Liebe ist, was zählt - Julia Schöning - E-Book

Liebe ist, was zählt E-Book

Julia Schöning

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Beschreibung

Zufällig treffen die Neurologinnen Dr. Anna Deniger und Dr. Charlotte Loewe in einem Outdoor-Geschäft aufeinander. Schnell entdecken sie viele Gemeinsamkeiten und fühlen sich zueinander hingezogen. Doch auch wenn sich beide in ihrem tiefsten Inneren nach der großen Liebe sehnen, sind sie nicht bereit dazu, ihr Herz zu öffnen und gestehen sich diese insgeheime Sehnsucht nicht ein. Sie gehen auseinander und Anna beschließt daher, Charlie nicht wiederzusehen. Umso größer ist die Überraschung, als sich Charlie wenige Tage später als die neue Oberarztkollegin in Annas Klinik vorstellt und die Leitung eines neuen Tumorzentrums übernehmen soll – genau die Stelle, auf die Anna eigentlich gehofft hatte. Zu allem Überfluss verdonnert Annas Chef sie auch noch, mit Charlie zusammenzuarbeiten – Annas Groll gegen Charlie wächst. Und dann hat Charlie auch noch eine völlig andere Sichtweise über die Schwerpunkte des Tumorzentrums. Das alles macht auch nur den Gedanken an eine Beziehung mit Charlie völlig unmöglich – wenn da nicht immer stärker werdende Gefühle wären . . .

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Seitenzahl: 324

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Julia Schöning

LIEBE IST, WAS ZÄHLT

Roman

© 2022édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-351-7

Coverfoto:

1

»Den kann ich nur empfehlen.«

Die angesprochene Frau drehte sich zu Anna um, den Wanderführer in der Hand. »Meinen Sie?« Ihre Stirn legte sich in Falten. »Das Layout wirkt nicht gerade einladend.«

Anna lächelte. »Der äußere Schein trügt. Es ist der Beste für die Gegend hier.«

Die Dunkelhaarige erwiderte das Lächeln. »Vielleicht sollte ich meine Vorurteile ablegen.« Sie blätterte in dem Buch und überflog eine Seite. »Die romantische Tour. In Herten-Westerholt«, las sie vor. »Wenn das nicht verlockend klingt.« Für einen kurzen Moment sah die schöne Fremde Anna in die Augen. Ihre Blicke hielten sich fest.

»Vom Alten Dorf zum Schloss«, entfuhr es Anna, noch immer in den dunklen Augen ihr gegenüber versunken.

»Sie kennen sich aus.«

»Ein bisschen. Ich wandere gern. Auch, wenn es hier sicherlich nicht so viele Wanderstrecken gibt wie im Gebirge.«

»Das ist wohl anzunehmen.«

»Sie kommen nicht von hier, oder?« Anna legte den Kopf ein wenig schief. Anhand des Dialekts erkannte sie nicht, wo die Unbekannte aufgewachsen war.

Die Brünette zuckte mit den Schultern. »Ich wohne erst seit ein paar Tagen in Essen. Der Umzug ist gerade geschafft.« Sie seufzte. »Ein neuer Job.«

»Dann werden Sie sich wundern, was das Ruhrgebiet zu bieten hat.«

»Damit könnten Sie recht haben.« Sie hob eine Augenbraue und sah Anna vielsagend an.

»Kann ich Ihnen weiterhelfen?« Mittlerweile war der Verkäufer des kleinen Outdoorladens auf sie aufmerksam geworden.

»Nein, wir kommen zurecht«, sagten beide gleichzeitig.

Die Fremde lachte und Anna bemerkte sofort die unwiderstehlichen Grübchen neben ihrem Mund. »Da sind wir wohl einer Meinung.«

»Scheint so.« Anna grinste. »Ich bin übrigens Anna.«

»Charlie. Auf Charlotte getauft, aber . . .«, sie hob abwehrend die Arme, »bitte nicht.« Sie zwinkerte Anna zu. »Freut mich, dich kennenzulernen.« Sie warf noch einmal einen kurzen Blick auf den Wanderführer. »Also gut, dann werde ich den nehmen. Auf deine Verantwortung.«

Abwehrend hob Anna die Hände. »Ich weiß nicht, ob ich diese Verantwortung übernehmen kann. Aber ich könnte unter Umständen noch ein paar Tipps beisteuern.«

»Wie wäre es in diesem Fall mit einem Kaffee? Sozusagen als Dank für die Beratung? Ich lade dich natürlich ein.«

»Warum nicht?« Dass sie ursprünglich einen neuen Fahrradhelm hatte kaufen wollen, ignorierte Anna in diesem Moment. Der alte würde noch ein paar Tage funktionieren. Die Aussicht, mit Charlie einen Kaffee zu trinken, war deutlich verlockender, als sich mit dem Anprobieren der Helme die Frisur zu ruinieren.

»Wo kommst du denn her?«, nahm Anna das Gespräch wieder auf, nachdem Charlie das Buch bezahlt und sie den Laden verlassen hatten.

»Zuletzt habe ich in Tübingen gewohnt.« Charlie wirkte nicht besonders auskunftsfreudig. »Kennst du denn ein gutes Café hier in der Nähe? Ich fürchte, da wird mir der Wanderführer keine gute Hilfe sein.«

Anna nickte. »Direkt die Straße rauf ist ein sehr nettes kleines Café.«

»So gut, wie du dich auskennst, lebst du wohl schon länger hier, oder?«

»Ich stamme aus Castrop-Rauxel«, sagte Anna. »Lebe aber schon ein paar Jahre in Essen.« Sie rieb ihre Hände, um sie aufzuwärmen.

»Was für ein Glück ich habe, dass ausgerechnet du mich angesprochen hast.« Charlie grinste.

»Und das, obwohl ich sonst nie fremde Frauen anspreche.« Anna zuckte mit den Schultern. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie überhaupt auf Charlie zugegangen war. Es war gar nicht ihre Art, aber irgendetwas hatte sie an ihr von Anfang an fasziniert.

»Ach nein?« Charlie hob eine Augenbraue. »Dann freut es mich umso mehr.«

Ein Vampir und ein Werwolf liefen an ihnen vorbei.

Charlie starrte die beiden Gestalten mit leicht geöffnetem Mund an, als würde sie ihrer eigenen Wahrnehmung in der einsetzenden Dämmerung nicht trauen. »Hast du das auch gesehen?«

Anna lachte. »Ja, du hast dir das nicht eingebildet. Hast du vergessen, dass heute Halloween ist?«

»Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.« Charlie prustete los. »Das ist kein Fest für mich.«

»Meins ist es auch nicht.« Anna blieb vor dem hell erleuchteten Café stehen. »Hier ist es.« Durch die Fenster konnte sie erkennen, dass es trotz der unüblichen Kaffeezeit gut besucht war. »Hoffentlich bleiben wir hier von Kostümen und Totenkopfdeko verschont.«

Charlie stieß die Tür auf. »Ansonsten verschwinden wir einfach wieder.«

»Hallo, Anna, dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen.« Rita, die Besitzerin, kam hinter der Theke hervor und umarmte Anna. »Das letzte Mal warst du doch noch mit . . .«

»Ja, ist eine Weile her«, schnitt Anna ihr das Wort ab. Sie wollte sich nicht an den zurückliegenden Besuch erinnern. Und erst recht nicht an ihre Begleitung. »Hast du einen Tisch für uns?«

»Natürlich.«

Anna und Charlie folgten ihr, die ihnen einen kleinen Tisch in einer ruhigen Nische zuwies. »Ist der Platz okay?«

Anna nickte und hängte ihre Jacke über die Stuhllehne. Charlie schloss sich ihrem Beispiel an und setzte sich dann Anna gegenüber.

»Wisst ihr schon, was ihr wollt?« Rita zückte ihren Notizblock.

»Einen Kaffee und deinen legendären Apfelkuchen für mich.« Anna fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Mit einer Portion Sahne.«

»Das nehme ich auch«, sagte Charlie und legte die Karte, nach der sie gegriffen hatte, ungeöffnet wieder beiseite. Die Muskelansätze, die sich unter ihrem engen Longsleeve abzeichneten, fielen Anna sofort ins Auge, und sie musste sich dagegen wehren, nicht allzu auffällig darauf zu starren.

»Wovon träumst du?« Charlie hob eine Augenbraue und grinste sie an.

Das Blut schoss Anna ins Gesicht. »Ähm . . . nichts . . .«, stammelte sie. »Ich musste nur gerade an was denken.« Mit ihren Fingern fuhr sie über das geblümte Tischtuch und zeichnete kleine Kreise darauf.

»Woran denn?«, neckte Charlie sie weiter, als hätte sie Annas Gedanken gelesen. Ihre braunen Augen blitzten.

Nur schwer konnte sich Anna von Charlies Blick lösen. »Du bist also auch gern in der Natur«, sagte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

»Immer, wenn ich Zeit habe. Was leider viel zu selten ist.«

Rita stellte den Kuchen und den Kaffee auf den Tisch. Das Apfelaroma mischte sich mit Kaffeeduft. »Lasst es euch schmecken.«

»Kannst du denn hier etwas empfehlen, was ich unbedingt gesehen haben muss?«, griff Charlie das Thema wieder auf. Mit ihrer Gabel teilte sie das erste Stückchen Kuchen ab.

»Kommt drauf an, was dich am meisten interessiert. Eher sportliche Wandertouren? Radtouren? Industriekultur?«

»Was mich interessiert?«, wiederholte Charlie. Sie fixierte Anna. Ihre Stimme bekam einen tieferen Klang.

Anna schluckte. Ihr Herz schlug schneller. Flirtete Charlie mit ihr? »Also . . . ja . . .«, brachte sie mühsam hervor.

»Das kommt ganz darauf an. Auch auf die Begleitung zum Beispiel.« Charlies Finger fuhren über ihr Schlüsselbein. Anna fielen die schlanken Hände sofort auf.

»Ich kann dir ja mal ein paar Fotos zeigen.«

Charlie nickte. »Gern.«

Anna griff ihre Handtasche und begann, darin herumzukramen, froh über die Ablenkung. »Verdammt, wo ist das blöde Teil denn nun schon wieder?« Nach und nach legte sie diverse Gegenstände aus ihrer Tasche auf den Tisch. Taschentücher, einen Kugelschreiber, ein Notizbuch, Pflaster, einen Schlüssel. Nur ihr Handy fand sie einfach nicht.

»Vielleicht brauchst du ein besseres Ordnungssystem für deine Tasche.« Wieder war da dieses vergnügte Blitzen in Charlies Augen.

»Ich habe da meine eigene Ordnung.« Die selten funktioniert, fügte Anna in Gedanken hinzu.

»Das sehe ich.« Es fiel Charlie sichtlich schwer, nicht loszulachen. Sie presste ihre Lippen aufeinander. »Ich könnte dir ein paar Tipps geben. Ordnung ist mein zweiter Vorname.« Als Anna weitere Dinge hervorbugsierte, prustete Charlie schließlich doch los.

»Nicht nötig.« Triumphierend hielt Anna ihr Handy in Charlies Richtung. »Siehst du, da ist es!«

Sie rückte um den Tisch herum und platzierte ihren Stuhl so nah neben Charlie, dass ihre Oberarme sich berührten. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich in Annas Körper aus. Der süße Duft von Pfirsich stieg ihr in die Nase. Sie atmete ihn tief ein. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so unbeschwert gefühlt.

Schnell öffnete sie die Galerie und zeigte Charlie das erste Foto. »Das ist zum Beispiel der Blick auf den Baldeneysee«, erklärte sie um Konzentration bemüht.

Charlie nippte an ihrem Kaffee. »Davon habe ich schon gehört.« Sie stellte die Tasse wieder auf den Tisch. »Ist das dein Hund?«

»Nein, leider nicht. Das ist Leni, die Hündin meiner Schwester. Mir fehlt die Zeit für ein eigenes Haustier.«

Charlie nickte. »So geht es mir auch. Ich hätte gern einen Hund, aber ich finde, wenn man einem Tier nicht die Aufmerksamkeit schenken kann, die es verdient hat, sollte man es lieber lassen.«

Anna wischte weiter und erklärte Charlie ein bisschen was zu ein paar anderen Fotos. »Wie du siehst, gibt es wirklich tolle Ecken hier.«

»Vielleicht können wir da ja mal zusammen wandern gehen.« Für den Bruchteil einer Sekunde streiften Charlies Finger Annas Schulter. Sie hinterließen ein Brennen auf ihrer Haut, durch den Stoff hindurch. »Was hältst du davon?«

War das eine Einladung zu einem Date? Annas Puls raste. »Ja, gern.« In diesem Moment leuchtete ihr Handy, das sie weiterhin in der Hand hielt, auf.

Der Name, der auf dem Display erschien, ließ ihr Herz noch höherschlagen.

Dieses Mal vor Wut.

Vanessa.

Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie biss ihre Zähne so fest aufeinander, dass ihr Kiefer schmerzte. Was für ein Timing!

Anna legte das Gerät auf den Tisch. Sie würde Vanessa ignorieren. Es vibrierte erneut. Zum zweiten Mal tauchte der Name ihrer Ex auf dem Display auf. Sofort waren all die Erinnerungen wieder da.

Und der Grund, warum sie nicht hier mit Charlie sitzen und flirten sollte, wurde ihr schmerzlich bewusst. Wie hatte sie ihren Schwur, sich besser vor einem gebrochenen Herzen zu schützen, in null Komma nichts vergessen können?

»Entschuldige«, nuschelte Anna. In ihrer Brust zog es quälend. Schwungvoll feuerte sie das Handy zurück in ihre Tasche. Egal was Vanessa ihr zu sagen hatte, es interessierte sie nicht mehr. Es reichte, dass ihre Ex ihr schon wieder den Tag und dieses schöne Treffen ruiniert hatte.

»Alles okay?«, fragte Charlie.

»Ja, alles in Ordnung.« Anna verknotete ihre Finger miteinander. »Aber ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.« So schön es auch mit Charlie gewesen war, Anna war nicht bereit dafür. Nicht für einen Flirt und erst recht nicht für eine Beziehung. Sie wollte sich nicht gleich ins nächste Unglück stürzen.

»Schade.« Charlies Gesichtsausdruck spiegelte echtes Bedauern wider. »Ich würde mich wirklich freuen, dich wiederzusehen.« Mit einem Griff in ihre Tasche beförderte sie einen Notizblock samt Stift hervor und kritzelte etwas darauf. Sie stand auf und stellte sich vor Anna, die bereits dabei war, ihre Jacke anzuziehen. »Meine Nummer.« Ein bezauberndes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Pass gut darauf auf, dass du sie nicht in deinem Chaos verlierst.« Sie zwinkerte Anna zu. »Ich hoffe sehr, bald von dir zu hören.«

Anna stopfte den Zettel in ihre Jackentasche und hielt ihn mit ihrer Hand umklammert. »Hat mich sehr gefreut.« Es war keine Lüge.

Es war bloß der falsche Zeitpunkt.

2

»Gut, dass Sie da sind, Frau Doktor Deniger.« Der Ehemann einer ihrer Patientinnen fing Anna direkt auf dem Flur ab, kaum hatte sie die Station betreten.

»Was ist denn los?« Anna versuchte, ihre Haare zu ordnen, die vom Regen durchnässt waren. Das Wetter passte perfekt zu Allerheiligen.

»Meine Frau hat so starke Schmerzen und das Mittel, das sie vorhin von der Schwester bekommen hat, hat überhaupt nicht geholfen.« Seine Stirn legte sich in tiefe Falten. »Können Sie nach ihr schauen?«

»Ich ziehe mich kurz um, dann komme ich sofort«, versprach Anna und suchte bereits nach dem Schlüssel ihres Arztzimmers. Als sie ihn erst nicht fand, musste sie schmunzeln und unweigerlich an Charlie denken. Sogleich vertrieb sie die Erinnerung wieder. Dafür war keine Zeit. Frau Hartung brauchte ihre Hilfe, das hatte oberste Priorität.

Nachdem sie sich ihren Kittel übergezogen hatte, eilte sie ins Schwesternzimmer, um die Unterlagen der Patientin zu suchen.

»Hallo, Anna. Hat es dich mal wieder mit dem Visitendienst am Feiertag erwischt?« Schwester Marlene sah von der Kurve, in die sie schrieb, auf.

Anna zuckte mit den Schultern. »Einer muss ja.«

»Aber dieser einer bist irgendwie immer du.« Marlene lachte.

Sie tauschten sich kurz über die wichtigsten Patientenangelegenheiten aus, aber nichts schien dringender zu sein als das Schmerzproblem von Frau Hartung, weswegen Anna ein starkes Schmerzmittel aufzog und damit ins Zimmer ging.

»Guten Morgen, Frau Hartung.« Anna bemühte sich um einen optimistischen Gesichtsausdruck, auch wenn sie genauso wie das Ehepaar wusste, dass die Patientin bald sterben würde.

Nichts war für die Patienten schlimmer, als durch eine betroffene Miene fortwährend an das eigene Schicksal denken zu müssen. Das hatte Anna in all den Jahren, in denen sie sterbende Patienten begleitet hatte, gelernt.

»Ich habe gehört, Sie haben starke Schmerzen.«

Frau Hartung lag zusammengekauert auf dem Bett, das Gesicht aschfahl wie die Bettdecke. Sie nickte mit zusammengekniffenen Augen.

»Der Kopf?«, fragte Anna. Frau Hartung hatte einen bösartigen Hirntumor im Endstadium, der ihr andauernde Kopfschmerzen bereitete.

Frau Hartung nickte erneut.

Anna rückte sich einen Stuhl neben das Bett. »Ich habe Ihnen ein Schmerzmittel mitgebracht.« Sie deutete auf die Spritze, ehe sie den Arm der Patientin ergriff, in dem der venöse Zugang verweilte. Sie setzte die Spritze an. »Ich werde Ihnen jetzt etwas davon geben, solange es nötig ist. Und ich bleibe so lange bei Ihnen, bis es besser wird.«

Ein erleichterter Seufzer entwich dem Ehemann von Frau Hartung.

Langsam injizierte Anna das Schmerzmittel und streichelte Frau Hartung dabei über den Arm. »Mögen Sie sonst noch was? Einen kühlen Lappen? Oder ein bisschen Aromaöl?«

Dieses Mal schüttelte Frau Hartung den Kopf. Die zusammengekniffenen Augen entspannten sich bereits ein wenig.

Anna drehte sich zu Herrn Hartung. »Wollen Sie vielleicht etwas frühstücken gehen? Ich bin ja jetzt bei Ihrer Frau und passe auf.«

Sie wusste, dass Herr Hartung nachts bei seiner Frau blieb und mit im Zimmer schlief. Und so wie sie ihn in den letzten Wochen kennengelernt hatte, hatte er sich an diesem Morgen ausschließlich um seine Frau gekümmert und gesorgt. Ganz bestimmt hatte er noch nicht an sich gedacht.

»Sie können ruhig gehen. Es nützt Ihrer Frau nichts, wenn Sie selbst am Ende zusammenklappen.«

»Hör auf die Frau Doktor«, kam es mit leiser Stimme von Frau Hartung. Ein zaghaftes Lächeln lag auf ihren Lippen.

»Okay.« Herr Hartung gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin bald wieder bei dir.«

Die nächste halbe Stunde blieb Anna am Bett von Frau Hartung sitzen, hielt ihre Hand und titrierte das Schmerzmittel, bis sich die Patientin so weit entspannt hatte, dass sie einschlief.

»Vielen Dank. Ich wüsste wirklich nicht, was wir ohne Sie machen sollten«, sagte Herr Hartung, der gerade wieder zurückgekommen war. Er tauschte den Platz mit Anna.

»Sagen Sie Bescheid, wenn noch etwas ist. Ansonsten bin ich leider erst am Montag wieder in der Klinik.« Anna drückte kurz seine Hand. Sie war sich nicht sicher, ob sie das Ehepaar in zwei Tagen wirklich wiedersehen würde. Frau Hartung hatte in den letzten Stunden rapide abgebaut.

Bevor sie den Rest ihres Visitendienstes abarbeitete, brauchte Anna erst einmal einen starken Kaffee. Sie goss sich einen Schluck aus der Kanne, die im Schwesternzimmer auf dem Tisch stand, ein, und setzte sich. Der Temperatur und der Farbe nach zu urteilen war das Gebräu bereits mehrere Stunden alt. Aber besser als nichts.

Sie pustete in ihre Tasse, bis die dunkelbraune Flüssigkeit kleine Wellen schlug.

Manchmal waren die Patientenschicksale schwer zu ertragen, selbst wenn sie wusste, dass sie mit ihrer Arbeit das Leid der Patienten linderte und ihnen ein Stück Lebensqualität schenkte, dafür sorgte, dass sie in Frieden starben. Wie Frau Hartung.

Anna nippte an ihrem Kaffee. Er schmeckte bitter.

Was blieb, war die Trauer der Angehörigen. Ihre Not war häufig noch schwieriger auszuhalten. Sie wollte sich nicht ausmalen, wie es für Herrn Hartung werden würde, wenn alles, was in den letzten Monaten sein Lebensinhalt gewesen war, wegbrach, wenn er das verlor, was er am meisten liebte.

Das Klingeln ihres Telefons ließ Anna zusammenzucken. Sie fischte es aus ihrer Kitteltasche und warf einen Blick auf das Display. Eine Handynummer leuchtete auf. Wer rief sie an einem Feiertag an?

»Wusste ich doch, dass ich dich in der Klinik erwische.« Ihre Schwester lachte ins Telefon. »Können wir uns später treffen? Ich muss unbedingt mit dir sprechen.«

»Ist was passiert?« Sofort richtete sich Anna auf ihrem Stuhl auf.

»Nichts Schlimmes. Keine Sorge. Begleitest du mich nachher auf einem Spaziergang mit Leni? Das Wetter soll etwas besser werden. Zumindest trocken.«

Nachdem sie die genauen Details besprochen hatten, legte Anna auf. Sie traf sich regelmäßig mit ihrer Schwester, das war nichts Besonderes. Aber heute schien es etwas Wichtiges zu geben.

»Ist eigentlich was an den Gerüchten dran, dass wir hier bald ein offizielles Neuroonkologisches Tumorzentrum werden sollen?« Marlene setzte sich zu Anna an den Tisch. »Das habe ich jetzt schon aus ein paar Ecken läuten gehört.«

»Ja, das ist anscheinend der Plan von Professor Storm.« Anna nickte. »Viel mehr weiß ich aber auch noch nicht.«

»Na, er wird dir doch bestimmt die Leitung anbieten, oder nicht?« Marlene griff nach einem der Schokoriegel, die auf dem Tisch verteilt lagen. »Immerhin bist du prädestiniert für diesen Job. Niemand kennt sich so gut aus und ist so engagiert wie du.«

Anna atmete tief durch. Am Montag hatte sie einen Termin beim Chef und seinen Andeutungen hatte sie entnommen, dass es um das Tumorzentrum gehen würde. Ansonsten hatte er sich bislang äußerst bedeckt gehalten. »Wir werden es sehen. Bisher hat er jedenfalls noch nichts gesagt.«

»Er wäre ja völlig blöd, wenn er das nicht tun würde.«

Insgeheim spekulierte Anna in der Tat auf diese Position. Und sie wusste, dass Marlene recht hatte. Sie wäre die Richtige für diesen Job. Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Du weißt ja, wie er ist. Immer für eine Überraschung gut.«

Pläne hatte Anna bereits geschmiedet. Sie würde den Palliativbereich ausbauen, der bisher eher stiefmütterlich behandelt wurde. Dabei war das ein elementarer Baustein einer Tumorbehandlung. Aber sie wusste auch, dass es dem Chef ein Dorn im Auge war, dass sie sich wissenschaftlich seiner Meinung nach zu wenig engagierte.

Mit einem Zug trank sie den restlichen Kaffee aus. »Jetzt muss ich aber mal weiterarbeiten, meine Schwester will mich gleich treffen und hat eine wichtige Neuigkeit, sagt sie.«

»Eine kurze Frage noch.« Marlene erhob sich ebenfalls. »Wo hast du denn die Unterlagen von Frau Hartung hingelegt?«

Anna kratzte sich am Kinn. »Sind sie nicht wieder im Visitenwagen?«

Marlene schüttelte den Kopf. »Nein, sonst würde ich nicht fragen.« Sie suchte den Stützpunkt ab.

»Wo habe ich sie denn hingelegt?« Anna überlegte angestrengt und spielte in Gedanken noch mal durch, wo sie mit den Unterlagen zuletzt gewesen war.

»Ich habe sie.« Marlene griff nach der Akte, die in einem Schrank auf dem Tresor für die betäubungsmittelpflichtigen Medikamente lag.

Anna zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Wie ist sie denn dort hingekommen?«

Marlene seufzte gespielt theatralisch. »Manchmal wundere ich mich ernsthaft, wie du gleichzeitig so konfus sein kannst und trotzdem so strukturiert arbeitest.«

3

»Hey, meine Kleine.« Leni sprang bellend an Annas Beinen hoch. »Du bist aber ganz schön stürmisch heute.« Anna lachte. Sie beugte sich zu der Hündin hinunter und wuschelte ihr durchs weiche Fell.

Erst jetzt gab Leni Anna frei, sodass ihre Schwester sie begrüßen konnte.

»Nur zehn Minuten zu spät heute.« Katja schmunzelte. »Was ist los bei dir?«

Anna zog eine Grimasse. »Ich komme immerhin direkt aus der Klinik. Dafür bin ich ziemlich pünktlich.«

»Stimmt, für deine Verhältnisse bist du nahezu früh«, neckte ihre Schwester Anna weiter. »Wie war es auf der Arbeit?«

»Lass uns nicht davon reden. Mich interessiert viel mehr, warum du mich so unbedingt sehen wolltest.« Anna knuffte Katja in die Seite.

Leni zerrte aufgeregt an ihrer Leine, sodass Katja keine andere Wahl hatte, als loszulaufen.

Anna hakte sich bei ihr unter. »Also spann mich nicht zu lange auf die Folter.«

Katja zwirbelte eine Strähne ihres Pferdeschwanzes zwischen ihren Fingerspitzen. »Wir hatten das eigentlich gar nicht geplant«, setzte sie an, brach dann aber ab. Sie spitzte die Lippen und ließ einen Stoß Luft entweichen.

»Was meinst du?« Anna sah ihre Schwester von der Seite an. »Habt ihr doch das sündhaft teure Haus gekauft, von dem du mir erzählt hast?«

Katja schüttelte den Kopf. »Nein, das haben wir abgesagt. Das können wir uns nicht leisten.«

»Was dann?« Anna betrachtete ihre Schwester, die ihrem Blick auswich. »So schlimm?«

»Nein.« Erst jetzt suchte Katja den Blickkontakt zu Anna. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Überhaupt nicht schlimm. Ganz im Gegenteil. Ich bin schwanger.«

»Schwanger?«, wiederholte Anna. »Oh, wie toll!« Ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus. Sie umarmte Katja überschwänglich. »Das sind ja großartige Neuigkeiten.« Unwillkürlich fiel ihr Blick auf Katjas Bauch, dem natürlich noch nichts anzusehen war. »Wie weit bist du denn? Wann hast du es erfahren? Und was sagt Michael?«

Katjas Wangen röteten sich. »Es ist noch ganz frisch. Sechste Woche. Und Michael freut sich riesig.« Ihre Stimme überschlug sich fast vor Glück.

»Ich werde Tante.« Anna legte ihren Arm um Katja und drückte sie abermals. »Wie toll!« Ihre kleine Schwester bekam ein Baby. Dabei erinnerte sich Anna noch lebhaft daran, wie Katja geboren worden war und wie sie sich um ihre zehn Jahre jüngere Schwester gekümmert hatte. Jetzt wurde Katja selbst Mutter. Und zwar eine großartige. Das war sicher.

»Aber das ist noch nicht alles.« Katjas Gesicht bekam einen ernsten Ausdruck. Sie suchte mit den Augen den Boden ab.

»Bekommst du Zwillinge?« Anna blieb stehen.

Katja runzelte die Stirn. »Ich hoffe nicht. Ein Kind sollte erst mal reichen.« Ihr Blick wurde ernst. »Was ich dir jetzt erzähle, wird dir nicht gefallen. Ich kenne deine Einstellung zu diesem Thema, aber ich habe mich entschieden und daran wirst du nichts ändern.«

»Du wirst das Kind doch nicht –«

»Nein, natürlich nicht«, schnitt Katja ihr das Wort ab. »Was denkst du denn?«

»Entschuldige.« Anna fummelte am Knopf ihrer Jacke herum. »Das denke ich natürlich nicht von dir.«

»Michael und ich werden nach Weihnachten heiraten.«

Anna starrte ihre Schwester an. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie fühlte sich mit einem Mal ganz schwindelig. »Ihr werdet was? Heiraten? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«

»Ja, das werden wir.« Katja wickelte Lenis Leine mehrfach um ihre Hand und wich dabei Annas Blick aus.

Anna schluckte gegen die Mundtrockenheit an. »Das willst du doch nicht wirklich.« Katja nahm sie gewiss sie auf den Arm. »Hast du alles vergessen?«

»Nur, weil du nach der Scheidung unserer Eltern denkst, die Ehe sei Teufelswerk, muss ich doch nicht mein Leben lang unverheiratet bleiben. Unser Kind soll unseren gemeinsamen Nachnamen bekommen. Das ist mir wichtig. Ich möchte, dass wir sofort als Familie erkannt werden.«

»Kannst du dich nicht mehr daran erinnern, wie das bei Mama und Papa war? Wie sie sich ständig gestritten haben? Wie sie sich regelrecht gehasst haben?« Es zog in Annas Magengegend, ihr wurde übel bei dem Gedanken an die Vergangenheit. »Papa hat uns einfach im Stich gelassen und Mama stand allein mit uns da. Hast du vergessen, wie er alles zerstört hat?«

Katja seufzte. »Ach Anna, aber die Hochzeit ändert doch nichts an meiner Beziehung zu Michael und vor allem ändert sie nichts daran, ob es gutgeht mit uns oder scheitert. Wenn wir uns eines Tages trennen sollten, dann spielt es doch keine Rolle, ob wir verheiratet sind oder nicht.«

Anna blickte gen Himmel, der wolkenverhangen war. Genauso trüb und grau wie ihre Stimmung in diesem Moment. Sie würde niemals heiraten. Katja preschte blindlings in ihr Unglück. Das galt es zu verhindern. »Eine Scheidung ist immer noch etwas anderes als eine Trennung ohne Scheidung. Scheidung zieht so viel Schlimmes nach sich. Überleg dir das noch mal.«

»Es gibt nichts mehr zu überlegen. Außerdem möchte ich mit dir nicht über eine Scheidung diskutieren, wenn wir noch nicht einmal verheiratet sind. Es wird nämlich gar nicht dazu kommen. Wir haben uns entschieden. Wir werden heiraten. Ob es dir passt oder nicht. Der Termin steht. Am siebenundzwanzigsten Dezember ist es so weit.« Katja legte eine Hand auf Annas Unterarm. »Und es gibt noch etwas.« Ihr Blick war sanft. »Ich wollte dich fragen, ob du meine Trauzeugin werden würdest.«

Anna hielt die Luft an. Sie sollte etwas bezeugen, an das sie nicht glaubte? Schließlich war sie felsenfest davon überzeugt, dass eine Heirat zwangsläufig zu einer Scheidung führen musste. Genau das hatte ihre Erfahrung sie gelehrt. Und es war für alle Beteiligten eine Katastrophe. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Wie wäre es mit: Ja, gern?« Katja legte den Kopf ein wenig schief. »Ich würde mich sehr freuen. Du bist immerhin meine Schwester und gleichzeitig meine beste Freundin. Ich könnte mir niemand Besseren vorstellen.« Sie sah Anna mit dem gleichen treuen Hundeblick an wie Leni, die sich in diesem Moment warm an Annas Bein schmiegte, als wollte sie Anna ebenfalls überzeugen.

Es war eine Zwickmühle. Sie wollte ihre Schwester nicht enttäuschen, aber gleichzeitig wollte sie auch nicht, dass Katja durch die Ehe enttäuscht wurde.

»Bitte. Sag ja.«

»Weil du es bist«, gab Anna schließlich nach. Es ehrte sie, dass Katja sie als Trauzeugin ausgewählt hatte. »Aber erwarte keine schwülstigen Reden über die Liebe und die Ehe von mir.«

Katja lachte und umarmte Anna fest. »Danke. Und nein, ich erwarte nichts von dir. Aber jetzt lass uns das Thema wechseln. Gibt es bei dir was Neues in Sachen Liebe?« Sie spazierten weiter und Leni gab die Richtung vor.

»Das kann man wohl so sagen«, rutschte es Anna heraus, ohne dass sie es verhindern konnte.

Sofort schob sich Charlies lächelndes Gesicht vor ihre Augen. Die ganze letzte Nacht hatte sie kaum schlafen können, weil sie ständig an sie hatte denken müssen. Anna konnte es sich selbst nicht erklären. Üblicherweise neigte sie nicht zu Gefühlsduselei. Und abgesehen davon war nichts Großes zwischen ihnen passiert. Sie hatte Charlies Gegenwart genossen und gespürt, dass sie auf einer Wellenlänge schwangen. Mehr nicht.

Heute Morgen hatte sie kurz gegrübelt, ob sie Charlie anrufen oder ihr zumindest eine Nachricht schreiben sollte. Hatte sich dann schlussendlich aber dagegen entschieden. Es würde ohnehin zu nichts führen. Die letzte Beziehung hatte ihr gereicht. Auf eine Wiederholung war sie nicht scharf.

»Du hast wen kennengelernt?«, durchbrach Katja ihren Gedankenfluss.

Anna begutachtete die Steinchen unter ihren Füßen, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt. »Vergiss es«, nuschelte sie.

»Das könnte dir so passen.« Katja grinste breit und Leni kläffte ebenfalls zustimmend. »Erst so eine großspurige Ankündigung und dann einen Rückzieher machen. Nicht mit mir.«

Anna kickte einen Kiesel zur Seite. »Es gibt nicht viel zu erzählen.«

»Wollen wir doch mal sehen.« Katja nahm Leni die Leine ab, damit sie sich in dem Park frei bewegen konnte, und sofort stürmte die Hündin auf die große Wiese. »Ich bin auch mit wenig zufrieden. Also los, was ist passiert?«

Mir ist meine Traumfrau begegnet und ich habe sie stehenlassen, schoss es Anna durch den Kopf. Der Gedanke erschreckte sie. Das war vollkommen übertrieben. Nur warum musste sie dann andauernd an Charlie denken? Und warum beschleunigte sich ihr Puls dabei? »Es ist ziemlich kompliziert.«

»Einfach kann ja jede.« Mittlerweile waren sie an einer Bank angekommen, von der aus sie Leni gut beobachten konnten. Glücklicherweise schienen nur wenige Leute an Allerheiligen den Park dem Friedhof vorzuziehen und so waren sie mutterseelenallein. »Solange du nicht wieder mit Vanessa zusammen bist.«

»Niemals im Leben«, entfuhr es Anna.

»Dann ist alles gut.« Katja zwinkerte ihr zu. »Setz dich und dann erzählst du mir alles von Anfang an.«

Das tat Anna dann auch. Und während sie redete, merkte sie, wie euphorisch sie klang. Bei der Erwähnung von Charlies Namen musste sie ständig grinsen, sie konnte es nicht verhindern.

»Wow, dich hat es aber ganz schön erwischt«, stellte Katja fest, nachdem Anna geendet hatte. »Diese Charlie muss eine tolle Frau sein.«

Anna machte ein abschätziges Geräusch. »Bleib mir weg mit den Frauen. Und mit der Liebe.« Sie sah Katja von der Seite an.

»Nicht jede Beziehung muss scheitern.« Katja stieß hörbar Luft aus.

Leni kam auf sie zugetrottet. Offensichtlich hatte sie keine Lust mehr, allein zu spielen.

Anna kraulte sie hinter den Ohren, während Katja die Leine wieder anlegte. »Komm, wir gehen weiter.«

Freudig schwanzwedelnd stimmte die Hündin zu.

»Ruf sie doch einfach an. Ihre Nummer hast du schließlich«, nahm Katja den Gesprächsfaden wieder auf. Sie machte eine Pause. »Wenn du das überhaupt willst.«

Anna zuckte mit den Schultern. Wollte sie Charlie wiedersehen? Ihre Hand klammerte sich um den Zettel mit Charlies Nummer, den sie noch immer in der Jackentasche hatte. Auf der einen Seite klopfte ihr Herz laut beim Gedanken daran, ihr zu begegnen, andererseits führte es doch eh zu nichts. Sie hatte es längst gelernt. »Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht«, sie wandte sich an Leni, »sollte ich mir lieber ein so treues Tier wie dich anschaffen.«

Als hätte die Hündin sie verstanden, sah sie zu ihr.

»Und dann nimmst du das arme Tier mit in die Klinik?« Katja verdrehte die Augen.

»Ja, ja . . . Ich weiß.« Anna schüttelte lachend den Kopf. »Das kann ich keinem Lebewesen zumuten.«

»Also, was weißt du von Charlie?« Katja blieb hartnäckig. Wie Anna ihre Schwester kannte.

Anna seufzte. Es hatte ohnehin keinen Sinn. »Dass sie frisch nach Essen gezogen ist, vorher in Tübingen gelebt hat und Charlie heißt. Und gern wandert.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und atmete tief ein. Die frische Luft, die kühl in ihre Lunge strömte, tat gut. In der Natur gelang es ihr immer am besten, einen klaren Kopf zu bekommen. »Ich werde Charlie einfach aus meinem Gedächtnis streichen. Das kann doch nichts werden.« Es war definitiv die richtige Entscheidung. »Ich werde mich nie wieder verlieben. Weder in Charlie noch in irgendwen sonst. Ich will keine Beziehung mehr. Und damit ist das Thema beendet.«

Doch warum nur fühlte sich dieser Entschluss dann so falsch an?

4

Anna sah auf ihre Armbanduhr. Punkt zehn Uhr. Sie hatte auf keinen Fall zu diesem wichtigen Termin mit ihrem Chef zu spät kommen wollen. An diesem Morgen würde sich entscheiden, wie ihre berufliche Zukunft aussehen würde.

Sie klopfte an die Tür und betrat das Chefsekretariat. Bald würde sie das Tumorzentrum aufbauen und leiten, und ein Traum würde in Erfüllung gehen.

»Hallo Anna, Professor Storm erwartet dich schon.« Svenja Kuhlmann, die Chefsekretärin, lächelte ihr zu und deutete auf die verschlossene Tür zum Büro ihres Chefs. Das war seltsam, denn normalerweise schloss er die Tür nur, wenn er in einem Gespräch war. »Du kannst ruhig reingehen«, sagte Svenja, die Annas Zögern bemerkt haben musste.

Dumpfe Stimmen drangen aus dem Büro, die sogleich verstummten, als Anna die Klinke herunterdrückte.

Sofort fiel ihr Blick auf die Frau, die vor dem Schreibtisch saß und sich in diesem Moment zu ihr umdrehte. Hinter Annas Schläfen begann es, heftig zu pochen. Das konnte unmöglich wahr sein. Sie musste sich täuschen. Was machte sie denn hier? Ausgerechnet in der Klinik. In ihrer Klinik.

Sie starrte die Frau an. Sie konnte nicht anders. Was hatte das zu bedeuten? Alles begann vor ihren Augen zu verschwimmen. Das Schicksal musste ihr böse mitspielen.

Und dann fing Anna ihren Blick auf.

Für einen Atemzug schien die Luft zwischen ihnen zu vibrieren. Das dunkle Braun ihrer Augen hielt Anna gefangen.

Kein Zweifel. Es war Charlie.

Anna wischte ihre feuchten Hände an ihrer weißen Stoffhose ab. Sie schluckte gegen die Mundtrockenheit an.

»Schön, dass Sie da sind«, durchbrach der Chef die Stille. »Nehmen Sie doch Platz.«

Die Worte drangen wie zu Watte zu Anna durch. Sie versuchte, sich auf Professor Storm zu konzentrieren, und rückte mit zitternden Händen einen Stuhl zurecht.

Gleich würde sie aufwachen und alles war nur ein Traum. Es konnte nicht anders sein.

Doch nichts dergleichen geschah.

Charlie sah ebenso bleich aus, wie Anna sich fühlte, und umklammerte die Armlehnen ihres Stuhls.

Professor Storm schien davon jedoch nichts zu bemerken. »Darf ich Ihnen Frau Doktor Charlotte Loewe vorstellen?« Er räusperte sich. Galant deutete er auf Charlie und dann auf Anna. »Und das ist Frau Doktor Anna Deniger.«

»Freut mich.« Charlie nickte Anna unverbindlich zu. Sie hatte sich offensichtlich entschieden zu verschweigen, dass sie sich bereits kannten.

»Wie Sie ja wissen, planen wir, ein großes Neuroonkologisches Tumorzentrum an unserer Klinik aufzubauen.« Professor Storm verschränkte die Hände und legte sie auf der Tischplatte ab. Sein Blick wanderte abwechselnd zwischen Anna und Charlie hin und her. »Das ist eine sehr große und verantwortungsvolle Aufgabe.« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Es müssen Kooperationen zwischen verschiedenen Abteilungen geschaffen werden, neue Prozesse müssen etabliert und alte Strukturen verändert werden. Es liegt sicherlich eine mehrmonatige Arbeit vor uns. Aber dann werden wir landesweit eine gefragte Einrichtung auf diesem Gebiet werden. Grundsätzlich ist schließlich die gesamte Expertise im Bereich der Neuroonkologie in der Klinik vertreten.«

Noch immer verstand Anna nicht, was Charlie damit zu tun hatte. Warum saß sie hier? Und warum hatte ihr Chef Anna nicht vorher eingeweiht? War sie eine Art Projektmanagerin von einer externen Firma?

Als hätte Professor Storm Annas Gedanken gelesen, fuhr er fort: »Vielleicht fragen Sie sich, warum Sie nun beide hier sitzen.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fixierte Anna. »Frau Loewe ist eine erfahrene Neurologin und Wissenschaftlerin, die ab sofort unser Team als Oberärztin verstärken wird.« Nun lächelte er Charlie zu. »Aufgrund ihres hervorragenden Know-hows ist sie genau die Richtige, um die Leitung des Tumorzentrums zu übernehmen.«

Anna schnappte nach Luft. »Wie bitte?« Hatte sie das richtig gehört? Charlie wurde neue Oberärztin an ihrer Klinik? Und sollte dann auch noch ihre direkte Vorgesetzte werden, um das Tumorzentrum aufzubauen? Das, was eigentlich ihr zustand? War das ein schlechter Witz? »Verstehe ich das richtig?« Anna hatte das Gefühl, dass ihr Stuhl schwanken würde. »Frau Loewe wird Leiterin des Tumorzentrums?« Mit ihren Fingern massierte Anna die Kuhle über ihrem Schlüsselbein. »Und was ist mit mir?«

Als wäre Anna gar nicht mehr anwesend, wandte sich Professor Storm an Charlie und sagte: »Frau Deniger ist eine sehr erfahrene Neuroonkologin und arbeitet schon seit Jahren auf der Station und in der Tumorambulanz. Deswegen wird sie Ihnen sicherlich mit ihrer großen Erfahrung und dem gewohnten Engagement zur Seite stehen und helfen, wo sie nur kann.«

Anna versuchte, diese neuen Informationen zu verarbeiten. Doch in ihrem Kopf ergab das alles keinen Sinn. Es sollte ihr Tumorzentrum werden. Ihre Karriere. Ihr Traum. Und jetzt servierte ihr Chef ihr ausgerechnet Charlie als Leitung und wollte dann auch noch, dass sie zusammenarbeiteten? So hatte sie sich das Wiedersehen nicht vorgestellt. Ganz und gar nicht.

Sie sah zu Charlie, doch Charlie wich genau in diesem Moment ihrem Blick verstohlen aus. Charlies Gesicht wirkte noch blasser.

»Nun gut, vielen Dank.« Professor Storm wandte sich wieder an die beiden Frauen. »Wir werden uns sicherlich in den nächsten Tagen und Wochen noch öfter zusammensetzen, aber jetzt kommen Sie erst einmal bei uns an.« Er schob eine Mappe zu Charlie über den Schreibtisch. »Frau Loewe, Sie müssen nun zu der obligatorischen Einführungsveranstaltung für neue Mitarbeiter. Hier steht alles Wichtige drin. Und anschließend würde ich Sie bitten, sich bei Frau Deniger zu melden, damit sie Ihnen die Klinik zeigen kann.«

Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Ausgerechnet sie sollte Charlie alles zeigen?

»Ich kann doch auf Sie zählen, Frau Deniger?«

Zähneknirschend nickte Anna. Was sollte sie auch anderes tun, wenn sie nicht gleich ihre Kündigung einreichen wollte?

Charlie stand auf und Anna folgte ihr mechanisch.

»Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte Charlie, nachdem sie vor dem Sekretariat standen und die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war.

»Du tauchst hier einfach auf und nimmst mir meinen Job weg?« Anna ballte ihre Hände fest zu Fäusten.

»Du kannst mir glauben, dass das nicht meine Absicht war.« Charlie senkte den Blick. »Ich hatte zwar wirklich gehofft, dich wiederzusehen. Aber ganz bestimmt nicht unter diesen Umständen.«

»Wie du meinst.« Anna atmete tief durch. »Dann bis später.«

Sie ging einfach los, ohne weiter auf Charlie zu achten. Sie musste erst einmal weg.

Irgendwie musste sie diesen Tag überstehen.

5

Bereits in dem Moment, als ihr Telefon klingelte, hatte Anna ein ungutes Gefühl. Das bestätigte sich sofort, nachdem sie es aus der Kitteltasche gefischt hatte. Loewe leuchtete unverkennbar im Display auf.

Anna atmete einmal tief durch, dann nahm sie ab. »Hallo«, meldete sie sich knapp.

Ein Räuspern war am anderen Ende der Leitung zu vernehmen, gefolgt von einer kurzen Pause. »Ich bin es«, sagte Charlie unnötigerweise. Ihre Stimme war leise, fast ein wenig schüchtern.

»Wo bist du? Dann hole ich dich ab.« Anna bemühte sich um einen gelassenen, aber freundlichen Tonfall.

»Ich glaube, an der Kantine.«

»Alles klar. Ich bin in spätestens fünf Minuten bei dir.« Anna legte auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Finger leicht zitterten. Den ganzen Tag hatte sie sich vor diesem Augenblick gefürchtet. Gleich würde sie auf Charlie treffen. Und dann würde es nur sie beide geben. Sie allein.

Was sollte sie zu Charlie sagen? Sollte sie ihr Date – oder was auch immer es war – ansprechen? Sie hatte keine Ahnung, auch wenn sie sich die letzten Stunden auf kaum etwas anderes als diese Fragen hatte konzentrieren können.

Vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken im Schwesternzimmer blieb sie stehen und ordnete noch einmal ihre kurzen blonden Haare. Dann strich sie ihren Kittel glatt.

Auf dem Weg durchs Treppenhaus bemerkte sie, wie ihr Puls sich beschleunigte, was nicht nur an der körperlichen Anstrengung liegen konnte.

Von Weitem erspähte sie Charlie, die aufmerksam den Menüplan der Woche studierte. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden. In der weißen Hose und dem Kittel, der ihre Taille betonte, sah sie ziemlich sexy aus.

Schluss damit, ermahnte sich Anna. Das waren absolut die falschen Gedanken, wenn sie Charlie neutral gegenübertreten wollte. Zudem durfte sie nicht vergessen, warum Charlie eigentlich hier war – nämlich weil sie Annas Traum verwirklichen durfte. Nicht Anna selbst.

Eine gewisse Wut kroch in ihr hoch.

Plötzlich drehte Charlie sich um und sah direkt zu ihr.

Für einen Moment verharrte Anna in ihrer Bewegung. Sie fühlte sich wie versteinert, unfähig, sich zu rühren und doch magisch von diesen dunklen Augen angezogen. Von diesen verbotenen dunklen Augen. Verdammt!

Charlie schien weniger Schwierigkeiten mit ihren Bewegungen zu haben und kam lächelnd auf sie zu. »Es tut mir leid, ich hatte ja keine Ahnung.« Sie wischte ihre Hände am Kittel ab. »Ich hätte dich gern unter anderen Umständen wiedergesehen.« Ihr Lächeln erstarb. Es wirkte, als hätte sie einen Schalter umgelegt, und ihr Gesichtsausdruck wurde völlig unergründlich. »Ich hatte wirklich gehofft, dass du dich melden würdest.«

»Ja, das wollte ich auch«, erwiderte Anna. Sie umfasste das kühle Metall des Reflexhammers in ihrer Kitteltasche. Vielleicht war es besser so, dass sie Charlie nicht angerufen hatte, auch wenn sie am Wochenende mehrfach kurz davor gewesen war. Es hätte alles noch viel komplizierter gemacht, als es ohnehin schon war. Sie atmete einmal tief durch. »Du bist also auch Neurologin«, sagte sie überflüssigerweise, um das Gespräch wieder aufzunehmen und in eine andere Richtung zu lenken.

Charlie nickte. »Da haben wir wohl neben der Leidenschaft fürs Wandern noch etwas gemeinsam.«