Einsatz zum Glück - Julia Schöning - E-Book

Einsatz zum Glück E-Book

Julia Schöning

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Beschreibung

Erst eine wichtige Prüfung im Jurastudium vermasselt, dann ein schwerer Fahrradunfall – das Schicksal meint es nicht gut mit Luisa. Dann jedoch weckt Oberärztin Christine, die sich im Krankenhaus auffallend fürsorglich um sie kümmert, zärtliche Gefühle in ihr. Zuerst will Luisa das nicht zulassen, und auch Christine scheint gegen ihre Gefühle für Luisa anzukämpfen, aber als Luisa entlassen wird, versuchen sich beide näherzukommen. Altlasten aus Christines Vergangenheit erschweren das, und als Luisa wieder in die Klinik muss, wittert Christines Erzfeind Oberarztkollege Holger Falkenheim auch noch seine Chance, Christine wegen unethischen Verhaltens endlich loszuwerden. Ein tragischer Familienvorfall reißt sie endgültig von Luisa weg; die Chance einer glücklichen Beziehung ist kleiner denn je ...

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Julia Schöning

EINSATZ ZUM GLÜCK

Roman

© 2018édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-244-2

Coverfoto: © istock.com/Teka77

Nicht bestanden. Luisa bekam diese zwei Worte einfach nicht aus ihrem Kopf. Schon wieder nicht bestanden. Sie trat fester in die Pedale, sie wollte nur weg. Weg von der Uni, weg von diesem Zettel, der ihr neuerliches Scheitern offenkundig gemacht hatte. Der Fahrtwind brannte in ihren Augen. Wie hatte das passieren können? Ihre Hände umklammerten den Lenker mit aller Kraft. Dabei hatte sie so viel gelernt. Dieser trockene Stoff wollte sich einfach nicht in ihren Gehirnwindungen festsetzen.

Hinter ihren Schläfen begann es zu pochen. Nicht bestanden, hämmerte es von innen unaufhörlich gegen ihre Schädeldecke. Luisa wischte mit dem Handrücken über ihre feuchten Augen. Das hatte doch alles keinen Sinn mehr. Es musste sich etwas ändern. Luisa riss den Lenker herum, um abzubiegen.

Quietschende Bremsen, lautes Hupen. Ein Knall. Dann war alles schwarz.

Und ruhig.

Christina hatte es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht, während ihr Fahrer routiniert das Notarzteinsatzfahrzeug durch den Feierabendverkehr manövrierte. Der letzte Einsatz war ein Fehlalarm gewesen, es hatte nichts für sie zu tun gegeben. Nun waren sie auf dem Rückweg ins Krankenhaus. Vielleicht schaffte sie es dort, noch ein paar Briefe zu korrigieren, bevor der Melder das nächste Mal ging.

In diesem Moment riss ein lauter Knall, begleitet von quietschenden Bremsen, Christina aus ihren Gedanken. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ein Golf ein Fahrrad voll erwischte. Der Fahrradfahrer wirbelte durch die Luft und landete hart auf dem Asphalt.

Verdammt. Das sah nicht gut aus.

»Halt sofort an«, schrie Christina. Ihr Fahrer trat voll auf die Bremse und schaltete das Blaulicht ein. Christina sprang aus dem Wagen. Der Geruch von verbranntem Gummi stieg ihr in die Nase. So schnell sie konnte, rannte sie über die Straße zum Unfallort. Martin folgte ihr mit der Notfalltasche. Einige Meter neben dem Fahrrad lag eine junge Frau. Regungslos. Blut im Gesicht.

»Wir brauchen einen Rettungswagen«, stellte Christina sofort fest.

»Ich kümmere mich«, sagte Martin und griff nach seinem Funkgerät.

Mittlerweile hatte sich um die Unfallstelle eine Traube aus Menschen gebildet. Auch der Fahrer des Golfes war sichtlich mitgenommen aus seinem Auto gestiegen. »Ich habe sie nicht gesehen. Oh Gott.« Völlig aufgelöst schlug er die Hände vors Gesicht. Zumindest schien er unverletzt.

Christina kniete sich neben die junge Frau, während sich Martin um den Autofahrer kümmerte.

»Können Sie mich hören?« Vorsichtig rüttelte Christina an dem scheinbar leblosen Körper. Nichts geschah. Nur der Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Sie lebte. Aber sie reagierte nicht. »Hallo?« Christina versuchte es noch einmal. Sie rieb kräftig über das Brustbein.

Ein leises Stöhnen war die Antwort. Träge öffneten sich die Augen der Frau. »Was . . .?«, fragte sie mit heiserer Stimme.

»Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?« Behutsam nahm Christina der Frau den Fahrradhelm ab, darauf bedacht, die Halswirbelsäule nicht zu bewegen. Glücklicherweise hatte sie einen Helm getragen. Wenigstens das. Christina wollte sich gar nicht ausmalen, was ohne ihn hätte passieren können.

Die Frau versuchte, sich etwas aufzurichten, sank aber sofort wieder zurück. Schmerzverzerrt kniff sie die Augen zusammen.

»Verraten Sie mir Ihren Namen«, bat Christina und versuchte so, die junge Frau bei Bewusstsein zu halten, während sie gleichzeitig den Körper mit geübten Handgriffen auf größere Verletzungen untersuchte. Das linke Bein war nach außen gedreht und verkürzt, das sah nach einem Bruch aus. Neben ein paar Schürfwunden war ansonsten wenig zu erkennen.

»Luisa«, sagte die Frau endlich. »Glaub ich zumindest.« Sie rieb sich über ihre Stirn. »Was ist passiert?«

»An was können Sie sich denn noch erinnern?« Christina band einen Stauschlauch um den rechten Arm, um einen Zugang zu legen. Die Sonne brannte auf ihrem Rücken, eine kleine Schweißperle rann ihre Wange entlang.

Luisa sah sie ratlos an. In ihrem Blick lag so viel Verzweiflung, dass Christina sie am liebsten in den Arm genommen hätte, um sie zu trösten. »Ich weiß es nicht.« Luisas Stimme klang müde.

»Sie hatten einen Unfall. Mit dem Fahrrad«, erklärte Christina. In der Zwischenzeit fixierte sie den Zugang an Luisas Arm. »Kannst du mir Ketanest, Dormicum und eine Ampulle Morphin aufziehen?«, wandte sie sich an Martin.

Der Rettungsassistent nickte und machte sich sofort an die Arbeit.

Christina beugte sich wieder zu Luisa. »Können Sie die Beine bewegen?«

Als Luisa versuchte, das verletzte Bein anzuheben, schrie sie vor Schmerzen auf. »Aua!«

»Kann sein, dass das Bein gebrochen ist. Und jetzt bitte die Arme bewegen.«

Luisa folgte der Aufforderung. Die Anstrengung war ihr anzusehen. Aber es funktionierte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Ein wirklich bezauberndes Lächeln, musste Christina zugeben.

»Sehr gut.« Sie fand schnell zu ihrer Professionalität zurück und versuchte, Luisa abzulenken. »Erzählen Sie mir etwas von sich. Wie alt sind Sie?«

»Sechsundzwanzig«, erwiderte Luisa.

Christina säuberte eine kleine Schürfwunde auf Luisas Wange. Erst in diesem Moment bemerkte Christina, wie hübsch sie war. Selbst das verschmierte Blut konnte ihr Gesicht nicht entstellen.

»Und Sie studieren hier in Göttingen?«, mutmaßte sie mit einem Blick auf Luisas Umhängetasche.

Luisa nickte schwach.

Von Weitem erklang ein Martinshorn. Der Rettungswagen würde jeden Moment eintreffen.

»Ich gebe Ihnen jetzt ein Schmerzmittel. Es kann gut sein, dass Sie davon sehr müde werden. Sollen wir jemanden benachrichtigen?« Christina nahm die Spritze, die Martin vorbereitet hatte und ihr hinhielt, entgegen.

»Meine Schwester.« Luisa spitzte die Lippen.

»Kennen Sie die Telefonnummer?«

Luisa dachte sichtlich angestrengt nach. »Ich kann mich nicht erinnern«, murmelte sie zerknirscht. »Aber mein Handy ist in meiner Tasche, da habe ich sie gespeichert.«

»Gut, ich schaue gleich nach. Und dann bringen wir Sie ins Krankenhaus, damit wir sie gründlich untersuchen und verarzten können.« Christina fuhr sich durch die Haare. Hoffentlich war Luisa nichts Schlimmeres passiert. Sicherlich würden einige Untersuchungen und vielleicht auch eine Operation auf sie zukommen.

Luisa nickte leicht. »Ist wohl besser.« Das Grün ihrer Augen wirkte matt.

In diesem Moment hielt der Krankenwagen neben ihnen an. Die beiden Sanitäter stiegen aus und öffneten die hintere Wagentür.

»Von mir aus können wir direkt los«, erklärte Christina an die beiden Jungs gewandt. »Wir brauchen nur noch einen Stifneck und eine Vakuumschiene für das Bein.«

»Alles klar«, sagte der Größere, während er bereits dabei war, die Trage aus dem Wagen herauszuholen. Der andere reichte Christina das feste Plastikteil, das sie sofort um Luisas Hals legte.

»Das muss leider sein, solange wir nicht sicher wissen, dass kein Wirbel gebrochen ist«, erklärte sie. Aber Luisa dämmerte längst wieder weg. Die starken Schmerzmittel hatten ihre Wirkung getan. Vielleicht war es auch besser so, eine Fahrt im Krankenwagen konnte ziemlich ungemütlich werden.

Kurz darauf kamen sie mit Luisa in der Notfallaufnahme an. Christina hatte dafür gesorgt, dass sie in das Krankenhaus gebracht wurde, an dem sie selbst als Chirurgin arbeitete. Sie wollte unbedingt wissen, ob Luisa schwerwiegende Verletzungen hatte. Und die beste Möglichkeit, das herauszufinden, war, wenn Luisa in ihrer Klinik untersucht wurde. Schnell schilderte Christina dem diensthabenden Unfallchirurgen, was vorgefallen war.

»In Ordnung, der Schockraum ist bereits vorbereitet«, sagte der Kollege. Er war noch ziemlich jung. Zu jung für Christinas Geschmack. Viel Erfahrung hatte er noch nicht.

Aber im Schockraum erwartete sie glücklicherweise bereits ein ganzes Ärzteteam. Christina hatte von unterwegs angekündigt, dass sie mit einem Fahrradunfall kommen würden, sodass alles für den Fall eines schweren Polytraumas hergerichtet worden war.

»Jetzt sind wir im Krankenhaus«, erklärte Christina an Luisa gerichtet. Sie hatte eine ihrer Hände ergriffen, um sie ein wenig zu beruhigen.

Luisa war zwar wach, aber ihrem verhangenen Blick war deutlich anzumerken, dass sie noch nicht wieder richtig in dieser Welt war.

Nachdem Luisa auf die Krankenhaustrage umgelagert worden war, wuselten eine ganze Reihe Ärzte und Pflegekräfte um sie herum. Luisa wurde entkleidet, jeder tastete an ihr herum, das Ultraschallgerät wurde hinzugeholt. Sätze flogen durch die Luft. »Keine freie Flüssigkeit. Das linke Bein muss geröntgt werden. Hat schon jemand das Polytrauma-CT angemeldet?«

Christina hatte sich etwas zurückgezogen, sie wollte nicht im Weg stehen. Und im Grunde war ihre Arbeit getan. Sie zog die schwere orangefarbene Jacke aus und hängte sie an einen Haken. Irgendetwas hielt sie zurück, den Schockraum einfach zu verlassen. Diese fremde Frau hatte etwas an sich, das Christina in ihren Bann zog.

Ich möchte einfach wissen, was ihr passiert ist, rechtfertigte sie ihre Anwesenheit im Schockraum vor sich selbst. Doch in diesem Moment schrillte ihr Melder los. Ein erneuter Einsatz. Sie musste weg.

»Ich gucke später noch mal nach Ihnen.« Sie verabschiedete sie sich von Luisa. Doch Luisa bekam es gar nicht richtig mit. Christina griff ihre Jacke und rannte los zum Einsatzfahrzeug.

»Luisa, mein Schätzchen.« Irgendjemand streichelte über ihren Kopf. Sie wollte die Augen öffnen, aber ihre Lider waren bleischwer. Sie war unendlich müde.

Wieder eine Stimme. Eine vertraute Stimme.

Es dauerte einen Moment, bis Luisa die Worte verstand. »Kannst du mich hören?«

»Hm . . .«, murmelte sie. Ihr Kopf tat weh. Es war, als würde ein viel zu enger Helm alles zusammenquetschen. Ihre Lippen waren trocken. Sie hatte Durst.

Nur langsam lichtete sich der Nebel in ihrem Gehirn. Wo war sie? Was war los?

Als hätte die Stimme ihre Gedanken erraten, hörte Luisa: »Du bist im Krankenhaus, auf der Überwachungsstation. Du hattest einen Unfall.«

Einen Unfall? Mühsam gelang es Luisa endlich, ihre Augen zu öffnen. Geradewegs sah sie in das besorgte Gesicht ihrer Mutter. Sie konnte sich an nichts erinnern. »Was ist passiert?« Es klang mehr wie ein Krächzen. Um sie herum piepste es. Überall an ihrem Körper hingen Kabel, als sei sie am Bett festgebunden.

»Du warst mit dem Fahrrad auf dem Weg nach Hause, dann bist du mit einem Auto zusammengestoßen.« Dieses Mal war es ihre Schwester, die sprach.

»Vanessa, du bist auch hier«, stellte Luisa überflüssigerweise fest.

»Ich bin angerufen worden. Du hast wohl gesagt, die Ärzte sollen mich verständigen.«

Luisa versuchte krampfhaft, sich daran zu erinnern, aber es fiel ihr nicht mehr ein. Plötzlich sah sie wieder den Aushang an der Uni vor sich. Nicht bestanden.

Und danach war alles weg.

Sie biss sich auf ihre Unterlippe, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. »Was ist los mit mir?«

»Dein linkes Bein war gebrochen, du musstest operiert werden und du hast eine Gehirnerschütterung. Ansonsten hast du großes Glück gehabt.«

Kaum hatte Luisas Mutter die Worte ausgesprochen, verstärkte sich das heftige Hämmern in Luisas Kopf und sie spürte einen ziehenden Schmerz in ihrem Bein. Dann fielen ihre Augen wieder zu. »Ich bin so müde. Wie spät ist es?«

»Fast sieben.« Erst jetzt bemerkte Luisa ihren Vater, der auf einem Stuhl neben dem Bett saß.

Luisa kämpfte mit aller Macht dagegen an, wegzudämmern. Sie wollte nur noch ihre Ruhe.

Ihre Mutter schien das zu bemerken. »Vielleicht sollten wir besser gehen und dich etwas schlafen lassen, damit du wieder zu Kräften kommst.« Sie küsste Luisa sanft auf die Wange.

In diesem Moment fiel Luisa ihr Kater ein. Der Arme war bestimmt schon ganz hungrig. Mit letzter Kraft versuchte sie, sich etwas aufzurichten. »Vanessa, kannst du dich um Floh kümmern?«

Vanessa verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Luisa wusste, dass sie nichts für Haustiere übrighatte. Und für Katzen schon gar nicht.

»Bitte.« Luisa sah ihre Schwester eindringlich an.

»Ja gut«, stimmte Vanessa widerwillig zu. »Ich werde nach Floh sehen.« Sie zog ihren Pferdeschwanz fester. Dann griff sie nach ihrer Handtasche. Wie immer passte an ihrem Outfit alles perfekt zusammen.

Wenn Außenstehende sie zusammen sahen, hielten sie sie nur selten für Schwestern. Abgesehen von den langen blonden Haaren und den grünen Augen hatten sie fast nichts gemeinsam. Luisa war eher sportlich und leger gekleidet, während Vanessa jeden Tag aussah, als würde sie gleich über einen Laufsteg flanieren.

»Bis morgen.« Ihre Mutter tätschelte noch einmal Luisas Hand.

Kurze Zeit später schloss sich die Zimmertür hinter ihrer Familie. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Luisa wieder eingeschlafen war und in einen wunderschönen Traum fiel.

Jemand saß an ihrem Bett, hielt ihre Hand, streichelte darüber. Ganz zärtlich.

Ein leises Flüstern. Eine weiche, weibliche Stimme. Luisa konnte die Worte nicht verstehen. Aber sie hatte die Stimme schon einmal irgendwo gehört. Diesen beruhigenden Tonfall.

Sie wollte, dass die Frau für immer bei ihr blieb. Sie wollte, dass dieser Traum niemals endete. Doch viel zu schnell verschwamm alles um sie herum.

Ein lautes Klopfen weckte Luisa, aber es blieb ihr keine Zeit, richtig wach zu werden. Nur wenige Sekunden später standen fünf weiß gekleidete Menschen vor ihr und sahen sie interessiert an.

Es dauerte einen Augenblick, bis Luisa realisierte, wo sie war und was passiert war. Noch immer hingen zahlreiche Kabel an ihr. Überall waren Monitore. Es piepste.

Ein junger Mann, der neben ihrem Bett stand, begann einem älteren Herrn etwas zu erzählen. Mit Mühe konnte Luisa auf seinem Namensschild entziffern, dass er der Chefarzt war.

»Frau Harper hatte gestern einen Unfall, als sie als Fahrradfahrerin von einem PKW erfasst wurde.« Er blickte in die Akte, die er in der Hand trug, und blätterte hin und her. »Operativ versorgte Schenkelhalsfraktur links, Commotio cerebri, einige Schürfwunden.« Luisa verstand kein Wort. Offensichtlich fasste er ihre Krankengeschichte zusammen. Es war ein komisches Gefühl, wenn so viele Menschen um einen herumstanden und über einen redeten, als wäre man gar nicht anwesend.

Der ältere Herr nickte. Dann wandte er sich an Luisa. »Da haben Sie aber einen Schutzengel gehabt. Es hätte noch viel mehr passieren können.« Er verzog seine Mundwinkel zu etwas, das aussah wie ein angedeutetes Lächeln, aber seine Augen blieben ausdruckslos. »Wie geht es Ihnen?«

Erst jetzt dachte Luisa darüber nach, wie es ihr ging. Der Kopf tat nicht mehr weh, nur ihr Bein schmerzte noch. »Ganz gut, glaube ich.«

»Das ist schön zu hören.« Der Chefarzt sah zu dem jungen Arzt, der seinem Schild nach Torsten Gosepeter hieß. »Dann kann sie heute auf die Normalstation verlegt werden.« Er nickte einer Krankenschwester, der einzigen Frau in der Runde, zu. Sie notierte etwas, während sich der Tross bereits wieder in Bewegung setzte und das Zimmer verließ.

Zwar hatte Luisa alles gehört, was die Ärzte ihr gesagt hatten, begriffen hatte sie es jedoch nicht. Zumindest nicht vollständig.

Sie drehte sich auf die Seite und schloss ihre Augen. Aber auch wenn sie noch müde war, konnte sie nicht mehr schlafen.

Viel zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf umher. Weitere Tage im Krankenhaus, der Unfall, die verhauene Klausur, ihr Studium.

Was war eigentlich genau passiert? Wie würde es nun weitergehen? Sie versuchte, alle Bruchstücke zu ordnen, in ihrer Erinnerung fehlte allerdings einiges. Nur ganz langsam kam nach und nach alles wieder.

Es klopfte erneut an der Zimmertür. Eine junge Schwester, die höchstens in Luisas Alter war, trat ein.

»Hallo, ich bin Amelie und heute Vormittag für Sie zuständig«, stellte sie sich vor. Amelie lächelte Luisa an. Sie wedelte mit einem weißen Plastikteil vor Luisas Augen. Es klapperte. »Hier habe ich Ihre Schmerztabletten.« Sie stellte das Schälchen auf Luisas Nachttisch ab. »Das Frühstück kommt auch jeden Moment.« Amelie zog so schwungvoll die Vorhänge auf, dass ihr brauner Pferdeschwanz auf und ab hüpfte. »Ich lasse mal etwas Licht in das Zimmer.«

Es war Luisa ein Rätsel, wie man am frühen Morgen schon so gut gelaunt sein konnte.

»Kann ich noch etwas für Sie tun? Brauchen Sie noch etwas?« Amelie legte den Kopf ein wenig schief und sah Luisa erwartungsvoll an.

»Kann ich mich duschen?«

Amelie schüttelte den Kopf. »Noch nicht, die OP-Wunde ist noch zu frisch. Aber ich bringe Ihnen gleich eine Schüssel mit Wasser, dann können Sie sich etwas waschen.«

Großartig, dachte Luisa. Jetzt musste sie sich im Bett notdürftig fertigmachen. Und wahrscheinlich brauchte sie dazu auch noch Hilfe.

Kurz darauf brachte eine andere Frau ihr das Frühstück. Luisa wunderte sich über den Trubel, der bereits morgens in einem Krankenhaus herrschte. Bisher hatte sie damit keine Erfahrungen gehabt. Sie war noch nie ernsthaft krank gewesen und kannte Krankenhäuser nur als Besucherin. Glücklicherweise.

Als sie den Deckel von ihrem Teller abhob, knurrte ihr Magen wie auf Kommando. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie fast vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Sie nahm sich ein Brötchen. Es hatte eher die Konsistenz von Gummi, aber es duftete appetitlich frisch.

Direkt nach dem Frühstück wurde Luisa auf die Normalstation verlegt. Endlich war sie die ganzen Kabel los und es piepste nicht mehr ständig irgendetwas.

Luisa verstaute ein paar Sachen in ihrem neuen Nachttisch. Offensichtlich hatten ihre Eltern ihr gestern einige persönliche Dinge mitgebracht. Sie konnte sich nicht erinnern. Die Reisetasche mit ihren Kleidungsstücken ließ sie einfach auf dem Boden stehen. Das Bett verlassen durfte sie ohnehin nicht, bis jemand von der Krankengymnastik bei ihr gewesen war und ein paar Schritte mit ihr geübt hatte. Luisa hatte das Gefühl, plötzlich wieder ein Kind zu sein, das nichts allein konnte und erst wieder alles üben musste.

Es klopfte abermals an der Tür. Mittlerweile wunderte sich Luisa nicht mehr darüber.

»Guten Morgen.« Eine große Frau in einem rot-orangefarbenen Outfit, das Luisa sonst nur vom Rettungsdienst kannte, betrat das Zimmer. Die Uniform stand der schlanken Frau ausgezeichnet und verlieh ihr eine ganz besondere Ausstrahlung. Genauso wie ihr zauberhaftes Lächeln. Von so einer Frau würde ich mich gern retten lassen, schoss es Luisa durch den Kopf.

»Christina Wieders.« Sie reichte Luisa zur Begrüßung die Hand. Ihr Händedruck war fest, aber angenehm. »Erinnern Sie sich noch an mich?« Die ansprechend weiche, tiefe Stimme klang Luisa vertraut.

Irgendwie zumindest.

Luisa sah die Fremde genauer an. Aber sie erkannte sie nicht. »Nein«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Ich kann mich nicht an Sie erinnern.« Diese dunkelbraunen Augen hätte sie nicht vergessen. Ganz bestimmt nicht. »Tut mir leid.« Sie zuckte mit den Schultern. Obwohl – je länger sie darüber nachdachte, irgendwie kam die Frau Luisa doch bekannt vor. Irgendwo hatte sie diese schönen Augen schon mal gesehen, diese Stimme gehört. Nur wo? Und wann?

»Das habe ich mir schon fast gedacht.« Christina lächelte noch immer freundlich. »Ich bin die Notärztin, die Sie gestern in die Klinik gebracht hat.«

»Oh«, entfuhr es Luisa. Christina hatte sie schon gerettet! Und Luisa hatte das alles komplett vergessen. Sie merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie räusperte sich. »Danke.«

»Kein Grund, sich zu bedanken.« Christina lachte. »Das ist doch selbstverständlich. Das ist mein Job.« Sie holte sich einen Stuhl und schob ihn neben Luisas Bett. »Darf ich mich setzen?« Ihre Frage war augenscheinlich nur rhetorisch, denn sie hatte bereits Platz genommen.

»Natürlich«, erwiderte Luisa dennoch aus Höflichkeit. Sie war interessiert, was Christina ihr zu sagen hatte. Sie studierte die Notärztin eingehender. Ihr leicht gebräuntes Gesicht wurde von ihren durchgestuften kinnlangen Haaren, die noch dunkler waren als ihre Augen, umrandet. Doch trotz der genauen Betrachtung konnte sich Luisa an das Gesicht nicht erinnern. Offensichtlich hatte ihr Kopf doch mehr abbekommen, als sie wahrhaben wollte.

»Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht.« Christinas Augen strahlten eine angenehme Wärme aus.

Luisa versuchte, möglichst zufrieden auszusehen. »Danke, ganz okay.«

»Haben Sie Schmerzen?« Christina griff Luisas Hand.

Luisa zuckte bei der unerwarteten Berührung zusammen.

»Entschuldigen Sie.« Christina wollte ihre Hand sofort wieder zurückziehen.

»Nein, schon gut.« Luisa wollte nicht, dass Christina sie losließ. Die Berührung war schön. »Die Schmerzmittel scheinen zu wirken. Mir tut nichts mehr weh. Zumindest nicht viel.« Sie biss sich auf die Unterlippe, als sie versuchte, ihr linkes Bein zu bewegen.

»Dann werde ich Sie wieder allein lassen. Wir sehen uns bestimmt morgen wieder. Ich bin die zuständige Oberärztin auf dieser Station.« Sie zwinkerte Luisa zu. »Aber nachdem ich die ganze Nacht gearbeitet habe, habe ich jetzt erst einmal Feierabend.« Christina stand auf und lächelte Luisa ein weiteres Mal zu, ehe sie die Zimmertür hinter sich schloss.

Seufzend ließ sich Luisa zurück in ihr Bett fallen. Wenn sie schon hierbleiben musste, hatte sie zumindest großes Glück mit ihrer Ärztin. Nicht nur, dass sie sehr nett schien, sie sah auch noch umwerfend aus.

So ein Unsinn, mahnte sie sich selbst. Sie umklammerte ihre Decke und zog sie über ihr Gesicht. Sie sollte einfach daran denken, wieder gesund zu werden und so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Das war jetzt das einzig Wichtige.

Luisa musste doch erneut eingeschlafen sein. Das Öffnen ihrer Zimmertür ließ sie hochschrecken. Christina kam herein und schob ein Gerät vor sich her. Beinahe hätte Luisa sie nicht wiedererkannt. Sie hatte die Notarztklamotten gegen eine weiße Hose und einen Kittel ausgetauscht. Aber das stand ihr mindestens genauso gut.

»Hallo, Frau Harper.« Christina stellte das Gerät ab und setzte sich auf Luisas Bettkante.

»Was machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie haben längst Feierabend.«

»Ich habe meine Pläne geändert.« Christina räusperte sich. »Ich habe gesehen, dass heute noch kein neuer Ultraschall bei Ihnen gemacht worden ist.«

Luisa nickte. »Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Allerdings ist mein Gedächtnis im Moment eher wenig verlässlich.« Sie lachte, auch wenn ihr dieser Gedanke doch etwas unbehaglich war.

Christina stimmte in das Lachen mit ein. »In diesem Fall täuscht Ihr Gedächtnis Sie nicht.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und wurde wieder ernst. »Jedenfalls sollte man nach so einem Unfall gucken, dass die Milz keinen Riss hat. Manchmal zeigt sich eine Blutung erst am nächsten Tag. Deswegen wollte ich das gern noch einmal kontrollieren, wenn das für Sie in Ordnung ist.«

»Selbstverständlich.« Luisa wusste nicht, was sie dagegen haben sollte. »Aber Sie müssen für mich keine Überstunden machen.« Sie wollte nicht schuld daran sein, dass die Oberärztin länger arbeiten musste.

»Das mache ich wirklich gern.« Christina lächelte sie an, ihr Gesicht wirkte ganz entspannt. Es schien ihr tatsächlich nichts auszumachen. Ob sie das für jede Patientin tat?

Christina schloss das Ultraschallgerät an und verdunkelte das Zimmer. »Legen Sie sich am besten ganz entspannt auf den Rücken und ziehen Sie bitte Ihr Oberteil etwas hoch.«

Luisa befolgte die Aufforderung, während sich Christina einen Stuhl neben das Bett rückte. »Ich muss zuerst Ihren Bauch abtasten.«

Kurz darauf spürte Luisa Christinas Finger auf ihrem Bauch, die sorgsam jeden Millimeter abtasteten. Erst ganz sanft, dann fester.

Kleine Stromschläge schienen Luisa zu durchfahren. Ihr ganzer Körper kribbelte unter den Berührungen. War sie jetzt von allen guten Geistern verlassen? Das war einfach eine Untersuchung, wie sie tausende Male am Tag durchgeführt wurde.

»Ich kann nichts tasten. Jedenfalls nichts Schlimmes.« Christina hielt kurz inne. »Nur Ihre Bauchmuskeln.« Sie sah Luisa direkt an. »Sie sind sehr sportlich, oder?«

Luisa merkte, wie sie errötete. Zwar hatte Christina recht, sie war sehr sportlich, aber dennoch war es ihr etwas unangenehm. Nicht, dass es sie nicht freute, wenn sie von Christina ein Kompliment bekam, aber sie war schließlich ihre Ärztin. Und außerdem ging es im Moment um etwas ganz anderes. Sie sollte gar nicht erst über so etwas nachdenken. »Ich bemühe mich«, erklärte sie schließlich.

Christina tippte einiges in den PC. »Verraten Sie mir noch Ihr Geburtsdatum?«

»Dreißigster Sechster achtundachtzig«, sagte Luisa.

»Mein Gott, Sie sind noch so jung.« Christina gab das Datum ein. »Das hätte ich fast vergessen.« Ihre Wangen röteten sich.

»Sehe ich etwa so viel älter aus?«, neckte Luisa Christina.

»Nein, natürlich nicht.« Christina grinste.

»Das hoffe ich aber auch.« Sie grinste ebenfalls.

Christina nahm eine große weiße Flasche und gab etwas von dem Inhalt auf den Ultraschallkopf. »Das könnte jetzt etwas kalt werden.«

Während Christina den Schallkopf auf Luisas Bauch hielt, gleichzeitig den Bildschirm studierte und einige Knöpfe drückte, schwiegen sie.

Christina beugte sich etwas mehr über Luisa. Ihr Duft stieg Luisa in die Nase, ein Hauch von Orchidee. Luisa schloss die Augen. Das Parfüm passte perfekt zu Christina. Anmutig und elegant, genau wie sie es war.

Luisa spürte ihren Herzschlag gegen ihren Brustkorb hämmern. War es ein gutes Zeichen, dass Christina nichts sagte? Sie öffnete die Augen wieder und sah zu der Oberärztin. Sie wirkte hoch konzentriert, ihrem Gesicht war nichts anzusehen. Weder eine gute noch eine schlechte Nachricht.

Luisa hatte das Gefühl, dass die Untersuchung eine halbe Ewigkeit dauerte.

»Ich denke, das reicht.« Christina steckte den Schallkopf wieder in die dafür vorgesehene Halterung zurück. Sie gab Luisa etwas Papier. »Für den Bauch.«

Luisa wischte sich das Gel ab. Dann setzte sie sich auf. »Und?« Sie versuchte, ruhig zu atmen.

Christina sah Luisa direkt in die Augen.

Luisa hielt die Luft an.

»Es ist alles in bester Ordnung. Die Milz sieht ganz gesund aus. Es gibt keinen Grund zur Sorge.« Christina schaltete das Gerät aus und zog den Stecker. »Aber jetzt gehe ich wirklich nach Hause.« Sie zog die Vorhänge zur Seite und schenkte Luisa noch ein letztes Lächeln, bevor sie verschwand.

Fast bedauerte Luisa es, dass sie bis zum nächsten Tag warten musste, bis sie Christina wiedersah. Was hatte diese Ärztin nur an sich, dass sie Luisa so faszinierte?

Wenigstens konnte sie sich so den Krankenhausaufenthalt ein wenig netter gestalten. Und wenn es nur in ihrer Fantasie war.

Als die Wohnungstür hinter Christina ins Schloss fiel, umfing sie augenblicklich die Müdigkeit wie ein bleierner Umhang. Es war eine lange Nacht gewesen, ohne Schlaf, dafür voller ungekannter Empfindungen.

Dabei hatte alles harmlos angefangen, bis zu dieser Sekunde, als sie zufällig diesen Unfall beobachtet hatte. Dieser unerwartete Einsatz hatte alles durcheinandergebracht.

Sie stellte ihre Tasche ab und zog Jacke und Schuhe aus. Es gab wenig schönere Momente, als nach einem Nachtdienst nach Hause zu kommen.

In der Küche schaltete sie den Wasserkocher ein. Es war ihr typisches Ritual. Nach jedem Dienst trank sie einen Kräutertee, bevor sie ins Bett ging. Christina hängte einen Teebeutel in ihre Lieblingstasse, schüttete das kochende Wasser hinein und ging mit der Tasse hinüber zur Couch.

Kaum hatte sie sich hingesetzt, erschien ein Bild von Luisa vor ihren Augen. Christina seufzte.

Luisa.

Was für ein schöner Name. Und was für eine bezaubernde Frau.

Luisa ist nicht mehr als deine Patientin, ermahnte sie sich. Nicht anders als andere. Es gab keinen Grund, zu Hause an sie zu denken.

Außer vielleicht ihr umwerfendes Lächeln, ihre bildhübschen grünen Augen. Ihre herzliche Art.

Christina nahm einen Schluck aus der Tasse. Der Tee war noch so heiß, dass sie sich fast die Zunge verbrannte.

Wären sie sich außerhalb der Klinik begegnet, hätte Christina sicherlich einen Annäherungsversuch gewagt. Und meistens hatte sie damit Erfolg. Nur selten bekam sie eine Abfuhr, auch wenn nie mehr als ein paar aufregende Wochen daraus wurden. An mehr hatte sie aber auch kein Interesse.

Christina seufzte. Die Müdigkeit ließ sie verrücktspielen. Sie musste dringend ins Bett. In ein paar Stunden würde die Welt anders aussehen. Normal. Ohne Gefühlsduseleien.

Sie ließ den Tee Tee sein und ging ins Bad. Wenige Minuten später schlüpfte sie unter ihre Bettdecke. Doch obwohl sie hundemüde war, gönnte ihr Gedankenkarussell ihr keine Ruhe.

Als Notärztin gelang es ihr, in jeder Situation einen kühlen Kopf und den nötigen Überblick zu bewahren, nichts brachte sie aus der Fassung. In ihrem Privatleben fehlte ihr diese Fähigkeit – zumindest heute, zumindest, wenn es Frauen betraf.

Mithilfe von Anne, einer jungen Physiotherapeutin, hatte Luisa am Mittag die ersten Schritte gemacht. Sie durfte das linke Bein dabei kaum belasten und es dauerte ein bisschen, bis sie den richtigen Dreh heraushatte. Das Laufen an den Unterarmgehstützen strengte sie ziemlich an und so war sie froh, als sie nach knapp einer halben Stunde wieder auf ihr Zimmer kam.

»Hallo, mein Kind.« Sie wurde bereits von ihrer Familie erwartet. Ihre Mutter kam auf sie zu und nahm sie in den Arm.

»Hallo, Mama.« Luisa küsste ihre Mutter auf die Wange.

»Dann wünsche ich dir noch einen schönen Nachmittag und bis morgen.« Anne verabschiedete sich von ihr. Luisa nickte zum Abschied.

Ihre Mutter setzte sich an einen kleinen Tisch und Luisa versuchte, es sich auf ihrem Bett bequem zu machen und dabei ihr Bein möglichst schmerzfrei zu platzieren, was gar nicht so einfach war.

»Wie geht es dir? Wie hast du geschlafen? Hast du Schmerzen?« Sofort beschoss ihre Mutter Luisa mit ihren Fragen. Luisa wusste, dass sie einfach besorgt um sie war und es nicht tat, um sie zu ärgern.

»Na ja, könnte besser sein. Das Bein tut schon noch ein bisschen weh. Und auftreten darf ich damit auch nicht richtig.« Luisa verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Ich sag dir schon die ganze Zeit, du solltest lieber Auto fahren.« Ihr Vater seufzte theatralisch. Er saß neben ihrer Mutter an dem kleinen Tisch, der vor dem großen Fenster stand. Im Gegensatz zu ihrer Mutter wirkte er beinahe unbeteiligt. Aber genauso kannte Luisa ihn. »Fahrradfahren ist viel zu gefährlich.«

Innerlich verdrehte Luisa die Augen. Es war Rekordtempo – selbst für ihren Vater. Normalerweise ließ er ihr wenigstens ein paar Minuten Zeit, bis er die unangenehmen Themen ansprach. »Du weißt genau, dass ich mir das nicht leisten kann.« Luisa bemühte sich um einen gelassenen Tonfall, auch wenn die wenigen Worte bereits ausgereicht hatten, sie innerlich zum Kochen zu bringen. Sie presste ihre Zähne so fest aufeinander, dass ihr Kiefer schmerzte.

»Wenn du etwas schneller studieren würdest, hättest du längst einen Job in einer Kanzlei und würdest genug Geld verdienen.«

Da war sie mal wieder. Die Kritik an Luisas Studium. »Ja, ja«, erwiderte Luisa. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie wusste nur zu genau, was ihr Vater von ihrem Studientempo hielt. Er teilte es ihr oft genug mit. Doch sie hatte keine Lust, jetzt mit ihrem Vater eine Diskussion anzufangen.

»Joachim, es ist heute nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu streiten«, bremste ihre Mutter ihn. »Luisa hat gerade einen schweren Unfall überlebt. Es gibt wirklich Wichtigeres im Leben.« Sie sah ihren Mann verärgert an. Es war genau der Blick, mit dem sie ihn immer zum Schweigen bringen konnte. Oft genug hatte ihre Mutter das während Luisas Kindheit erprobt. Und fast immer war es Luisa gewesen, die ihre Mutter damit verteidigt hatte, nachdem sie ihren Vater aufgebracht hatte.

»Danke, Mama, ist schon gut.« Luisa seufzte. Sie konnte sich schon mal mit dem Gedanken anfreunden, wie sie ihrem Vater beibringen sollte, dass sie wahrscheinlich noch ein Semester dranhängen musste, und das, obwohl sie ohnehin schon viel zu langsam vorankam. »Ich weiß selbst, dass ich nicht die schnellste Studentin bin.« Sie goss sich ein Glas Wasser ein. Jura machte ihr einfach keinen Spaß. So sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es nicht, den langweiligen Stoff zu lernen, irgendwie zu verinnerlichen.

Bilder von dem Aushang erschienen vor ihren Augen. Das fett gedruckte Nicht bestanden hinter ihrer Matrikelnummer. Wohin hatte sie das unsägliche Studium gebracht? Ins Krankenhaus! Wäre sie beim Fahrradfahren nicht so abgelenkt gewesen, wäre das sicherlich nicht geschehen. Wahrscheinlich hatte der Chefarzt recht gehabt. Sie hatte einen Schutzengel gehabt. Es hätte auch alles sehr viel schlimmer ausgehen können.

»Lasst uns nicht streiten.« Luisas Mutter bemühte sich, mit einem Lächeln die angespannte Stimmung zwischen Luisa und ihrem Vater aufzulockern. »Es ist doch egal, wie lange du brauchst. Hauptsache, dir ist nichts Schlimmeres passiert.«

Luisa trank ihr Glas in einem Zug leer. »Das stimmt.«

Wie immer mit dem richtigen Händchen fürs Timing betrat in diesem Moment Vanessa das Zimmer.

»Hallo, Lulu.« Zur Begrüßung umarmte sie ihre Schwester. »Wie ich sehe, durftest du die Intensivstation verlassen.« Aus ihrer stylishen beigefarbenen Handtasche holte sie einen Stapel Zeitschriften und legte sie auf den Nachttisch. »Damit dir nicht zu langweilig wird.«

»Danke.« Luisa lächelte ihre Schwester an. Schon auf den ersten Blick erkannte Luisa, dass es eine Auswahl von Vanessas Lieblingsmagazinen war. Die, in denen genau diese Art von Outfits angepriesen wurde, die ihre Schwester trug. Überhaupt nicht das, was Luisa normalerweise las. Aber so war ihre Schwester eben. In erster Linie dachte sie an sich. Sie konnte nicht verstehen, dass es Menschen gab, die nicht so waren wie sie.

Sie sprachen ein wenig über die Arbeit. Oder besser gesagt, Vanessa erzählte von der Apotheke und ihr Vater fragte nach.

»Im Moment ist jeden Tag die Hölle los. Ich weiß gar nicht, warum.« Vanessa stieß hörbar Luft aus.

»Das kenne ich. Als wir damals noch die Apotheke hatten, war es manchmal genauso. Aber du machst das schon. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.«

»Wenigstens habe ich sehr kompetente Mitarbeiter.«

»Ja, das stimmt. Frau Groß zum Beispiel.« Luisas Vater verschränkte seine Hände. »Schade, dass sie kein Abitur hat. Sie hätte auch sehr gut Pharmazie studieren können.«

»Wie geht es Floh?«, fragte Luisa irgendwann dazwischen und erntete dafür einen bösen Blick ihres Vaters. Aber die Hand von Luisas Mutter auf seiner Schulter sorgte dafür, dass er nichts sagte. Luisa konnte förmlich sehen, wie er die Worte, die er im Mund hatte, wieder hinunterschluckte.

»Ich glaube, er vermisst dich.« Vanessa zuckte mit den Schultern. Ihr Pferdeschwanz wippte auf und ab. »Niemand außer dir hätte sich eines streunenden Katers angenommen. Das weiß er wohl zu schätzen.«

»Floh ist einfach der beste Kater der Welt.« Noch immer konnte Vanessa nicht verstehen, dass Luisa damals Floh bei sich aufgenommen hatte, nachdem sie ihn auf der Straße gefunden hatte. Sie hatte sämtliche Tierheime abgeklappert, alle Anzeigen studiert, kein Mensch schien Floh zu vermissen. Also hatte sie beschlossen, dem armen Tier ein neues Zuhause zu geben. Vanessa hatte ziemlich schnell deutlich gemacht, dass sie davon gar nichts hielt. Bei ihr würde, wenn überhaupt, nur eine Rassekatze Einzug halten. Aber das war nun mal eben der Unterschied zwischen ihnen. Dabei war Floh der tollste Kater, den man sich nur wünschen konnte. »Ich vermisse ihn auch.«

»Bis du hier raus bist, kümmere ich mich schon um ihn.« Im Gegensatz zum Vortag sah Vanessa nicht mehr ganz so gequält aus.

»Abendbrotzeit.« Eine Krankenschwester kam mit einem Tablett ins Zimmer. Luisa hatte gar nicht mitbekommen, wie schnell die Zeit vergangen war. Allerdings gab es im Krankenhaus auch bereits am späten Nachmittag das Abendessen.

»Dann werden wir dich jetzt mal in Ruhe lassen.« Luisas Mutter stand auf und verabschiedete sich mit einer erneuten Umarmung von ihr. Ihr Vater und ihre Schwester folgten ihrem Beispiel. Und kurz darauf war Luisa wieder allein.

Als Luisa am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich wie gerädert. Sie hatte die Nacht kaum geschlafen, hatte sich stundenlang im Bett hin und her gewälzt, weil sie einfach nicht wusste, wie sie bequem liegen sollte. Ihr Bein hatte wehgetan, aber das Angebot einer zusätzlichen Schmerztablette oder einer Schlaftablette, das die Nachtschwester ihr gemacht hatte, hatte sie abgelehnt. Sie wollte sich nicht mit Medikamenten vollpumpen oder gar abschießen.

Sofort war ihr das nachmittägliche Gespräch mit ihrer Schwester und ihren Eltern wieder in Erinnerung. Konnte ihr Vater nicht wie ihre Mutter froh sein, dass nicht mehr passiert war? Dass sie noch lebte? Dass sie keine schwere Gehirnverletzung hatte?

Doch bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen konnte, kam bereits die diensthabende Krankenschwester in ihr Zimmer. Luisa seufzte. Zeit, zu reflektieren, blieb einem in der Klinik nicht. Ständig kam jemand zu ihr.

Aber zumindest schaffte sie es an diesem Tag, mithilfe der Schwester und ihrer Krücken, zum Waschbecken zu humpeln und sich zu waschen, ehe die Visite kam. Es war ein gutes Gefühl, sich wenigstens etwas Selbstständigkeit und Normalität bewahren zu können.

Um Punkt neun kam die Stationsärztin Frau Dr. Morgenroth, die Luisa bereits am Vortag kennengelernt hatte, in ihr Zimmer.

»Wie geht es Ihnen heute?«, erkundigte sie sich nach Luisas Zustand. »Haben Sie Schmerzen?«

Unwillkürlich zuckte Luisa zusammen. Es konnte eigentlich gar nicht sein. Frau Dr. Morgenroth klang haargenau wie Jessica. Die etwas zu hohe, fast quietschende Stimme, der gleiche Tonfall, die gleiche Art, die Wörter zu betonen. Hätte Luisa es nicht besser gewusst, hätte sie denken können, dass sie Schwestern waren. Aber ihre Ex war Einzelkind. Ein typisches verwöhntes Einzelkind.

Ehe Luisa auf die Fragen antworten konnte, klingelte das Telefon von Frau Dr. Morgenroth.

»Verzeihen Sie.« Die Ärztin lächelte Luisa entschuldigend an und nahm ab. »Hallo, Christina. Ja, ich bin gerade bei ihr.« Frau Dr. Morgenroth runzelte die Stirn. »In Ordnung, dann warte ich.« Sie legte leicht kopfschüttelnd auf. Wieder eine Geste, die Luisa unwillkürlich an Jessica denken ließ. Das hatte Luisa gerade noch gefehlt. An ihre Ex wollte sie sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Sie war froh, sie die überwiegende Zeit aus ihrem Gedächtnis gestrichen zu haben.

»Es tut mir leid.« Die Stationsärztin wandte sich wieder an Luisa. »Das war Frau Dr. Wieders. Sie möchte zur Visite dazukommen.« Ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich ihre Verwunderung.

Als sich kurz darauf die Zimmertür öffnete und Christina lächelnd hereinkam, spürte Luisa, wie ihr Herz schneller schlug und sie sich freute. Schon im Bad hatte sie sich gefragt, ob sie die Oberärztin heute Morgen wiedersehen würde.

Luisa erwiderte Christinas Lächeln. Auch sie erkundigte sich nach Luisas Befinden, aus ihrem Mund klang es eindeutig interessierter als bei Frau Dr. Morgenroth.

»Ich habe ziemlich schlecht geschlafen«, sagte Luisa. »Aber ansonsten geht es bergauf.«

»Das freut mich zu hören.« Christina blätterte Luisas Akte durch. »Sie können noch mehr Schmerzmittel bekommen, wenn Sie möchten. Sie sind noch in einem sehr niedrigen Bereich.«

Luisa schüttelte den Kopf. »Nein danke, es geht schon.«

»Melden Sie sich aber bitte, wenn Sie doch noch etwas brauchen.« Christina sah Luisa tief in die Augen. Und für einen winzigen Moment vergaß Luisa, wo sie war. Christina schien es ähnlich zu gehen. Erst ein Räuspern von Frau Dr. Morgenroth ließ sie ihren Blick von Luisa abwenden. Sie drehte sich zu Frau Dr. Morgenroth: »Simone, du kannst ruhig schon gehen und weitermachen.« In Christinas Stimme lag ein leichtes Zittern. »Ich habe noch ein paar Fragen an Frau Harper. Wir sprechen dann später über den Rest.«

Frau Dr. Morgenroth warf Christina einen seltsamen Blick zu. »Wie du meinst.« Beim Hinausgehen konnte Luisa erkennen, wie sie die Augen verdrehte. Das, was sie dabei brummte, konnte Luisa nicht verstehen. Die Ähnlichkeit mit Jessica war verblüffend. Luisa schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an ihre Ex zu vertreiben.

»Alles in Ordnung?«, hakte Christina vorsichtig nach. Sie musste Luisas Irritation bemerkt haben.

»Ja, mir ist gerade nur etwas eingefallen.«

»Haben Sie gestern mit der Physiotherapeutin geübt?«

»Ich bin ein paar Runden über den Flur gelaufen. Das hat ganz gut geklappt, aber war noch ziemlich anstrengend.«

Christina notierte etwas. »Wahrscheinlich werden Sie um eine Reha nach der stationären Behandlung nicht drum herumkommen. Es liegt noch ein gutes Stück Arbeit vor Ihnen.«

»Wie lange wird das dauern?« Luisa faltete ihre Hände. »Damit ich auch wegen des Studiums planen kann«, schob sie hinterher.

»Wenn alles gut geht, können Sie in ungefähr einer Woche nach Hause. Wir werden die Reha beantragen, aber es kann gut sein, dass Sie noch einige Tage zu Hause sind, bevor es losgeht. Und in der Regel dauert die Reha noch mal ungefähr drei Wochen.« Christina neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Aber bis Sie wieder ganz einsatzbereit sind, wird es sicherlich mindestens drei Monate dauern.«

»Die werden schon vorübergehen.« Etwas Ähnliches hatte Luisa sich schon gedacht.

»Auf jeden Fall. Und Sie haben noch ihr ganzes Leben vor sich.«

»Dank Ihnen.« Luisa rutschte es einfach raus. »Sie haben mich gerettet.«

»Auch wenn ich Ihre Notärztin war, Sie hätten den Unfall glücklicherweise auch ohne mich überlebt.« Christina lachte warm. »Es war eher ein Schutzengel, der Sie gerettet hat.« Sie zwinkerte Luisa zu, dann sah sie auf ihre Uhr. »Ich muss jetzt leider weiter.« In ihren Augen lag Bedauern. »Aber ich werde heute Abend nach der Physiotherapie noch mal nach Ihnen sehen.«

»In Ordnung«, sagte Luisa, auch wenn sie eigentlich nicht wollte, dass Christina wieder ging. »Bis nachher.« Ihr fiel nichts Besseres ein, erst recht nichts, was Christina vielleicht doch zum Bleiben gebracht hätte.

In ihren Gedanken durchlebte Luisa die Visite noch einmal, als die Tür hinter Christina ins Schloss gefallen war. Auch Frau Dr. Morgenroth schien sich über Christinas Verhalten gewundert zu haben. Oder hatte sich Luisa das nur eingebildet?

Sie war einfach nur eine Patientin – für Christina genauso wie für Frau Dr. Morgenroth. Was wollte sie auch mehr? Sie hatte genug von der Liebe, von Beziehungen. Der Gedanke an Jessica hatte ihr gereicht.

Sie brauchte sich nicht noch einmal betrügen lassen. Es hatte genügt, dass Jessica sie so schamlos hintergangen hatte. Luisa hatte sich nicht umsonst geschworen, die Finger von den Frauen zu lassen. Zumindest fürs Erste.

Luisa nahm eins der Magazine von ihrem Nachttisch, die Vanessa ihr mitgebracht hatte, und begann es durchzublättern. Alles war besser, als an ihre gescheiterte Beziehung zu denken. Oder an eine unerfüllte Schwärmerei, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt war, selbst ein stupides Modemagazin.

Im Gegensatz zu den vorausgegangenen Tagen war samstags im Krankenhaus nicht viel los. Abseits der regelmäßigen Mahlzeiten passierte nichts. Aber Luisa konnte diese Ruhe gebrauchen. Etwas Zeit, durchzuatmen.

Christina hatte ihr Versprechen gehalten und war gestern am späten Abend noch bei ihr gewesen.

Christina . . . Luisa seufzte. Die Ärztin hatte sich in den letzten Tagen sehr häufig in ihre Gedanken und ihre Träume geschlichen. Wie gern hätte sie mehr über sie erfahren, sich mit ihr über Persönliches unterhalten. Doch bisher hatte sie Christina gegenüber nur von sich selbst erzählt. Luisa hatte von der Ärztin nichts erfahren. Sie war immer professionell geblieben.

Wem machte Luisa eigentlich etwas vor? Es war ihr längst klar, dass Christina ihr Interesse geweckt hatte.

Christina war eine tolle Frau, äußert attraktiv dazu. Sie übte einen ungeahnten Reiz auf Luisa aus. Sie konnte sich nicht dagegen wehren. Den ganzen Tag hatte Luisa sich auf das Wiedersehen gefreut und als es immer später wurde, hatte sie schon gedacht, Christina würde nicht mehr kommen. Enttäuschung hatte sich breitgemacht.

Und dann war sie doch noch gekommen. Es musste längst nach Feierabend gewesen sein. Aber Christina hatte es nicht eilig gehabt. Sie hatte sich unendlich viel Zeit genommen, um mit Luisa zu reden.

»Überraschung.« Annettes Stimme riss Luisa aus ihren Gedanken. Ihre beste Freundin stand plötzlich in ihrem Zimmer. Sie umarmte Luisa und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»Annette! Das ist wirklich eine Überraschung.«

»Ich habe es leider nicht früher geschafft.« Annette zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich wollte dich schon längst besucht haben, aber die Kanzlei hat mich festgehalten.«

»Kein Problem. Ich freue mich, dass du hier bist.« Erst jetzt löste Luisa die Umarmung. »Hast du Lust auf einen Kaffee? Dann könnten wir ins Panorama-Café gehen. Die Aussicht über die Stadt ist großartig.« Ihr Blick fiel auf ihr verletztes Bein. Sie zog eine Grimasse. »Gehen ist vielleicht doch nicht der richtige Ausdruck. Aber wenn es dir nichts ausmacht, könnten wir einen Rollstuhl nehmen und du schiebst mich.« Sie grinste Annette breit an.

»Klar. Und dann erzählst du mir alles, was passiert ist. Aus deiner SMS bin ich nicht schlau geworden.« Annette legte einen Arm um Luisas Schulter. »Und was interessiert mich die Aussicht über die Stadt, wenn ich dich habe?«

Luisa knuffte ihre beste Freundin in die Seite. »Gegen Manuela habe ich doch gar keine Chance.« Schon seit der Studienzeit neckten sich die beiden gegenseitig – das zeichnete ihre Freundschaft aus – dabei hatte keine von ihnen jemals ernsthaft Interesse an der anderen gehabt, das über eine Freundschaft hinausging.

»Komm.« Luisa humpelte zum Safe und nahm ihr Portemonnaie heraus. Wenige Schritte konnte sie mittlerweile ganz gut bewältigen, auch wenn es immer noch Mühe kostete und schmerzte.

»Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sagte Annette, während Luisa Platz in einem Rollstuhl nahm, der neben ihrem Bett stand. Annette schob sie auf den Flur. »Was dir alles hätte passieren können!«

Vor dem Fahrstuhl blieben sie stehen. Luisa betätigte den Knopf. »Glaub mir, ich hätte es auch lieber anders gehabt.«

»Ach, hallo, Frau Harper.« Plötzlich stand Christina neben ihnen. »Ich war gerade bei Ihnen auf dem Zimmer, da habe ich Sie wahrscheinlich genau verpasst.«

Luisas Herz klopfte heftig und sie musste unwillkürlich lächeln, debil grinsen traf es vielleicht besser. »Was machen Sie denn hier, Frau Dr. Wieders? Haben Sie am Wochenende nicht frei?«

Christina wippte leicht auf und ab, trat von einem Fuß auf den anderen. »Eigentlich schon. Aber ich muss noch einige Dinge erledigen, zu denen ich in der Woche nicht gekommen bin.«

»Obwohl Sie schon immer so lange hier sind?«

Christina zuckte mit den Schultern. »Na ja, es ist immer eine Frage der Prioritäten.«

Die Fahrstuhltür öffnete sich.

»Wir wollen ins Café«, erklärte Luisa. Als ihr Blick auf Annette fiel, die sich in die geöffnete Fahrstuhltür gestellt hatte, fügte sie noch hinzu: »Und das ist meine beste Freundin, Annette Gerhardt. Wir haben zusammen studiert.«

»Freut mich.« Christina streckte ihre Hand aus. »Ich bin Christina Wieders, die behandelnde Ärztin von Luisa.«

Annette ergriff Christinas Hand. »Schön, Sie kennenzulernen.« Luisa entging der Blick nicht, mit dem Annette Christina ausgiebig musterte. »Passen Sie gut auf Luisa auf. Ich brauche Sie noch.«