Eiskalter Tod - John Leake - E-Book

Eiskalter Tod E-Book

John Leake

4,8

Beschreibung

True Crime in den Alpen: Ein junger Mann verschwindet am helllichten Tag mitten auf der Skipiste. Warum wurde nicht ermittelt? Im August 1989 verschwindet der Profi-Eishockeyspieler Duncan MacPherson am Stubaier Gletscher in Tirol. Laut Behörden hat er das Skigebiet verlassen und ist beim Wandern verunglückt. Doch 14 Jahre später gibt das Eis die Leiche frei: mitsamt dem Snowboard, mitten auf der Piste. Der Fall wird dennoch geschlossen. Die Eltern des jungen Kanadiers kämpfen seither gegen ein Dickicht aus Lügen, widersprüchlichen Aussagen, krassen Ermittlungsfehlern - und gegen menschliche Kälte. Wie starb Duncan tatsächlich? John Leake erzählt die packende Geschichte ihrer dramatischen Suche nach der Wahrheit. Einer schrecklichen Wahrheit, die von hochrangigen Beamten vertuscht wird: bis heute, bis zu diesem Buch.

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Seitenzahl: 379

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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel„Cold A Long Time: An Alpine Mystery“.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

Für die Originalausgabe:© 2012 by John Leake

Für die deutschsprachige Ausgabe:© 2013 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub:978-3-7017-4335-3

ISBN Printausgabe:978-3-7017-3305-7

Für Duncan

Der Schneemann

Man muss den Winter mögen,um den Frost und die mit Schneeverkrusteten Zweige der Kiefern zu schätzen;

Und lange Zeit frieren,um den vereisten Wacholder zu erblicken,die Fichten, die wie Zacken stehen im fernen Glitzern

Der Januarsonne; und nicht elend zu werdenbeim Rauschen des Windes,beim Klang der wenigen Blätter,

Welcher der Klang des Landes ist,voll desselben Windes,der über denselben öden Ort fegt

Für denjenigen, der im Schnee horcht,und, selbst nichts, nichts wahrnimmt,das nicht dort ist, und das Nichts, das ist.

Wallace Stevens

INHALT

Prolog

1. Kapitel: Ein Albtraum

2. Kapitel: Die Suche

3. Kapitel: »Wimmeln Sie diese Leute bloß ab«

4. Kapitel: Der rote Opel

5. Kapitel: Die Geschichte des Snowboardlehrers

6. Kapitel: »Ich finde, Sie sollten zur Normalität zurückkehren«

7. Kapitel: Die gute Hexe von Gmunden

8. Kapitel: Die Geschichte des Hüttenpächters

9. Kapitel: »Snowboard und Stiefel wurden zurückgegeben«

10. Kapitel: Die Nachricht unter der Tür

11. Kapitel: Die Offenbarung

12. Kapitel: Der Mann im Eis

13. Kapitel: Der Amnesiepatient

14. Kapitel: Das Medium

15. Kapitel: Die Leiche

16. Kapitel: Eine Alternative zur Autopsie

17. Kapitel: Eine unausgesprochene Wahrheit

18. Kapitel: Knochen auf dem Eis

19. Kapitel: »Steht nicht an meinem Grab und weint«

20. Kapitel: Etwas Unheimliches

21. Kapitel. Die Computertomografie

22. Kapitel: Was zum Teufel geht hier vor?

23. Kapitel: Mauern des Schweigens

24. Kapitel: »Er will, dass Sie für ihn sprechen«

25. Kapitel: Dunkel und seltsam

26. Kapitel: Der Hunger nach Gewissheit

27. Kapitel: Ein Rätsel zum Verrücktwerden

28. Kapitel: Falsches Spiel

29. Kapitel: Fakten werden verschwiegen

30. Kapitel: »Unten lieblich, oben wild«

31. Kapitel: Der Pate des Tales

32. Kapitel: Im heiligen Land Tirol

33. Kapitel: »Ist das ein gefährliches Gebiet?«

34. Kapitel: Wegschauen

35. Kapitel: Lyndas Freund in Innsbruck

36. Kapitel: Verheerung

37. Kapitel: Das Drahtseil

38. Kapitel: Das Puzzle fügt sich zusammen

39. Kapitel: Duncans Tod

40. Kapitel: Schlüsse

41. Kapitel: Ende

Anhang

Anhang 1: Physische Beweise

Anhang 2: Die Snowboard-Ausrüstung

Anhang 3: Korrespondenz mit Dr. Rabl

Quellen

Danksagung

Bildnachweis

PROLOG

Saskatoon, Kanada, Oktober 2009

Das hätte kaum netterenMenschen passieren können, dachte ich, als ich mit Lynda und Bob MacPherson in ihrem Hinterhof in Saskatoon beisammensaß. Zwanzig Jahre zuvor war ihr Sohn in Europa verschwunden, und dieses Rätsel überschattete ihr Leben immer noch wie ein Fluch. Der schmerzliche Verlust wurde zusätzlich durch die Unaufrichtigkeit verschlimmert, welcher sie bei ihrem Versuch, etwas über sein Schicksal zu erfahren, an jeder Ecke begegnet waren.

»Früher fand ich Trost in dem Gedanken, dass die meisten Menschen ehrlich seien«, sagte Lynda. »Aber seit Duncans Verschwinden habe ich zu zweifeln begonnen. Trotzdem überrascht es mich immer noch, wie viele Menschen uns über die Jahre belogen haben.«

Für mich hatte ihre Geschichte biblische Züge. Wenn ich überlegte, wie ich die beiden wohl am besten beschreiben könnte, kam mir immer wieder der Begriff »Salz der Erde« in den Sinn. All die Schmähungen, die sie hatten erdulden müssen, erinnerten mich an das Buch Hiob. Allein sich die schiere Dauer ihres Leidens – ein Drittel ihres Lebens – vorzustellen war schrecklich.

Es war ein klarer Herbsttag in Saskatoon, und ich genoss es, mit Blick auf den beeindruckenden Garten der MacPhersons in der Sonne zu sitzen. In der Mitte des Gartens befand sich ein kleiner Teich, um den ein paar junge Fichten, Wacholderbüsche und Kiefern gepflanzt waren. Jenseits des Wassers lagen einige Felsbrocken, die Bob etwa eine Meile von ihrem Haus entfernt gefunden hatte. Die gewaltigen Steine waren von Gletschern poliert worden, die vor 11 000 Jahren Saskatoon bedeckt hatten. In einigen hatten Kiesel, vom fließenden Eis in ihre Oberfläche gepresst, wundervolle Muster hinterlassen – deutliche Spuren eines Vorgangs aus einer Zeit, als die meisten Menschen noch Jäger und Sammler waren.

»Nachdem Duncan verschwunden und Derrick nach Vancouver gezogen war, entdeckte Bob sein Interesse für den Garten«, sagte Lynda. »Er hat den Teich ganz alleine ausgehoben und diese Gesteinsbrocken hierhertransportiert.«

»Wie um Himmels willen haben Sie das denn gemacht?«, fragte ich Bob.

»Ach, das war gar nicht so schwer«, sagte er mit seinem neuschottischen Akzent, der in meinen Ohren beinahe wie richtiges Schottisch klang. »Ich stemmte sie mit einer Brechstange vom Boden hoch und rollte sie dann über Rohre, eine verstärkte Rampe und mithilfe eines Seilzugmechanismus auf den Anhänger.« Bob war über 1,90 Meter groß, hatte riesige Hände und ein markantes Kinn. Physisch war er seiner Frau zwar weit überlegen, besaß jedoch eine wesentlich empfindsamere Persönlichkeit. Es sollte mich fast zwei Jahre kosten, um Lyndas harte Schale zu durchdringen. Bob hingegen wirkte bereits äußerlich sehr sensibel.

»Es ist erstaunlich, wie gut sich die Sukkulenten machen«, sagte Lynda und deutete auf einen Pflanzenhügel neben dem Teich. »Jeden Herbst bedeckt Bob sie mit Blättern, und wenn er sie im Frühling wieder freilegt, sollte man nicht denken, dass sie gerade ein paar Monate bei minus zwanzig Grad hinter sich haben.«

»Warum frieren sie nicht ein?«, fragte ich, abermals ungläubig.

»Weil sie im Herbst kein Wasser mehr speichern, damit sie den Winter überleben«, erklärte Bob. Wie ich in den kommenden Tagen noch feststellen sollte, war sein Wissen über die Natur grenzenlos.

»Auch Duncan liebte die Natur«, sagte Lynda. »Als die Islanders seinen Vertrag nicht verlängerten, überlegte er, ob er nicht an die Uni zurückkehren und Biologie studieren sollte. Ich wünschte, er hätte es getan.« Sie zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Handtasche und zündete eine davon an.

»Ich weiß, es ist ein furchtbares Laster«, sagte sie. »Duncan hasste die Raucherei und bat mich oft, es sein zu lassen. Kurz nachdem wir unsere Suche nach ihm begonnen hatten, hörten wir, er sei in einem griechischen Gefängnis gesehen worden. Wir hofften auf ein Wiedersehen, bis wir erfuhren, dass der Insasse Raucher war.«

Sie hatten mir bereits viele Episoden ihrer Geschichte erzählt, und mir war klar geworden, dass sie so kompliziert und voller seltsamer Wendungen war, dass ich sie niemals ganz begreifen würde, solange ich das Ganze nicht in allen Einzelheiten von Anfang bis Ende gehört hätte.

»Kommen wir noch einmal zum Anfang zurück, als Ihnen bewusst wurde, dass Duncan etwas zugestoßen sein musste«, sagte ich. Lynda starrte auf die Gletschersteine und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.

»Ich weiß noch genau, wann das war«, entgegnete sie. »Es war in der Nacht des 11. August 1989.«

1. KAPITEL

EIN ALBTRAUM

Abwesenheit und Tod sind ein und dasselbe – nur,dass im Tod kein Leiden liegt.

Theodore Roosevelt

In jener Nacht hatte sie einen derart entsetzlichen Albtraum, dass sie schreiend erwachte. Sie hatte noch nie zuvor unter solchen Angstzuständen gelitten, was Bob umso mehr beunruhigte, als er aus dem Schlaf gerissen wurde.

»Alles ist gut, Lynda«, sagte er, nachdem er zu sich gekommen war. »Es ist alles in Ordnung.«

»Duncan ist etwas Schreckliches passiert«, schluchzte sie.

Bob beruhigte sie, sie habe nur einen bösen Traum gehabt, doch fand sie nur schwer in den Schlaf zurück. Auch am nächsten Morgen war sie noch besorgt.

Sie hatte in ihrem Albtraum gesehen, wie Duncan etwas zugestoßen war, aber was? Sie konnte sich nicht daran erinnern, aber sie wusste, dass es etwas Grauenhaftes gewesen war. Duncan war damals in Europa und besuchte ein paar alte Freunde, dann wollte er nach Schottland ziehen und dort einen neuen Job als Trainer einer Eishockeymannschaft antreten. Am 4. August 1989 hatte er vom Haus seines Freundes George Pesut in Nürnberg aus angerufen. Nach der langen Reise von Saskatoon litt er noch unter dem Jetlag, war mürrisch und keinesfalls in der Stimmung, über seine Pläne zu sprechen.

»Ich rufe euch dann am 14. von Schottland aus an«, sagte er barsch. 14 Tage waren für ihn eine lange Zeit, ohne sich daheim zu melden. Durch den Eishockeysport war er zwar häufig von zuhause fort gewesen, doch hatte es selten länger als zwei Tage gedauert, bis er angerufen hatte, um Hallo zu sagen und zu fragen, wie es seinem Hund Jake gehe. Lynda glaubte, dass ihr furchtbarer Traum vermutlich durch das Gefühl ausgelöst worden sei, ungewöhnlich lange ohne Nachricht von ihm zu sein.

Als Duncan am 14. August nicht anrief, versuchte sie sich einzureden, er hätte einfach mit seinem neuen Job alle Hände voll zu tun, doch ihre Besorgnis wuchs. Am 16. August saß sie wartend neben dem Telefon, und als es abends endlich läutete, hob sie den Hörer beim ersten Klingeln ab. Es war Sean Simpson – einer von Duncans alten Eishockey-Kumpeln, der in Europa lebte.

»Haben Sie etwas von Duncan gehört?«, fragte er.

»Nein«, sagte sie. »Er wollte anrufen, wenn mit seinem neuen Job in Schottland alles klar ist.« Am anderen Ende der Leitung wurde es still.

»Sean, bist du noch dran?«

»Äh, ja, Frau MacPherson. Es ist seltsam, weil ich gerade mit seinem Teammanager gesprochen habe und es so aussieht, als wäre er nie in Schottland eingetroffen.«

Es ist schwer zu beschreiben, welche Angst das Verschwinden eines Familienmitgliedes auslöst. Eine vage Ahnung davon bekommt man, wenn man sich vorstellt, was man selbst empfinden würde, wenn der eigene Partner oder ein Kind eines Tages nicht mehr nach Hause käme. Weil man keine Ahnung hat, warum, spielt man ein ganzes Dutzend grausiger Möglichkeiten durch. Panik und Verwirrung vermischen sich und verstärken sich gegenseitig. Das unerklärliche Verschwinden eines geliebten Menschen erzeugt eine Leere, in der das gesamte normale Leben in sich zusammenbricht. Die Panik mag vielleicht eines Tages vergehen, das alles verzehrende Verlangen jedoch, zu erfahren, was geschehen ist, nicht. Das Rätsel beschäftigt einen so lange, bis man das fehlende Familienmitglied gefunden hat – oder bis zum eigenen Tod.

So war es auch bei Lynda und Bob. Als sie erfuhren, dass ihr Sohn nie in Schottland angekommen war, riefen sie seinen Freund George Pesut in Nürnberg an. Aus diesem Gespräch ging Folgendes hervor: Am 7. August hatte sich Duncan von George dessen Auto für einen Kurztrip geliehen. Spätestens am 11. August wollte er zurück in Nürnberg sein, damit er seinen Flug nach Glasgow noch bekäme. Am 8. August wurde er zum letzten Mal gesehen, als er vom Haus seines Freundes Roger Kortko in Füssen aufbrach und nach Süden in Richtung Österreich/Italien fuhr. Seitdem hatte keiner seiner europäischen Bekannten mehr etwas von ihm gehört. Er war buchstäblich spurlos verschwunden.

Mit jedem Tag, der verstrich, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, dass ihm tatsächlich etwas Entsetzliches zugestoßen war, ganz so, wie Lynda es geträumt hatte. Sie starrte oft auf das Telefon, wollte es mit ihren Gedanken dazu zwingen, dass es klingelte und er am Apparat wäre, doch nichts geschah. Die Stille war unerträglich. Wie konnten ein junger Mann und das Auto, das er fuhr, in einer so hochzivilisierten Region einfach verschwinden?

Als erste mögliche Katastrophe dachte man an einen Autounfall, doch dann hätte man das Wrack gefunden. In den Achtzigerjahren kam es in Italien gelegentlich vor, dass erwachsene Touristen von Mafiabanden entführt wurden, doch hatte sich niemand mit einer Lösegeldforderung gemeldet. Lynda befürchtete, er könne einen gefährlichen Anhalter mitgenommen haben, wenngleich nur eine Person mit Schusswaffe es gewagt hätte, Duncan anzugreifen – einen über 1,80 Meter großen Eishockeyspieler, dessen Kampfgeist ihm den Spitznamen »MacFearsome« (»MacFurchterregend«) eingebracht hatte.

Die Royal Canadian Mounted Police (RCMP), die mit Beamten in den kanadischen Botschaften in Europa präsent war, sagte, es sei keine Seltenheit, dass junge Männer aus Abenteuerlust oder wegen einer Frau verschwänden, in der Regel aber nach kurzer Zeit wieder auftauchten. Lynda wusste, dass dies bei ihrem Sohn nicht der Fall war, da er stets hatte tun und lassen dürfen, wie ihm beliebte. Ganz bestimmt hätte er es seinen Eltern mitgeteilt, wenn alles in Ordnung gewesen wäre. Obendrein passte es überhaupt nicht zu ihm, seine Verpflichtungen in den Wind zu schlagen und sich mit einem fremden Wagen aus dem Staub zu machen.

Selbst wenn er beschlossen hätte zu verschwinden, könnte er ohne Geld nicht leben, und er hatte seit dem 7. August keinen Reisescheck mehr eingelöst. Dies zu verfolgen war möglich, weil er Lynda bevollmächtigt hatte, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern, während er in Schottland arbeitete. Sie erinnerte sich an ihr kurzes Gespräch am Abend, bevor er abreiste. Er saß am Küchentisch, aß als Mitternachtsimbiss ein Müsli und las die Eishockeynachrichten, als sie ihm das Dokument zur Unterschrift vorlegte.

»Sieht aus, als überschreibe ich dir mein Leben«, sagte er, während er es kurz überflog und sich dann wieder seiner Zeitung zuwandte. »Gibst du mir mal einen Stift?«

»Du kannst es ruhig erst lesen«, sagte sie.

»Nein – wenn ich meiner Mutter nicht vertrauen kann, wem dann?«

Dieses Empfinden beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie war zuversichtlich, dass er verantwortungsbewusst war und sie sich nicht in ihm täuschte. Dennoch bewirkte sein Verschwinden, dass sie sich nunmehr fragte, ob es in seinem Leben etwas gegeben haben könne, wovon sie nichts gewusst hatte – etwas, wodurch er in Schwierigkeiten geraten war, seit man ihn in Deutschland zum letzten Mal gesehen hatte.

Bis zum Frühjahr 1989 hatte Duncan MacPherson gar keine Zeit gehabt, in Schwierigkeiten zu geraten, weil er sich fast ausschließlich dem Eishockey gewidmet hatte. Anfang der Achtziger spielte er bei den Saskatoon Blades und zeigte als Verteidiger großes Talent. Besonders eindrucksvoll waren seine kompromisslosen Zweikämpfe auf offenem Eis, und 1984 wurde er schon in der ersten Auswahlrunde von den New York Islanders verpflichtet.

Trotz seines vielversprechenden Starts musste er fünf Jahre nach diesem Triumph erfahren, dass ihm der NHL-Ruhm versagt bleiben sollte. Im Frühjahr 1989 erneuerten die Islanders seinen Vertrag nicht mehr, wodurch er auch seine Position bei den Springfield Indians verlor, dem Unterliga-Verein der Islanders, in welchem er zur Vorbereitung auf die Nationalliga gespielt hatte. Für einen Dreiundzwanzigjährigen trug er die Enttäuschung mit großer Würde. Teils waren Verletzungen schuld, aber er wusste, dass sein geschundener Körper nicht der einzige Grund war. In den achtziger Jahren wurden die NHL-Spieler immer schneller, und er geriet ins Hintertreffen. In einem damals ausgestrahlten Fernsehinterview versuchte er daher auch nicht, sich zu rechtfertigen.

Duncans Foto auf seinem internationalen Führerschein, aufgenommen kurz vor seiner Abreise nach Deutschland, August 1989

»In den unteren Ligen spielt man so gut man eben kann, und wenn man nicht das Zeug zum Superstar hat, dann kann man nichts daran ändern«, sagte er mit leisem Stoizismus.

Lynda machte sich Sorgen um ihn, stellte jedoch bald fest, dass er sich die Angelegenheit nicht allzu sehr zu Herzen nahm. Zum Teil war er erleichtert, dem Druck der Trainer entronnen zu sein, die dümmlich darauf beharrten, er solle im Sport stets »hundertzehn Prozent geben«. Außerdem freute er sich darauf, den Appalachian Trail zu bewandern, was er schon seit Jahren hatte tun wollen. Wie sein Vater Bob war auch er gern im Freien und las häufig Bücher über Abenteuer in freier Natur. Auf die lange Reise von Saskatoon nach Deutschland nahm er ein Exemplar von Sturz ins Leere mit – den packenden Bericht eines britischen Bergsteigers namens Joe Simpson, der einen Sturz in eine Gebirgsgletscherspalte überlebt hatte.

Duncan fühlte sich mit Simpson und dessen legendärem Mut spirituell verbunden. Bei seinen Fans zuhause hatte er eines Abends Unsterblichkeit erlangt, als die Regina Pats – der verhasste Rivale der Saskatoon Blades – mit einem beängstigenden neuen »Abräumer« aufgetaucht waren. Ein Abräumer (auch »Gorilla« genannt) ist ein Spieler, der besser kämpfen als Tore auflegen und schießen kann und dessen inoffizielle Aufgabe es ist, den Gegner einzuschüchtern. Der neue Abräumer der Pats war riesig, und seine Mannschaft freute sich unverhohlen darauf, die Blades auf ihrem eigenen Eis das Fürchten zu lehren. Kurz vor dem Spiel gab der Gorilla ein Interview in einer Saskatooner Zeitung. Darin warf er den Fehdehandschuh: »Das Spielergebnis ist mir eigentlich egal; ich freue mich nur darauf, MacPherson vom Eis zu fegen.«

»Was meinst du, Dunc?«, fragten ihn die Mitspieler vor dem Spiel nervös im Umkleideraum.

»Ich werde mich um ihn kümmern«, antwortete er. Gesagt, getan: Sobald der Puck auf dem Eis war, glitt er auf den Abräumer zu und attackierte ihn. Als Lynda sah, wie er die Angriffsposition einnahm und seine Handschuhe auszog, bedeckte sie ihre Augen. Sie war sich sicher, dass der wesentlich größere Junge ihn umbringen würde, doch zum Unglauben und Entzücken der Fans gewann Duncan den Zweikampf. Obwohl sie Gewalt verabscheute, imponierte ihr sein unbezwingbarer Kampfgeist im Ring, der ganz im Kontrast zu seinem sanften, ungezwungenen Verhalten außerhalb stand.

Nach seinem Abenteuer auf dem Appalachian Trail kehrte Duncan nach Saskatoon zurück, wo er prompt an Borreliose erkrankte. Am Ende einer langen Rekonvaleszenz wusste er nicht recht, was er als Nächstes tun sollte. Einige seiner Freunde ermunterten ihn, sich in Europa eine Arbeitsstelle zu suchen. Eines Abends, als Lynda gerade das Abendessen kochte, erzählte er ihr, ein Mann habe ihn angesprochen, der sich als Anwerber der CIA ausgegeben habe. Dieser habe ihn gefragt, ob er interessiert daran sei, für den Geheimdienst zu arbeiten. Im Sommer 1989 dauerte der Kalte Krieg noch an, und Eishockeyspieler in Europa konnten den Eisernen Vorhang leicht passieren. Duncan sagte, es klinge wie ein interessanter Job, doch lehne er lieber ab, weil er dazu seine Identität ändern müsse und von seiner Familie getrennt würde.

Kurz darauf erhielt er ein weiteres ungewöhnliches Angebot, diesmal von einem Geschäftsmann aus Vancouver mit mysteriöser Vergangenheit. Er hieß Ron Dixon, wenngleich gemunkelt wurde, dies sei nur ein Deckname. Er hatte in der schottischen Stadt Dundee gerade ein Eishockeyteam namens The Tigers gekauft. Am Telefon bot er Duncan den großzügig dotierten Posten des Cheftrainers an. Angesichts seines jungen Alters und der Tatsache, dass sich die beiden nie zuvor begegnet waren, überraschte Duncan das Angebot, und er sagte zu seiner Mutter, es sei vielleicht zu schön, um wahr zu sein. Dixon sprach ausgiebig über seine großen Pläne, wich jedoch in Detailfragen aus.

»Ich befürchte, der Kerl erzählt ziemlich viel Mist«, sagte Duncan.

Trotz seiner Vorbehalte nahm er den Job an. Mitte August sollte es losgehen. Da er in der ersten Monatshälfte noch nichts vorhatte, beschloss er, alte Eishockeyfreunde zu besuchen, die einen Job in Europa ergattert hatten.

Als er dann mit dem Auto unterwegs war, rief er irgendwann seinen Chef an, doch war nicht ganz eindeutig feststellbar, wo und an welchem Tag er diesen Anruf getätigt hatte. Dixon erinnerte sich, ihn um etwa 16 Uhr in Vancouver erhalten zu haben.

»Ich bin zu 90 Prozent sicher, dass es am 10. August war«, sagte er. »Es besteht also eine zehnprozentige Chance, dass es am 9. August war, am 8. aber ganz sicher nicht.« Rechnet man den Zeitunterschied von neun Stunden mit ein, ergibt sich, dass ihn Duncan höchstwahrscheinlich am 11. August um 1 Uhr mitteleuropäischer Zeit angerufen hatte, also in der Nacht vor seiner geplanten Rückkehr nach Nürnberg.

Laut RCMP gab Interpol in Ottawa eine Vermisstenmeldung an sämtliche europäischen Interpol-Dienststellen heraus, welche diese wiederum an Grenzschutz- und Polizeiposten weiterleiten sollten. Wenn Duncan eine europäische Landesgrenze überquerte, würde man ihn entdecken. Wenn er ins Koma gefallen oder bei einem Unfall ums Leben gekommen wäre, würde er irgendwann in einem Krankenhaus oder einer Leichenhalle gefunden werden. Wenn er im Gefängnis gelandet wäre, würden ihn die Behörden als den Vermissten identifizieren.

Ein Sportreporter überredete Lynda, sich daneben auch an die Presse zu wenden, da so die Öffentlichkeit für den Fall sensibilisiert werde. Zudem könne die Medienpräsenz sowohl die RCMP als auch das Außenministerium anspornen, ihre Anstrengungen zu intensivieren. Am 23. August gab Lynda also ihr erstes Interview für den Saskatoon Star-Phoenix.

»Es ist sehr frustrierend, hier zu sein«, sagte sie. »Wir fühlen uns hilflos. Wir finden, wir sollten dort sein und versuchen, ihn zu finden, ihm zu helfen.«

Es war vor allem das Gefühl der Hilflosigkeit, das Lynda nicht ertragen konnte. Wann immer sie bislang mit einem Problem konfrontiert gewesen war, selbst mit einem unlösbaren, hatte sie es stets als tröstlich empfunden, wenigstens etwas zu tun. Bereits als Teenager hatte sie festgestellt, dass sie bestrebt war, etwas gegen Elend und Ungerechtigkeit zu unternehmen. Sie war entsetzt darüber gewesen, wie europäische Siedler die kanadischen Indianer behandelt hatten. Sobald sie erwachsen war, nahm sie daher eine Stelle als Lehrerin auf Baffin Island an, 1500 Meilen nördlich von Montreal, wo sie Inuit-Kindern Lesen und Schreiben beibrachte.

Im örtlichen Curling-Club lernte sie den jungen Piloten Bob Mac-Pherson kennen, der jahrelang in der Nähe des Polarkreises gelebt und dort für einen Ölkonzern gearbeitet hatte. Auch er hatte den Drang verspürt, nach Norden zu gehen, und war fasziniert von den Inuit und ihrem Leben im Eis. Im Mai 1965 zeugten sie Duncan in einem strandnahen Häuschen an der vereisten Frobisher Bay. Kurz darauf bekam Bob einen Job am Research Council in Saskatoon. In jenem Herbst gewannen sie bei einer Lotterie auf dem Saskatoon Fair ein Haus, was ihnen eine lange Phase zufriedener Sicherheit bescherte, in der sie ihre beiden Kinder aufzogen – Duncan und seinen Bruder Derrick, der zwei Jahre nach ihm zur Welt kam.

Sie waren so glücklich, wie nur ein Mann und eine Frau sein können, die gleich erwachsen, liebevoll und respektvoll sind. Trotz ihres bescheidenen Einkommens fiel es ihnen leicht, im Rahmen ihrer Verhältnisse zu leben und die einfachen Freuden des Lebens zu genießen, etwa ihre täglichen Spaziergänge entlang des Saskatchewan River. 23 Jahre lang schien ihre Welt vertraut, sicher und berechenbar. Dann verschwand Duncan, und ihre schreckliche Prüfung begann. Sie sollte sich als unendlich länger, seltsamer und frustrierender erweisen, als sie es sich je hätten vorstellen können, und sollte nicht nur ihren Glauben an die Regierungsbehörden, sondern auch an die menschliche Natur selbst zutiefst erschüttern. Ihre Zweifel begannen mit der RCMP und dem Außenministerium. Beide Stellen hatten zwar beteuert, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Duncan zu finden, doch Lynda hatte das Gefühl, dass das nicht der Fall war.

Drei Wochen nachdem ihr Sohn zum letzten Mal gesehen worden war, beschlossen sie und Bob daher, sich selbst auf die Suche zu machen. Das war kein leichtes Unterfangen, da keiner von beiden je in Europa gewesen war; obendrein sprachen sie kein Wort Deutsch oder Italienisch. Sie wussten, dass die Polizei besser dafür ausgerüstet war, ihn zu finden, dennoch verspürten sie einen unwiderstehlichen Drang, es zu versuchen. Außerdem war alles besser als herumzusitzen und zu warten.

2. KAPITEL

DIE SUCHE

Am 27. August flogen sie nach Deutschland, im Gepäck 2000 Plakate mit dem Konterfei ihres Sohnes. Nachdem sie in Frankfurt gelandet waren und ein Auto angemietet hatten, machten sie sich daran, Duncans Weg zwischen seiner Ankunft und seinem Verschwinden zurückzuverfolgen. In Nürnberg sprachen sie mit einem Polizeibeamten, der mit Vermisstenfällen betraut war. Er riet ihnen, sich keine Sorgen zu machen.

»Ihr Sohn ist groß und stark, dem kann nichts passieren«, sagte er. »Ich bin sicher, er hat ein hübsches Mädchen kennengelernt und amüsiert sich.«

»Er hat aber seit dem 7. August keinen Reisescheck mehr eingelöst«, antwortete Lynda. »Das Mädchen muss außerdem gut betucht sein«, meinte der Polizist.«

Von der Polizeiwache gingen sie zur Reiseagentur Happy Holidays, wo Duncan zum letzten Mal einen Reisescheck eingelöst hatte. Eine Mitarbeiterin erkannte ihn auf einem Foto. Sie ging ihre Aufzeichnungen durch und bestätigte, dass er am 7. August eine Anzahlung von 100 Mark auf einen Flug nach Glasgow gemacht habe, der am 12. August gehen sollte. Am 11. August wollte er wieder in ihrem Büro vorbeischauen und das Ticket abholen.

Von Nürnberg fuhren sie nach Füssen, wo Duncan am 7. August bei seinem Freund Roger Kortko übernachtet hatte. Roger hatte er erzählt, er wolle gern Italien besuchen – vielleicht, um sich in Bozen mit einem Freund zu treffen, vielleicht, um am Gardasee ein wenig windsurfen zu gehen. Er hatte keine festen Pläne; sicher wusste er nur, dass er am 11. August wieder in Nürnberg sein musste.

Lynda und Bob sahen sich die Strecke zwischen Füssen und dem Gardasee auf einer Karte an und stellten sich vor, wie Duncan einen Monat zuvor dasselbe getan hatte. Die Fahrt nach Süden über die deutsche Grenze würde durch die österreichische Stadt Innsbruck führen, die Hauptstadt von Tirol, und dann über den Brennerpass nach Bozen, der Hauptstadt der italienischen (ehemals österreichischen) Provinz Südtirol.

Es war fast Mitternacht, als sie in Innsbruck eintrafen und in ihrem Hotel eincheckten, sodass sie von der Landschaft nichts mitbekamen. Als Lynda am nächsten Morgen erwachte und die Vorhänge zurückzog, wurde sie von der beeindruckenden alpinen Kulisse der Stadt begrüßt.

»Er ist hier«, sagte sie laut. »Hier gefällt es ihm bestimmt.«

In ihrem Geist formte sich eine Hypothese: Duncan hatte eine Spritztour in die Berge um Innsbruck unternommen, hatte die Kontrolle über den Wagen verloren und war in eine bewaldete Schlucht gestürzt, wo man das Wrack nicht entdeckte. Dies fußte ausschließlich auf ihrer Intuition; außer der Theorie, dass er nach Bozen oder an den Gardasee gereist sein könnte, wie er es Roger gesagt hatte, gab es keine weiteren objektiven Anhaltspunkte dafür. Also beschlossen sie, ihre Suche in Italien zu beginnen, unterwegs Plakate aufzuhängen und dann gegebenenfalls wieder kehrtzumachen.

Ein paar Kilometer südlich von Innsbruck hielten sie an der ersten von vielen Polizeiwachen, die sie im Verlauf ihrer Suche betreten sollten. Die Wache der Gendarmerie (in Österreich damals die Gesetzesvertreter in ländlichen Gebieten) befand sich in der Stadt Schönberg, am Eingang zum Stubaital. Dort stellten sie zu ihrem Entsetzen fest, dass die Tiroler Polizei trotz des Interpol-Bulletins nichts von Duncan wusste. Sie berichteten den Beamten vom Verschwinden ihres Sohnes und ihrer Sorge, er könnte in den Bergen um Innsbruck einen Autounfall gehabt haben. Die Beamten waren zuversichtlich, dass Duncan in Tirol nichts passiert sei. Selbst in dicht bewaldeten Gebieten wäre ein Autowrack schnell gefunden worden, weil überall Wanderer unterwegs seien. Ein verlassenes Auto wäre bemerkt und rasch gemeldet worden, weil es in Berggegenden als deutlicher Hinweis darauf gelte, dass der Fahrer einen Kletter- oder Wanderunfall erlitten habe. Ungeachtet dessen versprachen die Beamten, eine Notiz über Duncan an alle Gendarmerieposten in Tirol weiterzugeben. Als Lynda und Bob die Wache verließen, waren sie daher recht zuversichtlich, dass die Tiroler Polizei den Fall im Griff hatte.

Unter normalen Umständen wäre Bob von der Schönheit des Brenners fasziniert gewesen, von den alten Burgen, die sich an die Bergflanken kauerten. Doch war er so sehr auf die Suche nach seinem Sohn fixiert, dass sie alles andere überschattete. Was war mit ihm geschehen? Könnte er wirklich ein derart bezauberndes Mädchen kennengelernt haben, dass er seine Familie und seine Verpflichtungen vergessen hatte? Das hielt Bob für unwahrscheinlich. Duncan hatte schon früher viele attraktive Freundinnen gehabt, und seine derzeitige Freundin Tara war bildschön. Nein, wenn er einem anderen Mädchen begegnet wäre, hätte er angerufen und es erzählt. Hatte er sich mit dem falschen Kerl auf eine Prügelei eingelassen? Auf dem Eis wich er keinem Kampf aus, was für seine Gegner stets schmerzhafte Folgen hatte. Doch Bob wusste, dass es auf der Welt Männer gab, die zu weit mehr als nur zu einem Faustkampf fähig waren. Es war ein Gedanke, der ihm Sorgen bereitete.

An der italienischen Grenze sprachen sie mit Grenzbeamten, die ebenfalls keinerlei Informationen über Duncan erhalten hatten. Als ihnen klar wurde, dass niemand an dem Grenzübergang nach ihm oder seinem Auto Ausschau gehalten hatte, sank ihr Mut. Warum hatte die RCMP ihnen versichert, das Interpol-Bulletin werde in ganz Europa verteilt, wenn dies offensichtlich nicht geschehen war? In Bozen (wo die Polizei ebenfalls keine Informationen von Interpol erhalten hatte) rief Lynda bei der RCMP an und erklärte, dass keine der Behörden an den Orten, die ihr Sohn höchstwahrscheinlich bereist habe, von dem Fall Kenntnis hätte. Der Beamte versprach, den Bericht nochmals über Interpol herauszugeben.

Eilig fuhren sie weiter zum Gardasee. Das südliche Ende des tiefen Gletschersees war 15 Kilometer breit, und sie fürchteten, er könnte weit draußen auf dem Wasser einen Unfall beim Windsurfen gehabt haben oder in einen Sturm geraten sein, bei dem er ertrunken und seine Leiche auf den Grund gesunken war. Einen Tag lang fuhren sie um den See herum, suchten nach seinem Wagen und erkundigten sich bei Windsurfing-Verleihen.

Am 7. September fuhren sie in die Schweiz. An der Grenze stellten sie fest, dass auch die Schweizer Grenzbeamten nichts von Duncan wussten. Es war äußerst frustrierend, ja widerlich, erfahren zu müssen, dass trotz aller Versprechungen, die ihre Regierungsbehörden ihnen und der Presse gegenüber seit dem 23. August gemacht hatten, Polizei und Grenzschutz in Europa von Duncans Verschwinden nicht einmal Kenntnis erhalten hatten.

»Ich glaube, von der Polizei haben wir keinerlei Unterstützung zu erwarten«, sagte Lynda, als sie die Grenze hinter sich ließen und in Richtung Bern fuhren. Es war eine bittere Erkenntnis, hatten sie doch in dem Glauben, der Staat würde seinen Bürgern in Not zur Seite stehen, immer brav ihre Steuern gezahlt. Erneut nahm sie mit ihren Ansprechpartnern bei der RCMP und im Außenministerium Kontakt auf und bat sie, die Suchmeldung zu verbreiten.

In der Umgebung von Interlaken – einem beliebten Touristenziel – fuhren sie tagelang auf schmalen Bergstraßen herum und suchten nach Punkten, wo Duncan möglicherweise die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren haben und in den Wald gestürzt sein könnte. Es war äußerst anstrengend – fahren, anhalten, in den Wald hinabschauen, weiterfahren ... Eines Abends in Bern rief Lynda ihre Eltern in Kanada an, um sie vom Stand der Dinge zu unterrichten. Ihr Vater hatte gerade mit einem Experten für Borreliose gesprochen, der erklärt hatte, dass die Krankheit in seltenen Fällen zu Persönlichkeitsveränderungen und sogar Amnesie führen könne. Hatte Duncan als Nachwirkung der Infektion, die er sich in jenem Frühjahr zugezogen hatte, die Orientierung verloren?

Eine weitere Woche lang durchkämmten sie die Alpen, hielten bei Polizeiwachen, Touristen-Informationen, Eishockeyvereinen, Einkehrmöglichkeiten und Grenzübergängen, hängten ihre Plakate auf und erzählten immer wieder ihre Geschichte. Aufgrund der Sprachbarriere fiel es ihnen oft ungeheuer schwer, ihr Anliegen deutlich zu machen, was einem englischen Muttersprachler gegenüber kein Problem gewesen wäre. Viele Beamte verstanden ihre Geschichte nicht; andere begriffen sie zwar, konnten aber nicht verstehen, warum das kanadische Außenministerium nicht die Suche leitete.

»In Ihren Vertretungen gibt es doch Leute, die Italienisch und Deutsch sprechen«, sagte ein Polizist in der italienischen Stadt Lecco. »Die hätten es doch wesentlich leichter.«

»Die haben aber keine Zeit, weil sie ständig zu Cocktailpartys gehen müssen«, erwiderte Lynda.

Auf ihren langen Touren erinnerten sie sich an ihre erste Intuition, dass Duncan in der Gegend um Innsbruck etwas zugestoßen sein könnte. Da ihm nur der 9. und 10. August geblieben waren, um sich etwas Interessantes anzusehen, hätte er bestimmt nicht viel Zeit auf die Fahrt von Nürnberg und zurück verwenden wollen. Wenn es einen schnell erreichbaren, attraktiven Ort gegeben hätte, wäre er dort geblieben und hätte ihn sich angesehen.

Die Gegend um Innsbruck, ein spektakulärer Landstrich, der bereits zweimal Gastgeber der Olympischen Winterspiele gewesen war, müsste genau nach Duncans Geschmack gewesen sein. Zudem kam man auf dem Weg nach Italien dort durch. Nachdem er um die Mittagszeit Füssen verlassen hatte, müsste er um etwa 14 Uhr in der Stadt eingetroffen sein. Bestimmt hatte er angehalten, um sich ein wenig umzusehen und ein paar Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Wahrscheinlich hatte er dort auch zu Abend gegessen und die Nacht verbracht.

3. KAPITEL

»WIMMELN SIE DIESE LEUTE BLOSS AB«

Am 14. September fuhren die MacPhersons zur Innsbrucker Polizeizentrale, wo sie sich mit einem Beamten namens Heinz Dorn trafen, der den Vermisstenbericht ebenfalls noch nicht erhalten hatte. Es war zum Verzweifeln. Sie erzählten ihm, es sei sehr wichtig, dass die Tiroler Polizei von dem Fall erfahre, da Duncan sich um die Zeit seines Verschwindens herum mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dort aufgehalten habe. Sie glaubten, er habe die Nacht des 8. August in Innsbruck verbracht, und wollten die Gästebücher der dortigen Hotels durchsehen. Außerdem wollten sie über die Presse eine Mitteilung herausgeben.

Dorn machte ihnen nicht gerade Mut. Er sagte: »Um sämtliche Hotelgästebücher in Innsbruck zu überprüfen, bräuchte man eine ganze Armee.« Außerdem sei Duncan erwachsen und habe somit ein Recht auf Datenschutz. Es sei also unrechtmäßig, eine ihn betreffende Nachricht zu veröffentlichen.

Beim Innsbrucker Eishockeyverein hatten sie mehr Glück. Der Cheftrainer Ossi Praxmarer hörte sich ihre Geschichte aufmerksam an und überredete dann den Mannschaftssponsor Gösser Bier, Sendezeit beim ORF zu kaufen, um in der abendlichen Nachrichtensendung Tirol heute eine Mitteilung ausstrahlen zu können.

Am 19. September fuhren sie zum kanadischen Konsulat in München. Da sie befürchteten, das Bild vom »großen, starken Jungen, dem schon nichts passieren wird«, bestimme die Haltung der bayrischen Polizei zum Fall Duncan, hofften sie, das Konsulat könne sie auf andere Weise vom Ernst der Situation überzeugen. Die Dame am Empfang war eine besorgte Engländerin namens Felicity Lamb, die von dem Fall bereits gehört hatte. Konsul General George Blackstock war nicht zu sprechen, also fragte Felicity den in der Hierarchie Nächstniederen, einen Handelsbeauftragten namens Nick, ob er sich mit ihnen treffen wolle.

»Es ist mir egal, wie Sie es anstellen, aber wimmeln Sie diese Leute bloß ab«, sagte er.

Felicity war schockiert von dieser Reaktion und überrascht, dass keiner der Konsularbeamten wusste, wie er den MacPhersons helfen sollte. Ungeachtet Nicks Anweisung, sie »loszuwerden«, arrangierte sie ein Gespräch mit zwei anderen Konsularbeamten, bei dem sich allerdings rasch herausstellte, dass auch sie keine Ahnung hatten, was zu tun war. Einer der beiden sagte gar nichts; der andere stellte gelegentlich Fragen wie »Glauben Sie, dass Duncan eine Landkarte dabei hatte?«.

Am nächsten Morgen versuchten die MacPhersons erneut, einen Termin bei Konsul General Blackstock zu bekommen, aber er war ganz offensichtlich nicht in der Lage, Felicity mitzuteilen, wann er Zeit für sie hatte. Mittag kam, und die Zeit verging, und gerade, als sie endgültig aufgeben wollten, tauchte er auf. Er war sehr freundlich und beflissen, in scharfem Kontrast zu der Tatsache, dass er sie gerade mehrere Stunden lang hatte warten lassen. Er bat sie zu Kaffee und Keksen in sein Büro und sagte, die Sache mit Duncan tue ihm leid. Anschließend versuchte er, sie in ein belangloses Gespräch zu verwickeln. Lynda fand es ein wenig seltsam, dass er so viel Zeit zum Plaudern hatte. Dann aber überraschte er sie wirklich.

»Ich würde Sie heute Abend gerne zu mir zum Essen einladen«, sagte er. Sie lehnte mit der Entschuldigung ab, dass sie bereits eine Einladung von Felicity angenommen hätten.

»Ich bestehe aber darauf«, erwiderte er. »Ich habe meiner Haushälterin bereits gesagt, dass ich zum Abendessen Gäste erwarte.«

»Wir möchten uns wirklich nicht aufdrängen«, antwortete sie. »Wir sind noch nicht dazugekommen, unsere Wäsche zu waschen, also können wir uns zum Abendessen nicht umziehen.«

»Das ist überhaupt kein Problem«, sagte er. »Meine Haushälterin wird sich um Ihre Wäsche kümmern.«

Ganz offensichtlich wollte Blackstock ein Nein nicht akzeptieren.

Sie folgten also seinem Wagen, der von einem Chauffeur gelenkt wurde. Als sie auf das Grundstück seiner stattlichen Villa fuhren, drängte sich ihnen die Frage auf, was er eigentlich für die kanadischen Interessen in München tat, dass es ein solch komfortables Leben auf Kosten des Steuerzahlers rechtfertigte. Kurz bevor das Abendessen serviert wurde, sagte die Haushälterin, er werde am Telefon verlangt. Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Als er einige Minuten später zurückkehrte, sagte er: »Das Auto Ihres Sohnes ist am Ende eines abgelegenen Tals in den Alpen gefunden worden.«

Aus Lynda MacPhersons Tagebuch vom 21. September 1989:

Er [Blackstock] teilte uns mit, das Auto sei auf dem Parkplatz des Stubaier Gletschers gefunden worden, etwa 40 km südwestlich von Innsbruck. Wir waren natürlich emotional bewegt – einerseits erleichtert, dass wir endlich etwas wussten, andererseits aber auch angespannt. Die Nachricht von seinem Auto ließ uns daran denken, was wir wohl finden würden. Auf jeden Fall sagten wir Blackstock, dass wir noch am selben Abend dorthin fahren wollten. Er fand, wir sollten bis zum nächsten Morgen warten. Es war uns aber egal, was er fand – wir gingen hin. Wir aßen zu Abend (die Haushälterin hatte alles fertig, und wir wollten sie nicht verletzen, also aßen wir & gingen dann). Blackstock sagte, er müsse uns begleiten – wir erwiderten, er müsse nicht mit uns kommen; er bestand jedoch darauf. Ich rief Mama & Papa an – sie hatten die Neuigkeit bereits im Radio gehört –, es scheint, als hätten sie rund 4 Stunden vor uns Bescheid gewusst. Tatsächlich sieht es so aus, als hätten sie die Nachrichten etwa zu dem Zeitpunkt gehört, als uns Blackstock zum Kaffee in sein Büro einlud! Wusste er etwa schon, dass man das Auto gefunden hatte? Versuchte er vielleicht, seinen Arsch zu retten, weil er uns 2 Tage lang im Konsulat hatte warten lassen? Das glauben wir. Ich meine, schließlich geht es doch bei der ganzen Diplomatie hauptsächlich nur darum – tue nichts, aber achte darauf, dass du gut dastehst? Ich nehme an, er schickte eine Notiz ans Außenministerium, wie nett er sich doch um die MacPhersons gekümmert hat ... Wir aßen hastig, weil wir so bald wie möglich aufbrechen wollten. Blackstock rotierte und suchte seinen Kram zusammen – er geriet regelrecht in Panik, weil er seinen Schlafanzug nicht finden konnte – und machte die Haushälterin wahnsinnig. Um etwa 21 Uhr war er endlich so weit ... Ich weiß nicht, ob ich noch wusste, was ich tat – ich war wie benebelt. Ich wollte nur noch aufbrechen, ohne weitere Verzögerungen. Alles, was wir im Sinn hatten, war, dorthin zu fahren. Wir beteten, dass unser Albtraum vorbei wäre und dass all das irgendwie nicht wirklich wäre, nur ein böser Traum, dass es für alles eine Erklärung gäbe und – so idiotisch das auch war – ich glaube, wir hofften, Duncan würde gefunden & dass es ihm gut ginge. Ich glaube, wir dachten auch an die andere Seite der Medaille – was, wenn wir ihn fänden und es ihm nicht gut ginge?

4. KAPITEL

DER ROTE OPEL

Am nächsten Morgen empfanden sie es als grausame Ironie, als sie südlich von Innsbruck die Autobahn verließen und an der ersten Polizeistation vorbeifuhren, die sie nach ihrer Ankunft in Österreich aufgesucht hatten – sie lag nur 30 Minuten von dem Ort entfernt, an dem Duncans Auto offensichtlich die ganze Zeit über gestanden hatte. Seitdem waren sie drei Wochen lang kreuz und quer durch die Alpen gefahren und hatten dabei Tausende von Kilometern zurückgelegt.

Kurz vor der Autobahnabfahrt bemerkten sie ein großes Schild, auf dem der Stubaier Gletscher angezeigt war – ein Skigebiet, für welches sie in der Touristeninformation in Innsbruck Werbematerialien gesehen hatten. Das Stubaital war alles andere als ein »abgelegenes Tal in den Alpen«, wie Blackstock es beschrieben hatte, sondern ein riesiges Naherholungsgebiet südwestlich der Stadt. Als sie in das Tal hineinfuhren, begriffen sie auch, warum: Die dortige Berglandschaft mit ihrem Flickenteppich aus Wäldern und Wiesen bot einen Anblick wie aus dem Bilderbuch – und war im Sommer bestimmt ein Wanderparadies.

Da Duncans Auto außerhalb der Stadtgrenze Innsbrucks gefunden worden war, wurde der Fall der Gendarmerie übertragen. Gruppeninspektor Konrad Klotz übernahm Duncans Fall; Bezirksinspektor Franz Brecher – durch seine Ausbildung als Bergführer ein sogenannter »Gebirgsgendarm« – erledigte die Kleinarbeit der Untersuchung. Auf der Polizeiwache in der Stadt Neustift, der größten Gemeinde im Tal, gingen die beiden Beamten die bisherigen Erkenntnisse nochmals durch.

Am Abend des 20. September sah ein Angestellter der Betreibergesellschaft des Stubaier Gletschers die Nachrichtensendung Tirol heute und stellte fest, dass er das vermisste Auto in der Nähe der Gondelstation geparkt gesehen hatte. Er meldete dies der Gendarmerie in Neustift, die einige Beamte zur Untersuchung aussandte. Das Fenster auf der Fahrerseite stand einen Spalt weit offen, sodass es ihnen gelang, die Tür zu öffnen. Im Handschuhfach fanden sie Duncans Pass, seine Reiseschecks und seine Movado-Uhr. Auf dem Rücksitz lagen sein Rucksack, seine Schlittschuhe und eine Tüte mit fauligem Obst. Sie nahmen den Pass an sich, verschlossen den Wagen für die Nacht und verständigten sämtliche umliegenden Berghütten im Stubaital, sie sollten ihre Gästebücher auf Duncan hin überprüfen. Am nächsten Tag, dem 21. September, zeigten die Beamten sein Foto in sämtlichen Hotels und Hütten in der Gegend herum. Niemand erkannte ihn wieder, auch war sein Name nirgendwo eingetragen.

Es schien, als wäre Duncan vom Parkplatz aus zu einer Wanderung aufgebrochen, hätte sich dann völlig verlaufen oder wäre verunglückt. Vielleicht war er abgestürzt; vielleicht war er weit aufgestiegen, von einem plötzlichen Sturm überrascht worden und an Unterkühlung gestorben. Solche Unfälle sind in den Alpen nichts Ungewöhnliches, weshalb die Ortsansässigen aufmerksam werden, wenn ein Wagen mehr als ein paar Tage lang an derselben Stelle steht.

Wie um alles in der Welt, wollten Lynda und Bob wissen, konnte Duncans Auto dann mehrere Wochen lang auf dem Parkplatz eines Naherholungsgebietes stehen, ohne dass es jemand gemeldet hatte? Die Beamten auf der Wache in Schönberg hatten ihnen versichert, dass verlassene Autos in der Gegend grundsätzlich gemeldet würden. Inspektor Brecher sagte, Duncans Auto sei deshalb niemandem aufgefallen, weil es auf einem riesigen Parkplatz gestanden habe. Im weiteren Verlauf des Gesprächs äußerte er die Vermutung, dass sich niemand große Gedanken darüber gemacht habe, weil viele Besucher ihre Autos stehen ließen, wenn sie zu langen Wanderungen aufbrächen.

Als es Zeit wurde, Duncans Habseligkeiten zu untersuchen, waren Lynda und Bob verblüfft, diese völlig durcheinander auf dem Rücksitz eines hinter der Wache geparkten Polizeiautos vorzufinden. Hätte man die Sachen in seinem Wagen gelassen, wie er sie dort abgelegt hatte, hätten sich vielleicht Aufschlüsse über seine weiteren Pläne ergeben können. Lynda fragte die Polizei, ob sie den Wagen fotografiert und nach Fingerabdrücken abgesucht hätten, als sie ihn gefunden hatten, und Klotz sagte Nein.

»Warum nicht?«, fragte Bob.

»Wozu?«, sagte Klotz.

»Um herauszufinden, was mit unserem Sohn geschehen ist«, entgegnete Bob. »Vielleicht ist noch jemand anderes im Auto gewesen.« Klotz musste zugeben, dass diese Möglichkeit bestand, und erklärte sich bereit, den Wagen auf Fingerabdrücke zu untersuchen.

Dass Duncan seinen Rucksack und eine Tüte Obst im Auto zurückgelassen hatte, deutete darauf hin, dass er keine lange Wanderung hatte unternehmen wollen, obwohl es vorstellbar war, dass er es sich nachträglich noch einmal anders überlegt hatte. Ein anderer möglicher Hinweis war ein verschlossener Brief, der an seine Freundin Tara adressiert war.

»Bitte öffnen und lesen Sie ihn«, sagte Klotz. Er trug das Datum vom 7. August, jenem Tag, an dem Duncan Nürnberg verlassen hatte. In dem Brief sagte er nichts darüber, was er vor seiner Abreise nach Schottland mit seiner Zeit anzufangen gedenke. Er wolle planmäßig am 12. August nach Glasgow fliegen und dachte, Tara könne um den 19. August zu ihm nach Dundee kommen. Er sei sich jedoch nicht ganz sicher, ob Dixon eine feste Vorstellung für die Mannschaft habe; der Deal scheine unsicher. In einer Nebenbemerkung berichtete er, er habe sich in Nürnberg ein Paar coole Mephisto-Schuhe gekauft.

Diese Schuhe befanden sich nicht unter seinen Sachen, sodass sich die Frage stellte, ob es Wander- oder Kletterschuhe waren. Lynda rief George Pesut an, Duncans Freund in Nürnberg, und fragte ihn danach. Dieser sagte, das seien eine besondere Art Wanderschuhe, bestens geeignet für lange Wanderungen auf befestigten Wegen, aber nicht für Bergtouren.

Auf einer Audiokassette, die man im Wagen fand, klebte der Sticker eines Musikladens in Innsbruck. Wie sie bald erfahren sollten, erkannte die Verkäuferin Duncan auf einem Foto. Irgendwann vor dem 15. August sei er in Begleitung einer anderen Person in das Geschäft gekommen – ein Mann mit dunklem Haar, der eine Klubjacke aus Nylon getragen habe.

Von Neustift aus fuhren die MacPhersons zum hochgelegenen südwestlichen Ende des Stubaitals. Die Straße führte durch eine idyllische, ländliche Gegend mit Wiesen und Getreidefeldern, die in Baumbestand übergingen, wo die Hänge der umliegenden Berge zu steil für den Ackerbau wurden. Der letzte Straßenabschnitt, auf dem sich das Tal verengte, wand sich durch dichte Wälder, bis sie schließlich eine große Lichtung mit leeren Parkplätzen erreichten. Einem Polizeifahrzeug folgend, fuhren sie an den Parkplätzen und dann an zwei Hotels in der Nähe der Gondelstation vorbei.

Zwischen den Hotels und dem Eingang zur Station erblickten sie, am Straßenrand abgestellt, wonach sie seit drei Wochen gesucht hatten. Sie konnten ihren Augen kaum trauen. Es war ein unwirklicher Anblick, wie ein nackter Mann beim Gottesdienst oder ein Schwein, das am Esstisch sitzt. Duncans roter Opel stand ganz allein da – das hintere Nummernschild für jedermann gut sichtbar, der zur Gondelstation ging.

»Es kann nicht sein, dass dieses Auto wochenlang niemandem aufgefallen ist«, sagte Bob, als er daneben hielt. Er konnte seinen Zorn nur mit Mühe unterdrücken, als er die Beamten daran erinnerte, dass er das Auto bereits am 1. September bei der Polizeiwache in Schönberg als vermisst gemeldet und dabei seine Sorge zum Ausdruck gebracht hatte, dass Duncan in dem Gebiet etwas zugestoßen sein könnte. Blackstock redete auf Deutsch mit Klotz und erklärte dann, dass die Direktion der Tiroler Gendarmerie diese Information offenbar am 6. September aus dem Computersystem entfernt habe.

»Warum?«, fragte Bob entgeistert. Abermals sprach Blackstock mit Klotz und wandte sich dann wieder an Bob.

Duncans roter Opel Corsa am 22. September 1989

»Weil in der Sache keine Ergebnisse vorlagen«, sagte er. Eine weitere Diskussion schloss sich an. Während sie so dastanden, fiel Lynda auf, wie leicht sie durch die Autofenster sehen konnte. Duncans Rucksack, der auf dem Rücksitz gelegen war, bevor ihn die Polizei an sich genommen hatte, wäre also selbst bei einem schnellen Blick ins Wageninnere erkennbar gewesen – ein Anzeichen dafür, dass der Fahrer lediglich zu einem Tagesmarsch aufgebrochen war. Bob inspizierte das Auto. Es war mit dem Heck zur Straße geparkt, der Kühler zeigte zum Straßenrand. Dieser verlief entlang einer steil abfallenden Böschung, die mit jungem Gras bewachsen war. Eine keilförmige kahle Stelle direkt vor dem Wagen deutete darauf hin, dass jemand mit einer Sämaschine am Straßenrand entlanggefahren war, als keine anderen Autos hier parkten, und den im Weg stehenden Opel einfach umgangen hatte. Bob rechnete die Keimzeit mit ein und kam zu dem Ergebnis, dass das Auto mindestens seit drei Wochen dort gestanden haben müsse.