eins zu hundert - Achim Dunker - E-Book

eins zu hundert E-Book

Achim Dunker

4,4

Beschreibung

Der Filmemacher und Hochschuldozent Achim Dunker erklärt unterhaltsam und provokant die Möglichkeiten der Kameraarbeit und deren Verbindung zu den anderen Aspekten des Filmemachens. Durch seinen ganz eigenen, stets professionellen Blick zeigt sich vermeintlich Bekanntes, wie Einstellungsgrößen, Bildgestaltung oder Kameraperspektiven, in überraschend neuem Licht und verführt uns zum exzessiven Filmeschauen, um der Kameraarbeit auf die Schliche zu kommen. Achim Dunker nimmt uns an die Hand, um 'Sehen' zu lernen und geht dabei ungewöhnliche Wege: Er stellt u.a. die Kameraästhetik von 'Vom Winde verweht' 'Slumdog Millionaire' gegenüber, zeigt uns mit einem Daumenkino den Unterschied zwischen Kamerafahrt und Zoom und wir erfahren, was 'Der Pate' mit Rembrandt zu tun hat. Immer regt er zum aktiven Ausprobieren an und verlockt zum eigenständigen Denken und Sehen. Mit aktuellen, klassischen und avantgardistischen Filmbeispielen sensibilisiert er unsere Wahrnehmung und lädt unser inneres Bildarchiv auf. Er führt uns mit Geschick und Raffinesse durch einen spannenden Parcour von Beobachtungen, Assoziationen und Fachwissen. Mit der zweiten Auflage zeigt Achim Dunker die Unterschiede zwischen Filmkamera- und Fotooptiken, er entzaubert den Mythos 'Filmlook', löst die Frage, was fotografische Filter leisten können, und führt uns in das Filmen mit DSLR-Kameras ein. Blog des Autors: http://chinesische-sonne.blogspot.com/

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[1][2][3]Achim Dunker

eins zu hundert

Die Möglichkeiten der Kameragestaltung

2., überarbeitete Auflage

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München

[4]Praxis Film Band 72

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.

1. Auflage 2009 2. Auflage 2012

ISSN 1617-951X ISBN (eBook) 978-3-86496-013-0

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandfoto: © Getty Images

UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98www.uvk.de

[5]Für Jane, Urip und Suryan

[6][7]Inhalt

Vorwort zur Erstauflage

Vorwort zur zweiten Auflage

eins

2.   Positionsbestimmung

3.   Die Einstellungsgrößen

Panorama

Totale

Halbtotale

Halbnah

Amerikanisch

Nah

Groß

Detail

Pick up

Über das Finden des Ausschnitts

4.   Die Cadrage

5.   Optik

Perspektive

Brennweite

Abbildungsfehler

Blende

Schärfe und Auflösung

Format und Brennweite

Schärfentiefe oder Tiefenschärfe

Vergütung

Normalobjektiv

Weitwinkel

Lange Brennweite

Makroobjektiv

Die Besonderheiten von Filmkamera-Optiken

Vorsätze

6.   Wahrnehmung

Kontrast

Farbe

Schärfe

Räumliches Sehen

Größenkonstanz

Empfindlichkeit

7.   Intellektuelle Schärfe

8.   Das Bildformat

9.   Seitenverhältnisse

10. Open Matte

Kamerasucher

11. Gestaltung

[8]12. Die »Pause« im Buch

Herzlich willkommen zum Daumenkino. Was ist eine Fahrt und was ist ein Zoom?

13. Bildgestaltung und Kamerabewegung

Fahrt versus Zoom: Die Unterschiede im Detail

Die seitliche Fahrt im Vergleich zum Schwenk

Berühmte Kamerafahrten

Zoom oder Fahrt, was ist besser?

Die Manipulation der Zeit in der Kamerafahrt

Form und Inhalt

14. Die nie gefilmte Eröffnungsszene

15. Auf die richtige Dosis kommt es an

16. Der Filmschnitt

17. Teamwork

Interview mit Reinhart Peschke

Interview mit Michael Ballhaus

18. Das »theoretische Filmlicht« in der Malerei

Die fotografierte Renaissance-Malerei

Die Hell-Dunkel-Malerei des Barock

Das Kerzenlicht in der Malerei

Der Übergang zur Neuzeit

19. Das »Licht der Malerei« im Film

Vermeer-Stil

Rembrandt-Stil

Caravaggio-Stil

Das Kerzenlicht in der Filmgeschichte

20. Auf der Suche nach dem perfekten Licht

21. Ein Beispiel für eine bildgestalterische Umsetzung

22. Der Umgang mit komplexen Systemen

23. Was machte die Avantgarde?

Nouvelle Vague

Neuer Deutscher Film

Dogma 95

Und sonst?

Aktuelle Avantgarde?

Dumm gelaufen – oder Kultstatus erlangt!

24. Der nötige Know-how-Gewinn

Kameras

MiniDV

Super 8

Fotoapparate mit HD-Funktion

Filmlook, was ist das?

DSLR, Videokamera, Smartphone oder doch Film?

hundert

So, genug gelesen

Herzlichen Dank an

[9]Vorwort zur Erstauflage

Bei Anruf: Buch

Wie ein spannender Film ist dieses Buch zu lesen. Achim Dunker, selbst Filmemacher und Regisseur, gestaltet sein Buch über Kameraarbeit mit dramaturgischen Kniffen. Er geht ungewöhnliche Wege darin, er ist frech, provokant, weiß zu überraschen.

Sein Standardwerk über Lichtgestaltung1 dient seit Jahrzehnten Kameraleuten als Einstieg in ihr Handwerk. In seinem neuen Buch schreibt Achim Dunker mit dem Blick des Filmemachers und mit dem Ziel, das vermeintlich Altbekannte über das Bildermachen neu zu erzählen. Bewusst arbeitet Achim Dunker kaum mit Quellen aus anderer Fachliteratur. Vielmehr beschäftigt er sich mit dem, worum es geht: dem Sehen lernen. Dafür arbeitet er mit zahlreichen konkreten Beispielen, nimmt Bezug auf viele einzelne Filmszenen. Alle diese Filme sind verfügbar auf DVD oder über Internetquellen ausleih- oder downloadbar.

Die Lektüre verführt zum Filmeschauen, um der Kameraarbeit auf Spur und Schliche zu kommen. Wussten Sie, dass man beim Sichten eines Films im Schnelllauf beim Durchrauschen der Bilder die Kamerabewegungen besonders gut erkennen kann, die einem Film seine charakteristische Bewegungsart geben? Achim Dunkers Buch sensibilisiert das Augengefühl und lädt das innere Bildarchiv auf.

Vergnüglich fungiert der Autor als Entertainer und führt seine Leserschaft mit Geschick und Raffinesse durch einen ungewöhnlichen und überraschenden Parcour von Beobachtungen, Assoziationen und Fachwissen. Dabei folgt er ganz bewusst keinem Kanon, sondern eröffnet einen gänzlich neuen Blick auf das Arbeiten mit der Kamera, um Bilder zu machen.

Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Künstlerinnen und Künstler hinter der Kamera. In Außendarstellung und Presseberichterstattung kommen die Menschen, welche die Bilder erschaffen, häufig zu kurz. Achim Dunker nimmt direkt Kontakt zu den Filmkünstlern der Kameragestaltung auf und fordert Rückmeldung zu den Bildern, die sie geschaffen haben. Dunker hört hin, arbeitet ihre Beschreibungen heraus. Der Schaffensprozess lässt sich in Worte fassen. Gestalterische Praxis ist beschreibbar als Weg von Fantasie, Denken, Intuition über Austausch bis zur Umsetzungsarbeit. Wer hat bei wem gelernt? Abseits von reduzierenden Kategorisierungen [10]und Definitionen von Stilepochen schaut Achim Dunker den Regie- und Kamerateams über die Schulter, fragt sie nach dem Entstehungsprozess ihrer Bilder. Für den Leser diskutiert Achim Dunker die Frage: Wie entwickle ich ein Bild? Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Faktor Bewegung. Gestalt, Gesicht und bewegter Körper eines Films entstehen aus dem Zusammenwirken von Statik, Bewegung und Montage.

Es gelingt Dunker, Sprache und Text wie den Blick durch ein Kameraauge zu gestalten. Es entstehen wirkungsvolle Bilder mit mehreren Bedeutungsebenen. Komplexe Inhalte werden anschaulich gezeigt, ohne kanonisch und kategorisch zu sein. Vielmehr gibt Dunker Anregungen zum aktiven Ausprobieren, er verlockt zum Filmeschauen und zum eigenständigen, schrägen Denken, Sehen und Blicken. Das Buch eröffnet Zugang zum bewussten, genussvollen und inspirierten Tun. Dunkers Buch fordert auf zum aktiven Tanz mit Kamera und Blick, Welt und Abbild.

Prof. Dr. Andrea Gschwendtner (Professorin an der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation)

Köln, im März 2009

Vorwort zur zweiten Auflage

Der Wechsel zur »Digitalen Kinematografie« ist komplett vollzogen, das war einmal… Neue Techniken bringen neue Verluste und Möglichkeiten. »Das haben wir schon immer so gemacht«, funktioniert auf einmal nicht mehr. Daher ist es wichtig, sich in den Grundlagen, der »ewigen Basis des filmischen Handwerks« gut auszukennen, denn von einem gut ausgerüsteten Basislager findet sich leichter ein neuer Weg zum Gipfel. Daher wurden in dieser zweiten Auflage die Grundlagen der Technik stärker thematisiert. Der Ausblick für die dritte Auflage: die Formulierung einer Bildästhetik für Hochformat-Filme, denn an vielen Plätzen gehören hochformatige Flachbildschirme zur urbanen Architektur.

Juni 2012        Achim Dunker

[11]eins

Der Mensch hat ein Gesichtsfeld, in der Horizontalen vom linken Rand des linken Auges bis zum rechten Rand des rechten Auges. Das sind weniger als 180 Grad. In der Vertikalen vom oberen Rand bis unteren Rand, das sind geschätzt vielleicht 130 Grad. Mit einem beliebigen Abbildungssystem wird das Rechteck der individuellen Wahrnehmung auf Film gebracht oder über fotoelektrische Chips in digitale Daten gewandelt.

Da nicht immer das gesamte Bild dargestellt werden soll, gibt es sieben Einstellungsgrößen, die den Bildraum auf das gewünschte Maß reduzieren:

Panorama

Totale

Halbtotale

Halbnah

Nah

Groß

Detail

Drei Kameraperspektiven sind wichtig:

Oberhalb der Augenhöhe

Auf Augenhöhe

Unterhalb der Augenhöhe

Zwei Arten von Filmlichts gibt es:

Gestaltetes Licht

Vorhandenes Licht

Zum Filmemachen reichen diese skizzenhaften Überlegungen aus. Ja, es ist mehr als genug. Der Kater Mr. Lee2 hat coole Aufnahmen von seinen Touren mitgebracht, ohne irgendwas zu wissen, außer, wo sein Fressnapf steht. Im Fernsehen gibt es Reality-Formate, die mit Überwachungskameras gefilmt werden. Der [12]»Schrauber«, der die Kamera in die Ecke montiert, kennt sicher sieben unterschiedliche Bohrmaschinen und deren individuelle Stärken. Aber kennt er die sieben Bezeichnungen der Einstellungsgrößen? Ob Hilti oder Nah, egal. Millionen Menschen schauen sich das gerne an. Also warum etwas wissen wollen?

Es gibt aber auch andere Beispiele für einen sehr einfachen Stil, beispielsweise in »Die Reise nach Tokyo3«, einem japanischen Film aus dem Jahre 1953. Dieser Film gilt als das bekannteste Werk des Regisseurs Yasujiro Ozu und wird regelmäßig als einer der besten Filme aller Zeiten bezeichnet. Die wesentlichen Stilelemente waren Schwarz-Weiß, eine untersichtige Kameraperspektive, eine unbewegliche Kamera (nur zwei Kamerafahrten innerhalb von 136 Minuten) und frontaler Schuss und Gegenschuss bei Dialogszenen. Mehr nicht!

Fürs Filmen reicht das bisher Gelesene eigentlich aus. Wer jetzt neugierig geworden ist, mehr zu erfahren, dem empfehle ich die nächsten hundert oder noch besser: zweihundert Seiten. Daher rührt auch der Titel »eins zu hundert«.

[13]2. Positionsbestimmung

Der Inhalt dieses Buches und auch der anderer Bücher ist jeweils ein »gegisster Ort«. So würden es jedenfalls die Seeleute vergangener Tage sagen, die von einer bekannten Position losgesegelt sind und nach gemessener Zeit unter Berechnung der Geschwindigkeit und der mit dem Kompass kontrollierten Richtung ein Kreuz in das Gitternetz der Seekarte gezeichnet haben. Nichts weiter als ein, nach den Regeln der nautischen Mathematik, »vermuteter« Standort. Erst eine Landmarke, ein Seezeichen, ein Leuchtfeuer am Horizont oder eine astronomische Berechnung machten aus dem (vermuteten) Koppelort einen »beobachteten Ort«. Betrachten Sie dieses Buch als einen Koppelort, als Startpunkt für Ihre eigene Navigation. Die hier beschriebene Position ist nicht so sehr der Endpunkt meiner Entwicklung, sondern vielmehr der Ausgangspunkt für eigene Dinge. Die geschriebenen »Weisheiten« sind Schnee von gestern oder gar vorgestern. Das, was in vergangenen Tagen als ewig unumstößlich galt, ist heute so mega-out, dass es schon wieder kultig ist. Der Dalai Lama formuliert Folgendes als Ratschlag für das dritte Jahrtausend:

Lerne die Regeln, um sie richtig zu brechen!

Nichts motiviert mich so wie ein neues Filmprojekt. Aus jeder Sinn- und Daseinskrise zieht mich ein »Filmstreifen« heraus. Mit der Abschlusspräsentation und der Premiere sind die Mühen und Probleme fast vergessen, und der Wunsch nach einem neuen Stoff, nach einer neuen Umsetzung entsteht. Jeder nachfolgende Film setzt den vorangegangenen Film fort, jede Filmarbeit ist das Training für den nächsten Streifen. Jedes Projekt hat seine eigenen Herausforderungen, seine Klippen und Untiefen, die es zu umschiffen gilt. Manchmal gelingt es perfekt, manchmal gelingt es weniger, und manchmal nimmt der Filmemacher die Schwächen seines Werks gar nicht wahr. So geht es mir auch, aber für mich ist das Filmemachen immer ein Lustgefühl. Worte, Ideen und Stimmungen in Bilder umzusetzen, damit diese Bilder dann wieder Gefühle, Wahrnehmungen und Emotionen auslösen, bereitet mir ein Höchstmaß an Befriedigung. Voller Ideen an einen Stoff heranzugehen, sehen, wie sich das Thema entwickelt, auch wie die Überlegungen in manche Sackgasse geraten, dann nach Auswegen suchen und um Lösungen ringen, nicht wissen, wie es weitergeht, improvisieren… dann schließlich springt der Knoten auf, das Rätsel ist gelöst und ein Ergebnis ist da, mit dem alle zufrieden sind.

[14]Mit hochmotivierten, begabten, künstlerischen Menschen etwas gemeinsam zu schaffen, kreative Energien auszutauschen, Anregungen zu erhalten, neue Dinge zu erlernen, an den eigenen Ansprüchen und an den Ideen Anderer zu wachsen ist so herausfordernd und elektrisierend, dass der Gedanke für mich unvorstellbar ist, eines Tages keine Filme mehr zu machen, denn das Machen ist das Entscheidende. Wie für manche Maler der Vorgang des Malens wichtiger ist als das fertige Bild, ist für mich das Konzipieren, Drehen und Schneiden wichtiger als der fertige Film. Für den Betrachter ist es das Ergebnis, das fertige Bild, zu dem er Zugang findet (oder auch nicht), das er dechiffrieren, interpretieren, verstehen, und zu dem er vielleicht eine Verbindung eingehen kann. Vielleicht gelingt es sogar, den Zuschauer zu packen, mit unserer Botschaft »unter seine Haut« zu gelangen und ihn emotional zu fesseln. Aber für mich selbst ist es der Schaffensprozess, das Unterwegs-Sein mit dem Stoff, mit der Geschichte, mit den Figuren und den Charakteren. Der Erfolg, die Anerkennung, das Lob von anderen – »He, du hast einen guten Film gemacht« – ist das Sahnehäubchen, aber es ist das »Kuchenbacken«, das mir den Spaß bringt.

Nun denn, lasst uns das Mehl auf die Tischplatte sieben und in die Mitte zwei Eier reinschlagen…

Auf den einfachsten Nenner gebracht, möchte ich das Essenzielle beim Filmemachen so fassen:

Das Wesentliche sind Rhythmus und früher Feierabend!

Vielleicht provokant oder sogar albern, ich weiß, aber als persönlicher Leitsatz einfach zu merken. Diese Kurzformel ist sicher etwas irritierend, verwunderlich oder völlig absurd! Stimmt vielleicht. Aber es gibt genügend schlechte, ärgerliche und vor allem überflüssige Filme, bei deren Produktion diese beiden Grundregeln – Rhythmus und früher Feierabend – nicht beachtet wurden. Wahrscheinlich hat Ignoranz die Projekte scheitern lassen.

Rhythmus, das ist der Herzschlag, der Motor und das »Sesam öffne dich« für jeden Film. Die Bilder, Farben, Bewegungen, Dialoge, Gefühle und Stimmungen. Das ganze Wahrnehmbare, das irgendwann am Ende herauskommen soll. Alle Mosaiksteinchen des »Stoffes, aus dem die Träume sind«, müssen in der gewünschten Weise zusammenwirken. Ein visueller, emotionaler Rhythmus ist viel mehr als die Summe der Einzelteile, aus denen er besteht. Er soll den Zuschauer »wowen«, die Geschichte ins Hirn und in sein emotionales Zentrum transportieren, wo immer das sein mag. Damit, um es im Jargon der hilflos-bettelnden Fernsehmoderatoren zu sagen, der Zuschauer dranbleibt.

[15]Der »frühe Feierabend« steht für wirtschaftliches, effektives und zielgerichtetes Arbeiten, nicht unbedingt dafür, um 14.30 Uhr den »Hammer« (besser nicht die Kamera) fallen zu lassen. Die Arbeitszeit bei Dreharbeiten ist oft sehr lang, beginnt und endet zu unmöglichen Zeiten. Jeder aus der Filmcrew akzeptiert das, selbst die Morgenmuffel und notorischen Langschläfer. Aber der morgens mitgebrachte Motivationsbonus ist schnell aufgezehrt, wenn Missmanagement, Ignoranz und Dilettantismus den Arbeitstag lang und länger werden lassen. Mit einer demotivierten und frustrierten Crew lässt sich keine große Kunst produzieren. Wahrscheinlich gar nichts. Außerdem ist das Team auch vom ›normalen‹ Arbeiten nach acht bis zehn Stunden erschöpft, sodass nicht mehr die nötige Leistung und Konzentration aufgebracht werden können. Das Ergebnis würde dann eher dürftig ausfallen.

Die Basis ist Handwerk. Der isländische Literatur-Nobelpreisträger Halldór Laxness lässt in seinem Roman »Am Gletscher« einen Bischof sagen: »Man muss nur wollen, der Rest ist Technik.« Das macht Mut.

Wer bis hierhin meinen Überlegungen gefolgt ist, hat den Beweis des Wollens erbracht. Dann wenden wir uns der Technik und dem Handwerk zu. Beginnen wir mit dem Sichtbaren, den Bildern:

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte!

Stimmt das wirklich und immer? Kann sich der Filmer darauf verlassen? Womöglich blind verlassen? Nun, das auffälligste Indiz dafür, dass es wohl nicht ganz so stimmt, ist der radikale Erfolg des Tonfilms. Zum ersten und bisher einzigen Mal ist es vorgekommen, dass eine neue Kunstform eine alte Kunstform vollständig abgelöst und verdrängt hat. Wobei der Stummfilm zum Zeitpunkt seiner Ablösung ja auch noch nicht alt war. Viele Kameraleute, Regisseure, Schauspieler und Produzenten haben es bedauert und bedauern es auch noch heute, so beispielsweise der mehrfache Oscar-Preisträger Vittorio Storaro. Für ihn bedeutete die Einführung des Tonfilms einen so starken Abbruch der filmsprachlichen Entwicklung, dass er sie lieber fünfzig Jahre später gesehen hätte. Zwar schafften es Regisseure vom Format eines Friedrich Wilhelm Murnau oder Charles Chaplin, noch erfolgreiche Stummfilme mit Ton wie beispielsweise »Lichter der Großstadt« zu drehen. Aber die Zeit war vorbei. Sei’s drum, letztendlich kommen dem Ton und der Sprache heutzutage eine sehr hohe, meistens unverzichtbare Bedeutung bei. Wie wär’s denn mit dem umgekehrten Fall?

[16]Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder!

Visualisiert ein Haiku von Buson4 mit den üblichen siebzehn Silben mehr als tausend Bilder?

Für dich, der fort geht, Und für mich, der zurückbleibt, sind es zwei Herbste!

Durch die hohe sprachliche Verdichtung schafft es Buson, viele Ebenen anzusprechen und Assoziationen zu wecken. Ein Wort kann tausend Bilder auslösen und in Gang setzen. Das ist das Mirakel, und das Geheimnis liegt in der Kunst, Worte und Dialoge so miteinander zu verbinden, dass es mehr ist als eine gegenseitige Illustration.

Langsam gelesen ist der Haiku ein Vortrag von ungefähr zwölf Sekunden. Rein technisch gesehen entsprechen zwölf Sekunden Film bei einer Geschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde 288 einzelnen Filmbildern. Je nach Geschmack und Auffassungsgabe lassen sich die zwölf Sekunden in vier bis fünf oder mehr flotte Schnittbilder montieren, die schon etwas erzählen können. Aber ich glaube nicht, dass die Themen Fortgehen, Abschied nehmen, Zurückbleiben und Herbst in nur vier bis fünf Einstellungen so eindringlich visualisiert und erzählt werden können, wie Buson es macht. Allerdings ist es eine schöne Herausforderung, es zu probieren:

Lösende Umarmung zweier Menschen, Hände die auseinander gleiten, Tiefe Blicke Fallende Blätter Grauer Regen, der an Fenster prasselt

Visueller Kitsch? Kann schon sein, es liest sich ja wie der Bildtrack zu einem Karaokesong. Dies ist hier aber nicht die Frage, sondern der Ansporn ist, das Fortgehen und das Zurückbleiben, die subjektive Sicht und die parallele Herbststimmung bildlich darzustellen. Ich hätte natürlich auch ein einfacheres Beispiel nehmen können…

Haikus sind ein gutes gedankliches Trainingsfeld, Visualisierungen zu üben. Insgesamt 17 Silben, drei Zeilen im Rhythmus 5-7-5 Silben. Andere formale Bedingungen [17]lasse ich für diese gedankliche Übung außer Acht. Die mentale Verbindung von Emotionen und Bildern, das übt ungemein, schärft den Blick für das Wesentliche und trainiert die Auffassungsgabe. Das macht fit für die kurze Form.

– Herbst – Fallende Blätter

Zeige ich dort ein einzelnes Blatt oder Tausende, oder gar ein riesiges buntes Waldgebiet des Indian Summers, vielleicht sogar im Zeitraffer?

Womit wir jetzt neben allen anderen Aspekten bei den Einstellungen angelangt sind. Der Begriff »Einstellung« bedeutet die kleinste Dreheinheit am Set. Kamera an – Kamera aus. Das aufgenommene Bildmaterial ist eine Einstellung. Im Filmjargon spricht man auch von »Klappen«. Es ist nicht von Bedeutung, wie lang die Einstellung ist. Bruchteile von Sekunden oder 90 und mehr Minuten, alles ist denk- und machbar. Die Einstellungen setzen sich zu Szenen zusammen, Szenen zu Motiven, Motive zu Akten und die Akte schließlich zum Film5.

[18][19]3. Die Einstellungsgrößen

Die Einstellungsgröße ist das Maß zur Beantwortung der Frage, wie viel »Bild« bzw. »Inhalt« die Kamerafrau oder der Regisseur oder die Drehbuchautorin in das Rechteck des Kamerasuchers packt.

Warum ist das wichtig? Was ist der Sinn?

Gegenfrage: Warum sind »Anderer-Leute-Urlaubs-Dia-Abende« oft so entsetzlich langweilig?

In den alten Tagen gab es noch kein Objektiv mit veränderlicher Brennweite6, sondern nur Optiken mit festen Brennweiten. Sollte ein anderer Bildausschnitt7 gewählt werden, so wurde das Objektiv8 herausgenommen und ein anderes eingesetzt. Heute wird das natürlich auch noch gemacht, da die optischen Leistungen von Zoom-Objektiven und Festbrennweiten unterschiedlich sind. Auch lässt sich die Einstellungsgröße durch das näher Heran- oder weiter Wegstellen der Kamera verändern.

Die Bildwinkel der Master-Prime-Objektive von Carl Zeiss zeigen es.

Brennweite (mm)

Bildwinkel

18

67°

25

51°

35

38°

50

27°

65

21°

75

15°

Vielleicht liegt es mit an diesen abgestuften Brennweiten, dass die Einstellungsgrößen in mehr oder minder präzisen Begriffen und Beschreibungen festgelegt sind. Obwohl viele Produktionen ausschließlich mit Zoom-Objektiv realisiert werden, sind die Einstellungsgrößen trotz der stufenlosen Veränderbarkeit in dem nachfolgend beschriebenen Raster geblieben.

[20]Der Bildausschnitt ist die Basis der Bildgestaltung. Der Drehbuch-Autor schreibt die Einstellungsgröße vielleicht schon ins Script hinein und weist den Einstellungen so eine ungefähre visuell-dramaturgische Gewichtung zu. Je nach Intention des Autors kann schon in dieser Phase die Bildgestaltung möglichst exakt definiert werden. Zur Präzisierung kann die Produktionsfirma nach Anweisung des Regisseurs ein Storyboard zeichnen lassen, um ein Gefühl für den Look zu bekommen.

Die Zusammenarbeit im Team und eine von Missverständnissen freie Kommunikation vom Autor über Regisseur, Kameramann, Schauspieler, Ausstattung, Maske bis zum Cutter erfordern klare Begriffe. Alles andere ist verlustbringend und nervig.

Panorama

Das ist immer das Maximum. Mehr passt nicht auf das Filmbild, und es ist immer eine »Landschaft«: Strand, Urwald, Stadt, Weltraum, Berge, Müllhalde, Autobahnen, Braunkohlegrube, Hafen mit Riesenschiff…

Wie bei allen anderen Einstellungsgrößen ist auch hier die Beziehungsgröße der Mensch, gerade weil er im Bild in der Größe eines »Insekts« erscheint. Mit Panorama ist immer das vertretbare Maximum gemeint. Andere Bezeichnungen sind Panorama-Totale oder »Weit«.

Ein Panorama ist ein bisschen wie Kalenderblatt-Fotografie:

Der Bergsteiger blickt von einem Gebirgspass ins Tal. Die Panoramatotale ist sein Blick. Wir sehen das, was er sieht.

Die Vorstandstandsvorsitzende eines internationalen Konzerns sieht aus dem Fenster im 145. Stock des Verwaltungshochhauses. Die Stadtansicht ist ihr Blick.

Diese beiden willkürlichen Beispiele weisen auf den Zusammenhang zwischen den Personen und den Landschaften hin. Noch sind unsere Bildvorschläge neutral, wir wissen nicht, was es mit diesen Aussichten auf sich hat, außer, dass sie spektakulär und atemberaubend schön sind. Aber irgendetwas verbindet die »Gegend« mit den Menschen. Der deutsch-balinesische Maler Walter Spies hat das Bild »The Landscape and it’s Children« gemalt. Dieser Titel bringt für mich die wesentliche Funktion einer »Wahnsinnstotale« gut zum Ausdruck. Bei unseren Beispielen braucht es nur ein Gedanke zu sein. Beispielsweise an die Familie im Tal oder an das Kind im Feriencamp am Strand. Es braucht einen Anstoß, um den Fluss der Gedanken in die dramaturgisch gewünschte Richtung zu lenken. Sonst bleibt es bei Kalenderblatt-Fotografie, und das allein reicht sicher nicht aus. Wir brauchen noch etwas mehr dazu.

[21]

Panorama. © Achim Dunker

Der Name sagt es, es handelt sich immer um das Maximum des Bildinhaltes. Hier könnten noch ein oder zwei Schiffe auf dem Rhein platziert werden, allerdings wäre dann der Zug auf der Hohenzollernbrücke schon im Kölner Bahnhof!

Auch das Haiku assoziiert eine Möglichkeit:

Tiefe Blicke Fallende Blätter

Hier würde ich die Augen der Abschied nehmenden Person mit dem nachfolgenden Panoramabild des farbigen Herbstwaldes kombinieren. Es kann natürlich sein, dass dies meine Vorliebe ist: die Kombination von Emotionen mit riesigen, grandiosen Landschaftsbildern. Vielleicht nehme ich auch nur die Beispiele wahr, die diesem Schema entsprechen.

[22]Ein Film mit herausragenden Panoramaeinstellungen ist »Koyaanisqatsi«9 von Godfrey Reggio aus dem Jahre 1982. »Leben im Ungleichgewicht« ist die ungefähre Übersetzung des Titels. Der Begriff »Koyaanisqatsi« stammt aus dem Wortschatz der nordamerikanischen Hopi-Indianer und gehört zu einer Sprache, die über keine eigene Schrift verfügt.

Das Besondere an diesem Film ist das Fehlen von Worten und handelnden Menschen. Die Bilder zeigen in bizarrer Schönheit »zivilisierte und urbane« Landschaften und verdeutlichen durch eine assoziative Montage, wie weit sich der heutige Mensch bereits von der Natur entfernt hat. Wie empfindlich und fragil das Leben ist, obwohl der opulente Bilderreigen Stärke und Vitalität suggeriert. Weiter bemerkenswert ist die Musik von Philipp Glas. Mit scheinbar endlosen Wiederholungen eines minimalistischen Themas powert sie die Bildsprache in einen Parforceritt hinein, dem sich der Zuschauer nicht entziehen kann. Die Musik zieht die Bilderfolge durch. Sir Simon Rattle sagt im Film »Rhythm Is It!«10: »Das Gefühl des Rhythmus ist etwas, das wir von unseren Vorfahren, den Echsen, in unserem Stammhirn haben.«

An dieser Stelle eine Warnung vor Musik und Ton. Wie erwähnt hat der Tonfilm den Stummfilm abgelöst. Das Hörspiel aber ist dem Tonfilm nicht zum Opfer gefallen. Ganz im Gegenteil. Der Mensch ist in der Lage, drei bis vier verschiedene akustische Ebenen in unterschiedlichen Abstraktionsgraden gleichzeitig wahrzunehmen. Fast jede aktuelle Inszenierung der akustischen Kunst nutzt dieses Stilmittel. Der Film bewirkt das in dieser Form (noch) nicht. Daher meine Warnung: Eine flotte Musik zieht jede Schnittfolge durch und bringt zudem die nötige Emotion rein. Das ist wie Ketchup, damit geht alles.

Totale

Die Totale entspricht dem Bühnenbild eines Theaters. Sie stellt den Handlungsraum vor, zeigt das Umfeld, wo etwas passieren wird. Je nach Genre kann der Ort prägend oder auch nach dem Motto ausgewählt sein: Es muss schließlich irgendwo spielen! (Das wird aber kein Filmemacher zugeben.) In der Totale wird die Beziehung der Menschen zum Ort des Geschehens dargestellt und übermittelt: Der Ort kann natürlich wie in einem Drama von Anfang an bedeutungsschwer sein oder es erst im Verlauf des Films werden. Beispielsweise die Hauptstraße in einer Westernstadt. Der Zuschauer ahnt es schon: Hier gibt es später den Showdown, der Konflikt wird eskalieren und auf ein Duell hinauslaufen.

[23]

Totale. © Achim Dunker

Die Totale stellt den eigentlichen Handlungsort vor, hier ist es die Nordwand der Hohenzollernbrücke in Köln.

Oder der lange Zellentrakt in einem Gefängnis, einzelne Gefangene bewegen sich ausweglos und monoton hinter den Gitterstäben. Eine Einstellung, die Hoffnungslosigkeit ausstrahlt.

Die amerikanischen Kollegen nennen die Totale oft »establishing shot«. Der Begriff ist selbsterklärend; diese Einstellungsgröße etabliert einen Fixpunkt der Geschichte und zeigt durch den Handlungsort, worum es in dieser Szene geht. Die Totale illustriert den Menschen, sie zeigt seinen »Horizont« auf.

Woher stammt er?

In welchen Verhältnissen lebt er?

Wohin geht er, wenn er ausgeht?

Wo arbeitet er?

[24]Bei der Beantwortung dieser Fragen fallen mir fast nur Totalen ein. Je nach Stoff sind das:

Mietskaserne, Hinterhof oder Bürgerhaus;

Autofahrt durchs Garagentor oder die Bushaltestelle an einer einsamen Straße, sehr früh am Morgen;

Imbissbude oder persönliche Begrüßung durch den Oberkellner;

Eckbüro mit Panoramablick oder Großraumbüro wie in Billy Wilders »Das Appartement«

11

.

Vielleicht geht es Ihnen ähnlich? Natürlich können das auch andere Bilder darstellen, aber es braucht dann mehrere. Die Fragen, »wo kommt er her« oder »wo geht sie hin« lassen sich am einfachsten mit einer Totale beantworten.

Hierzu eine Überlegung: Ist die Aufsicht auf »Dogville«12 in dem gleichnamigen Film von Lars von Trier eine Panoramaeinstellung oder eine Totale? »Dogville« ist ein fiktives amerikanisches Dorf in den Bergen. Der Grundriss der Ansiedlung ist auf den Atelierboden gezeichnet, und alle Kulissen sind nur angedeutet. Es handelt sich um eine sehr eigenwillige Theaterdekoration, die u. a. auf Bertolt Brecht und das epische Theater zurückgeht. In der Anfangseinstellung ist der gesamte Spielraum, das Dorf, die Hauptstraße und die verlassene Mine zu sehen, es handelt sich hier also per Definition um eine Totale. Eines zeigt die Diskussion um Panoramaeinstellung und Totale aber klar: Die Grenzen sind fließend und nicht so normativ festgelegt wie beispielsweise physikalische Definitionen. Während dieser Anfangstotale13 ist ein Prolog zu hören, der in die Geschichte einführt. In diesem speziellen Fall finde ich die Einführung passend. Oft aber ist ein gesprochener Prolog nichts weiter als ein billiges Mittel, um der filmischen Dramaturgie ins Handwerk zu pfuschen und sehr schnell Spannung aufzubauen. Wie aber erreicht man Spannung?

Spannung entsteht dadurch, dass der Zuschauer mehr weiß als der Protagonist, zumindest ahnungsvoller als der »ahnungslose Filmheld« ist.

Wir wissen beispielsweise, was in dem Koffer ist, der unkontrolliert durch die Zollkontrolle getragen wird. Besonders raffiniert und lustbringend empfindet es [25]der Zuschauer, wenn er mit diesen Vorahnungen auf eine falsche Fährte gesetzt wird. Alfred Hitchcock war ein Meister dieses Spiels.

Ein »verpfuschter«, aber sehr wirkungsvoller Prolog ist beispielsweise, wenn in der Totale ein Mädchen verschwommen zu sehen ist und uns dazu die Stimme des Protagonisten im Off kehlig zuraunt: »Als ich sie zum ersten Mal sah, wusste ich, dass es Schwierigkeiten geben würde.« Damit ist der Zuhörer im Bilde, er taucht in sein »Assoziationsarchiv« ein und kann sich auf bekannte Erzählstrukturen freuen.

»Sexus«, das Skandalbuch von Henry Miller, fängt so ähnlich an, aber dabei handelt es sich um Literatur. Wenn beim Film der Macher aber seinen Bildern der ersten Sequenz schon nicht traut und die Botschaft ins Auditorium rufen lässt, was soll denn da noch an Überraschungen kommen? Leider ist das meiner Erfahrung nach die Regel und »Dogville« eine gelungene Ausnahme.

Halbtotale

Die Halbtotale ist die »Hälfte« der Totale. Wäre die Totale das komplette Esszimmer, so ist die Halbtotale der Esstisch mit Stühlen und Sideboard. Die Halbtotale ist die Einstellungsgröße, in der beispielsweise die Beziehungsverhältnisse der Personen untereinander visuell dargestellt werden können. Die Gruppierung und die Positionierung der Akteure kann darüber Auskunft geben. Der Mensch ist von Kopf bis Fuß zu sehen.

Wer ist von wem abhängig?

Wie verlaufen die Machtstrukturen?

Wer sitzt am Kopfende des Tisches?

Wer steht höher, wer ist tiefer?

Wer schaut während des Sprechens wen wie an?

Ein Besuch am Krankenbett. Ein Mensch liegt, der andere steht. Diese Positionierung sagt schon eine Menge über die Beziehungsstrukturen aus. Aber nicht nur im Film, auch im realen Leben wird darauf geachtet, wer wo und wie hoch sitzt. Zwar nicht so extrem, wie es der geniale Charles Chaplin in seinem Film »Der große Diktator«14 treibt und sich mit dem Diktator-Kollegen Benzino Napoloni einen Wettaufstieg auf den Friseurstühlen um die höchste Position leistet.

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Halbtotal. © Achim Dunker

»Der Kampf mit dem Überhang«

Die Halbtotale ist die Einstellung der Körpersprache, hier wird agiert. Die Menschen laufen, bleiben stehen, nehmen etwas in die Hand, tun etwas, setzen sich. Oder sie unterlassen es und sitzen unbeweglich, fast eingefroren wie in einer Talkshow. Lässt der Filmemacher die Positionierungsfragen unberücksichtigt, vielleicht weil er mit diesen Aspekten nicht vertraut ist, bedeutet dies, dass die Interpretation für den Zuschauer unsicher ist. Praktisch kann es also sein, dass der Schauspieler gegen eine ungünstige Bildkomposition anspielen muss. Dass es unter diesem Umstand nicht leicht ist »’rüberzukommen«, ist einleuchtend.

Bei den englischsprachigen Filmern wird die Halbtotale als »medium long shot« bezeichnet.

Halbnah

Die Halbnah-Einstellung ist das Doppelte der Naheinstellung. Anders als bei der Totale, bei der die halbe Totale das »halbe Bild« bedeutet, hat sich die Kamera wohl erst zur Hälfte auf die Naheinstellung zubewegt. Die Bezeichnung ist deshalb ein wenig unglücklich, aber wenn man sich merkt, dass die beiden Halb-Bezeichnungen in der Abfolge zusammenstehen und dass keine Logik zu erkennen ist, geht es. Die Halbnaheinstellung stellt den Übergang von der körperlichen Ebene auf die mimische Ebene dar. Die Figuren bekommen ihr individuelles Gesicht. Die emotionalen Strukturen und Ebenen des Gesichts beginnen, sichtbar zu werden. Der Dialog bzw. die Sprache sagt hier mehr oder sogar etwas anderes aus, als die durch die Sprache übermittelten Fakten. Für den Zuschauer beginnt ab dieser Größe die unmittelbare Wahrnehmung des Gefühlslebens über die Mimik, vorausgesetzt die Projektion ist groß genug und mimische Regungen sind zu erkennen. Das Zucken im Mundwinkel eines Pokerspielers verrät vielleicht etwas über sein Blatt. Top oder Flop? Man muss es nur zu interpretieren wissen.

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Halbnah. © Achim Dunker

»Allein an der Wand«

Stünde der Bergsteiger vor dem Gipfel und wäre er von Kopf bis Fuß zu sehen, so wäre aus der Panoramatotale eine Halbnah-Einstellung geworden, auch wenn die Sicht auf die Landschaft nicht geringer geworden wäre. Der Mensch ist hier das Maß der Dinge.

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Nah. © Achim Dunker

Neben der Personengröße ist es wichtig, einen Teil der Strecke zu sehen.

Amerikanisch

Aus der Zeit der Western stammt die Einstellungsgröße »Amerikanisch«15. Es ist eine Variante der Halbnah-Einstellung. Die Person wird vom Kopf bis zur Mitte des Oberschenkels abgebildet, also bis dahin, wo der Colt hängt. Beim Showdown ist beides gut zu sehen: der eiskalte, emotionslose Blick und die schnelle Revolverhand, die das Schießeisen aus dem Holster reißt.

Nah

Die Naheinstellung reicht vom Kopf bis ungefähr zur Mitte der Brust. Sie ist also identisch mit dem, was der Fotograf (heutzutage der Fotoautomat) als Porträteinstellung bezeichnet. Sie entspricht ungefähr dem Abstand, den Personen normalerweise [29]bei einem Gespräch einnehmen. Die emotionalen Reaktionen sind nun sehr gut zu erkennen, aber man rückt sich noch nicht so nah auf die »Pelle«, dass es unangenehm wäre. Dieser Abstand ist in verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich groß, hier bei uns in Mitteleuropa sind wir distanzierter als beispielsweise im arabischen Raum. Je näher die Kamera heranrückt, umso kontrollierter und reduzierter muss die dargestellte Emotion sein. Auf eine griffige Formel gebracht heißt das: je größer, umso weniger. Andernfalls wirkt das Spiel übertrieben und der »Schuss geht nach hinten los«, die Szene wird vom Publikum schlimmstenfalls als irritierend oder albern aufgenommen.

Sehr gelungene Beispiele für emotionalisierende Naheinstellungen stammen aus dem Film »Rififi«16 von 1955. Hier bricht eine Diebesbande durch eine Zimmerdecke in ein darunterliegendes Juweliergeschäft ein. Für François Truffaut war dies der beste Kriminalfilm, den er je gesehen hat, gedreht nach der schlechtesten Novelle, die er je gelesen hat. Der »Bruch« selbst nimmt mehr als ein Viertel der gesamten Spielzeit ein. 32 Minuten lang werkeln die »Mitternachts-Schlosser«, bis sie am Ziel ihrer Wünsche sind. Das geschieht ohne Dialoge, fast keine Geräusche und auch keine die Dramatik steigernde Musik. Die Hochspannung entsteht nur durch die Bilder und den Schnitt. Die atemlose Stille macht die Szene so besonders reizvoll.

Groß

Oder »close up«. Die Großeinstellung zeigt das Gesicht vom Scheitel bis knapp unters Kinn. Ein Beispiel für eine unangenehme Nähe ist der Ausbilder in »Full Metal Jacket«17 in dem Film von Stanley Kubrick. Hier wird die erwähnte Distanz unterschritten und der Zuschauer ist der agierenden Person sehr nahe. Diese Nähe, der geringe Abstand, »fasst« den Betrachter emotional an. Unabhängig davon, wie emotional das eigentliche Spiel ist. Allein die äußere Form der Einstellungsgröße transportiert Emotionalität. Jeder Wimpernschlag, jedes Zucken der Gesichtsmuskulatur steht in Zusammenhang und Beziehung zu den vorangegangen Einstellungen.

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Groß. © Achim Dunker

Diese Großaufnahme ist ein Beispiel für einen vergleichbaren Bildaufbau mit Jan Vermeers » Perlenwägerin« (Seite 154). Die Schattenlinie und der Pfahl teilen den Bildraum in ungefähr vier Viertel. Die zentrale Achse des Kopfes und die Sicherungsleine deuten eine zentrale Kreuzung oberhalb des Sicherungsknoten an, die aber durch den Blick nach oben abgeschwächt wird. Würde nun noch das Auto mit einem Bildbearbeitungsprogramm herausretuschiert (in drei Minuten problemlos erledigt), so wäre es für eine spontane und ungeplante Aufnahme »perfekt«. Besonders fasziniert hat mich allerdings das weiche Reflexlicht des hellen Natursteins (von außerhalb des rechten Bildrandes), das dem Gesicht von sich aus schon etwas »Makelloses« verleiht.

Die Kraft einer Großeinstellung zeigt sich beispielsweise in dem Chanson »Ne me quitte pas«18 von Jacques Brel. Über vier Minuten »klebt« die Kamera an seinem schwitzenden Gesicht und zeigt jede Regung übergroß. Jede Emotion, jedes Zucken, jeder Anflug eines Lächelns schnitzt das harte Licht in das Schwarz des Bilduntergrunds. »Verlass mich nicht«, eine Aufforderung, die es dem Betrachter erlaubt, einen sezierenden Blick in die Brel’sche Seele zu werfen. Falls Sie die Möglichkeit haben, sich das Chanson im Internet anzuschauen, surfen Sie danach auf einen beliebigen »jüngeren und modernen« Konzertmitschnitt und vergleichen Sie die ausschließliche Großaufnahme mit den aufwendigen Kamerafahrten und schnellen Bildwechseln einer aktuellen Darbietung.

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Detail. © Achim Dunker

Das Detail der Finger sagt hier aus, die Strecke ist geschafft. Im Film würden wir natürlich sehen, wie sich die Finger hochdramatisch herantasten, den Stein auf eventuelle Glätte und Stabilität testen, dann die Kraft und die Spannung einsetzen und sich Micha heranzieht.

Der ame,rikanische Filmregisseur David Lewelyn Wark Griffith (1875–1948 und 450 Filme) gilt als der Erfinder der Großaufnahme – oder müsste es besser »Entdecker« heißen? Sicher ist weder das eine noch das andere. Aber er hat die Großaufnahme perfektioniert. Verwunderlich aus heutiger Sicht ist vielleicht, dass die Zuschauer auch einen gewissen Lernprozess durchlaufen mussten, um in einer Großaufnahme keinen »abgeschnittenen Riesenkopf« zu sehen. Diese Bilderfahrung war für die damaligen Menschen neu und ungewohnt.

Detail

Oder Ganz Groß. Hier ist die Einstellungsgröße so groß, dass die bildliche Emotionalität wieder aufgelöst ist. Die Augen19 beispielsweise, der Finger am Abzug, das Sektglas, das aus der Hand rutscht. Der verlorene Haustürschlüssel im Rinnstein. Oft sind Detaileinstellungen informative Bilder, in denen allerdings die Emotionen der vorangegangen Bilder kumulieren. Das heißt, die Gefühlsebene wirkt aus dieser oder den vorangegangenen Einstellungen herüber. Zwei sehr berühmte Beispiele sind die Schneekugel in der Hand des sterbenden Kane, dargestellt von Orson Welles zu Beginn des Films »Citizen Kane«20 und der Schriftzug »Rosebud« auf dem Schlitten am Ende des Films. Für sich genommen jeweils nur ein Bild, die aber den gesamten Film und die komplette Dramaturgie klammern.

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Pick up. © Achim Dunker

Pick up oder Zwischenschnitt. Hier ist es auch eine Großaufnahme, der Griff in den Kreidebeutel. Diese Einstellung könnte nun zwischen jede der anderen Einstellungen gesetzt werden, beispielsweise um den Rhythmus zu präzisieren, Längen zu korrigieren, Spannungen zu schaffen oder Übergänge zu glätten. Auch an der Quantität der Zwischenschnitte beurteilt der Cutter die Qualität des Kameramanns. Hat der Editor genügend Zwischenschnitte, ist der Kameramann gut! Über alles andere lässt sich reden. Unterschätzen Sie niemals den Einfluss des Cutters auf Ihren nächsten Job. Hat der Cutter Probleme beim Schnitt, ist dafür der Kameramann verantwortlich, auch wenn die Schwierigkeiten ganz woanders lagen.

[33]Pick up

Auch wenn es sich so anhört, es ist keine Einstellungsgröße, sondern die englische Bezeichnung für einen Zwischenschnitt. Ein pick up (pu) ist oft eine zusätzliche Einstellung, die nicht geplant war. Mögliche Gründe könnten sein, dass die ursprünglich geplante Einstellung zu schwierig oder zu lang ist. Von der ersten Klappe ist der Anfang gut und von einer weiteren das Ende. Um die Schauspieler zu schonen, Filmmaterial zu sparen und das Tagespensum zu schaffen, dreht man einen Zwischenschnitt und kann so die beiden Einstellungsteile miteinander verbinden. Bei einem Zwischenschnitt ist nicht nur die Einstellungsgröße wichtig, sondern die Funktion, die die Einstellung im späteren geschnittenen Bilderfluss ausübt. Wenn kein Mensch oder nichts Menschliches im Bild ist, kann es sich nur um eine Großaufnahme handeln. Ein Brief im Nähkästchen, eine Flasche, das leere oder volle Weinglas, es ist immer eine Großaufnahme oder, wie man in Hollywood sagt, ein »close up«. Oft werden Zwischenschnitte aus Gründen der Sicherheit, als Reserve gedreht.

Ein Film wird nur dann gut, wenn man beim Schnitt genügend zum Wegschmeißen hat!

Trotz guter und exakter Vorbereitung der Auflösung, also der Einteilung der beschriebenen Szenen in definierte Bilder, der Fahrten und Schwenks ist es wichtig, zusätzliche Einstellungen zu haben. Einfach als Reserve für die Cutterin oder den Cutter. Wenn der Anschluss, also der Übergang von einer Szene zur andern, nicht passt. Manchmal erweist sich das Vorausgedachte als zu kurz gedacht und da ist es gut, ein wenig Reserve in der Hinterhand zu haben, zur eigenen Beruhigung und als Ass im Ärmel für alle anderen. Zwischenschnitte dreht ein »mitdenkender« Kameramann von sich aus, bzw. er bietet es dem Regisseur oder Redakteur an. Beim quantitativen Vergleich der Filmografien von Kameraleuten und Regisseuren weisen die Regisseure ein geringeres Œuvre auf. Daher ist zu vermuten, dass die Kameraleute die Erfahreneren in der »Bildproduktion« sind, denn Zwischenschnitte werden von unerfahrenen Realisatoren allzu leicht vergessen.

Edward Dmytryk, u. a. Regisseur des Films »Die Caine war ihr Schicksal«21, erzählte mir in einem Regie-Seminar, dass er, wenn er unsicher über die richtige [34]Auflösung gewesen sei, dem Team die Anweisung gab, ein, zwei bestimmte Großaufnahmen zu drehen. Zwar war ihm persönlich klar, dass er die Einstellungen beim Schnitt nicht verwenden würde, aber so hatte er etwas mehr Zeit zum Nachdenken und das Team wurde nicht durch seine Orientierungslosigkeit verunsichert. »Wichtig ist, dass es irgendwie weitergeht und das Engagement nicht absackt.«

Zurück zu der Eingangsfrage, warum der Dia-Abend schon nach den ersten Dutzend Bildern öde ist? – Es kommen drei, vier, fünf Panoramatotalen hintereinander. Jedes Mal springt der Horizont rauf und wieder runter. Dann fünf Mal buntes Herbstlaub im Indian Summer: »Die sind alle so schön, ich konnte mich nicht entscheiden.« Gut, das ist auch eine Entscheidung, aber keine Entschuldigung dafür, die Zuschauer zu Tode zu langweilen. Danach gibt es vier Sonnenuntergänge, auch unentscheidbar toll…