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Einspruch ist eine Zusammenstellung ausgewählter Schriften gegen die uniforme und repressive Öffentlichkeit. Das Buch liefert keine Blaupause, wie welcher gesellschaftliche Widerspruch aufzulösen ist. Es hat viel mehr die Aufgabe, bei der Suche nach Antworten zu unterstützen und im Idealfall eine politisch linkslastige Orientierung zu bieten.
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Seitenzahl: 257
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Vorwort
1. Kapitel - Moderne Ideologien und ihre Funktion
1.1. Von Putinverstehern zu Verschwörungstheoretikern – Zur Ideologiekritik demokratischer Diskussionsmuster
1.2. Der entfesselte Kapitalismus und die Figur des abstrakten Individuums – Zur Kritik esoterischer Denkmodelle
1.3. Clara Zetkin und die Frage der Gleichberechtigung
1.4. Mutter, falsch – die entbindende Person, richtig!
1.5. Was bedeutet eigentlich „feministische“ Außenpolitik
1.6. Der Staatsbürger als Erfüllungsgehilfe?
1.7. Christentum und Fundamentalismus: Das Kreuz mit dem Kreuz – nicht nur auf dem Gipfel
1.8. Der Rote Planet: Ideologiekritik als Basis
2. Kapitel - Die Kritiker und ihr Kuschelkurs
2.1. Der Rote Planet #005: Ideologiekritik (Teil 2)
2.2. „Liebe Greta, keine Panik“
2.3. Greta Thunberg – erwischt, entlarvt, auf Normalmaß zurückgestutzt
2.4. Offener Brief an die AktivistInnen im Dannenröder Forst
2.5. Die Kriegsfrage: Nationalistisch oder internationalistisch betrachtet
2.6. Warum gegen den Krieg demonstrieren, wenn doch sowieso alle dagegen sind?
3. Kapitel - Der Imperialismus und seine Freunde
3.1. Ein fleißiger Zwerg will nach oben
3.2. „Gilt die Stärke des Rechts oder das Recht des Stärkeren?“ – Neue Seite zur Münchner Sicherheitskonferenz
3.3. Bolsonaro pfui, Merkel und die G7 hui – Brandrodung (nicht Waldbrände) im Amazonas
3.4. Merkel hat den Zuschlag für Grönland bekommen – Trump wurde deutlich überboten
3.5. Die Volksrepublik China avanciert zum Hauptfeind des Westens..
3.6. Der Rote Planet #004: Die neue Weltordnung – Russland, Hauptfeind Nr. 2 (Teil 1)
3.7. Der Rote Planet #004: Die neue Weltordnung – Russland, Hauptfeind Nr. 2 (Teil 2)
3.8. Putin gibt Vollgas, oje
3.9. Der Puma lahmt – und zwar auf allen 4 Pfoten oder wie geht Kriegsvorbereitung nach innen
3.10. Der Weg in die Hölle
4. Kapitel - Wie der Imperialismus den Globus unterpflügt
4.1. Unter dem Weihnachtsbaum: Der Hunger und die kannibalistische Weltordnung
4.2. Wenn Krokodile weinen
4.3. Kältekatastrophe in den USA
4.4. Bolivien: Ausfegen des Hinterhofes
4.5. Pflegekräfteimperialismus in Zeiten von Corona
4.6. Afghanistan, der Super-GAU?
4.7. Afghanistan, der Super-GAU? #02: Der westliche Zugriff
4.8. Afrika, ein Kontinent als Beute: Von Marrakesch nach Essaouira
4.9. Afrika, ein Kontinent als Beute: Marokko, ein Armenhaus von der EU produziert
4.10. Krieg in Nordsyrien
4.11. Die Streubombe ist gar nicht so böse – jedenfalls nicht immer.
5. Kapitel - Schmankerl: Da lacht das Corona
5.1. Die Corona-Ursachen des Kapitalismus
5.2. Imperialistische Wirtschaft als Virenschleuder
5.3. Corona – eine Krankheit der Weißen?
5.4. Der böse Virus und die guten Krisenmanager
5.5. Das Corona philosophisch betrachtet
5.6. Die Un(-Logik) des Lockdown
5.7. Che Guevara und Corona
5.8. Die idiotische Fixierung auf Corona
5.9. Da lacht das Corona – Folge 1-4
5.10. Solidarität mit dem Virus Corona
Gesamtbetrachtung
Abschließende Gedanken
Danksagung
Über den Autor
Personenregister
Begriffserklärungen
"Wir wollen keinen Kompromiss mit den Umständen schließen."
Peter Kropotkin (1842-1921), russischer Anarchist und Vordenker des Evolutionären Humanismus, circa 1900. (Foto: Nadar, gemeinfrei)
Schon lange vor Corona und dem Krieg in der Ukraine präsentierte sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit eben nicht als Hort des Austausches herrschaftsfreier Diskurse, wie in den Sozialwissenschaften angenommen wird, sondern als Knute, mit der kritische Argumente in die (rechte) Ecke gestellt werden. Jede Kritik an den Coronamaßnahmen und deren Verhältnismäßigkeit beispielsweise wurde und wird „von oben“ diskriminierend begutachtet und theoretisch wie praktisch mit dem Unwort „Coronaleugner“ gelabelt. Die Auseinandersetzung mit den Hintergründen des Krieges in der Ukraine und das Eintreten für Friedensverhandlungen mit Russland zeigt vermeintlich eindeutig (und diskriminierend), dass „Putinversteher“ am Werk sind. Dagegen tritt die „geduldete“ Öffentlichkeit etwa in Gestalt des öffentlich-rechtlichen Fernsehens als Jubelperser an, die zum Beispiel in Interviews mit Politikern bestenfalls hündische Stichworte liefert, um für eine „bedingungslose“ Fortführung des Krieges zu plädieren.
Idealtypisch hat der Philosoph Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift „Was ist Aufklärung“ letztlich den „Ausgang aus der Unmündigkeit“ in der Installation einer Öffentlichkeit gesehen und dann versucht, diese seinem feudalen Landesvater schmackhaft zu machen. Der Soziologe Jürgen Habermas entwarf 200 Jahre später mit dem Werk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ das Idealbild, dass in einer demokratischen Gesellschaft die Argumente auf dem Thron sitzen und sich im Ringen um die Sache die besten durchsetzen würden.
Vorsichtig gesagt, fielen bei den idealtypischen Konstruktionen der beiden genannten Akteure die Begriffe Gewalt und Macht unter den Tisch. Oder etwas verfeinert ausgedrückt: In einer kapitalistischen Klassengesellschaft geht es um Herrschaft, Weltmarktkonkurrenz, Profit, Ausbeutung der Lohnarbeiter und so weiter. Wo sollten da übergreifende „Gemeinsamkeiten“ existieren? Und diese Herrschaftsinteressen sollen nun als Gegenstand geförderter öffentlicher Diskussionskultur auf den Prüfstand gestellt werden? So formuliert wird das Absurde einer solchen Idee unmittelbar erkennbar.
Modern und tendenziell antidemokratisch tritt der Moralismus der Grünen auf den Plan, der nicht die geringste Abweichung duldet. Mit der Formulierung einer moralischen Position sind grundsätzlich andere Interessen ausgeschlossen und jenseits des gesetzten moralischen Diktats angesiedelt. Was Annalena Baerbock tut und sagt, ist von vornherein geadelt und nicht mehr diskussionsfähig, vertritt sie doch nicht einfach eine deutsche Außenpolitik, sondern eine moralische und zudem noch feministische Außenpolitik. Jeder, der ganz im Gegensatz zu Frau Baerbock etwa Russland aus humanistischen Gründen nicht den Krieg erklären will, versündigt sich mit seiner Position und unabhängig vom Argument an der deutschen feministischen Außenpolitik und steht automatisch im moralischen Abseits.
Was bleibt dem Kritiker und damit auch mir? Die Rolle des Sünders möglicherweise oder aber des kritischen Denkers, der das „moralische Dauerfeuer“ aushalten muss, um eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen. Das wäre schon einmal ein erster Schritt. Dem Dementieren Einhalt zu gebieten wäre der zweite.
Das Dementi schwächt die eigene Position. Es verführt dazu, die Zurückweisung vom verordneten Maßstab der Beurteilung und damit den Gegenstandswechsel auf die Dignität der eigenen Person zu akzeptierten. Um den Gesamtzusammenhang zu verdeutlichen, sind in diesem Buch Schriften gegen die uniforme und repressive Öffentlichkeit vereinigt. Reflektiert wird im Kapitel „Moderne Ideologien und ihre Funktion“ auf „political correctness“ und das Gendern. Die Debatte, ob ein Mensch im falschen Geschlecht eingesperrt sein kann, nimmt immer wildere Ausmaße an. Durch Hebel wie „kulturelle Aneignung“ und die schon genannte feministische Außenpolitik, werden kontroverse Positionen „weggedisst“ und der demokratische Dialog abgeschafft. Dagegen richtet sich mein Einspruch.
Im Kapitel „Die Kritiker und ihr Kuschelkurs“ wird dargelegt, dass die offizielle Politik bei diesem Vorgang trotz aller Kritik gar nicht so schlecht wegkommt. Denn „eigentlich“ hat die etwas ganz anderes und viel „menschenfreundlicheres“ vor, aber aus irgendeinem Grund kommt sie aktuell nicht dazu. Bei einer solchen Herangehensweise geht jede Kritik tendenziell in Affirmation über, was weder dem Frieden, noch den Flüchtlingen im Mittelmeer oder dem Klima dienlich ist. Nach vielen Jahren des Leidens als ökonomischer Riese, aber als globaler politischer Zwerg, mantelt sich Deutschland militärisch auf. Die nach dem Zweiten Weltkrieg geübte Zurückhaltung, wird zu Gunsten einer weltweiten Verantwortlichkeit aufgegeben.
Während die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr noch wie eine Art Ausflug des Technischen Hilfswerks dargestellt wurden, betitelte Karl-Theodor zu Guttenberg, vom 28. Oktober 2009 bis zum 3. März 2011 Bundesminister der Verteidigung, den Afghanistaneinsatz bereits vorsichtig als „kriegsähnlich“. Boris Pistorius, der das Amt seit dem 19. Januar 2023 inne hat, sprach unverhohlen davon, dass Deutschland wieder kriegstauglich werden muss. Dazu passt es, dass China und Russland als unverbesserliche Hauptfeinde in den Focus rücken – bis zu ihrer Abwicklung. Aber warum? Was tun diese Nationen, was sie zu „legitimen“ Feinden macht? Diese Fragen soll beantwortet werden. Die unschönen Auswirkungen imperialistischen Treibens, das Leben von großen Teilen der Menschheit unter ärmlichsten Bedingungen, wird im Kapitel „Wie der Imperialismus den Globus unterpflügt“ beispielhaft an Bolivien und Marokko dargestellt.
Wenn jeder Einwand und jede Hinterfragung in der Kausa Corona mit einer Maulkorbkampagne namens „Coronaleugner“ gekontert wird, muss das Virus höchstselbst satirisch und lachend auftreten. "Den nichts als Verzweiflung kann uns noch retten", sagte Theodor W. Adorno einst programmatisch. Diesem Gedanken trägt das Kapitel „Da lacht das Corona“ Rechnung. In einer Gesamtbetrachtung werden abschließend die problematischen Entwicklungen innerhalb der politischen Linken in den letzten 20 Jahren grob nachgezeichnet. Sie mündeten in einem Lähmungs- und Zerfallsprozess, der auf dem parlamentarischen Parkett für die Partei Die Linke im Januar 2024 mit der Abspaltung des Bündnis Sahra Wagenknecht einen vorläufigen Höhepunkt erreichte.
Als Grundlage für alle Ausführungen dient mir die These, dass jede angebrachte Kritik, die sich aus den Problemstellungen der Themenschwerpunkte ableiten lässt, immer an der Sache vorbeigehen muss, wenn nicht im selben Atemzug die Systemfrage gestellt wird. Ohne Zweifel gibt es eine Unzahl von Einwänden, diese finalisieren aber in der Regel in der Versöhnung mit Staat und Kapital. Sie sind dadurch weitestgehend wirkungslos, weil eine Auflösung selbst der offensichtlichsten Widersprüche ausbleibt.
Wie sollte beispielsweise eine naturverträgliche Landwirtschaft entstehen können, die gesunde und schmackhafte Produkte hervorbringt, wenn die Diktatur des Profits die Landwirtschaft beherrscht und sie zur totalen Optimierung zwingt? Warum müssen täglich Tausende Menschen auf dem Planeten verhungern, wenn doch im globalen Norden pro Jahr 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel in den Müll geworfen werden? Die USA gaben für den Krieg in Afghanistan mindestens 849,7 Milliarden US-Dollar aus. Die Kosten für den Einsatz der Bundeswehr beliefen sich auf rund 12,2 Milliarden Euro. Für das Überleben der afghanischen Bevölkerung steht nach dem Ende des Krieges kein Cent zur Verfügung. Warum eigentlich nicht?
Dieses Buch, eine Zusammenstellung von Kommentaren, Artikeln und Essays, die in den unterschiedlichsten alternativen und vorzugsweise linken Medien erschienen sind und nun an dieser Stelle und teilweise aktualisiert ihren Platz finden, liefert keine Blaupause, wie welcher Widerspruch aufzulösen ist. Es hat viel mehr die Aufgabe, bei der Suche nach Antworten zu unterstützen und im Idealfall eine politisch linkslastige Orientierung zu bieten. Deshalb folgt es keinem zeitlichen Rhythmus, sondern einem gedanklichen Pfad, jeweils eingeleitet mit einer Erläuterung, die jedem Kapitel vorangestellt ist. Das Layout ist in Art und Form an die Erstveröffentlichungen angelehnt und weicht vom klassischen Buchdruck ab. Ein Register soll helfen, Personen, die im historischen Kontext Bedeutung haben, rasch zu finden. Einige ausgewählte Begriffe, und wie diese verstanden werden, sind im Anhang ausführlicher erklärt. Illustrationen, Abbildungen und Fotos finden sich an der einen oder anderen Stelle, wo sie sinnvoll erscheinen.
Für Hinweise, wo das Buch ausgelegt werden kann und was zu seiner Verbreitung beitragen könnte, wäre ich sehr dankbar. Senden Sie mir gerne an [email protected] eine E-Mail.
Was ist hier los? Gendergerechte Sprache? Gleichbehandlung der Geschlechter, herbeigeführt durch ihre sprachliche Sichtbarmachung oder durch die Neutralisierung von Geschlechtlichem? Die Fälle und Beispiele sind Legende! Der Duden hat dafür schon einen eigenen Band herausgebracht. In ausgewählten Lokalen Marburgs ist der „Stramme Max“ nur noch als Max erhältlich und Weiße, die als Frisur Dreadlocks tragen, wird kulturelle Aneignung unterstellt. Der Begriff Mutter unterliegt einer technisierten Metamorphose in „entbindende Person“. Ähnlich verhält es sich mit der „feministischen“ Außenpolitik. Sie ist geadelt, weil sie ja feministisch im Titel trägt, unabhängig davon, ob diese realistisch oder unrealistisch unter anderem danach trachtet, Russland zu ruinieren. Wer dem entgegentritt durch die Einnahme einer friedvolleren Position, entlarvt sich automatisch als Frauenfeind.
Während also der Herrgott seinen Sohn für die Sünden der Menschheit ans Kreuz schickte, versündigt sich der moderne Mensch auf Grund der Wortwahl in jedem zweiten Satz an Frauen … ohne Aussicht auf Befreiung von dieser Schuld.
Entgegnen anderslautenden „Gerüchten“ sind an dieser Kampagne keine feinfühligen Zeitgenossen beteiligt, die „endlich“ diskriminierte Minderheiten und die Frauen aus Jahrhunderte alter Unterdrückung befreien wollen. Es handelt sich viel mehr um ein arrogantes Spaltungsprogramm. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde sprachlich – und medial flankiert – ein derartiger Angriff gegen die Bevölkerung geführt.
Es ist eine Tyrannei, auf die Tagesordnung gesetzt und realisiert von einer Gruppierung, die einen Übergang in eine „neue“ Moral vollführt, die eine nicht zu hinterfragende Position einnimmt und von der aus sie selbst alle anderen be- und verurteilt und somit beherrscht. Eine demokratische Diskussion entlang der Linie unterschiedlicher Interessen ist dadurch ausgeschlossen, da der verordnete neue Maßstab der „Moral“ nur Gut und Böse zulässt. Im Resultat erweisen sich die „modernen“ Ideologien als diskussions- und demokratiefeindlich. Sie sind im Kern totalitär.
Wenn alle alles falsch machen, wird die Gesellschaft atomisiert in misstrauische Konkurrenzsubjekte, die sich wie selbstverständlich sogar selbst misstrauen. Vorläufiger Höhepunkt: Der eigene Körper wird als Gefängnis dargestellt und die geschlechtliche Identität als soziales Konstrukt eingeordnet, in das Mensch ungefragt gesperrt wurde – Unterdrückung inbegriffen. Der Gedanke an eine Geschlechtsumwandlung verschafft dagegen Linderung und wird von „Vater Staat“ befördert. Und während der besorgte Papa helfend herbeieilt, verfestigt sich der Eindruck, dass „Mutter Natur“ alles falsch gemacht hat.
Vielleicht ist es ein Zufall, dass eine solche Betrachtungsweise zeitlich mit einer „Offensive“ zusammenfällt, die Deutschland nach Jahrzehnten der Abstinenz wieder als Weltmacht in Erscheinung treten lässt. Die hat ihre externen und internen Feinde ausgemacht: Russland, China, „Coronaleugner“, „Verschwörungstheoretiker“ und „Putinversteher“.
Die Lage: Die Zahl der ausgemachten Verschwörungstheoretiker steigt von Tag zu Tag. Kein Wunder: In der derzeitigen öffentlichen Diskussion wird das große Wort vom Verschwörungstheoretiker nun als Synonym gebraucht für all diejenigen, die eine abweichende Meinung einbringen. Ich rede im Folgenden nicht über Attila Hildmann und Gesinnungsgenossen und deren (Un-)Logik, sondern über das breite Spektrum an derzeit auftretenden Kritikern, denen rasch und durchsichtig von offizieller Seite der Titel „Verschwörungstheoretiker“ verliehen wird, um sie politisch in die rechte Ecke abzuschieben. So bleibt deren Anliegen auf der Strecke, ja, es wird nicht einmal dargestellt. Selbst für das Unterfangen meines Artikels muss ich befürchten, selbst als Verschwö-rungstheoretiker oder als deren Verteidiger wahrgenommen zu werden. Das wäre allerdings eher eine Bestätigung meiner Ausführungen in diesem Artikel als ein Beweis meines verschwörerischen Treibens.
Entlarvt: Wie man Kritiker diffamiert
Wer sich aktuell, in welcher Form auch immer, kritisch zur herrschenden Politik zu Wort meldet, droht statt der Wahrnehmung seiner Argumente die Unterstellung, als Verschwörer unterwegs zu sein. Gewissermaßen folgerichtig für ein Entlarvungsinteresse dieser Art wird nun nicht eine Widerlegung der vorgebrachten Argumente angesteuert, sondern der schlichte Hinweis „anders“, „abweichend“ etc. soll schon für sich aussagekräftig sein. Das Ziel: Der kritische Denker soll sich nun der Anstrengung des Dementis befleißigen. Damit wird ein Gegenstandswechsel vollzogen.
Der Putinversteher
Dass dies keine neue Technik der Ausbürstung kritischer Meinungen ist, möchte ich zunächst an einem aktuellen Beispiel, der Besprechung von Russland, zeigen. Der Putinversteher – mit diesem Begriff ist einbetoniert worden, dass jegliche Auseinandersetzung mit Russland als Verurteilung einer angeblich kriegsträchtig rückkehrenden Weltmacht zu laufen hat.
Ein zu gutes Verhältnis: Russlands Präsident Wladimir Putin war am 18. August 2018 Ehrengast auf der privaten Hochzeitsfeier von Karin Kneissl, der damaligen Bundesministerin für Europa, Integration und Äußeres der Republik Österreich. Nach dem Tanz vollzog Kneissl einen Knicks vor Putin. In der Folge wurde sie teilweise scharf kritisiert. (Foto: Kremlin.ru, CC BY 4.0)
Bereits die Darstellung russischer Motive gilt als unstatthaft und man handelt sich obige Verurteilung ein. Gorbatschow, einst in Deutschland über fast zwei Jahrzehnte gefeiert und ständiger Gast im deutschen Fernsehen, ist out. Würde man in der Öffentlichkeit fragen, ob der eigentlich noch lebt, würde das die große Mehrheit nicht wissen und viele würden ihn für tot halten. Wie ist das zu erklären?
Nachdem er für den Fall der Mauer gesorgt hat und die auf einen 3. Weltkrieg hinauslaufende Blockkonfrontation um den Preis des Untergangs des Warschauer Pakts und der Sowjetunion betrieben hat, hat er vom Westen ein mündliches Versprechen erbeten, dass sich die NATO nicht auf die ehemaligen Satelliten-Staaten des Warschauer Pakts ausdehnt. Dieses wurde zugesagt, aber bekanntlich nicht eingehalten. Darüber hat sich Gorbatschow 20 Jahre später verbittert und enttäuscht gezeigt und ist dafür vom westlichen Medienstar in die Versenkung geschoben worden. Eben ein Putinversteher.
So ist mit anderen alternativen Denkern ebenfalls verfahren worden. Nicht wenige deutschlandtreue Denker, wie etwa die langjährige Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz, sind für ihre fundierte Kritik an einer um sich greifenden Russlandhetze böse abgestraft worden. Auch am Beispiel der Krimfrage ließe sich dies zeigen. Ich verweise dazu auf entsprechende Literatur von Krone-Schmalz, Jörg Kronauer und anderen.
Zwischenfazit
Es kristallisiert sich heraus, dass die Öffentlichkeit nicht der Ort der Prämierung der besten Argumente ist, schon gar nicht der Ort herrschaftsfreier Diskurse, sondern, spätestens wenn Gegenargumente eine gewisse Bedeutsamkeit erlangen, entweder untergebügelt werden oder in diskriminierende Zusammenhänge gestellt werden. In jedem Fall geht es um die Feier der eigenen herrschenden Position, die argumentlos zelebriert wird.
Die Öffentlichkeit – ein Forum herrschaftsfreier Kommunikation?
Idealtypisch hat Kant in seiner berühmten Schrift „Was ist Aufklärung“ letztlich den „Ausgang aus der Unmündigkeit“ in der Installation einer Öffentlichkeit gesehen und dann versucht, diese seinem feudalen Landesvater schmackhaft zu machen. Habermas hat 200 Jahre später mit dem Werk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ das Idealbild entworfen, dass in einer demokratischen Gesellschaft die Argumente auf dem Thron sitzen und sich im Ringen um die Sache die besten durchsetzen. Vorsichtig gesagt sind bei beiden Genannten bei ihrer idealtypischen Konstruktion die Begriffe Gewalt und Macht unter den Tisch gefallen. Oder etwas verfeinert: In einer kapitalistischen Klassengesellschaft geht es um Herrschaft, Weltmarktkonkurrenz, Profit, Ausbeutung der Lohnarbeiter … Wo sollten da übergreifende Gemeinsamkeiten existieren? Und diese Herrschaftsinteressen sollen nun als Gegenstand geförderter öffentlicher Diskussionskultur auf den Prüfstand gestellt werden? So formuliert wird das Absurde einer solchen Idee unmittelbar sinnfällig!
Der Handlungskreis der Verschwörungstheoretiker
Nun, nach Darlegung öffentlicher pauschal diskriminierender Diskussionsmuster, zum Narrativ „Verschwörungstheoretiker“: Egal, ob Maskenpflicht oder Reproduktionszahl oder Art und Weise der Zählung der Coronatoten: Jeder, der hier eine Alternative als die herrschende Meinung vertritt, setzt sich dem Verdacht aus, zum Kreis der Verschwörer zu gehören. Auch stehen, wie oben versucht zu zeigen, die Dignität und die Zahl der Gegenargumente in krassem Gegensatz zu dem Generalvorwurf: Es ist der Standpunkt der Repression. Wer immer sich von der herrschenden Meinung entfernt, diese sogar kritisiert, wird mit dem Lasso gefangen und vorgeführt. Und das nicht erst seit gestern.
Man denke nur an die polizeistaatlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit den Demonstrationen zum G20-Gipfel in Hamburg, wo vermeintliche, dingfest gemachte Gewalttäter, wie sich hinterher herausstellte, in der Nähe der Demos eine Limo gekauft haben. Die für ihren Gewaltcharakter nicht geraden bekannten „Naturfreunde“ wurden bei der Anfahrt im Bus schon einmal bei Dortmund gestoppt und erkennungsdienstlich behandelt. Polizeiliche Knüppelorgien wurden beispielsweise flankiert mit Fahndungsplakaten im RAF-Stil für Leute, denen letztlich, außer ihrer Anwesenheit in Hamburg, nichts vorgeworfen werden konnte.
All dies lebt davon, nicht begangene Straftaten (bei aller Fragwürdigkeit) nicht nur aufzudecken, sondern zu antizipieren und eine abschreckende Wirkung auf potenzielle Interessenten eines Protestes auszuüben. Tatsächlich zeitigt diese Zielvorgabe beachtliche Erfolge.
Und so zieht sich die Geschichte des Protestes in Deutschland durch. Von Protesten gegen die Nachrüstung, gegen die Atomkraftwerke, die Castor-Transporte usw. usw. Die freie Presse interpretierte ihre Aufgabe dahingehend, kein Wort über das Anliegen der Demonstranten zu verlieren, aber das Begriffspaar ‚Gewalt – keine Gewalt‘ als alleinigen Beurteilungsgesichtspunkt einzuführen.
Kleiner Blick zu unserem Nachbarn Frankreich
Frankreich ist der Urvater einer demokratischen Verfassung. Bei den zahlreichen Protesten der Gelbwesten sind folgende unglaublichen Opferzahlen zu verzeichnen: „14 Demonstranten haben ein Auge verloren, 2.000 wurden verletzt, zum Teil schwer“ (Handelsblatt online, „Gelbwesten-Bewegung prangert Härte des Vorgehens der Polizei an“, 02.02.2020).
Die Verschwörungspraktiker: Regierung Merkel von der AFD unterwandert
Wenn man die (falsche) Logik des Vorwurfs des Verschwörungstheoretikers mal auf die Regierung Merkel selbst anwendet, wird man schnell fündig und lernt zugleich, wie billig es zu leisten ist, – wem auch immer – diesen Vorwurf an den Frack zu hängen: „Frau Merkel geben sie endlich zu, dass ihre Regierung von der AfD gesteuert ist. Wir haben schlagende Beweise“ (der Autor). Nicht selten wird an Amerika und seiner Führung – besonders an dem aggressiven Handelsgebaren, insbesondere was Strafzölle angeht – von der deutschen Regierung herumgemä-kelt. Da haben wir es. Was aber ist „es“? „Es“ ist ein Topos der Rechten, einen gepflegten Antiamerikanismus zu feiern, der sich aus einem noch gepflegterem Nationalismus speist. Wir Deutschen, so die Rechten, fahren ja nicht auf dem Beifahrersitz bei den Amis zu unserem Vorteil mit, sondern unsere Nation wird von denen ausgeweidet. So, Frau Merkel, distanzieren sie sich einmal von den Rechten, weil täglich unfreundliche Töne aus ihren Reihen in Sachen Amerika zu hören sind.
Manipulationstechniken sprechen scheinbar für die Regierung Merkel und nicht gegen sie
Angst und Desinformation scheinen bevorzugte Mittel der derzeitigen Regierung zu sein. Dem Typus des aufgeklärten Bürgers, dem per Informationen etwas zugetraut wird, bleibt als Lichtgestalt die Abiturprüfung in Politik und Ethik vorbehalten. Das vom Bundesinnenministerium beauftragte Papier bestätigt offiziell, wie man auf die Bevölkerung bei Corona zugehen sollte, stellt eine Sammlung von dreisten Manipulationstechniken dar. Im Kern geht es darum, Angst zu schüren um darüber gewünschte Verhaltensweisen herbei zu manipulieren.
Angst und Desinformation scheinen bevorzugte Mittel der derzeitigen Regierung zu sein. Dem Typus des aufgeklärten Bürgers, dem per Informationen etwas zugetraut wird, bleibt als Lichtgestalt die Abiturprüfung in Politik und Ethik vorbehalten. Das vom Bundesinnenministerium beauftragte Papier bestätigt offiziell, wie man auf die Bevölkerung bei Corona zugehen sollte, stellt eine Sammlung von dreisten Manipulationstechniken dar. Im Kern geht es darum, Angst zu schüren, um darüber gewünschte Verhaltensweisen herbei zu manipulieren.
„Wie bekommen wir Corona in den Griff?“
Ein internes Papier des Innenministeriums empfiehlt, den Deutschen Corona-Angst zu machen. Das sind klassische Mittel, die Verschwö-rungsprofis einsetzen. Im Gegensatz bei und von anderen vermuteten Verschwörungen löst sich hier Verschwörung in ganz normale Zwecke unseres Gemeinwesens auf: Funktionieren als Staatsbürger und am Arbeitsplatz, Reichtum mehren und als Rechtssubjekt den jeweiligen Anweisungen folgen etc. Aber warum fällt dann der Begriff der Verschwörung um wie eine gefällte Eiche, wenn dieser hier auf die Regierung und ihr Handeln bezogen wird? Ganz einfach, weil es die herrschenden Zwecke sind und die herrschende Meinung, die für diese Zwecke eintritt – und die „argumentative“ Oberhand dieser Zwecke ist nun einmal eine Frage der Praxis: Wer oder was kann auf die Richtlinienkompetenz verweisen?
Ein bestimmt gut gemeinter Auftritt von Herrn Wieler, Chefvirologe des Robert Koch-Instituts, wird eindeutig nicht als Verschwörung gewertet. Er führte zunächst aus, dass Masken völlig nutzlos seien, um diese Aussage später zu korrigieren. Diese seien äußerst nützlich, aber er habe das ja nicht sagen können angesichts des Fakts, dass es keine gegeben hätte. Das stimmt natürlich nicht. Man hätte genau das sagen können: Nützlich, aber im Moment nicht vorhanden, aber bald.
Verschwörungstheoretisch könnte das so aufgelöst werden: Die Regierung hat seit Jahren ein einzigartiges Spar- und Rationalisierungsprogramm durchgeführt, Pandemie-Vorsorge trotz vieler Warnungen nicht betrieben, Masken und andere Hilfsmittel nicht bevorratet. Durch diese Idee, Gesundheit als profitorientierten Gesundheitsmarkt zu betreiben, sind nun beachtliche Lücken entstanden. Diese werden nun von Wieler legitimiert, indem er Masken in der Sache, also medizinisch, als überflüssig erklärt. Da haben wir ihn, den großen Gesundheitskomplott. Und müssen oder sollten wir vermuten, dass das RKI und andere Experten noch weitere ‚fake news‘ in der Tagesschau verbreiten? Alternative Denker verstoßen gegen diese Einheitsshow. Daher ihre Abstrafung:
Es geht um Entwertung, um Diskriminierung jeglichen Kritikanspruches.
Die Form, um zu diesem Resultat zu gelangen, ist bewusst argumentlos.
Es reicht, ein diskriminierendes Sprachbild in den Raum zu stellen. Mit diesem soll klargestellt sein, dass jegliche inhaltliche Befassung mit anders Denkenden überflüssig ist. Ein Diskurs, eine kritische Auseinandersetzung wird mit Abweichlern gar nicht mehr angesteuert, wird als überflüssig, also als zu viel der Ehre verworfen.
Die Macht definiert, was als wahr und was als falsch gilt
Im Vorwurf des Verschwörungstheoretikers feiert die überlegene Macht ihre Alternativlosigkeit mit Mitteln, die jeder Verschwörungstheorie reichlich Material an die Hand geben würde.
Wie gesagt, der Unterschied besteht darin, dass es die Geltung der herrschenden Zwecke ist, die ja allseits zu besichtigen ist, die wie von Zauberhand geführt auf einmal neben dem ebenfalls wundersamen auftauchenden Kaninchen aus dem Zylinder zu besseren Argumenten mutiert. Und die nicht ganz sinnfälligen Techniken, wie das Angst schüren oder die dreisten Fälschungen der Pharmaindustrie, dienen diesen Zwecken. Vor allem aber gelten sie, und das nicht aufgrund besserer Argumente.
Nein, sie haben sich durchgesetzt mit der Gewalt und mit dieser im Rücken. Sie müssen sich nicht legitimieren, werden nicht auf vermeintlich böse Motive angeklopft. Sie sind wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaftsordnung. Das kann man von den Ideen, Zielen und Zwecken alternativer Denker nicht gerade behaupten.
Fazit
Den Vorwurf des Putinverstehers und den Vorwurf des Verschwö-rungstheoretikers wird man in einer kapitalistischen Klassengesellschaft als alternativer Denker nie los. Entwertung und Repression sind die bevorzugten „Argumente“ der Herrschenden. Sie müssen ja nicht stimmen, sondern bestenfalls eine Praxis ideologisieren. So wenig wie der Feudalherr seinen Ehrentitel „von Gottes Gnaden“ preisgibt, so wenig eine bürgerliche Herrschaft ihre Richtlinienkompetenz aus „guten“ Gründen.
Was bleibt
Entgegenhalten, eine Gegenöffentlichkeit aufbauen. Das wäre schon einmal ein erster Schritt. Und nicht dauernd dementieren. Das schwächt, und man akzeptiert auch in der Zurückweisung den von oben aufgestülpten Maßstab der Beurteilung und damit einen Gegenstandswechsel auf die Dignität der eigenen Person. Wenn irgendwer auch ungefähr zur gleichen Zeit durch die Stadt läuft, wie man selbst, ist man schon dran, wird des Kombattantentums beschuldigt. Die freie Presse zeigt in diesem Zusammenhang innovative Fähigkeiten in Sachen Fahndung. Es handelt sich eben in der Austragung in der Öffentlichkeit eben gerade nicht um eine argumentative Angelegenheit, sondern um eine Macht- und Gewaltfrage.
Der moderne Kapitalismus hat es geschafft, sich im Überbau zu mythologisieren. Von der Religion des Marktes ist oft die Rede, verstanden als Synonym für Alternativlosigkeit eines über Markt- und profitorientiertes Wirtschaften. Dem unermesslichen Reichtum, der auf der einen Seite produziert wird, steht auf der anderen Seite eine unermessliche Armut, Hunger, Tod und Elend, ja auch notwendig psychische Verelendung gegenüber.
Etwas verfeinert stimmt die Formulierung auf der einen Seite und dann auf der anderen Seite aber gar nicht, genauso wenig wie das von Armutsforschern gerne geprägte Bild von der sich immer weiter ausweitenden Schere von Arm und Reich. Was in beiden Reden ideologisiert wird, ist, dass Arm und Reich sozusagen getrennt voneinander existieren, im Bild der auseinandergehenden Schere, eigentlich zusammengehören würden. In Wahrheit sind aber die Reichen reich oder der immense Reichtum auf der einen Seite, weil er durch Ausbeutung aus den Anderen, der Armen ausgepresst wird. Die Egalisierung wäre also zu Ende gedacht die Revolution. Sie wird aber von Armutsforschern und Anderen ganz anders gedacht, nämlich als Idealisierung der Marktverhältnisse. Eigentlich könnten die Seiten der Schere zusammengeführt werden. Dass sie so weit auseinander geraten sind, hat garantiert keinen systematischen Grund. So wird der systematische Gegensatz von Arm und Reich in ein zufälliges Verhältnis verwandelt.
Eigentlich – und das ist das Zauberwort –, eigentlich könnten die beiden Seiten auch versöhnt werden, aber nur eigentlich eben, nicht wirklich.
In der Anonymität der Marktbeziehungen muss jeder seine Arbeitskraft verkaufen, nicht nur Proletarier, sondern heute auch der Mediziner und andere intellektuelle Berufe. Sie alle unterliegen dabei Marktgesetzen, die nicht durchschaubar sind, aber handlungsbestimmend sein müssen, sonst wird es nichts. Vom individuellen Zurechtmachen, seine eigenen Qualitäten aufhübschen, bis zu räumlicher Flexibilität ist alles gefragt. Auch das Unterwerfen und Akzeptieren der inneren Gesetzmäßigkeiten unter den Dukatenesel Krankenhaus. Für einen jungen Arzt etwa die Unterwerfung unter die im Krankenhaus unter Profitorientierung ganz neu entstandene Medizin, durchbuchstabiert bis zu einer Ansprache ans Behandlungsbett unter Kriterien nicht dessen, was der Kranke benötigt, sondern was die Fallpauschale braucht. Systemimmanente Rationalität: Wenn wir dieser nicht dienen, geht gar nichts mehr und darunter leiden letztlich die Patienten.
Der US-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky entwickelt im Zusammenhang mit der Frage, was Menschen gesund hält, den Begriff der Kohäsion. Verkürzt dargestellt besteht diese aus der Trias Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Das jeweilige negative Pendant dazu wären wohl Orientierungsverlust, Ohnmacht und Sinnentzug.
Antonovsky übersieht aus meiner Sicht die wesentliche vierte Komponente. „Der Mensch ist kein außerhalb der Welt hockendes Wesen“, schreibt Karl Marx in den Feuerbachthesen. Das heißt, der Mensch ist, was die bürgerlichen Wissenschaften, auch die Psychologie in ihren Robinsonaden vom Menschen überhaupt, leugnen, aber zugleich als Ausgangspunkt konstruieren: der Mensch ist ein soziales Wesen. Er lebt in Gemeinschaft und entwickelt sich in Gemeinschaft. Der Eremit ist der absolute Ausnahmefall. Bis ins Biologische hinein ist das so.
Unter Coronabedingungen wurde von Sozialpsychologen nicht selten festgestellt, wie herb der Verlust körperlicher Nähe wie zum Beispiel von Berührungen usw. ist. So wenig meine Katze Timmi sich aufgibt als individuelle Katze, wenn sie ihren Bruder Struppi hingebungsvoll das Fell putzt, um sich zwei Stunden später mit ihm zu streiten, so wenig gibt sich der Mensch als Individuum auf, wenn er sich als soziales Wesen begreift – im Gegenteil.
Die Eigentümlichkeiten einer Konkurrenzgesellschaft lassen solche basalen und banalen Einsichten nicht mehr wirklich aufkommen, weil sie in der unter diesen Bedingungen erfolgenden Handlungspraxis ja auch im Widerspruch dazu stehen. Im Volksmund heißt es: „Der eine ist dem anderen sein Teufel“. Das ist begriffslos dahingesagt und wird einfach so anthropologisiert. Viel schlichter: Wir stehen uns einfach als Konkurrenten gegenüber. Schon in der Schule wird gezeigt, dass die eigenen Fähigkeiten nur in Konkurrenz zu den anderen von Bedeutung sind. Kant hat dies, ohne es reflektieren zu können, in seinem kategorischen Imperativ – allerdings bejahend – festgehalten.
Der Kategorische Imperativ, so meine Behauptung, ist die Königsformulierung in idealistischer und scheinbar so gutmenschlich versöhnlicher Form und unter positiven Bezug zu einer Gesellschaft, die Ausbeutung, Elend, Tod und psychische Verelendung als ihre Wesensmerkmale pflegt.
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Die goldene Regel, in die Kants Imperativ öfters übersetzt wird, „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, ist nur der halbe Kant. Das auszuführen, würde hier zu weit führen, spielt aber auch in diesem Zusammenhang keine Rolle. Wieso soll nun der Kategorische Imperativ nicht eine sinnvolle Regel, sondern eine Ideologisierung des Kapitalismus sein? In seinem wirklichen Leben, seinem Handeln als Wirtschaftssubjekt, als Privatsubjekt steht der Einzelne anonym und im Nebel. Er weiß nicht um den die Anderen, um den gesellschaftlichen Zusammenhang, und muss oder sollte nun im zweiten Schritt sein Handeln sozialverträglich gestalten, und zwar nach einer ethischen Regel. Diese, ich wiederhole meinen Gedanken, macht aber nur Sinn, wenn das, was die Ethik hervorbringen soll, nicht schon von vornherein sozusagen immanent im Handeln als wesensmäßig enthalten ist.
Wenn ich die Früchte des Baumes mir morgens um 5 Uhr alle einsacke, sie auf dem Markt verkaufe und in meinem Keller horte, sind sie den anderen entzogen. Das Ganze könnte man auch mit einem Zaun umziehen und Eigentum nennen. Dann garantiert der Staat per Recht für den Ausschluss der Anderen. Wenn ich aber als Individuum und Gemeinschaftswesen mich gemeinsam mit den anderen entwickeln möchte, weil ich sie schätze, weil Doppelkopf spielen alleine genauso langweilig ist wie Sex, dann reiße ich den Zaun ein und alle können sich gemeinsam an den Früchten des Baumes bedienen und keiner wird ausgeschlossen. Eingedenk, dass die Natur ein „Geschenk“ ist, das barrierefrei und ohne Coronamaske benutzt werden darf und soll. Natürlich ist das eine Metapher (in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau) für das gesellschaftliche Institut „Privateigentum“. Das hat Kant nicht gesehen, nicht sehen wollen, und hat geglaubt, durch individuelles moralisch gutes Handeln, die wirklichen Gegensätze und deren Konsequenzen versöhnen zu können.