Verirrte Herzen - Julia Schöning - E-Book

Verirrte Herzen E-Book

Julia Schöning

0,0

Beschreibung

Anne, ihre vierjährige Tochter Lilly und Caro sind eine glückliche Familie. Doch als Lilly in den Kindergarten kommt und Anne beschließt, wieder halbtags zu arbeiten, bekommt die Beziehung Risse. Die erfolgreiche Anwältin Caro schafft es nicht, Anne im Haushalt zu unterstützen. Als Anne dann auch noch die geheimnisvolle Nora kennenlernt, die mit ihrer faszinierenden Ausstrahlung Verwirrung stiftet, scheint das Glück der kleinen Familie ernsthaft bedroht. Können Caro und Anne ihre Gefühle füreinander bewahren und wieder zueinanderfinden?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 303

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Julia Schöning

VERIRRTE HERZEN

Roman

Originalausgabe: © 2009 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-058-5

Coverfoto:

Voller Vorfreude packte Anne ihre Schlittschuhe in den großen Rucksack. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zum letzten Mal auf Kufen unterwegs gewesen war. Schon seit langem hatte Anne geplant, gemeinsam mit ihrer Tochter Lilly und ihrer Freundin Caro einen Ausflug zu unternehmen, bevor sie ab morgen, zumindest vormittags, auf ihre heißgeliebte Kleine verzichten musste. Die Vierjährige kam in den Kindergarten.

Bei diesem Gedanken bekam Anne weiche Knie. Sie konnte sich noch nicht recht vorstellen, wie es werden würde, wenn Lilly nicht mehr rund um die Uhr bei ihr war. Doch darüber konnte sie sich morgen noch genügend Sorgen machen. Jetzt wollte sie erst einmal die kommenden Stunden genießen.

»Bist du endlich soweit?« rief Caro ihrer Freundin vom Wohnzimmer aus zu.

Hektisch stopfte Anne noch Brötchen und eine Thermoskanne mit heißem Tee in eine zweite Tasche. »Ich bin sofort da.« Sie band ihre braunen Locken zu einem Zopf zusammen und versteckte ihre Ohren unter einem roten Fleecestirnband. Der winterliche Familienausflug ins Sauerland konnte beginnen.

Während Anne Lilly auf ihrem Kindersitz festschnallte, belud Caro, die mit richtigem Namen eigentlich Caroline hieß, diese lange Version jedoch auf den Tod nicht ausstehen konnte, das Auto. Ihre langen, hellblonden Haare hatte sie unter einer grauen Wollmütze verborgen, ihre tiefblauen Augen blitzten aus ihrem schmalen Gesicht unternehmungslustig hervor.

Endlich waren Gepäck und Schlitten verstaut, es konnte losgehen. Anne machte es sich neben Caro auf dem Beifahrersitz gemütlich und suchte im Radio die passende Musik für einen vergnüglichen Sonntagsausflug. Fröhliche Klänge füllten bald darauf das Auto.

»Auf in den Schnee«, gab Caro gutgelaunt das Startkommando und ließ den Motor an.

Lilly strahlte über das ganze Gesicht. Bisher hatte sie noch nie auf dem Eis gestanden.

»Wann warst du eigentlich das letzte Mal Schlittschuhlaufen?« fragte Anne ihre Freundin. Seit zwei Jahren waren sie nun ein Paar, doch zu gemeinsamen Ausflügen kam es leider viel zu selten, weil Caro häufig auch am Wochenende arbeiten musste.

Caro legte ihre Stirn in Falten. »Das ist schon eine ganze Weile her, glaube ich. Aber als Kind habe ich im Winter fast jeden Tag die Schlittschuhe geschnürt.«

Je weiter sie fuhren, desto mehr verwandelte sich die Landschaft in eine Winterwelt. Die Schneedecke am Straßenrand wurde höher, bald trugen die Bäume einen weißen Mantel. Zwischendurch fing es an zu schneien. Kleine Flocken tanzten am Fenster entlang. Lilly konnte gar nicht genug davon bekommen und verfolgte verzückt das Treiben. So verging die Fahrt wie im Flug.

»Haltet mal die Augen nach einem geeigneten Parkplatz offen«, bat Caro, nachdem sie das Ortseingangsschild von Winterberg passiert hatten. Vor einer Ewigkeit war Caro das letzte Mal hiergewesen, sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, wo die besten Möglichkeiten zum Eislaufen und Rodeln waren. Aber in einem Ort wie Winterberg gab es an jeder Ecke Seen und Hänge.

Konzentriert starrte Anne aus dem Fenster, und nur wenig später hatte sie schon einen geeigneten See erspäht, auf dem bereits einige Menschen ihr fahrerisches Talent unter Beweis stellten. Außerdem konnte man von hier aus auch einen Hang sehen, der sich bestens zum Rodeln eignen würde.

Caro setzte den Blinker und fuhr durch die verschneite Einfahrt zu einem kleinen Parkplatz direkt am See. So sicher, dass Anne vor Neid erblasste, parkte sie den Wagen in eine beängstigend enge Lücke. Ein stolzes Lächeln huschte über ihre Lippen.

Wieder einmal bemerkte Anne, wie glücklich sie mit ihrer Freundin war. Ihre braunen Augen funkelten, als sie verträumt zu ihr hinübersah. Sie bewunderte Caros umwerfendes Lächeln, ihre zarten Hände mit den schlanken Fingern, ihre hohen Wangenknochen, die ausgezeichnet in das wunderschöne Gesicht passten. Jede einzelne Kleinigkeit machte ihre Liebste noch bezaubernder.

In den letzten beiden Jahren hatte sich viel für Anne geändert. Nach ihrer Scheidung hatte sie Caro zufällig auf dem Geburtstag ihrer besten Freundin Nadine kennengelernt. Seither war sie so glücklich wie schon lange nicht mehr.

Nach der Trennung von Peter war sie zunächst in ein tiefes Loch gefallen, sie war vollkommen lustlos gewesen. Alles war ihr sinnlos erschienen. Nur Lilly hatte sie ab und zu an die schönen Seiten des Lebens erinnert.

Wie gut, dass sie sich von Nadine hatte überreden lassen, zu ihrem Geburtstag zu kommen.

Anne erinnerte sich noch gut, wie Caro plötzlich vor ihr stand. Ihre blonden Haare streng zurückgekämmt, die funkelnden Augen auf sie gerichtet. Aus der Ferne wirkte sie kühl und unnahbar, dennoch spürte Anne eine von Caro ausgehende Faszination. Irgendwie kamen sie dann ins Gespräch. Caro war nicht im entferntesten so, wie es ihr Auftreten hätte erwarten lassen. Sie strahlte auf Anne eine ungeheure Wärme aus. Anne fühlte sich in ihrer Gegenwart gleich sehr wohl. Sie verstanden sich auf Anhieb blendend, und es war das erste Mal seit langer Zeit, dass Anne einen ganzen Abend lang Spaß hatte und lachen konnte.

»Bitte alle aussteigen«, riss Caros Stimme sie aus ihren Gedanken.

Anne kletterte aus dem Wagen. Ein eisiger Wind empfing sie, doch die klare, kalte Luft war sehr angenehm, und sie konnte den Schnee, der alles um sie herum in ein dichtes Weiß tauchte, förmlich riechen. Sie atmete einmal tief ein. Die Landschaft war herrlich.

Vielleicht könnten wir später einen kleinen Spaziergang machen und ein bisschen die winterliche Atmosphäre genießen, dachte Anne.

»Mama, jetzt hilf mir endlich«, quengelte Lilly, die es offensichtlich gar nicht mehr erwarten konnte, von der Rückbank befreit zu werden. Sie wollte endlich in den Schnee.

Mit einem Schmunzeln öffnete Anne ihrer Tochter die Tür und half ihr aus dem Sitz. Lilly klatschte vergnügt in die Hände und ließ sich von ihrer Mutter aus dem Wagen heben.

Unterdessen holte Caro den großen Rucksack mit den Schlittschuhen aus dem Kofferraum und warf ihn sich über die Schultern. Etwas orientierungslos drehte sie sich um sich selbst, bis sie den Waldweg, der sie direkt zum See führen sollte, entdeckt hatte. »Da müssen wir lang«, sagte sie und zeigte auf die von Bäumen halb verdeckte Einmündung.

Den Hals mit einem Schal umwickelt und dick eingepackt in Handschuhe und Mützen stapften sie auf dem schmalen Pfad durch den knirschenden Schnee. Äste knackten unter ihren Stiefeln. Der Schneefall hatte nachgelassen.

Lilly rannte voraus, und Caro und Anne hatten Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren.

»Nicht so schnell. Sonst fällst du noch hin«, rief Anne ihrer Tochter nach.

Aber Lilly hörte Annes mütterlich besorgte Aufforderung nicht und tollte glucksend durch die weiße Pracht. Zu Hause in Bochum hatte sie noch nicht oft das Vergnügen gehabt. Nur selten verirrten sich einmal ein paar Schneeflocken ins Ruhrgebiet. Lilly genoss es sichtlich.

Hand in Hand schlenderten die beiden Frauen hinterher.

Anne konnte sich gerade nichts Schöneres auf der Welt vorstellen. Caros Nähe zu spüren, bedeutete für sie Geborgenheit. Sie bemerkte ein verliebtes Kribbeln in ihrer Magengegend.

Plötzlich trafen sie Schneebälle aus dem Hinterhalt.

Sofort war Caro Feuer und Flamme und stürmte lachend in Lillys Richtung los. »Na warte, kleines Fräulein. Das bekommst du zurück.«

Und schon lieferten sich die drei eine ausgelassene Schneeballschlacht. Begeistert formte Caro einen Schneeball nach dem anderen und zielte nun auch auf Anne, die das leise Gefühl beschlich, dass es die beiden ausschließlich auf sie abgesehen hatten.

»Guck mal, Mama ist schon ganz weiß«, grinste Lilly, und Caro flüsterte ihr geheimnisvoll etwas ins Ohr. Anscheinend war sie davon ganz begeistert, denn ihr Grinsen wurde noch breiter.

Mit einem Schlag herrschte Ruhe. Lilly hatte keine Augen mehr für den Schnee, sondern rannte weiter zum See.

Anne schüttelte den Kopf. »Was ist denn jetzt passiert?«

»Ich habe ihr nur gesagt, dass wir doch jetzt aufs Eis könnten, damit wir sehen, ob du das überhaupt kannst oder ob du vielleicht die ganze Zeit hinfällst.« Caro knuffte Anne neckisch in die Seite und lächelte ihr entwaffnend zu.

Diesem Lächeln konnte Anne nie lange widerstehen. »Warte nur ab, ich werde es euch schon beweisen«, gab sich Anne zuversichtlich.

An einer kleinen Bank angekommen zogen sie sich ihre Schlittschuhe an und wagten sich mit wackeligen Beinen auf die Eisfläche.

Caro, die weitaus besser als Anne vorwärts kam, hatte Lilly an die Hand genommen und flitzte mit ihr über den See. Für ihren ersten Versuch stellte sich die Kleine richtig gut an.

»Deine Tochter hat Talent. Jedenfalls mehr als du«, kommentierte Caro Annes unbeholfene Bewegungen. Dabei zwinkerte sie ihrer Freundin zu.

Doch Anne warf Caro nur einen gespielt bösen Blick zu und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, während sie sich weiter abmühte.

Bald schon klappte es bei Lilly so gut, dass sie versuchen wollte, allein vorwärts zu kommen. »Lass mich mal los«, befahl sie Caro. Mit größter Mühe schaffte es Lilly, nicht sofort auf das Eis zu fallen, glitt aber dann, noch etwas unsicher auf den Beinen, allein davon.

Jetzt war Caros Hand für Anne frei. »Komm, meine Eisprinzessin, ich helfe dir ein wenig.« Zusammen fuhren sie langsam hinter Lilly her.

An Caros Hand fühlte sich Anne sicher. Langsam entspannten sich ihre Gesichtszüge, und ihre verkrampften Muskeln wurden lockerer. »Das macht viel mehr Spaß, als ich gedacht hätte«, gab Anne zu. In diesem Augenblick verlor sie beinah ihr Gleichgewicht und konnte sich gerade noch an Caro festhalten. Anne musste laut lachen. Eislaufen war wohl doch nicht die richtige Sportart für sie.

Caro blieb stehen und nahm Anne liebevoll in den Arm. Zärtlich strich sie ihr eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. »Du bist so unglaublich süß.« Sie sah Anne tief in die Augen. »Ich liebe dich.«

Ihre Lippen trafen sich und verschmolzen zu einem innigen Kuss. Anne durchfuhr ein warmer Strom, und ihre Wangen erröteten. Sie bekam weiche Knie. Mit Caro war alles wie in einem niemals enden wollenden Traum, die Welt um sie herum schien stillzustehen.

»Kommt weiter«, unterbrach Lilly diesen romantischen Moment.

Anne löste sich schweren Herzens von Caro und seufzte, ehe sie ihre Fahrt fortsetzte.

Als sie Hunger bekamen, machten die drei sich auf den Weg zurück zum Auto.

Anne hatte genügend Proviant eingepackt, so dass sie sich für einige weitere Stunden auf dem Eis stärken konnten. Auf einer Bank genossen sie die kurze Rast.

Der Schnee glitzerte in der Sonne, die sich ihren Weg durch die Wolken am Horizont gebahnt hatte, und um sie herum herrschte eine unvergleichliche Stille.

Während sich Anne und Caro die Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen ließen, spielte Lilly im Schnee.

»Können wir jetzt endlich Schlittenfahren?« nörgelte Lilly, der die Pause schnell zu langweilig wurde.

Mit dem Schlitten bewaffnet kämpften sie sich bald gemeinsam den Hang hinauf, der von unten viel weniger steil ausgesehen hatte. Völlig außer Atem kamen sie oben an und gesellten sich zu den zahlreichen Familien, die neben ihnen den Hang unsicher machten.

»Willst du zuerst mit deiner Mama oder mit mir fahren?« fragte Caro Lilly, die mit aufgerissenen Augen beobachtete, wie die anderen Kinder sich den Hügel hinunterstürzten.

Lilly entschied sich für Caro, worüber Anne ausgesprochen froh war. Es wirkte doch sehr gefährlich. Sie vertraute Caro, dass sie gut auf ihre Tochter aufpassen würde, aber selbst musste sie ja nicht unbedingt ihre Gesundheit riskieren.

Caro nahm Lilly auf den Schoß und stieß sich mit den Beinen vom Boden ab. Sofort nahm der Schlitten Fahrt auf, und die beiden rasten johlend den Berg hinunter. Kaum waren sie unten angekommen, wollte Lilly gleich wieder nach oben. »Das war toll. Ich will noch mal«, verkündete sie begeistert, und so stapften sie zusammen den Hang wieder hinauf.

Unzählige Male wiederholte sich die Prozedur. Lilly konnte einfach nicht genug davon bekommen.

»Komm schon. Das ist lustig. Sei nicht so ein Angsthase, Lilly ist ja mutiger als du«, stachelte Caro Annes Ehrgeiz an.

Anne ließ sich schließlich von Caro dazu überreden, auf den Schlitten zu steigen, auch wenn sie nicht wirklich davon überzeugt war, dass das eine gute Entscheidung war. »Also gut, aber dann musst du mit mir die erste Fahrt wagen«, erklärte Anne ihrer Freundin zum großen Vergnügen ihrer Tochter.

Während sich Anne mit klopfendem Herzen vor Caro auf den Schlitten setzte, blieb Lilly oben stehen und beobachtete kichernd, wie ihre Mutter kreischend davonfuhr.

»Oh mein Gott. Jetzt bin ich völlig durchgeschüttelt«, stellte Anne fest, nachdem sie unten angekommen waren. Skeptisch prüfte sie, ob noch alle Körperteile an der richtigen Stelle saßen.

Aber am Leuchten ihrer braunen Augen konnte Caro erkennen, dass es Anne doch großen Spaß gemacht hatte, auch wenn sie es nicht zugeben wollte.

»Schnell wieder hoch. Jetzt musst du aber mit Lilly fahren.« Caro zwinkerte Anne zu und rannte los.

Anne keuchte hinterher und schnappte sich ihre Tochter für einen weiteren Höllenritt. »So Lilly, wollen wir doch mal sehen, ob wir beide zusammen auch unten ankommen.«

Erst, als es langsam begann dunkel zu werden, beschlossen sie, dass es nun an der Zeit war, den Heimweg anzutreten.

Kaum im Auto, schlief Lilly vor Erschöpfung sofort ein. Auch Anne und Caro schwiegen müde und glücklich. Es war ein anstrengender Tag gewesen, aber wunderschön, einfach perfekt.

»Steht endlich auf.« Lilly stand an Annes und Caros Bett und rüttelte ihre Mutter wach.

Im ersten Moment wusste Anne gar nicht, was los war. Aus der anderen Ecke des Bettes kam nur ein leise gemurmeltes »Guten Morgen« von Caro.

Anne streckte sich und rieb sich verschlafen die Augen. Es war nicht einmal sechs Uhr, stellte sie mit einem widerwilligen Blick auf die Leuchtziffern fest, die ihr unverschämt fröhlich von ihrem Nachttisch entgegenstrahlten.

»Wir stehen gleich auf. Du kannst ja solange ein bisschen spielen«, schlug Anne vor.

Aber ihre vierjährige Tochter zeigte sich von dieser Idee wenig begeistert und zerrte statt dessen weiter an ihr herum. »Nein, ich möchte nicht spielen. Steht doch endlich auf«, nörgelte sie. Schließlich war heute ihr erster Tag im Kindergarten. Lilly freute sich schon seit Wochen darauf.

Ganz im Gegensatz zu Anne. Sie musste zum ersten Mal ihre Tochter für einige lange Stunden fremden Personen überlassen. Bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz flau in der Magengegend, und sie zog sich die Bettdecke über den Kopf. Wenn sie einfach liegenbleiben würde, wäre es vielleicht irgendwann zu spät, um ihre Tochter im Kindergarten abzugeben.

»Was ist denn mit dir los, meine Liebste?« fragte Caro und zog amüsiert die Mundwinkel nach oben, als sie bemerkte, dass Anne sich lieber unter der Bettdecke verkroch als aufzustehen.

Zur Antwort bekam Caro nur ein leises Gemurmel.

Belustigt zog sie Anne die Decke weg. »Na komm, erzähl mir, was dich bedrückt. Ich habe ja schon eine leise Ahnung.«

Anne stöhnte. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, den ganzen Morgen allein hier zu sein. Wenn ich daran denke, fehlt Lilly mir jetzt schon schrecklich. Ich glaube, ich überstehe das nicht«, versuchte Anne ihre Gefühle in Worte zu fassen.

Caro lächelte ihr aufmunternd zu. »Keine Angst, du wirst das schaffen. Jetzt aber raus aus den Federn, sonst verpasst Lilly noch ihren ersten Tag im Kindergarten. Das willst du doch sicher nicht. Sie freut sich schon so sehr.«

Lilly blieb vor Schreck der Mund offenstehen. »Nein Mama, ich will den Kindergarten nicht verpassen«, protestierte sie lautstark, während sie Anne verängstigt ansah.

Angesichts dieser Hartnäckigkeit, die ihr die beiden entgegenbrachten, blieb Anne nichts anderes übrig, als sich tatsächlich aufzuraffen. »Keine Sorge, mein Schatz. Du kommst rechtzeitig in den Kindergarten«, beruhigte sie ihre Tochter.

Noch ein wenig verträumt beobachtete Caro, wie Anne versuchte ihre dunklen, langen Locken mit einem Haarband zu einem Zopf zu bändigen und kurz darauf verzweifelt aufgab. Sie sah wirklich umwerfend aus. Ihre Rundungen zeichneten sich unter dem roten Schlafanzug deutlich ab, und am liebsten hätte Caro sie einfach wieder ins Bett zurückgezogen.

Aber Anne, die diesen Gedanken zu erraten schien, warf ihr aus funkelnden, dunkelbraunen Augen einen bösen Blick zu und stemmte theatralisch die Hände in die Hüften. »Denk gar nicht daran. Du hast mich gerade eben gezwungen aufzustehen. Jetzt hast du leider Pech.«

»Also gut«, ergab sich Caro in ihr Schicksal und kletterte ebenfalls aus dem Bett. »Ich mache uns dann wohl mal Frühstück.« Und schon war sie in der Küche verschwunden.

Unterdessen half Anne ihrer Tochter sich anzuziehen und die Zähne zu putzen.

Wenig später saßen sie gemeinsam am Esstisch.

»Sind die anderen Kinder nett?« wollte Lilly wissen. Jetzt wurde sie plötzlich doch ein bisschen ängstlich.

Aber anstatt zu antworten, blickte Anne gedankenverloren auf den Boden ihrer Kaffeetasse. Bald wäre ihre Kleine weg und sie ganz allein. Sie seufzte schwer. An diese Vorstellung musste sie sich wohl oder übel gewöhnen, so schwer es ihr auch fiel.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Im Kindergarten ist es bestimmt ganz toll«, antwortete Caro an Annes Stelle und nickte Lilly aufmunternd zu. »Oder, Anne?« versuchte Caro ihre Freundin in das Gespräch einzubeziehen.

»Ja, bestimmt«, nuschelte Anne.

»Ich muss los, du schaffst das. Und wenn es zu schlimm wird, ruf mich an.« Caro umarmte Anne liebevoll und gab ihr einen zärtlichen Abschiedskuss, ehe sie sich auf den Weg zur Arbeit machte.

Wie gut, dass es Caro gab. Sie war einfach die wundervollste Partnerin, die sie an ihrer Seite haben konnte.

»Gehen wir jetzt auch endlich?« quengelte Lilly.

Anne gab nach, auch wenn es noch etwas zu früh war. »Na los, dann komm.« Sie zog ihrer Tochter, die vor Aufregung kaum stillstehen konnte, Schuhe und Jacke an.

Gemütlich schlenderten sie durch die Straßen Richtung Kindergarten. Besser gesagt, Anne versuchte es, doch Lilly hüpfte aufgeregt um sie herum. Anne hatte Mühe, ihre Tochter im Auge zu behalten. Dieser kleine Wirbelwind hielt ihr ganzes Leben auf Trab, und doch konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Guck, da vorn ist dein Kindergarten«, sagte Anne mit einer um Begeisterung bemühten Stimme. Sie zeigte auf das Gebäude, das nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt lag.

Jetzt gab es für Lilly kein Halten mehr. Sofort stürmte sie los.

Die beiden Kindergärtnerinnen begrüßten Anne freundlich. Sie merkten sofort, dass Anne ihre Tochter nicht alleinlassen wollte. »Sie können gern noch ein wenig bleiben, bis die Kleine sich eingewöhnt hat. Für die meisten Kinder ist es am Anfang schwer, ihre Mütter gehen zu lassen«, sagte eine der beiden.

Offensichtlich war das bei Lilly nicht der Fall. Schon nach wenigen Minuten fragte sie ihre Mutter: »Willst du nicht endlich nach Hause gehen?«

Ein bisschen trauriger hätte Lilly ruhig sein können, dachte Anne. Um sie herum vergossen zahlreiche Kinder Tränen, als ihre Eltern sich unauffällig aus dem Staub machen wollten.

»Bis später«, nahm Anne schweren Herzens Abschied. Immerhin schien sich Lilly wohlzufühlen. Das war doch auch wichtig.

Für Anne war es ein schrecklicher Vormittag. Bereits als sie die Wohnungstür aufschloss, vermisste sie Lilly. Das Haus war so leer. Kein Lachen hallte ihr entgegen, kein fröhliches Gekreische kam aus Lillys Kinderzimmer. Diese unheimliche Stille beunruhigte sie.

Die meiste Zeit lief sie planlos durch die Wohnung und versuchte sich mit Hausarbeit abzulenken. Sie scheuerte das Badezimmer, saugte die Böden und wischte Staub in allen Zimmern, und schon bald glänzte das Haus wie schon lange nicht mehr. Sie hätten vom Fußboden essen können, so sauber war es.

Anne sah ungeduldig auf die Uhr.

Das war unmöglich, nur zwei Stunden waren vergangen, seit sie Lilly zurückgelassen hatte. Es dauerte noch immer eine Ewigkeit, bis der Kindergarten zu Ende war.

Anne seufzte. So konnte es in Zukunft auf keinen Fall weitergehen. Sie musste eine Beschäftigung finden für die Zeit, in der Lilly nicht bei ihr war. Spätestens am Ende der Woche würde in der Wohnung sonst eine sterile Atmosphäre wie im Operationssaal herrschen.

Mit einer Tasse Kaffee und einem Buch machte sie es sich auf dem Sofa gemütlich. Sie überflog die Zeilen, konnte sich aber nicht auf den Inhalt konzentrieren. Ihre Finger trommelten nervös auf den Polstern. Es wollte ihr einfach nicht gelingen, die ungewohnte Einsamkeit zu verdrängen und erst recht nicht, ihre neue Freiheit zu genießen.

Anne schaltete den Fernseher ein. Vielleicht würde sie das ablenken. Sie zappte durch die Programme und blieb bei einer Dokumentation über den Alltag in einer deutschen Rehabilitationsklinik hängen. Sie rückte sich ein Kissen im Rücken zurecht, um es sich bequemer zu machen.

Aufmerksam verfolgte sie, wie ein Physiotherapeut gerade einen Schlaganfallpatienten behandelte.

Ich muss wieder arbeiten, schoss es Anne so plötzlich durch den Kopf, dass sie wie vom Blitz getroffen mitten in der Bewegung innehielt. Wieso war sie denn nicht schon früher darauf gekommen?

Anne war gelernte Physiotherapeutin, hatte aber kurz vor Lillys Geburt aufgehört zu arbeiten, um sich ausschließlich um ihre Tochter zu kümmern. Auch nach der Trennung von ihrem Ehemann Peter musste sie kein Geld verdienen. Ihr Ex-Mann zahlte gut und überwies jeden Monat pünktlich einen großzügigen Unterhalt für sie und seine Tochter auf Annes Konto. So kamen Anne und Lilly ohne Probleme über die Runden. Zwischendurch verdiente sie sich mit Massagen bei einigen Bekannten und einigen ihrer Freundinnen etwas dazu.

Auch wenn es Anne nicht gefiel, dass sie finanziell so abhängig war, genoss sie ihr intensives Muttersein dennoch und konnte sich nicht vorstellen, Lilly alleinzulassen oder sie in einer Krippe betreuen zu lassen.

Bis heute. Sie stellte plötzlich fest, dass ihr die Arbeit fehlte, und sie wusste mit einem Mal, dass sie dringend eine neue Aufgabe brauchte. Jetzt, da ihre Tochter sie nicht mehr rund um die Uhr benötigte, könnte sie dieses Wagnis doch eigentlich eingehen und sich auch wieder mehr um sich selbst kümmern.

Dass sie daran noch nicht gedacht hatte. Euphorisch sprang Anne von der Couch, um die aktuelle Tageszeitung im Altpapier zu suchen. Sie wollte jetzt sofort die Stellenanzeigen durchgehen. Gleichzeitig fuhr sie den PC hoch. Schließlich fand man heutzutage auch im Internet viele Angebote.

Vor Aufregung beschleunigte sich ihr Herzschlag. Es wäre einfach wunderbar, die Vormittage zu nutzen, um wieder zu arbeiten.

Gutgelaunt las Anne aufmerksam alle Stellenanzeigen, die sie finden konnte. Bald musste sie jedoch ernüchtert feststellen, dass das Angebot nicht allzu groß war. Aber egal, das war im Moment nicht so wichtig. Sie freute sich erst einmal, dass sie überhaupt den Entschluss gefasst hatte, sich nach einer Arbeit umzusehen. Der Rest würde sich von allein ergeben.

Es bedeutete zweifellos eine Mehrbelastung für sie, aber Anne war optimistisch und glaubte fest daran, dass sich der Wiedereinstieg in den Beruf schon irgendwie mit ihrem bisherigen Alltag vereinbaren ließe. Vor allem wenn Caro sie in ihrem Vorhaben unterstützte, klappte es sicher. Und Anne war fest davon überzeugt, dass Caro von ihrer Idee ebenfalls begeistert wäre und ihr so gut es ging unter die Arme greifen würde. Sobald sie am Abend etwas Ruhe hätten, würde Anne von ihren Plänen erzählen.

Fröhlich pfeifend verließ sie die Wohnung, als es Zeit war, ihre Tochter abzuholen.

Den gesamten Nachmittag über war Lilly vor Begeisterung kaum zu bremsen. Fast ohne Luft zu holen erzählte sie von ihren Erlebnissen im Kindergarten. Sie fand es großartig, mit anderen Kindern zu spielen und zu malen. Auch ihre Betreuerinnen mochte sie auf Anhieb. Es hatte ihr sehr viel Spaß gemacht, und zu Annes Leidwesen hatte sie ihre Mutter gar nicht vermisst und war richtig traurig gewesen, als sie nach Hause musste.

Als Lilly am Abend vor Erschöpfung nach diesem anstrengenden Tag die Augen kaum noch offenhalten konnte, brachte Anne ihre Tochter ins Bett. Sie beschloss Lilly eine kleine Geschichte zu erzählen, um noch einmal möglichst viel Zeit mit ihr zu verbringen und so einen Teil der verlorengegangenen gemeinsamen Stunden des Vormittags nachzuholen.

Sie setzte sich auf Lillys Bettkante und begann: »Es war einmal eine wunderschöne Prinzessin, die lebte in einem fernen Land, in dem jeder Mensch etwas ganz Besonderes und Einzigartiges war. So auch diese Prinzessin. Alle liebten die fröhliche Prinzessin und bewunderten ihre Schönheit, vor allem ihre langen, blonden Haare, die wie Gold in der Sonne glänzten.«

»Mama? War diese Prinzessin genau so lieb und schön wie Caro?« Lilly sah Anne fragend mit ihren großen, blauen Augen an.

Anne strich ihrer Tochter sanft die Haare aus dem Gesicht. »Ja, mein Schatz, fast so schön wie sie.« Kurz entfuhr ihr ein leiser Seufzer, aber dann erzählte sie weiter. »Eines Tages traf die Prinzessin ein sehr trauriges Mädchen, das vor lauter Traurigkeit gar nicht mehr wusste, was es machen sollte. Die Prinzessin sah das arme Mädchen fröhlich an, denn sie war immer glücklich, wenn sie neue Menschen traf. Doch als sie erkannte, dass das Mädchen so schrecklich traurig war, wurde auch sie ganz traurig und lud das Mädchen in ihren riesigen Palast ein, um dort mit ihm zu spielen und gemeinsam ein bisschen Spaß zu haben.« An Lillys gleichmäßigen Atemzügen merkte Anne, dass ihre Tochter mittlerweile tief und fest eingeschlafen war und fügte noch schnell hinzu: »Die beiden wurden dicke Freundinnen und lebten bis an ihr Lebensende glücklich zusammen im Palast der Prinzessin.«

Vorsichtig gab Anne Lilly noch einen Kuss auf die Wange und verließ dann auf Zehenspitzen das Kinderzimmer.

In ihren Gedanken hing sie immer noch dem Märchen nach, das sie eben ihrer Tochter erzählt hatte. Es wies doch einige Parallelen zu ihrem eigenen Leben während der letzten zwei Jahre auf, seit sie Caro getroffen und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Langsam öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer und sah Caro träumend auf der Couch sitzen.

Sie war wirklich wunderschön, wie sie so dasaß, die langen Haare ausnahmsweise offen und ein bisschen verwuschelt, die tiefblauen Augen zum Boden gesenkt, und anstatt einem ihrer eleganten Hosenanzüge trug sie einen verwaschenen, blauen Schlafanzug.

»Hallo, meine Prinzessin.« Anne blickte verträumt lächelnd zu Caro, blieb aber noch einen Augenblick entzückt im Türrahmen stehen.

»Willst du dich nicht zu mir setzen?« Caros Stimme riss Anne aus ihren Gedanken. »Jetzt erzähl mir doch endlich, wie dein Tag heute war. Du hast Lilly heute morgen bestimmt fürchterlich vermisst, oder?«

Anne setzte sich neben Caro auf die Couch und lehnte den Kopf an die Schulter ihrer Freundin. Es war so schön mit ihr. Sie genoss es, ihre Wärme und Nähe zu spüren. Der berauschende Duft von Caros Parfüm stieg ihr in die Nase, sie roch einfach unbeschreiblich gut.

»Und wie ich sie vermisst habe. Die Wohnung ist viel zu groß für mich allein. Ich habe erst einmal einen Großputz veranstaltet.« In Annes Stimme lag noch immer ein Hauch von Bedrücktheit.

Caro legte ihren Arm um sie und strich ihr zärtlich durch ihre Haare. »Mein Armes. Morgen wird es sicherlich besser. Du gewöhnst dich ganz schnell daran, und dann genießt du deine Freiheit. Da bin ich mir ganz sicher«, versuchte sie Anne aufzumuntern.

Nun war offensichtlich der richtige Zeitpunkt für Anne gekommen, Caro ihren wichtigen Entschluss mitzuteilen. Den ganzen Tag hatte sie angespannt darauf gewartet. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Sie atmete tief durch und richtete sich dann auf. Nach einem kurzen Räuspern sprudelte sie aufgeregt los: »Ich muss dir noch etwas Wichtiges sagen, ich habe mir nämlich etwas überlegt.«

Überrascht sah Caro sie an.

»Jetzt, wo Lilly morgens versorgt ist, könnte ich doch vielleicht wieder halbtags arbeiten gehen. Irgendwie vermisse ich meinen Beruf, und bevor ich hier allein herumsitze und mich langweile, sehe ich mich doch besser nach einer interessanten Stelle um«, fuhr sie fort. Ein strahlendes Lächeln überzog ihr Gesicht.

»Das ist in der Tat eine Neuigkeit«, erwiderte Caro mit skeptischem Blick. Ihre Stirn legte sich in Falten. Sie konnte ja ganz gut verstehen, dass Anne endlich wieder etwas anderes machen wollte als nur Kindererziehung und Haushalt. Sie selbst war eine erfolgreiche Rechtsanwältin und liebte ihren Beruf. Schon seit sie denken konnte, war sie immer besonders ehrgeizig und zielstrebig gewesen, so auch, als es um ihre Karriere ging. Mit ihren fünfunddreißig Jahren konnte sie zahlreiche Erfolge vorweisen und war im ganzen Ruhrgebiet äußerst gefragt. Leider hieß das aber auch, dass sie zuviel Zeit in der Kanzlei oder mit ihren Mandanten und Mandantinnen verbringen musste. Abends kam sie oft erst spät und meist müde nach Hause. Manchmal schien sie regelrecht in Arbeit zu ersticken. Ihre Beziehung mit Anne hatte häufig darunter zu leiden. Erst, seit ihre Liebste mit Lilly vor einem Jahr zu ihr gezogen war, konnten sie sich wenigstens täglich sehen.

Eigentlich hatte alles so gut funktioniert. Caro sah im Grunde keinen Anlass, das zu ändern.

»Was denkst du? Meinst du, wir schaffen das?« fragte Anne, die Caros Reaktion und ihr Schweigen nicht deuten konnte, etwas ängstlich. Caro schien nicht ganz so begeistert von dieser Idee zu sein, wie Anne es sich erhofft hatte.

»Es wird vielleicht nicht einfach. Meine Arbeit wird davon ja nicht weniger. Und wegen des Geldes ist es nicht nötig. Aber wenn du das wirklich möchtest, werde ich dir auf jeden Fall so gut es geht unter die Arme greifen«, erklärte Caro mit diplomatischem Ton. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem bemühten Lächeln.

»Freust du dich nicht, dass ich wieder arbeiten möchte? Du weißt doch selbst, wie viel dir deine Kanzlei bedeutet.« Anne hätte sich etwas mehr Euphorie von ihrer Partnerin gewünscht.

»Nein, du darfst das nicht falsch verstehen. Es freut mich wirklich sehr für dich, dass du diesen Entschluss gefasst hast. Mich hat es nur etwas überrascht. Aber ich weiß, wir werden das gemeinsam schaffen.«

Endlich bekam Caros Gesicht einen weichen Ausdruck, ihre Augen leuchteten Anne warm entgegen. Zum Zeichen, dass sie es wirklich ernst meinte, beugte sie sich über Anne und küßte sie innig und liebevoll, um ihr so die letzten Zweifel zu nehmen. Dabei ließ Caro ihre Hand zärtlich über Annes Rücken gleiten.

Anne durchfuhr ein angenehmer Schauer. Sie spürte auch nach so vielen Monaten noch immer Schmetterlinge in ihrem Bauch, wie am ersten Tag. Caros Finger auf ihrer Haut verursachten ein Kribbeln, das sich in jede Zelle des Körpers ausbreitete, von den Haarwurzeln bis in den kleinen Zeh. Niemals zuvor hatte sie sich so tiefgehend in einen Menschen verliebt. Mit geschlossenen Augen genoss sie die Berührungen.

Schon zum fünften Mal las Anne ihr Bewerbungsschreiben und den Lebenslauf. Sie hatte es sich mit einer Tasse Tee am Schreibtisch gemütlich gemacht und den ganzen Morgen an jedem einzelnen Satz minutenlang gefeilt, bis sie ihr Werk endlich für perfekt hielt.

In den letzten Tagen war sie alle Stellenanzeigen, die sie irgendwo finden konnte, aufmerksam durchgegangen und hatte das ein oder andere passende Angebot gefunden. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass irgend jemand ihr eine Chance geben würde, obwohl sie schon einige Zeit aus ihrem Beruf heraus war und nur vormittags zur Verfügung stand.

»Oh, ich muss ja schon los.« Überrascht sah Anne auf ihre silberne Armbanduhr, ein Geschenk von Caro, und sprang aus ihrem Stuhl hoch. Lilly hatte in wenigen Minuten Schluss im Kindergarten.

Glücklicherweise gefiel es ihrer Tochter dort noch immer richtig gut. Mittlerweile hatte sie schon einige Kinder besser kennengelernt und freute sich jeden Morgen wieder auf die Gleichaltrigen und auf die Betreuerinnen.

Schnell zog sich Anne ihren dicken, schwarzen Mantel über. Der Blick aus dem Fenster auf den mit dunklen Wolken verhangenen Himmel verhieß nichts Gutes. Sie steckte die Bewerbungsunterlagen in die sorgfältig beschrifteten Umschläge, damit sie diese unterwegs in den Briefkasten werfen konnte.

Als sie vor die Haustür trat, wurden ihre Befürchtungen bestätigt. Eine eisige Kälte empfing sie, und ein stürmischer Wind blies ihr um die Ohren. Mit schnellen Schritten eilte sie los, die Hände tief in den Taschen vergraben.

Dann endlich erreichte Anne den Briefkasten und blieb stehen. Sie atmete tief durch und öffnete ein wenig unsicher die Klappe. War es wirklich das Richtige? Würde sie wirklich alles so schaffen, wie sie es sich vorstellte?

Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust. Aufgeregt warf sie die Briefe durch den Schlitz.

Nun gab es kein Zurück mehr. Sie hatte den ersten Schritt in einen neuen Lebensabschnitt gewagt.

Das schrille Klingeln ihres Handys ließ sie aufschrecken.

»Hallo, mein Schatz.« Sofort erkannte sie Caros unverwechselbare, samtene Stimme, die ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte. »Ich habe gerade Mittagspause, und du hast mir gefehlt. Alles klar bei dir?«

Annes Herz machte Freudensprünge. Es kam so selten vor, dass Caro während der Arbeit ein wenig Zeit für sie finden konnte. »Ich bin auf dem Weg zum Kindergarten. Gerade eben habe ich meine Bewerbungen abgeschickt«, erklärte sie.

»Oh, wie schön. Ich bin gespannt, wie schnell du eine Antwort bekommen wirst«, erwiderte Caro. Auch durch den Telefonhörer konnte Anne Caros ehrliche Freude spüren und ihr fröhliches Lächeln erahnen.

Sie verabredeten, dass Anne am Abend etwas für alle drei kochen würde, und sie es sich dann ganz gemütlich machen wollten, wenn Lilly erst einmal im Bett lag. Vielleicht könnten sie gemeinsam ein heißes Bad nehmen. Dazu waren sie lange nicht mehr gekommen.

Mittlerweile war Anne am Kindergarten angekommen. Sie reihte sich vor der Tür in die Menge der wartenden Mütter und Väter ein und musste sich einige Augenblicke gedulden, bis sie Lilly in Empfang nehmen konnte.

Dann kam ihre Tochter mit ausgestreckten Armen auf sie zugerannt. »Mama, guck mal, was ich heute gemalt habe!« Sie zeigte ihr ganz stolz ein Bild, auf dem Anne nicht wirklich etwas erkennen konnte.

»Das hast du aber toll gemacht.« Sie nahm Lilly auf den Arm und gab ihr einen Kuss.

Eine andere Mutter zwinkerte ihr zu. Bestimmt hatte sie auch schon auf ähnliche Weise viele Kunstwerke lobend begutachtet.

»Was hältst du davon, wenn wir jetzt ein Brötchen essen und nachher zusammen etwas Leckeres für Caro und uns kochen?« Anne wusste, wie gern ihre Tochter im Haushalt half. Auch wenn sie eigentlich keine große Hilfe war, so war sie zumindest beschäftigt.

Wie erwartete strahlte Lilly sie an und nickte begeistert.

»Dann müssen wir jetzt nur noch einkaufen, damit wir auch alles haben, was wir brauchen.« Anne nahm ihre Tochter an die Hand, um mit ihr zum nächstgelegenen Supermarkt zu gehen.

Nach dem Einkauf kamen sie durchgefroren zu Hause an.

Ein Jahr war es nun her, dass Anne mit Lilly bei Caro eingezogen war. Caro hatte das Haus vor einigen Jahren von ihren Eltern geerbt. Für sie allein war es viel zu groß, und deshalb hatte sie Anne schon lange das Angebot gemacht, zu ihr zu ziehen. Aber Anne hatte zunächst nicht gewollt. Sie war, nachdem sie Peter verlassen hatte, froh gewesen, eine eigene, kleine Wohnung gefunden zu haben. Die damit verbundene Selbständigkeit hatte sie nicht so schnell wieder aufgeben wollen.

Mit ihrem Ex-Mann war sie damals ziemlich übereilt zusammengezogen, was, wie sich später herausstellte, keine gute Idee gewesen war. Viel zu schnell, Anne war gerade 23 Jahre alt, hatte sie sich vor dem Traualtar wiedergefunden. Ihre Ehe war eigentlich von Beginn an eine Katastrophe, das Gefühl zwischen ihr und Peter höchstens Freundschaft gewesen. Es gab keine Leidenschaft, keine Schmetterlinge im Bauch, keine große Liebe. Sie passten kein bisschen zusammen, doch das bemerkten sie erst, als es zu spät war.

Schon kurz nach der Hochzeit fühlte sich Anne unglücklich und ungeliebt. Als sie endlich den Entschluss gefasst hatte, sich von Peter zu trennen, wurde sie schwanger. Sie wollte ihr Kind nicht ohne Vater großziehen, und Peter hatte ihr versprochen, mehr auf sie einzugehen, sich gut um seine Familie zu kümmern. Es sollte alles anders und besser werden, sie wollten versuchen doch noch zueinander zu finden.

Nicht einmal ein paar Monate hielt Peter durch, und kaum war Lilly auf der Welt, war alles beim alten und noch schlimmer. Anne hatte nun endgültig genug von ihm, sie erkannte, dass ihre Liebe ein einziger Selbstbetrug gewesen war und reichte die Scheidung ein. Es gab keinen großen Streit zwischen ihnen. Auch Peter hatte eingesehen, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben würden. Es fiel ihm jedoch schwer, Lilly ziehen zu lassen, denn er hing sehr an seiner kleinen Tochter.

Zunächst zog Anne mit Lilly zu ihren Eltern, bis sie eine gemütliche Wohnung fand, die sie sich von Peters großzügigem Unterhalt leisten konnte. Erst ein Jahr später war sie mit Lilly dann doch zu Caro gezogen.

Alles schien immer noch so unglaublich, so unglaublich schön und perfekt. Nur Caros Arbeitswut, die dazu führte, dass sie manchmal zu vergessen schien, dass Anne zu Hause auf sie wartete, trübte ihr Glück ein wenig.

Vom ersten Augenblick an hatte Anne gewusst, dass es mit Caro etwas ganz Besonderes war. Noch niemals vorher hatte sie sich in eine Frau verliebt, nie hatte sie sich darüber Gedanken gemacht. Und als es dann passierte, ließ sie es einfach mit sich geschehen. Zwar war sie etwas unsicher, ob sie wirklich mit einer Frau zusammensein konnte, und eigentlich hatte sie sich vorgenommen, zunächst ein erfülltes Single-Dasein zu führen, aber dann war sie von ihr bis dahin unbekannten Gefühlen so überwältigt worden, dass sie wusste, es gab keine andere Entscheidung, als sich auf eine Beziehung mit Caro einzulassen.

Schon als Kind hatte Anne gelernt, dass sie immer das tun sollte, was sie glücklich machte. Und lange genug hatte sie genau das Gegenteil davon getan. Erst jetzt wusste sie, was sie glücklich machte, und das war Caro.