung war.“ Amy atmete tief durch und dachte wieder an Holly aus dem Buch.

„Du sagst es. Du warst jung. Gerade mal dreizehn. Und fünfzehn, als June gestorben ist. Und deine Mutter hätte damals wohl noch weniger auf dich gehört als jetzt.“

„Trotzdem“, sinnierte Amy weiter. „Ich hätte mehr tun müssen. Genauso habe ich nämlich damals gedacht: Sie würde sowieso nicht auf dich hören. Dann hätte ich eben mit einem Arzt reden müssen. Sie haben June so plötzlich in diese komische Anstalt eingewiesen, die sie ‚Heim‘ nannten. Ich weiß, dass Mutter Dad dazu überredet hat. Quatsch, im Grunde hat sie es festgesetzt. Mutter will nicht darüber reden, aber ich bin überzeugt, dass es so war. Sie sagte, Granny wäre nicht mehr sie selbst gewesen, hätte Geister gesehen, hätte sie angeschrien. In dem sogenannten Heim hat man Granny mit Medikamenten vollgepumpt. Eine Schwester meinte, sie würde durch alles und jeden hindurchblicken. Nur mich würde sie wahrnehmen. Damals bat ich Mutter inständig, sie solle Granny nach Hause holen, da sie dort, wo sie untergebracht sei, sichtlich zugrunde gehen würde. Mutter interessierte es nicht, und Dad schwieg aus Angst vor ihren Wutausbrüchen. Sicher wollte June mir noch etwas sagen. Beziehungsweise mich um Hilfe bitten. Sie wurde immer schwächer. Ein paar Monate später dann diese schreckliche Diagnose. Ich bin mir sicher, diese Ungerechtigkeit hat den Krebs erst sprießen lassen.“

„Gedankenstopp!“, rief Geri. „Lass uns lieber etwas unternehmen. Du ziehst dich immer mehr zurück und runter. Entweder in eine dunkle Gedanken-, Blumen- oder Geschichtenwelt. Weißt du, was in meinem Mondkalender für den heutigen Tag steht? Dass Unternehmungen sehr fruchtbar enden werden.“

„Du und dein Mond. Und was meine kleine Welt angeht, dort fühle ich mich wenigstens wirklich zu Hause. Also, in meinen Geschichten und bei den Blumen, meine ich“, entgegnete Amy.

„Deine Freundin hat absolut recht. Du musst mal raus. Es ist Samstag. Die Sonne scheint. Tante Amber hat Geburtstag“, hörte sie Helenas Stimme von der Verandatür aus. Amy war sich sicher, dass sie sie schon eine Weile belauscht hatte.

Tante Amber war eine von Helenas Schwestern, die sich schon in jungen Jahren einen Millionär geangelt hatte. Zwar hatten die zwei auch Kinder, doch die ließen sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr blicken. Albert und John gehörte ein Immobilienimperium in Dubai, worauf ihre Eltern sehr stolz waren. Allerdings gab es einen Haken, der lieber unerwähnt blieb. Dennoch war eines Tages durchgesickert, dass beide Söhne in Liebesdingen rein dem männlichen Geschlecht zugeneigt waren. Wahrscheinlich, so dachte Amy, halten also nicht sie sich von der Familie fern, sondern umgekehrt.

„Geri kann natürlich mitkommen und von ihrem Studium erzählen. Du kannst dort ja erwähnen, nur erwähnen, dass du ein solches auch bald in Betracht zu ziehen gedenkst. Dann vergesse ich auch, was du zuletzt gesagt hast, Amy. Die Feier ist heute Abend. Es kommen auch viele Freunde der Familie.“

Amy ahnte, was sie damit sagen wollte. „Ambers Geburtstag habe ich ganz vergessen“, flüsterte sie.

Helena seufzte. „Das dachte ich mir schon.“

„Wir hatten schon was anderes geplant“, erwiderte Amy schnell und sah Geri flehend an.

„Du kommst mit. Es ist schließlich ein runder Geburtstag, ihr fünfzigster. Dein Geschenk für sie habe ich bereits besorgt. Sicher ist sicher. Passende Kleidung für solche Anlässe kennst du ja.“ Helena lachte gekünstelt.

Amy graute schon jetzt vor der Party. Bisher hatte jede einzelne Verwandtschaftsfeier, der sie beiwohnen musste, etwas von übersüßten Backwaren gehabt. Unecht und übertrieben. Sich Helena zu widersetzen und ihre Launen danach auszuhalten war allerdings schlimmer. Auch wenn sie sich dafür hasste, biss sie die Zähne zusammen, denn einen Lichtblick gab es ja. Sie blickte zu Geri. „Bitte komm mit. Das würde mich wirklich sehr freuen, nein, sogar retten. Sei meine Heldin. Denk daran, Unternehmungen für heute fallen fruchtbar aus.“

„Oder furchtbar“, flüsterte Geri, die Amys Verwandtschaft von Erzählungen fast auswendig kannte.

„Na, du willst doch wohl deinen Mond nicht beleidigen“, gab Amy zu bedenken.

Geri blickte an ihr vorbei zu Helena und dann wieder zu Amy. „Ich habe doch nicht einmal ein Geschenk.“

„Nimm dir ein paar von Charles Rosen“, sagte Helena.

„Ich glaube nicht, dass ihm das gefallen würde, Mutter.“

Helena winkte desinteressiert ab, aber Amy hatte schon eine bessere Idee. „Ich habe den Schlüssel für den Laden und darf ihn betreten, wann immer ich will. Du kannst dir dort etwas aussuchen, ich bezahle es am Montag.“

„Ich weiß nicht.“

„Noch einmal. Bitte rette mich“, flüsterte Amy und blinzelte ihr zu.

„Mist aber auch! Deinen grünen Hundewelpenaugen kann ich nicht widerstehen. Und ja, ich vertraue dem Mond“, entgegnete Geri und erntete prompt eine Umarmung.

Auch wenn der kleine Laden mit den Rundbogenfenstern versteckt in einer Gasse lag, war er immer sehr gut besucht. In den zehn Jahren, in denen es ihn nun schon gab, war er immer mehr zum Geheimtipp unter Blumenliebhabern geworden. Amy sah es als großes Glück an, dass sie hier ihre Ausbildung hatten machen können. Der Chef, Mr. Paul Bluebell, war äußerst reizend und hatte immer ein offenes Ohr für sie. Zu ihrer Anfangszeit hatte vor allem Lesley Bluebell den Laden geführt, war dann aber leider gestorben. Plötzlich und unerwartet hatte sie eines Nachts eine Hirnblutung erlitten. Amy und Mr. Bluebell hatten lange gebraucht, um ihren Tod zu verarbeiten. Damals hatten sie sich gegenseitig gestützt und den Laden, das Baby Lesleys, weitergeführt. Seitdem florierte er immer mehr.

„Was auch an deiner kreativen Seele liegt und an deinem Fingerspitzengefühl. Ich glaube, in jeder deiner Fingerkuppen schlägt ein eigenes Herz für Blumen“, hatte Paul sie unlängst gelobt, was Amy ganz verlegen machte. Sie liebte den Duft der Blumen, ihre Zartheit und Eleganz, die magische Schönheit. Als sie die Ladentür öffnete und das kleine Glöckchen über ihr ertönte, um ihren Besuch anzukündigen, legte sich ein Strahlen auf ihr Gesicht, das ihrer Freundin sofort auffiel.

Sie lächelte. „Du liebst diesen Job wirklich. Das sieht man.“

Amy erwiderte es. „Auf alle Fälle würde ich ihn gegen keinen anderen Job dieser Welt eintauschen wollen. Es ist wie mit dem Schreiben – eine Berufung.“

„Und deshalb bist du auch so gut darin“, ergänzte Geri.

Sie griff nach einem Gesteck aus blauen Orchideen, umhüllt von champagnerfarbenen Perlenketten, gebettet auf einem Herz aus Moos, in dem ein Zettel mit Wellenrand steckte: Blumen sind Form gewordene Worte der Liebe und der Beweis, dass es den Himmel wirklich gibt.

„Das ist wunderschön. Das Gesteck und dieser Satz. Von wem ist er?“

Stolz erfüllte Amy. „Von mir. Mr. Bluebell findet die Idee mit den Sprüchen gut.“

„Das ist nicht nur gut, Amy.“

„Danke. Ich hatte schon Angst, es wäre vielleicht zu kitschig.“ Amy merkte, dass sie errötete.

„Die Welt ist oft so kalt, da kann stilvoller Kitsch nicht schaden.“ Geri zwinkerte ihr zu. „Es ist wirklich toll. Und nun komm. Ich weiß noch gar nicht, was ich anziehen soll. Kannst du mir vielleicht etwas leihen? Ich besitze kein Abendkleid.“

Da sie beide schlank waren und auch dieselbe Größe hatten, war das kein Problem.

„Ich erinnere mich, dass ich früher einmal in Jeans, Turnschuhen und Pulli zu einer Feier von Tante Juleen kommen wollte, die auch wie Amber in London wohnt. Mein Gott, meine Mutter hätte mich fast umgebracht. Seitdem bringt sie mir immer wieder einmal ein Kleid mit. Also habe ich genug davon. Nimm dir, welches du magst.“

Geri machte große Augen. Man sah ihr an, dass sie kurz vor einem Schweißausbruch stand, weshalb Amy ihr schnell noch einen Kuss auf die rechte Wange drückte. „Nochmals danke.“

„Die Rechnung wird unbezahlbar für dich“, scherzte Geri.

Wieder zu Hause, fiel ihr die Auswahl genauso schwer wie Amy selbst. In Unterwäsche und schwarzen High-Heels standen sie vor dem Bett, auf dem Amy die Sammlung ihrer Abendgarderobe fächerförmig ausgebreitet hatte. Die Kleider sahen allesamt aus, als wären sie einem Märchen entsprungen.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die hast du alle von Aschenputtel und Dornröschen geklaut. Puhhh. Gar nicht mein Stil.“

„Ich mag es auch lieber hip. Aber meine Tanten stehen auf solche Art Kleidung bei Familienfesten. Viel Glanz und Gloria. Schließlich fühlen sie sich auch königlich.“

Geri blickte immer unglücklicher drein. „Dann besetze ich noch dein rotes, langes Haar mit Blüten und Federn, und du wirst der Star des Abends sein“, flüsterte sie.

„Ich trage Zopf, wie meistens, und zwar ohne Chichi. Basta“, erklärte Amy, schnappte sich ihre Bürste und einen schwarzen, einfachen Gummi, während Geri nachdenklich einen Finger gegen ihre Lippen stippte. Ihr blondes, keck geschnittenes Haar saß perfekt.

„Wir könnten es tatsächlich hip machen“, sagte sie dann und zwinkerte Amy zu.

Normalerweise besuchte Amy das mit bunten Häusern bestückte Chelsea, in dem viele berühmte Persönlichkeiten wohnten, nur im Mai. In der letzten Woche des Monats fand dort die Chelseas Flower Show statt, in der über sechshundert Aussteller weltweit in über fünfzig gestalteten Gärten ihre Kunst und ihr Können sowie neue Züchtungen vorstellten. Besonders liebte sie Orchideen.

Amy begann zu träumen. „Sie sind so zart und unglaublich schön. Allein ihre Form ist göttlich. Ihre Blüten sehen aus wie kleine Seelen.“

„Wie kleine Seelen?“, fragte Geri, während sie sich noch einmal prüfend im Spiegel betrachtete. Der roséfarbene Stoff passte perfekt zu ihrem blonden Haar und den rehbraunen Augen. Geri hatte die Kleider gekürzt, sodass sie ihnen bis zu den Knien reichten. Das gefiel auch Amy viel besser, wenngleich sie erst gar nicht an die Reaktion ihrer Mutter denken wollte. Aber nun war es zu spät.

„Als Kind hatte ich einmal einen Traum. Ich sah mich auf einem Felsen stehen, umgeben von fliegenden Lichtwesen. Jemand in dem Traum sagte mir, dass es glückliche Seelen wären. Seitdem denke ich, dass sie so aussehen. Immer wenn das Wort Seele fällt, kommen mir sofort die Blüten der Orchideen in den Sinn.“ Amy seufzte sehnsüchtig.

„Falls es so etwas überhaupt gibt. Du hattest schon immer eine wortwörtlich blühende Fantasie. Aber der Gedanke gefällt mir. Also los komm. Deine Eltern warten schon“, entgegnete Geri und nahm die Blumen für Amber.

Helena stockte sichtlich der Atem in ihrem langen roten Cocktailkleid mit der Seidenstola, als Geri und Amy zu Charles weißem Mercedes Cabrio schritten, das dieser schon einmal aus der Garage gefahren hatte. Es war eines von drei Autos, die er und seine Frau besaßen. Helena zog ihm die Zigarette aus dem Mundwinkel und zertrat sie mit der Spitze ihres schwarzen Stöckelschuhs. Die Diamantkette um ihren botoxbehandelten Hals funkelte mit ihren Augen um die Wette.

„Was hast du mit den Kleidern angestellt, Amy?“, rief sie und holte Luft.

Charles schürzte die Lippen und zuckte die Schultern.

„Sieht doch hübsch aus.“

Für seinen Kommentar erntete er von Helena einen kleinen Ellbogenstoß. „Du holst gefälligst den Rolls Royce. Oder du schließt das Dach des Cabrios.“

„Oder wir nehmen den Porsche. Oh, nein, geht ja nicht. Der ist ja in der Werkstatt. Warum nicht das Cabrio, Liebling?“, bemerkte er.

Helena bedachte ihn mit einem kühlen Blick. „Hast du Tomaten auf den Augen, Charles? Meine Hochsteckfrisur duldet keinen Wind. Also den Rolls. Und denk an das Geschenk für Amber.“