Zwei Herzen, ein Takt - Julia Schöning - E-Book

Zwei Herzen, ein Takt E-Book

Julia Schöning

0,0

Beschreibung

Als Tanzlehrerin Vivi die finanziell angeschlagene Tanzschule ihres Vaters übernehmen muss, ist ihr bisheriges lockeres Leben vorbei. Sie tröstet sich mit einem One-Night-Stand mit der Anwältin Alessa, was sie hinterher jedoch bedauert und Alessas Kontaktversuche kategorisch ablehnt. Doch unerwartet treffen sie sich wieder, als Alessas schwuler Freund sie zum Tanzunterricht schleppt. Vivi fällt es immer schwerer, sich gegen ihre Gefühle für Alessa zu wehren, zumal sie Verbündete im Kampf um den Erhalt ihrer Tanzschule braucht, denn ein Konkurrent lauert nur darauf, die Schule übernehmen zu können ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 372

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Julia Schöning

ZWEI HERZEN, EIN TAKT

Roman

© 2019édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-278-7

Coverillustration:

Dein Vater hatte einen Schlaganfall.

Noch immer hallten die Worte in ihrem Gedächtnis nach. Unauslöschlich. Der Telefonanruf ihrer Mutter am Tag zuvor hatte sie völlig unvermittelt erreicht. Auf Fuerteventura.

Dein Vater hatte einen Schlaganfall.

Vivi hatte sofort gewusst, dass dieser eine Satz ihr Leben komplett auf den Kopf stellen würde, dass sich alles ändern würde. Nichts würde bleiben, wie es war. Und doch hatte sie nicht mit dem gerechnet, was sie erwartete, als sie am Nachmittag in Münster angekommen und ins Krankenhaus geeilt war.

Und jetzt saß sie hier. Allein in einer Bar in ihrer Heimatstadt. Gedankenverloren rührte sie in ihrem Gin Tonic.

Der Anblick ihres kranken Vaters hatte ihr das Herz zerrissen. Er hatte kaum reagiert, und überall hingen Kabel an ihm. Die rechte Seite hatte er gar nicht bewegen können, und gesprochen hatte er auch nicht. Nichts war mehr übrig von dem stattlichen Mann, den Vivi in Erinnerung hatte.

Ausgerechnet ihr Vater, der immer so aktiv und sportlich gewesen war, gesund gelebt hatte. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.

»Noch einen?«, fragte die Barkeeperin mit Blick auf Vivis leeres Glas.

Sie nickte stumm, und nur wenige Sekunden später stand ein neuer Longdrink vor ihr. Er schmeckte ebenso bitter wie der letzte. Aber der Alkohol würde ihr helfen.

Was sollte jetzt aus ihr werden? Aus ihrem bisherigen Leben? Würde sie in dieser Saison noch einmal nach Fuerteventura zurückkehren können? Und was würde aus ihrem Vater werden?

Sie biss sich auf die Unterlippe, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Die melancholische Klaviermusik, die sanft im Hintergrund spielte, machte ihre Stimmung nicht besser.

»Kannst du mir noch einen Kaffee machen?«, wandte sie sich nach einigen weiteren schweigsamen Minuten an die Barkeeperin. Sie malte ein paar Kreise mit ihren Fingern auf die dunkel glänzende Theke.

Die schwarze Flüssigkeit tropfte aus der modernen Siebträgermaschine in eine Tasse und verströmte ein intensives Aroma.

»Milch und Zucker?«

»Nein, ohne alles bitte. Und möglichst stark.« Sie benötigte eine ordentliche Portion Koffein gegen die bleierne Müdigkeit. In der vergangenen Nacht hatte sie kaum geschlafen.

Nachdem sie einen Flug gebucht, mit ihrem Chef gesprochen und ihre Sachen gepackt hatte, war sie innerlich so aufgewühlt gewesen, dass an Schlaf nicht zu denken gewesen war. Und auch jetzt wusste sie, dass sie kein Auge zumachen würde, wenn sie zu Hause in ihrem Bett lag. Ihre Gedanken würden ihr keine Ruhe lassen. Genau deswegen war sie hergekommen. Sie wollte sich ablenken.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Es dauerte einen Moment, bis Vivi begriff, dass sie gemeint war. Erst ein erneutes »Darf ich nun?« machte ihr bewusst, dass sie angesprochen wurde. Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht eines mindestens zwanzig Jahre älteren Mannes, der sie mit seinen schiefen Zähnen anlächelte und dabei in seinem Markenanzug den Eindruck vermittelte, als sei er davon überzeugt, der attraktivste Mann der Welt zu sein.

»Ähm . . .«, setzte sie an. Aber noch ehe sie richtig antworten konnte, zog sich der Mann einen Barhocker zurecht, um seinen üppigen Körper darauf zu platzieren.

»Entschuldigen Sie.« Plötzlich drängte sich eine kleine Frau zwischen sie. »Ich glaube nicht, dass meine Freundin Interesse daran hat, dass Sie sich zu uns setzen.« Sie funkelte den Mann böse an.

»Ihre Freundin?« Seine Blicke sprangen verwirrt von Vivi zu der Frau mit den dunklen Locken und wieder zurück. Ihr eigener Gesichtsausdruck war wahrscheinlich nicht weniger durcheinander.

Noch ehe sie begriff, was gerade passierte, fuhr die Fremde fort: »Ja, genau.« Sie legte ihre Hand auf Vivis Arm. Vivi spürte eine angenehme Wärme auf ihrer Haut. »Oder meine Frau. Oder meine Partnerin. Wie auch immer Sie das nennen wollen«, fuhr die Frau fort, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Sie setzte sich auf den Hocker, den der Mann mittlerweile gezwungenermaßen freigegeben hatte, weil die dunkelhaarige Schönheit ihm gar keine andere Wahl gelassen hatte.

»Und ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie uns nun wieder alleinlassen.« Ihr Tonfall ließ keinerlei Widerrede zu. Mit einem Zeigefinger schob sie die Brille auf ihrer Nase ein Stückchen hoch.

Vivi saß einfach nur da und beobachtete, wie sich der Mann umdrehte und fluchend abzog. »Blöde Kühe«, konnte sie gerade noch vernehmen.

Die Fremde lächelte sie an. »Entschuldige, ich hoffe, das war okay. Aber du sahst nicht so aus, als hättest du Interesse an seiner Gesellschaft.«

Nur mühsam fand Vivi ihre Sprache wieder. »Ja, vielen Dank.«

»Ich bin übrigens Alessa.« Die Dunkelhaarige streckte ihr die Hand entgegen. »Und wenn du lieber deine Ruhe haben möchtest, bin ich sofort wieder weg.« Sie lächelte entwaffnend.

Vivi wusste selbst nicht genau, was sie eigentlich wollte. Aber sie wusste, dass Alessa sie überrascht hatte, und das imponierte ihr. Sie ergriff die Hand. »Vivi«, stellte sie sich vor. »Ich glaube, ich bin heute keine gute Gesellschaft, trotzdem würde ich mich freuen, wenn du noch ein bisschen bleibst.« Eine kleine Plauderei mit Alessa würde vielleicht für die gewünschte Ablenkung sorgen.

Alessa bestellte ebenfalls einen Gin Tonic, dann wandte sie sich wieder an Vivi. »Möchtest du darüber reden?«

»Worüber?«

»Über den Grund, warum du so schrecklich traurig aussiehst.«

Vivi schüttelte den Kopf und nahm einen großen Schluck von ihrem Drink. »Ehrlich gesagt, im Moment nicht.«

Alessa nickte. »Kein Problem. Aber wenn du deine Meinung änderst, höre ich dir gern zu. Manchmal hilft reden.«

Während Alessa ihr Glas in die Hand nahm, sah Vivi sie etwas genauer an. Alessa musste in etwa in ihrem Alter sein. Ihre dunklen Locken fielen offen auf ihre Schultern. Das dunkle, eckige Brillengestell passte gut zu ihren dunkelbraunen Augen und verlieh ihr etwas Seriöses. Und sie war sehr attraktiv.

»Bist du Spanierin?«, fragte Vivi.

Alessa schüttelte den Kopf. »Nein, aber fast. Meine Eltern sind Italiener.«

Das erklärte das südländische Aussehen. »Das war wirklich nett von dir gerade«, sagte Vivi nach einer Weile. »Danke.«

»Keine Ursache. Ich habe . . .« Alessa brach ab und starrte in ihr Glas.

»Ja?«, hakte Vivi nach.

»Vergiss es.« Alessa errötete leicht. Das passte gar nicht zu dem ersten Eindruck, den Vivi von ihr bekommen hatte. Sie hatte Alessa keineswegs für schüchtern gehalten.

»Du solltest wissen, dass ich sehr neugierig bin und nicht so schnell aufgebe. Also, was wolltest du gerade sagen?«

Alessa seufzte, aber dann lächelte sie. Neben ihrem Mund bildeten sich kleine, unwiderstehliche Grübchen. »Ich habe dich schon eine Weile beobachtet«, gestand sie. »Du bist mir in dem Moment aufgefallen, als du die Bar betreten hast. Aber du sahst so gedankenverloren und mitgenommen aus, dass ich dachte, dass du bestimmt keine Lust hast, dich mit mir zu unterhalten. Aber als dann dieser widerliche Typ kam . . .« Sie zuckte die Schultern.

». . . hast du mich vor ihm gerettet«, vollendete Vivi den Satz.

Sie hatte gar nicht bemerkt, wie voll die Bar war, freie Tische gab es gar nicht mehr. Die Luft war heiß und stickig geworden. Es tat ihr fast leid, dass ihr Alessa nicht aufgefallen war. Normalerweise hätte sie so eine Frau nicht übersehen. Aber heute war eben nichts normal.

Vivi atmete tief durch. Genug davon. »Was machst du eigentlich Samstagabend allein in dieser Bar?«, fragte sie.

Alessa strich ihre rote Bluse glatt. »Ich bin quasi erst heute nach Münster gezogen, aber da meine Wohnung noch nicht fertig ist, schlafe ich im Hotel. Und bevor mir dort die Decke auf den Kopf fällt, dachte ich, ich genehmige mir einen Cocktail. Oder auch zwei.« Sie prostete Vivi zu. »Ich hatte ehrlich gesagt auf eine so charmante Begegnung wie diese gehofft.«

»Danke, das kann ich nur zurückgeben.« Dass Vivi sich eigentlich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie der Abend werden sollte und sie einfach nur von zu Hause weggewollt hatte, verschwieg sie. »Dann auf einen schönen Abend.« Sie stieß mit Alessa an. »Warum ziehst du denn nach Münster?«

»Ich fange Montag einen neuen Job an.«

»Lass mich raten!« Vivi betrachtete Alessa eingehend. Dann legte sie einen Zeigefinger an ihre Lippen. »Was könnte eine Frau wie du machen?« Sie runzelte die Stirn. »Für eine Lehrerin bist du eindeutig zu sexy. Du würdest die armen Schüler nur ablenken.«

Alessa wich ihrem Blick aus. »Übertreib nicht.«

»Das meine ich ernst.« Jetzt war Vivi ganz in ihrem Element. Sie liebte es, offensiv zu flirten.

In ihrer Zeit als Animateurin hatte sie in den letzten Jahren häufig Frauen kennengelernt. Der Urlaub machte sie meist locker und entspannt, und nur die wenigsten waren einem Abenteuer abgeneigt gewesen. Vivi hatte das gern ausgenutzt. Insbesondere weil klar war, dass spätestens zum Rückflug alles zu Ende war. Es hatte keine Verpflichtungen gegeben.

»Du bist sehr elegant gekleidet«, fuhr sie fort, und unweigerlich fiel ihr Blick auf Alessas nackte Knie, die ihr leicht hochgerutschter Rock freigab. »Du hast auch etwas Ernsthaftes an dir. Du siehst aus, als könnte man dir etwas Wichtiges anvertrauen.« Sie legte den Kopf ein wenig schief.

Alessa schien sich etwas zu entspannen und grinste. »Jetzt bin ich gespannt.«

»Vielleicht bist du Bankerin oder Versicherungsmaklerin.«

Alessa schüttelte amüsiert lachend den Kopf. »Nein, du liegst daneben. Aber einen Versuch gebe ich dir noch.«

Vivi sah Alessa tief in die Augen, und für einen ganz kurzen Moment vergaß sie alles um sich herum. Sie schluckte.

»Also?«, holte Alessa sie wieder in die Realität zurück.

»Du bist Anwältin oder so was.«

Alessa klatschte in die Hände. »Wow, bravo. Volltreffer. Ich bin tatsächlich Anwältin. Und was machst du beruflich? Bestimmt etwas, bei dem man hartnäckig und neugierig sein muss und Leute auf den ersten Blick einschätzen können muss.« Sie hielt einen Moment inne. »Bist du Detektivin? Oder Kriminalbeamtin?«

»Um Gottes willen.« Vivi lachte laut auf. Und das tat gut. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass sie sich etwas unbeschwerter fühlte. Aber der Gedanke an ihren Beruf ließ sie sofort wieder hart auf den Boden der Realität aufschlagen.

»Tut mir leid«, sagte Alessa, die wohl Vivis abrupten Stimmungswechsel bemerkt hatte. »Wenn das kein gutes Thema ist, vergiss meine Frage bitte.«

»Nein, mir tut es leid.« Vivi verwischte das Kondenswasser, das sich an ihrem Glas gebildet hatte. »Ich bin Tanzlehrerin und Fitnesstrainerin. Und eigentlich sollte ich auf Fuerteventura sein.« Sie hob tief einatmend die Schultern. »Dort habe ich zuletzt als Animateurin in einem Hotel gearbeitet.«

»Auch ein Job, bei dem man viel Menschenkenntnis braucht.«

Vivi nickte. »Stimmt.«

Alessa rutschte ein Stückchen näher zu Vivi. Ihr Blick wurde ernst. »Möchtest du jetzt vielleicht darüber reden, warum du hier bist und so traurig aussiehst?« Sie klang aufrichtig interessiert.

Vivi holte erneut tief Luft. Vielleicht half es ja. »Mein Vater hatte gestern einen Schlaganfall, und deswegen bin ich heute zurück nach Münster gekommen.« Als die Worte erst einmal ausgesprochen waren, spürte sie eine gewisse Erleichterung.

»Das tut mir sehr leid.« Alessa nahm Vivis Hand in ihre. »Kann ich irgendetwas für dich tun?«

»Nein, danke.« Schnell zog Vivi ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.

Alessa schien nur für einen kurzen Moment irritiert, aber nicht beleidigt zu sein. Ihre dunklen Augen ruhten erwartungsvoll auf Vivi, die eigentlich nicht weitersprechen wollte.

Aber dann sprudelten die Worte doch aus ihr heraus. »Mein Vater hat hier in Münster eine Tanzschule, die ich eines Tages übernehmen soll, aber ich fürchte . . .« Sie brach ab. Die Bilder von ihrem kranken Vater tauchten vor ihr auf. Das konnte sie nicht ertragen. Wenn kein Wunder geschehen würde, würde er nie wieder tanzen können. Und der besagte Tag würde sehr viel schneller kommen als erwartet.

Vivi drehte sich leicht von Alessa weg. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. »Das Taktgefühl ist sein Leben«, fuhr sie fort. »Tanzen ist sein Leben.« Ihre Stimme klang kratzig. »Aber lass uns nicht darüber reden.« Sie richtete sich wieder auf, räusperte sich und wandte sich an die Barkeeperin. »Noch zwei Gin Tonic«, orderte sie. Damit war dieses Thema für sie erledigt.

»Kommst du aus Münster?«, fragte Alessa nach einer Weile der Stille.

»Ja, ich bin hier geboren und aufgewachsen, aber irgendwann hat es mich in die Welt hinausgezogen.« Vivi nahm den Strohhalm zwischen ihre Lippen und sog daran. So langsam spürte sie den Alkohol. Und der Drink schmeckte gar nicht mehr ganz so bitter, sondern eher angenehm süßlich.

»Und dann bist du Animateurin geworden?«, mutmaßte Alessa.

»Genau.«

»Das stell’ ich mir ziemlich spannend vor.«

»Es klingt deutlich spannender, als es ist, vor allem ist es anstrengend.« Langsam entspannte sich Vivi ein bisschen. Sie fühlte sich auf sicherem Terrain. Ähnliche Gespräche hatte sie schon viele Male geführt. Viele Gäste in den Clubs erkundigten sich danach. »Aber es macht auch sehr viel Spaß. Man lernt viele neue Leute kennen, alle sind glücklich und zufrieden, weil sie im Urlaub sind. Die Stimmung ist gut und man kommt herum.« Sie sah Alessa in die Augen. Dieses Mal war sie es, die Alessas Nähe suchte, und sie legte ihre Hand auf Alessas Oberschenkel. Sie wusste selbst nicht, warum sie das plötzlich tat. Aber es fühlte sich gut an. Genau das brauchte sie jetzt.

Alessa zuckte kurz zusammen und schloss für einen winzigen Moment ihre Lider. »Wo warst du denn schon überall?« Ihre Stimme war eine Nuance dunkler geworden. Das gefiel Vivi.

»In Ägypten, der Türkei, in Andalusien, auf Gran Canaria und auf Kreta. Und jetzt eben noch auf Fuerteventura. In den meistens Clubs bin ich nur eine oder zwei Saisons lang gewesen. Sonst wäre es schnell langweilig geworden.« Ihr Daumen begann kleine Kreise auf Alessas Bein zu zeichnen.

Alessas Lippen öffneten sich einen kleinen Spalt. Eine Geste, die Vivi unweigerlich erregte. »Und was machst du dann den ganzen Tag?« Es kostete Alessa sichtbare Mühe, die Worte hervorzubringen.

Spätestens jetzt wusste Vivi, was sie wollte. Sie wollte Alessa küssen, sie wollte sie verführen. Sex war noch immer ihr bestes Mittel gegen allen Kummer. »Interessiert dich das wirklich?« Sie beugte sich etwas näher zu Alessa. Sie roch süß, nach einer Mischung aus Mango und Kokos. »Was hältst du davon, wenn wir stattdessen lieber gehen?«, raunte sie in Alessas Ohr.

Alessa nickte. »Wir können zu mir ins Hotel.« Ihre Stimme zitterte leicht.

Vivi zahlte schnell und bestellte ein Taxi für sie.

»Komm!« Alessa ergriff Vivis Hand, nachdem sie aus dem Taxi ausgestiegen waren, und zog Vivi mit sich in die Hotellobby. Offensichtlich hatte sie es eilig. Vielleicht waren Vivis Finger, die sich schon im Taxi unter Alessas Rock geschoben hatten und millimeterweise Alessas Oberschenkel hinaufgewandert waren, nicht unschuldig daran gewesen.

Vor dem Fahrstuhl blieben sie stehen. »Mein Zimmer ist in der vierten Etage.« Alessa drückte auf den Knopf.

Vivis Puls ging schneller. »Lass uns die Treppe nehmen.«

»Warum?« Alessa runzelte die Stirn. »Der Fahrstuhl ist bestimmt sofort da.«

»Bitte«, war alles, was Vivi erwiderte. Auf lange Erklärungen hatte sie jetzt keine Lust. Dieses Mal war sie es, die Alessa mit sich zog. Alessa ließ es widerstandslos geschehen. Und so kamen sie wenig später etwas außer Atem vor Alessas Zimmertür an.

Es dauerte einen Moment, bis das Schloss aufsprang und sie in das Zimmer schlüpfen konnten.

Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, drängte Vivi Alessa von innen dagegen. »Endlich sind wir allein.« Sie lächelte und strich zärtlich Alessas dunkle Locken hinter ihr Ohr. Ihr Herz pochte gegen ihren Brustkorb. Alessa war unglaublich schön. Ihre Fingerspitzen fuhren über Alessas Wange. Ihre Haut war warm und weich.

Alessa legte ihre Hände in Vivis Nacken und zog sie näher zu sich heran. »Küss mich«, forderte sie Vivi auf. Ihre Lippen waren nur noch wenige Zentimeter entfernt.

Das ließ Vivi sich nicht zweimal sagen. Sie beugte sich noch näher zu Alessa und küsste sie. Erst langsam, dann immer leidenschaftlicher. Sie schob Alessas Rock hoch, und ihre Hände legten sich auf ihren Po.

Alessa stöhnte auf. Ihr Becken drängte sich Vivi fordernd entgegen.

»Nicht so eilig«, hauchte Vivi ihr ins Ohr. »Wir haben noch die ganze Nacht Zeit.« Sie trat einen Schritt zurück, nahm Alessas Brille ab und legte sie zur Seite. Dann kam sie wieder näher. Sie könnte Alessa ewig ansehen. Ihren entspannten Gesichtsausdruck, die unverkennbare Erregung in ihren dunklen Augen.

Langsam knöpfte sie Alessas Bluse auf, Knopf für Knopf, bis sie von ihren Schultern glitt. Sie strich die Spitze des roten BHs entlang. »Verdammt sexy.«

Alessa seufzte. Ihr Mund suchte abermals Vivis. Vorsichtig fanden sich ihre Zungenspitzen. Und als sie sich erneut küssten, spürte Vivi ein starkes Kribbeln in ihrem Bauch, das sich über ihren ganzen Körper ausbreitete. Sie schloss die Augen, während ihre Finger über Alessas Bauch zu ihren Brüsten wanderten.

Gleichzeitig schob Alessa ihre Hände unter Vivis Shirt. Vivi hatte das Gefühl, als würde ihre Haut in Flammen stehen, dort, wo Alessa sie berührte. Kurz hatte sie den Impuls, Alessa Hände zurückzudrängen, wie sie es normalerweise tat. Sie war diejenige, die berührte, die verführte, nicht umgekehrt. Aber dann ließ sie es geschehen. Ihre Muskeln entspannten sich unter Alessas streichelnden Fingern.

Alessa zog Vivi das Shirt über den Kopf, und ehe es Vivi sich versah, war sie es, die an der Tür lehnte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dich in diesem Moment will«, flüsterte Alessa. Sie beugte sich zu Vivis nackter Schulter, um sie zärtlich zu küssen. Geschickt öffneten ihre Finger Vivis BH, und als er zu Boden fiel, reckten sich Vivis Brustwarzen Alessa auffordernd entgegen.

Alessa senkte ihren Mund, bis ihre Lippen Vivis Knospen fest umschlossen. Ihre Fingernägel hinterließen auf Vivis Rücken leichte Kratzspuren.

Vivi zog scharf die Luft ein. Ihre Beine zitterten vor Erregung. »Was machst du nur mit mir?« Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Sie gab sich sonst nicht so hin, sie gab nie die Kontrolle ab. Und doch konnte sie nicht verhindern, dass sich ihr Schoß Alessa entgegenpresste, bis sich Alessas Bein zwischen ihre Schenkel drängte. Vergessen war all der Kummer.

Alessas Zunge fuhr über ihre erregten Brustwarzen. »Willst du dich lieber hinlegen?«, fragte sie. Aber ohne eine Antwort abzuwarten ließ sie Vivi los, zog sich vollständig aus und legte sich auf das große Bett.

Vivi folgte ihrem Beispiel und entledigte sich ebenfalls ihrer restlichen Kleidung. Sie nutzte ihre Chance, die Situation wieder zu dominieren, und kniete sich über Alessa. Ihre Hände umfassten Alessas Handgelenke und drückten sie in die Matratze. Ihre Lippen suchten Alessas, aber nur kurz. Dann küsste sie Alessas Stirn, hauchte sanfte Küsse auf ihre geschlossenen Lider, bis sie sich schließlich über ihre Wangen wieder ihrem Mund näherte.

Schließlich gab sie Alessas Handgelenke frei, streichelte die Innenseite ihrer Arme entlang zu ihrem Oberkörper. Sie umkreiste Alessas Bauchnabel, bevor ihre Fingerspitzen sacht über ihre Brüste fuhren. Ihre Handflächen rieben über Alessas Knospen, die längst verrieten, wie erregt sie war.

»Oh ja«, stöhnte Alessa. Ihre Hände suchten erst Vivis Po, dann ihre Brüste, die sie massierte.

Kleine Stromschläge elektrisierten Vivis Körper. Sie konnte sich gegen die Empfindungen nicht wehren, ließ es einfach geschehen. Was war nur los mit ihr?

Mit einem Mal glitten Alessas Finger zwischen Vivis geöffnete Schenkel und tauchten ohne Vorwarnung und fast mühelos in die Feuchtigkeit ein. Ihr Daumen rieb über Vivis Perle.

Vivis Atem ging schwerer. Ihre Hand tastete sich ebenfalls zwischen Alessas Beine, strich über die geschwollenen Schamlippen, bevor sie einen Finger in sie gleiten ließ.

Schnell fanden sie einen gemeinsamen Rhythmus. Ihr Stöhnen vermischte sich. Gegenseitig trieben sie sich immer weiter dem Höhepunkt entgegen. Und mit einem Mal überrollte Vivi eine heiße Welle, und sie ließ sich von ihr davontragen, hinaus aufs offene Meer, vollkommen schutzlos.

Fast gleichzeitig schrie auch Alessa auf.

Vivi rang nach Luft. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so einen intensiven Höhepunkt erlebt hatte.

»Alles in Ordnung?« Alessa strich Vivi eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn.

»Ich . . .« Vivi brach ab. Was sollte sie sagen? Sie wusste selbst nicht, was sie auf einmal empfand. Irgendetwas hatte Alessa in ihr ausgelöst, einen unbekannten Punkt berührt. »Ja, es ist alles in Ordnung«, sagte sie stattdessen und bemühte sich zu lächeln.

Alessa legte ihren Kopf an Vivis Schulter und schmiegte sich in ihre Arme. »Das war schön.«

Plötzlich war Vivi unendlich erschöpft. Das war alles zu viel für sie. Sie wollte einfach nur noch schlafen. »Ja, das war es.« Sie schloss die Augen.

Ein Sonnenstrahl, der durch den Vorhang auf Vivis Gesicht fiel, weckte sie. Nur mühsam konnte sie ihre Augen öffnen. Sie war noch müde. Gerade, als sie sich noch einmal umdrehen wollte, fiel ihr alles wieder ein. Ihr Vater, die Bar, Alessa, das Hotel.

Das Hotel! Sie war noch immer dort.

Vivi schreckte hoch. Das konnte unmöglich sein. Hektisch suchte sie ihr Handy und sah auf die Uhr. Fast neun. Sie war tatsächlich nach dem Sex eingeschlafen. Wie hatte das nur passieren können?

Von der anderen Bettseite kam ein schlaftrunkenes Murmeln. Alessa sah völlig entspannt aus. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen.

Diese Lippen . . .

Schluss damit, ermahnte sich Vivi. Sie sprang aus dem Bett und suchte ihre Klamotten zusammen. Sie musste gehen. Schnell. Sie hätte längst weg sein müssen. Es war immer ein Fehler, über Nacht zu bleiben. Und genau deswegen hatte sie es in den letzten Jahren vermieden.

Sie band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz.

»Was ist denn los?« Alessa rieb sich die Augen und setzte sich auf, die Bettdecke um ihren nackten Oberkörper geschlungen. »Willst du schon gehen?« Ihre Locken waren zerzaust und standen in alle Himmelsrichtungen ab.

Vivi wandte ihren Blick ab. Sie durfte sich von Alessas bezauberndem Anblick nicht ablenken lassen. »Ja, ich muss los«, sagte sie. Sie streifte sich ihr Shirt über. »Es ist schon viel zu spät.«

»Wollen wir nicht noch zusammen frühstücken?« Alessas dunkle Augen sahen sie erwartungsvoll an.

Energisch schüttelte Vivi den Kopf. »Keine Zeit«, erwiderte sie knapp.

»Okay.« Jetzt stand auch Alessa auf und streifte sich einen Bademantel über. Sie kam einen Schritt auf Vivi zu. »Es war ein sehr schöner Abend.« In ihrer Stimme lag etwas Weiches. Mittlerweile stand sie dicht vor ihr. Sie streckte ihre Hand aus, um Vivi zu berühren.

Vivi wich zurück. »Ja, es war wirklich schön.« Selbst in ihren Ohren klang dieser Satz viel zu banal. Dabei hatte sie diese Nacht tatsächlich sehr genossen. Es war etwas Besonderes gewesen, intensiv. »Aber jetzt muss ich zu meinem Vater.« Fast tat es ihr leid, ihren kranken Vater als Ausrede zu missbrauchen.

In Alessas Gesicht lag Enttäuschung. »Sehen wir uns wieder?«

Vivi atmete tief durch. »Besser nicht.« Ihr Hals fühlte sich rau an, und sie schluckte, um die Trockenheit zu vertreiben. »Glaub mir, es ist besser so.« Sie schnappte sich ihre Tasche, vermied jeden erneuten Blickkontakt mit Alessa und verließ das Zimmer.

Doch als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, stellte sich die erwartete Erleichterung nicht ein.

Alessa stand in einem Bogengang vor der Schaufensterscheibe eines Juweliers und starrte in den dunklen Verkaufsraum, der wie alle anderen Geschäfte der Münsteraner Innenstadt am Sonntag geschlossen war.

Die ersten vierundzwanzig Stunden in der neuen Stadt waren deutlich anders verlaufen, als sie das erwartet hatte. Zwar hatte sie gehofft, schnell jemanden kennenzulernen, aber dabei ganz sicher nicht erwartet, dass sie gleich so eine tolle Frau wie Vivi treffen würde. Und sie hatte auf Freundschaft gehofft, nicht auf Sex oder gar mehr spekuliert. Das passte nicht in ihr Konzept.

Alessa stützte sich mit den Handflächen gegen die Fensterscheibe.

Vivi.

Sie seufzte. Eine Frau, die sie nach nur einer Nacht direkt wieder abservierte. Das war eindeutig nicht die Richtige für sie. Da war eine weitere Enttäuschung vorprogrammiert. Davon hatte sie genug.

»Da bist du ja.« Ihre Schwester schlang von hinten die Arme um Alessa.

»Hallo Laura.« Alessa drehte sich um und drückte ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange. »Schön, dich endlich mal wiederzusehen. Hast du gut hergefunden?«

Laura verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse. »So schwierig ist der Weg von Essen nach Münster nun auch nicht.« Sie hakte sich bei Alessa unter. »Wo gehen wir hin? Was hast du vor?« Sie lächelte. »Ein Schwesterntag – wann hatten wir das zum letzten Mal?«

»Das muss ewig her sein.« Alessa konnte sich tatsächlich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal etwas mit ihrer älteren Schwester allein unternommen hatte. Dabei waren sie früher ein Herz und eine Seele gewesen und waren nicht nur wegen ihrer optischen Ähnlichkeit oft für Zwillinge gehalten worden. »Ich dachte, wir gucken uns einfach mal ein bisschen um, damit ich einen Eindruck von Münster bekomme.«

Auch wenn Alessa in Bottrop aufgewachsen war und die Stadt nur wenige Kilometer von Münster entfernt lag, war sie das erste Mal zu ihrem Bewerbungsgespräch hier gewesen, und außer der Kanzlei hatte sie dabei nicht viel gesehen. Die Wohnung hatte ihr dann ein Immobilienmakler, ein befreundeter Kollege ihrer Schwester, besorgt, sodass sie auch dafür nicht nach Münster hatte kommen müssen.

»Na dann.« Laura lief los und wechselte von dem Bogengang auf breite Straße, die mit Kopfstein gepflastert war. Autos waren kaum zu sehen, nur einige Fahrradfahrer. »Wir werden uns schon einen schönen Tag machen.« Sie blickte gen Himmel. »Und immerhin scheint es ein halbwegs freundlicher Frühlingstag zu werden.«

Alessa sah sich um. Sie waren mitten auf dem Prinzipalmarkt. Giebelhäuser aus hellem Sandstein säumten die Straße von beiden Seiten. Kein Giebel glich dem anderen. Und obwohl es Sonntag war, waren sie bei Weitem nicht allein. Um sie herum wurden ständig Fotos gemacht. Diese einzigartige Einkaufsstraße war offensichtlich auch ein Touristenmagnet.

»Wie geht es meiner kleinen Nichte?«, fragte Alessa nach einer Weile. »Ich sehe sie einfach viel zu selten.«

»Dem kleinen Biest? Sehr gut.« Laura lachte. Emilia, die auch Alessas Patenkind war, konnte mit ihren fünf Jahren ganz schön frech sein. Das musste sie von ihrer Mutter geerbt haben, die als Kind ebenfalls ein ziemlicher Wirbelwind gewesen war. »Freust du dich schon auf die neue Stelle?«

Alessa nickte. »Ich bin sehr gespannt, was mich erwartet, aber ich freue mich auf die neue Herausforderung.«

»Und vielleicht bist du dann bald Juniorpartnerin.« Laura grinste. »Das hättest du dir jedenfalls verdient, so viel wie du in den letzten Jahren in deine Karriere investiert hast. Mama und Papa sind sicher sehr stolz auf dich.«

»Du arbeitest doch auch nicht weniger.«

Laura war immerhin eine erfolgreiche Immobilienmaklerin, die nebenbei auch noch eine Familie managte.

Alessa betrachtete das Kopfsteinpflaster. Für eine eigene Familie war neben der Arbeit in ihrem Leben kein Platz. Und deswegen war es wahrscheinlich auch gut gewesen, dass Vivi ein weiteres Treffen kategorisch ausgeschlossen hatte. Es hätte ohnehin zu nichts geführt.

Alessa atmete schwer. Schon wieder Vivi. Den ganzen Morgen hatte sie diese Frau nicht vergessen können. Das Frühstück hatte allein kaum geschmeckt. Wie sehr hätte sie sich gewünscht, dass Vivi geblieben wäre. Auch wenn sie wusste, dass es völlig falsch war und sie nur ins Unglück stürzen würde.

»Alles okay bei dir?« Laura sah sie besorgt an. »Hast du doch Angst vor morgen?«

Dankbar für diese Vorlage sagte sie: »Ja, ein bisschen. Die Kanzlei ist deutlich größer als die letzte, in der ich gearbeitet habe. Ich hoffe, ich kriege das alles hin.«

»Wer, wenn nicht du?« Laura knuffte Alessa in die Seite. »Jeder Chef kann froh sein, jemanden wie dich zu bekommen.«

Mittlerweile waren sie an einem besonders imposanten Gebäude mit reich verzierter Fassade angekommen. »Das muss das Historische Rathaus sein«, mutmaßte Laura.

Alessa nickte, während ihr Blick an den hohen Giebeln entlangglitt. »Das denke ich auch. Schon ganz schön beeindruckend.«

»Irgendwann muss ich mir mal den Friedenssaal ansehen«, sagte Laura, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte. Sie bogen in eine Seitenstraße ab, die sie direkt zum Domplatz führte.

»Das sieht doch nett aus, oder?« Laura war stehengeblieben und zeigte auf ein kleines Café vor ihnen. »Wollen wir reingehen?« Um draußen zu sitzen und den Blick auf den Dom zu genießen war es trotz der Sonnenstrahlen noch zu kühl.

»Das ist eine gute Idee. Eine Kleinigkeit zu essen könnte ich gerade gut gebrauchen.« Wie zur Bestätigung knurrte Alessas Magen.

Kurz darauf hatten sie es sich an einem Tisch in einer Nische bequem gemacht, ein großes Stück duftenden Apfelkuchen und eine Tasse frischen Kaffee vor sich.

»Sogar Italienisch.« Alessa grinste, während sie sich mit ihrer Hand ein wenig des köstlichen Aromas zufächelte.

»Ich bin froh, dass du von Hannover wieder ein bisschen mehr in unsere Nähe gezogen bist.« Laura nahm ein Stückchen Kuchen in den Mund. »Ich habe dich vermisst. Und Emilia auch«, sagte sie, nachdem sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte.

Alessa nickte. »Ging mir ja nicht anders.« Sie umfasste die Kaffeetasse mit ihren Händen. Es war so schade, dass sie ihre Nichte kaum aufwachsen sah. »Was macht denn eigentlich Simon heute?«

Für einen kurzen Moment verdunkelte sich Lauras Gesichtsausdruck bei der Erwähnung ihres Mannes. »Er passt auf Emilia auf.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Alessa. Irgendetwas in Lauras Stimme alarmierte sie.

»Ja, alles bestens.« Laura wich ihrem Blick aus. »Was macht denn die Liebe bei dir?«, wechselte sie viel zu abrupt das Thema. »Hast du in letzter Zeit mal wieder eine Frau kennengelernt?«

Ja, hätte Alessa am liebsten gerufen. Sofort sah sie wieder Vivi vor sich, das offene Lächeln, die strahlenden grünen Augen und ihre blonden Haare. »Nein, aber du weißt doch, im Moment ist dafür kein Platz in meinem Leben.«

»Unsinn. Du solltest weniger an deine Karriere denken, dann würdest du auch endlich der Richtigen begegnen. Man lebt schließlich nur einmal. Und eine Partnerin an deiner Seite würde dir guttun.«

Alessa verdrehte die Augen. »Seit wann bist du ein wandelnder Sprüchekalender?«

»Ich meine das ernst. Aber irgendwann wirst du deine Traumfrau treffen.«

»Apropos treffen«, lenkte Alessa ab. »Ich habe bei Facebook gesehen, dass Max mittlerweile auch in Münster wohnt. Kannst du dich noch an ihn erinnern?«

»Dein bester Freund zu Schulzeiten?« Laura schmunzelte. »Natürlich kann ich mich noch an ihn erinnern. Max kann man beim besten Willen nicht so schnell vergessen. Außerdem hat er zwischenzeitlich fast bei uns gewohnt, so oft wie er da war.«

»Ich habe ihm gestern eine Nachricht geschickt und gefragt, ob wir uns vielleicht mal treffen wollen. Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen.« Leider hatte sie ihren ehemaligen Schulfreund irgendwann aus den Augen verloren, beide waren zum Studieren in eine andere Stadt gezogen, und nach ein paar Monaten war der Kontakt abgebrochen.

Laura sammelte mit ihrer Gabel die letzten Krümel zusammen. »Wollen wir noch eine Runde spazieren gehen? Ich muss das echt ausnutzen, mal ein paar Stunden gemütlich ohne meine quengelnde Tochter durch die Gegend laufen zu können.«

»Ja dann mal los.«

Vivi strich über das Mischpult der Musikanlage und ließ dabei ihren Blick durch den großen Raum schweifen. Es hatte sich fast nichts verändert. Alles sah noch so aus wie damals. Es roch auch noch genauso. Nach altem Holz und Streuwachs.

Sie atmete tief ein. Sofort war dieses vertraute Gefühl wieder da. Sie schloss die Augen, sah, wie ihr Vater den Tanzschülern neue Schritte beibrachte. Wie er in der Mitte auf dem Parkett stand und lachte. Sie konnte ihn förmlich im Raum spüren.

Tränen stiegen in ihre Augen, und es war das erste Mal, dass Vivi es zuließ. Ihrem Vater war es nicht wirklich besser gegangen, als sie ihn am Morgen im Krankenhaus besucht hatte. Er war von seinem Schlaganfall schwer gezeichnet. Nicht einmal essen konnte er selbst, stattdessen hatte er eine bräunliche Flüssigkeit über eine Magensonde erhalten.

Vivi setzte sich mitten im Tanzsaal auf das Parkett. Sie konnte das kühle Holz durch ihre Stoffhose fühlen. Wie viele Stunden hatte sie hier verbracht? Wie oft hatte sie selbst hier getanzt?

Und ab morgen würde sie es wieder tun. Sie musste.

Ihre Finger zeichneten kleine Kreise auf den Boden. Auch wenn sie eine Ausbildung zur Tanzlehrerin absolviert und unzählige Stunden selbst trainiert hatte, hatte sie etwas Angst davor. In den letzten Jahren hatte sie vor allem Sportkurse gegeben, und wenn sie Paartanz unterrichtet hatte, dann meistens etwas wie Salsa. Ihre Mutter hatte ihr beteuert, dass es wie Fahrradfahren war und man es nicht verlernte.

Vivi umklammerte ihre Knie.

Ab sofort würde das Taktgefühl ihr neuer Arbeitsplatz sein. Und selbst wenn ihre Mutter versuchte, optimistisch zu bleiben und behauptete, dass ihr Vater bald bestimmt selbst wieder unterrichten konnte, so wusste Vivi doch, dass das nur ein Wunschtraum war.

Sie sah sich in der großen Spiegelwand an. Ihre Augen waren gerötet, umrahmt von dunklen Ringen. Selbst ihre Sonnenbräune schien bereits verblasst. Natürlich hatte sie gewusst, dass sie eines Tages die Tanzschule übernehmen würde. Sie hatte das immer gewollt.

Aber nicht so.

Und noch nicht jetzt.

Sie war noch nicht bereit dazu. Sie würde ihr ganzes bisheriges Leben aufgeben müssen. Ihre Freiheit. Dabei hatte sie noch so viel vorgehabt.

Aber sie hatte keine andere Wahl. Ihre Mutter konnte und wollte die Tanzschule nicht leiten, der einzige angestellte Tanzlehrer konnte das auch nicht völlig allein schaffen.

Sie betrachtete sich im Spiegel. »Du musst es tun«, sagte sie laut zu sich selbst. Sie straffte die Schultern. »Du schaffst das. Es war immer dein Traum.«

Plötzlich hörte Vivi, wie sich die Eingangstür quietschend öffnete. Sie hatte völlig vergessen abzuschließen. Wahrscheinlich war es ein Kunde, der das Schild übersehen hatte, dass heute geschlossen war.

Schnell stand sie auf, strich ihr Shirt glatt und räusperte sich, um wenigstens halbwegs repräsentativ auszusehen. Aber wenige Sekunden später stand kein Fremder im Tanzsaal, sondern Caro, ihre beste Freundin.

»Was machst du denn hier?« Vivi fiel ihr um den Hals. Sie hatten sich das letzte Mal vor fast einem halben Jahr gesehen, als Vivi einen kurzen Heimatbesuch eingelegt hatte.

»Als ich deine Nachricht bekommen habe, bin ich sofort zu dir gefahren. Und als du nicht da warst, hat deine Mutter mir verraten, dass du in die Tanzschule gegangen bist.« Caro drückte Vivi fest an sich. »Das tut mir so leid mit deinem Vater. Wie geht es ihm?«

»Nicht so gut.« Vivi bemühte sich, nicht zu besorgt zu klingen.

»Komm, ich mach uns erst mal einen Kaffee.« Caro, die früher oft in der Tanzschule hinter der Theke ausgeholfen hatte, stellte sich hinter die Bar und schaltete den Kaffeeautomaten an. »Und dann erzählst du mir alles in Ruhe.«

Vivi nahm auf einem Barhocker Platz und sah dabei zu, wie Caro zwei Kaffee zubereitete. Es war schade, dass sie Caro nur so selten sah, weil sie so viel unterwegs war.

Unterwegs gewesen war, korrigierte sich Vivi selbst in ihren Gedanken. Das war ja nun schließlich vorbei.

»Kaum Milch und etwas Zucker, so wie du es magst.« Caro schob eine Tasse vor sie und lächelte sie an. Dann setzte sie sich neben sie. »Also, was ist passiert?«

Vivi begann zu erzählen. Vom Anruf ihrer Mutter bis zum Besuch im Krankenhaus am heutigen Tag. Nur die letzte Nacht ließ sie aus. »Und ab morgen werde ich hier unterrichten. Wir können die Tanzschule nicht einfach für ein paar Wochen schließen«, endete sie.

Caro nickte. »Ja, das wäre wirklich schwierig.« Sie sah ihre beste Freundin eindringlich an. »Machst du dir Sorgen deswegen?«

Vivi zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Es ist einfach ein komisches Gefühl, plötzlich die Verantwortung zu haben.«

»Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich damals mit meinem Ex bei deinem Vater versucht habe, tanzen zu lernen. Auch wenn er sich alle Mühe gegeben hat, wir haben es einfach nicht kapiert.« Caro schmunzelte. »Ich glaube, wir haben beide danach nie wieder getanzt. Weder zusammen noch mit anderen.«

Sie ergriff Vivis Hand, der schon wieder die Tränen in den Augen standen bei der Erinnerung an ihren Vater und an das streitlustige Paar, das sie damals zu gern beobachtet hatte.

»Immerhin habe ich dich dadurch kennengelernt.« Caro umarmte Vivi noch einmal kurz. »Auf dich möchte ich nicht mehr verzichten.«

»Mir geht es ganz genau so.« Vivi setzte sich im Schneidersitz auf den Hocker. Wie gern dachte sie an all die Reisen und Abenteuer, die sie mit Caro erlebt hatte. Caro war in vielerlei Hinsicht genau so verrückt wie sie. Und bisher hatten sie alles durchgestanden. »Irgendwie werde ich das schon schaffen.« Sie verschränkte ihre Finger ineinander. »Aber genug von mir. Lenk mich ein bisschen ab. Wie geht es dir? Wie hast du die letzten Wochen verbracht?«

Caro schnalzte mit der Zunge. Dann legte sie den Kopf ein wenig schief. »Na ja, eigentlich wie immer. Gearbeitet, ein bisschen gefeiert, den einen oder anderen Typen kennengelernt.« Sie grinste. »Aber nichts Besonderes.«

Vivi leerte ihre Kaffeetasse. »Klingt doch eigentlich ziemlich perfekt.«

»Absolut. Meine Arbeitskolleginnen meinen zwar immer, ich sollte mir endlich mal einen Mann suchen, mit dem ich eine Beziehung führen kann, aber warum sollte ich? Ich genieße mein Leben genau so, wie es ist.« Caro fuhr sich durch ihre langen, braunen Haare, die sie ausnahmsweise offen trug. »Ich will nicht heiraten oder Kinder kriegen. Das ist nichts für mich.«

Wenn das jemand verstehen konnte, dann Vivi. »Genauso sehe ich das auch.«

»Du hast also auch niemanden kennengelernt?«, fragte Caro.

»Du weißt doch, wie das ist. Im Urlaub freuen sich viele Frauen über ein kurzes Abenteuer, und wenn mir eine gefällt, sage ich nicht unbedingt nein.« Vivi überlegte kurz, dann fuhr sie fort: »In den letzten Wochen habe ich allerdings keine Frau mehr getroffen, die mein Interesse geweckt hat.« Sie biss auf ihre Unterlippe und fixierte das Holz der Theke. »Bis gestern.«

»Gestern?« Caros Stimme bekam eine noch höhere Lage als ohnehin schon. »Warst du nicht gestern schon hier?«

Vivi nickte. Und dann erzählte sie Caro doch noch von ihrer Nacht mit Alessa. Aus irgendeinem Grund konnte sie es nicht länger für sich behalten, sie musste darüber reden. Zwar hatte sie den ganzen Tag versucht, nicht an Alessa zu denken, aber das war ihr fast unmöglich gewesen. Immer wieder sah sie das schöne Gesicht der Italienerin vor sich. Spürte ihre weichen Lippen auf ihren. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, warum es ihr ausgerechnet bei Alessa nicht gelang, das Abenteuer einfach abzuhaken und zu vergessen.

»Und du bist einfach abgehauen?« Caro sah Vivi ungläubig an.

»Was hättest du denn gemacht nach einem One-Night-Stand?«

»Es hört sich aber nicht danach an. Nach einem One-Night-Stand, meine ich.« Auf Caros Stirn bildeten sich kleine Falten.

»Natürlich war es das. Was sollte es sonst sein?«

»Willst du sie nicht wiedersehen?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Vivi so schnell, dass sie selbst darüber erstaunt war.

»Schon gut.« Caro seufzte. »Aber wenn du dich selbst reden hören könntest, könntest du auf andere Gedanken kommen.«

Energisch schüttelte Vivi den Kopf. »Nein, so ist es nicht.« Und damit war das Thema beendet.

»Guten Tag, Frau Dr. Morelli.« Herr Dr. Gruber, Alessas neuer Chef, streckte ihr seine Hand entgegen. »Herzlich willkommen in unserer Kanzlei.«

Alessa erwiderte seinen Gruß mit festem Händedruck. »Es freut mich, dass ich nun zu Ihrem Team gehöre.« Sie sah ihm direkt in die Augen.

»Wir müssen noch einen kleinen Moment warten.« Dr. Gruber deutete mit der Hand auf ein schwarzes Ledersofa, das in seinem geräumigen Büro stand. »Nehmen Sie doch Platz. Darf meine Sekretärin Ihnen etwas zu trinken bringen? Einen Kaffee? Ein Wasser?«

»Ein Wasser, bitte.« Alessa setzte sich, darauf bedacht, dass ihr schwarzer Rock nicht zu sehr hochrutschte. Der Blick, mit dem ihr Chef sie in ihrem Businesskostüm musterte, war ihr nicht entgangen.

Dr. Gruber gab über die Gegensprechanlage die Bestellung auf, dann nahm er ihr gegenüber in einem Sessel Platz. »Haben Sie sich bereits gut in Münster eingelebt?«

»Eingelebt wäre etwas zu viel gesagt. Ich bin ja erst seit Samstag in der Stadt, aber ich habe mich zumindest schon ein bisschen umgesehen.« Alessa lächelte.

Dr. Gruber erwiderte das Lächeln, auch wenn es eher höflich als ehrlich wirkte. »Ich habe schon gehört, dass es noch ein Problem mit Ihrer Wohnung gab.«

Alessa nahm einen Schluck von ihrem Wasser, das die Sekretärin zwischenzeitlich gebracht hatte. »Ja, die Renovierung ist nicht rechtzeitig fertig geworden. Im Moment wohne ich noch im Hotel, aber nächste Woche sollte die Wohnung einzugsbereit sein.«

Dr. Gruber nickte. »Sollten Sie noch Unterstützung brauchen, scheuen Sie sich nicht, mir Bescheid zu geben. Ich werde dann gern sehen, was ich tun kann.«

Es klopfte lautstark an der Tür.

»Ja, bitte«, sagte Dr. Gruber.

Ein großgewachsener Mann mit kurzen, dunklen Haaren und Brille betrat das Büro. Er trug einen schicken Anzug, bestimmt ein Designerteil, so viel konnte Alessa sagen. Seine fliederfarbene Krawatte sah ebenfalls sehr edel aus.

Dr. Gruber ging auf ihn zu. »Herr Seifert, schön, Sie wiederzusehen.« Dann drehte er sich zu Alessa um und machte eine Handbewegung in ihre Richtung. »Darf ich Ihnen vorstellen? Frau Dr. Morelli, die ebenfalls heute ihren ersten Tag hat.«

Seiferts Gesicht blieb verschlossen, als er Alessa die Hand reichte. »Johannes Seifert«, stellte er sich noch einmal vor. »Anwalt für Familienrecht.«

»Alessa Morelli. Ebenfalls Anwältin für Familienrecht«, erwiderte sie den Gruß möglichst emotionslos, auch wenn sie innerlich aufgewühlt war. So richtig verstand sie nicht, was hier gerade passierte. Wer war dieser Johannes Seifert? Und was wollte er hier? Aber ihr blieb keine Zeit, sich darüber weiter Gedanken zu machen.

»Gut, wo Sie beide nun hier sind, wird meine Sekretärin Ihnen ihre Büros zeigen«, fuhr Dr. Gruber fort. »Anschließend haben wir einige Informationen für Sie zusammengestellt, damit Sie sich bei uns zurechtfinden. Einer unserer Kollegen wird sich jeweils um Sie kümmern. Und wir sehen uns dann zum Mittagessen wieder.« Dr. Gruber nickte ihnen beiden zu. Dann rief er durch die geschlossene Tür nach seiner Sekretärin, die kurz darauf ins Zimmer trat.

Auf dem Weg zu ihren Büros liefen Alessa und Johannes nebeneinander hinter der Sekretärin her. Alessa ließ ihren Blick durch die Gänge schweifen. Alles war sehr modern eingerichtet, an den Wänden hingen überwiegend Fotografien in Schwarzweiß, die abstrakte Gebilde zeigten.

»Sind Sie auch wegen der Juniorpartnerschaft hier?«, fragte Johannes, während sie vor einem Aufzug warteten. Noch ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Hätte ich mir ja denken können, dass der alte Gruber daraus wieder einen Wettbewerb macht.«

»Kennen Sie Dr. Gruber näher?« Alessa straffte ihre Schultern und versuchte, sich ihre Verunsicherung über Johannes’ Feststellung nicht anmerken zu lassen.

Sie traten in den Fahrstuhl, der sich kurz darauf in Bewegung setzte.

Johannes vergrub seine Hände in den Hosentaschen seines Anzugs. »Ich bin mit seiner Tochter zur Schule gegangen. Und unsere Eltern waren befreundet, bis wir aus Münster weggezogen sind.« Er grinste überheblich. »Näher kennen wäre also übertrieben. Aber offensichtlich ist er auf mich aufmerksam geworden, hat sich wieder an mich erinnert und mich schließlich abgeworben.«

Alessa schob ihre Brille etwas höher. »Ähnlich wie bei mir.« Sie bemühte sich um eine neutrale Tonlage. »Zumindest der Teil mit dem Abwerben. Persönliche Beziehungen habe ich nicht zu ihm.«

Johannes hob eine Augenbraue. »Dann müssen Sie gut sein in Ihrem Job.«

»Das nehme ich an.« Alessa spürte, wie sie langsam wütend wurde. Was bildete sich dieser Seifert ein? Natürlich war sie gut. Glaubte er, sie war nur wegen ihres Aussehens hier?

»Der alte Gruber nimmt nicht jeden.« Johannes schnalzte mit der Zunge. »Und erst recht nicht jede. Wo waren Sie vorher?«, wollte er wissen. Sie traten aus dem Fahrstuhl, als sie in der zwölften Etage des großen Bürogebäudes angekommen waren.

»In Hannover«, antwortete Alessa knapp. Sie hatte kein Interesse daran, ihre Konversation zu vertiefen.

Johannes schien das zu bemerken und schwieg den Rest des Weges, bis die Sekretärin ihnen ihre Büros zugewiesen hatte, die ausgerechnet nebeneinander lagen. »Ich sage nun den beiden Kollegen Bescheid, die sich etwas um Sie kümmern werden, sie werden bald bei Ihnen sein. Solange können Sie sich schon mal ein wenig umsehen.« Die Sekretärin lächelte ihnen freundlich zu und verschwand dann. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie ihr Gespräch belauscht hatte.

»Ja, dann . . .« Johannes hatte bereits die Türklinke in der Hand und bedachte Alessa von der Seite mit einem abschätzigen Blick. »Möge der Bessere gewinnen.« Seine ganze Körperhaltung ließ keinen Zweifel daran, dass für ihn längst klar war, wer das sein würde.

»Wie Sie meinen.« Alessas Stimme zitterte leicht, während sich ihre Hand so fest um die Türklinke schloss, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Abgerechnet wird am Schluss.« Sie ging in ihr neues Büro und zog die Tür hinter sich zu, die lautstark ins Schloss fiel.

Mitten im Raum blieb sie stehen und atmete erst einmal tief durch. Nur langsam wollte die Anspannung von ihr weichen. Ihre Schultern schmerzten regelrecht, so sehr hatte sie sie hochgezogen.

Für einen Augenblick überlegte sie, einfach wieder zu gehen und zu kündigen. Auf solche Spielchen hatte sie keine Lust. Hatte sie das nötig? So hatte sie sich ihren ersten Arbeitstag beim besten Willen nicht vorgestellt.

Aber dann besann sie sich eines Besseren. Es war ihr Traum, das Ziel, auf das sie solange hingearbeitet hatte. Sie wollte in einer großen erfolgreichen Kanzlei arbeiten. Und sie wollte Juniorpartnerin werden. Das würde sie sich sicherlich nicht von so einem arroganten Lackaffen kaputtmachen lassen. Ihm würde sie die Juniorpartnerschaft nicht kampflos überlassen.

In einem halben Jahr würde die Stelle vakant werden, und bis dahin würde sie ihrem Chef beweisen, was in ihr steckte und dass sie eindeutig die bessere Wahl war als dieser Johannes Seifert.