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Ekel gehört neben Ärger und Angst zu den negativen Basisemotionen und ist durch intensive unangenehme Gefühle und Körperempfindungen geprägt. Schon die einmalige Konfrontation mit einer stark ekelauslösenden Situation kann lebenslange Abneigung und Vermeidung auslösen. Ekel ist eine bisher im therapeutischen Kontext vernachlässigte und oft übersehene Emotion. Das Erleben von Ekel spielt insbesondere bei Essstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, spezifischen Phobien und Zwangsstörungen eine entscheidende Rolle. Wird die Emotion Ekel bei der Behandlung dieser Störungen nicht oder nur mangelhaft berücksichtigt, kann dies negative Auswirkungen auf den Therapieverlauf haben. Der Band nimmt die Emotion Ekel aus grundlagen- und anwendungsorientierter Perspektive in den Blick. Er vermittelt grundlegendes Wissen über die kognitiven, verhaltensbezogenen, physiologischen und neuronalen Erlebensqualitäten dieser Emotion sowie ihrer Funktionen für Erleben und Verhalten. Weiterhin werden diagnostische Instrumente und Strategien zur Erfassung von Ekel und assoziierten Kontaminationsgefühlen vorgestellt. Anhand von Fallbeispielen werden für verschiedene psychische Störungen kognitiv-verhaltenstherapeutische Strategien bei starkem Ekelerleben beschrieben. So können unter anderem verhaltensnahe Techniken, beispielsweise Expositionsübungen zu Ekel, kognitive Techniken, wie z.B. kognitives Umstrukturieren, sowie imaginative Techniken, wie z.B. imaginatives Umschreiben, eingesetzt werden, um pathologisches Ekelerleben zu verändern. Abschließend wird die wissenschaftliche Evidenz für die vorgestellten emotionsspezifischen Behandlungsansätze zusammengefasst.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Jakob Fink-Lamotte
Cornelia Exner
Ekelbezogene Störungen
Fortschritte der Psychotherapie
Band 95
Ekelbezogene Störungen
Prof. Dr. Jakob Fink-Lamotte, Prof. Dr. Cornelia Exner
Die Reihe wird herausgegeben von:
Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier
Die Reihe wurde begründet von:
Dietmar Schulte, Klaus Grawe, Kurt Hahlweg, Dieter Vaitl
Prof. Dr. Jakob Fink-Lamotte, geb. 1988. 2008 – 2014 Studium der Psychologie in Tübingen und Amherst, USA. 2014 – 2017 Doktorand in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Leipzig. 2017 – 2018 Psychologe am Helios Park-Klinikum Leipzig. 2018 Promotion. 2018 – 2023 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Leipzig. 2019 Approbation zum Psychologischen Psychotherapeuten (Verhaltenstherapie). Seit 2023 Juniorprofessor für Klinische Psychologie an der Universität Potsdam.
Prof. Dr. Cornelia Exner, geb. 1970. 1990 – 1996 Studium der Psychologie und der Neurowissenschaften in Leipzig, London und Göttingen. 1996 – 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schwerpunkt Psychopathologie und Neuropsychologie der Psychiatrischen Universitätsklinik Göttingen. 2000 Promotion. 2002 Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie). 2004 Zertifizierung als Klinische Neuropsychologin. 2001 – 2009 wissenschaftliche Assistentin am Fachbereich Psychologie der Universität Marburg. 2007 Habilitation. 2009 – 2011 Heisenberg-Stipendiatin. Seit 2011 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Leipzig.
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Satz: Sina-Franziska Mollenhauer, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
Format: EPUB
1. Auflage 2025
© 2025 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen
(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3175-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3175-9)
ISBN 978-3-8017-3175-5
https://doi.org/10.1026/03175-000
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Vorwort
1 Beschreibung der Emotion Ekel
1.1 Kurzer historischer Überblick
1.2 Emotionsbezogene Theorie
1.3 Ekel: Ausdruck, Formen und Funktionen
1.3.1 Definitionen
1.3.2 Funktionalität
1.3.3 Ebenen des Ekelerlebens
1.3.4 Abgrenzung von Ekel
1.4 Spezifische ekeltheoretische Aspekte
1.4.1 Akquisition von Ekel
1.4.2 Reizbezogene Aspekte
1.4.3 Kognitionstheoretische Aspekte
1.4.4 Entwicklungspsychologische Aspekte
1.4.5 Psychodynamische Modellbildung zum Ekel
2 Ekelbezogene Störungen
2.1 Ekel als Mechanismus von Psychopathologien
2.2 Ekel und Zwangsstörungen
2.3 Ekel und Zwangsspektrumsstörungen
2.4 Ekel und spezifische Phobien
2.5 Ekel und posttraumatische Belastungsstörungen
2.6 Ekel und Essstörungen
2.7 Ekel und andere Erkrankungen
2.8 Psychische Aspekte von Übelkeit
3 Diagnostik und Indikation
3.1 Diagnostik des Ekels auf psychophysiologischer Ebene
3.2 Identifikation von ekelspezifischen Kognitionen und Verhaltenskonsequenzen
3.3 Fragebögen zur Selbstbeurteilung des Ekelerlebens
3.4 Differenzialdiagnostische Verfahren für ekelbezogene Störungen
3.5 Verlaufsdiagnostik der Rigidität des Ekelerlebens (Ansteckungskettenaufgabe)
4 Behandlung
4.1 Indikation psychologischer Behandlungsverfahren
4.2 Darstellung psychologischer Behandlungsverfahren
4.2.1 Expositionsverfahren
4.2.2 Kognitive Techniken
4.2.3 Imaginative Techniken
4.2.4 Kombinationstechnik – Kognitives Restrukturieren und Imaginatives Modifizieren (CRIM)
4.2.5 Veränderung von Selbstekel: Mitgefühlsbasierte Techniken
4.2.6 Integrative Behandlungsansätze
4.2.7 Psychodynamische Behandlung
4.3 Effektivität und Prognose psychologischer Ekelbehandlung
4.4 Perspektiven
5 Fallbeispiel
6 Weiterführende Literatur
7 Literatur
8 Kompetenzziele und Lernkontrollfragen
9 Anhang
Informationsmaterial CRIM – Schutzmechanismen der Haut
Karten
Besonderheiten bei der Exposition
Anleitung zum Vorgehen bei der Ansteckungskettenaufgabe
Hinweise zu den Karten
Ekel gehört neben Ärger und Angst zu den negativen Basisemotionen und ist durch intensive unangenehme Gefühle und Körperempfindungen geprägt. Schon die einmalige Konfrontation mit einer stark ekelauslösenden Situation kann lebenslange Abneigung und Vermeidung auslösen. Bei verschiedenen psychischen Störungen prägt Ekel das störende Erleben und Verhalten und verhindert als aufrechterhaltender Faktor die Entwicklung funktionaler Verhaltensstrategien.
Interessanterweise finden sich in den letzten Jahren immer mehr Publikationen mit direktem Bezug zu Ekel im klinischen Kontext, allerdings handelt es sich dabei vorrangig um klinische Grundlagenforschung. Dies ist insofern bedauerlich, da die Nicht-Berücksichtigung von Ekel im therapeutischen Kontext nachweislich zu schlechteren Therapieverläufen führt. Aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Buches darauf, die grundlagen- und anwendungsorientierte Forschung zu Ekel zusammenzuführen und eine explizite ekel- und kontaminationsspezifische Diagnostik und Therapie vorzustellen.
Inzwischen gibt es eine wachsende Anzahl von Studien, die den therapeutischen Nutzen der direkten Veränderung von Ekel unterstreichen. Dabei liegt der Fokus auf empirisch abgesicherten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Strategien. Im vorliegenden Buch werden neben einer ekelspezifischen Expositionsbehandlung, kognitive und imaginative Strategien transdiagnostisch besprochen und praxisnah vorgestellt. Die Auswahl der dargestellten Behandlungstechniken erfolgte auf empirischer Basis. Ergänzend wird auch auf die psychodynamische und erlebnisorientierte Behandlung von Ekel eingegangen, wobei den interessierten Leser:innen dazu vertiefende Literatur empfohlen wird.
Potsdam und Leipzig, Oktober 2024
Jakob Fink-Lamotte
und Cornelia Exner
Etymologisch leitet sich „Ekel“ vom deutschen Begriff „Eckel“ ab, der aus dem 15. Jahrhundert stammt und in seiner ursprünglichen Bedeutung „Reiz zum Erbrechen“ bedeutete. Die theoretische Begriffsbildung geht auf Darwin (1965/1872) zurück, wobei Darwin Ekel beschreibt als
[…] eine Empfindung, die von ihrer Natur her eindeutiger ist und sich auf etwas Abstoßendes bezieht, in erster Linie in Bezug auf den Geschmackssinn, wie er tatsächlich wahrgenommen oder sich lebhaft vorgestellt wird, und in zweiter Linie auf alles, was ein ähnliches Gefühl durch den Geruchs-, Tast- und sogar den Sehsinn hervorruft (eigene Übersetzung, S. 253).
Ganz in diesem Sinne lässt sich das englische „disgust“ und das französische „dégoût“ auch als „schlechter Geschmack“ übersetzen. Nach den ersten Überlegungen zum Ekel verliert die Forschung diese Emotion etwas aus dem Blick und kommt erst im Rahmen psychodynamischer Überlegungen Anfang des 20. Jahrhunderts wieder darauf zurück. Sigmund Freud beschreibt Ekel als Antagonist unbewusster Erregungen, wenn ein strenges Über-Ich mit unakzeptablen sexuellen Wünschen konfrontiert ist oder wenn sexuelle Traumatisierungen vorliegen. In diesem Zusammenhang wird die Emotion auch zum ersten Mal als auslösender und aufrechterhaltender Faktor von psychischen Erkrankungen gesehen und im Rahmen der Therapien thematisiert. Im Behaviorismus der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts um Abraham Maslow wird Ekel im Zusammenhang mit Konditionierungsprozessen bei Tieren (Hunden) beschrieben. Die Differenzierung von spezifischen Ekelauslösern, wie (menschlichen) Körperausscheidungen, wird dann vom amerikanischen Psychiater Angyal (1941) eingeführt. Die Breite der ekelauslösenden Reize beschreibt erstmalig Izard (1977), die ein dimensionales Bild von konkret-materiellen Reizen, wie Kot, bis zu immateriellen-psychischen Reizen, wie gesellschaftliches Fehlverhalten, zeichnet. Ekman und Friesen (1971) zeigen im gleichen Zeitraum, dass Ekel universell und kulturübergreifend erlebt und mimisch ausgedrückt wird. Spätere Forscher stellen dann aber auch fest, dass Ekelerleben in einem hohen Maße durch individuell unterschiedliche Auslösereize geweckt wird (Scherer & Wallbott, 1994).
Nach Gross und Thompson (2007) lassen sich Emotionen den affektiven Prozessen zuordnen, zu denen auch motivationale Impulse (z. B. Scham, Schuld), Stimmungen (z. B. Euphorie) und Stressreaktionen gehören. Im Vergleich zu motivationalen Impulsen, die spezifische inhärente Ziele haben, sind die Ziele der Emotionen eher vage erkennbar. Im Vergleich zu Stimmungen, die meist mit einer etwas diffusen Ursache und einer moderaten Intensität einhergehen, werden Emotionen kürzer sowie intensiver erlebt und haben meist eine klare Ursache. Stress bezieht sich eher auf negative affektive Zustände, wobei mangelnde Ressourcen zur Bewältigung wahrgenommen werden, während Emotionen sowohl auf negative als auch auf positive Zustände bezogen werden können.
Gross und Thompson (2007) führen drei Faktoren an, die eine Emotion definieren (in Klammern jeweils ein Beispiel zur Veranschaulichung):
Zur Entstehung einer Emotion muss die Situation für das Individuum als bedeutsam eingeschätzt werden (Beispiel: „Ich wollte mir eigentlich gerade ein leckeres Essen machen, da habe ich die Maden im Obst entdeckt. Igitt!“).
Das emotionale Erleben wirkt sich auf das Verhalten, auf die Physiologie sowie auf das psychologische Empfinden aus (Beispiel: „Ich drehe mich weg, rümpfe die Nase und fühle starke Abscheu.“).
Die durch die Emotionen ausgelösten Veränderungen haben eine „imperative Qualität“. Damit ist gemeint, dass Emotionen in der Lage sind, andere Prozesse zu unterbrechen und das Bewusstsein voll zu erfassen (Beispiel: „Gerade noch hatte ich richtig Appetit auf das Essen, jetzt ist meine Gedanken- und Gefühlswelt nur noch voller Ekel.“).
Es wird angenommen, dass distinkte Emotionen universelle Eigenschaften besitzen und jede Emotionskategorie (z. B. Ekel) sich auf eine „Familie“ von Zuständen beziehen kann, die ein gemeinsames universelles Signal (z. B. Gesichtsverhalten), Physiologie, vorausgehende Ereignisse, subjektive Erfahrung und begleitende Gedanken und Erinnerungen teilen. Zu diesen distinkten Emotionen werden auch die Basisemotionen gezählt, zu denen nach der weit verbreiteten und rezipierten Beschreibung von Ekman (1992) Angst, Trauer, Ärger, Freude und auch Ekel zählen. Falls es Basisemotionen gibt, sollten Basisemotionen auch differenziell in physiologischen und bildgebenden Korrelaten sichtbar werden.
Nach der konstruktivistischen Theorie entstehen Emotionen, wenn Menschen den Sinneseindrücken aus Körper und Umwelt unter Verwendung ihres Wis|4|sens über frühere Erfahrungen einen Sinn geben. Die Theorie geht davon aus, dass Emotionen Ereignisse sind, die aus grundlegenderen, emotionsunspezifischen, psychologischen Funktionen hervorgehen und dementsprechend keine distinkten Entitäten sind. Die primäre psychologische Funktion der Emotion ist der „Kernaffekt“, womit das reine Erleben der Körperreaktionen gemeint ist. Dieser Kernaffekt erfährt in einem zweiten Schritt durch weitere psychologische Prozesse wie Ideen, Attributionen, und soziale Kontexte (meist automatisch und mühelos) eine Bedeutung. Auf neuropsychologischer Ebene wird dies durch den Prozess der „Kategorisierung“ beschrieben, wodurch Menschen sich auf bestimmte Merkmale in einem sensorischen Feld konzentrieren und andere ignorieren: „Etwas zu kategorisieren, bedeutet, ihm einen Sinn zu geben.“ (Lindquist et al., 2012, S. 124, eigene Übersetzung). Der Kernaffekt wird bedeutungsvoll, wenn eine Vorhersage darüber getroffen wird, was die zentralen affektiven Veränderungen im eigenen Körper oder die affektiven Hinweise bei einer anderen Person ausgelöst hat. Zusammengefasst bedeutet das, dass der Kernaffekt als Ausdruck von z. B. Ekel oder Angst kategorisiert wird (Barrett, 2006). Das folgende Beispiel stellt den Prozess nochmal beispielhaft dar:
Beispiel: Konstruktivistische Perspektive auf das Erleben von „Ekel“
Situation: Manfred sieht und riecht das Erbrochene seines Sohnes auf dem Boden.
Kernaffekt: Er hebt die Oberlippe an, zieht die Mundwinkel herunter, rümpft die Nase und verschließt die Augen. Er erlebt einen leichten Würgereiz.
Kategorisierung: Manfred erinnert sich (mehr oder weniger bewusst), dass es für den Zustand das Wort „Ekel“ gibt. Er erinnert sich an die letzten Male, als er Ekel erlebt hatte. Das war z. B. eine Situation, in der sein Brot an den Seiten verschimmelt war. Er wollte das nicht essen, weil er wusste, dass Essen mit Schimmel zu schweren Bauchkrämpfen führen kann. Er trifft die Vorhersage, dass er eine möglichst große Distanz zu dem Erbrochenen aufbauen sollte, in dem er das Erbrochene schnellstmöglich beseitigt.
Reaktion: Manfred säubert (angewidert) den Boden.
Nach den Vertreter:innen konstruktivistischer Emotionstheorien sind Emotionskategorien abstrakte Kategorien, die sozial konstruiert sind und vorrangig durch die Wörter zusammengehalten werden (Barrett, 2006). Wenn die konstruktivistische Theorie stimmt, sollten bei allen affektiven Kategorien (Ekel, Wut, Traurigkeit und Angst) die gleichen Gehirnareale aktiv sein.
In einer großangelegten metaanalytischen Untersuchung von Lindquist et al. (2012) fanden die Autor:innen heraus, dass in allen Fällen, in denen eine Hirn|5|region eine konsistente Zunahme der Aktivierung während des Auftretens einer bestimmten Emotionskategorie zeigte (z. B. die Amygdala bei Angst), diese Zunahme nicht spezifisch für die Kategorie war. Dies widerspricht der zentralen Annahme der distinkten Emotionstheorie. Auch zeigten die verschiedenen Studien, dass in emotionsstimulierenden Situationen eine konsistente Aktivierung von Hirnregionen vorlag, die mit der Konzeptualisierung, Sprache und exekutiver Aufmerksamkeitslenkung verbunden sind. Dies ist konsistent mit den Überlegungen, dass weitere psychologische Verarbeitungsprozesse dem Kernaffekt eine Bedeutung geben. Zusammenfassend ist dies ein ziemlich gewichtiges empirisches Argument für den konstruktivistischen Ansatz, auch wenn es hierzu noch viele ungeklärte Forschungsfragen gibt
Als Leser:in stellt sich natürlich die Frage, warum es ein Buch über ekelbezogene Störungen geben sollte, womit bereits im Titel die Annahme über eine distinkte Emotion getroffen wird. Wie gerade dargestellt, werden doch distinkte Emotionen durch neuere Forschung in Frage gestellt. Auch konstruktivistische Forscher:innen wie Lisa Feldmann Barrett gehen aber davon aus, dass es (gesellschaftlich konstruierte) Emotionskategorien wie Ekel gibt. Dementsprechend ist „Ekel“ weiterhin eine subjektive Realität, die im alltäglichen Erleben von vielen Menschen eine bedeutende Rolle spielt. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass starkes Ekelerleben bei verschiedenen psychischen Störungen ein wesentlicher störungsaufrechterhaltender Faktor und damit behandlungswürdig ist. Hierbei soll dieses Buch Unterstützung bieten.
