Elf Tage in Berlin - Håkan Nesser - E-Book

Elf Tage in Berlin E-Book

Håkan Nesser

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Beschreibung

Von einem, der auszog, sein Glück in Berlin zu finden.

Einen Nobelpreis wird er wohl nicht bekommen. Arne Murberg ist von schlichterem Gemüt. Nach einem Badeunfall in der Kindheit hat er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und komplexere Zusammenhänge zu erfassen. Aber Arne ist ein warmherziger, liebenswerter Mensch, der sich eine kindlich naive, offene Art bewahrt hat und voll Vertrauen auf das Leben blickt. Als sein Vater ihm auf dem Totenbett offenbart, dass seine Mutter nicht tot ist, wie Arne geglaubt hat, sondern in Berlin lebt, und ihm gleichzeitig den Auftrag gibt, sie dort aufzusuchen und ihr ein verschlossenes Kästchen zu übergeben, beginnt für ihn ein wundersames Abenteuer.

Mit äußerst rudimentären Deutschkenntnissen und einem Paar strapazierfähiger gelber Schuhe macht Arne sich auf die Reise – und gerät schon bald in Schwierigkeiten. Doch ihm zur Seite stehen zwei Menschen, die der Himmel höchstpersönlich geschickt zu haben scheint: ein etwas wirrer Professor und eine kluge junge Frau im Rollstuhl. Wird Arne seiner Mutter begegnen? Wird er sein Glück finden in Berlin?

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Zum Buch

Einen Nobelpreis wird er wohl nicht bekommen. Arne Murberg ist von schlichterem Gemüt. Nach einem Badeunfall in der Kindheit hat er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und komplexere Zusammenhänge zu erfassen. Aber Arne ist ein warmherziger, liebenswerter Mensch, der sich eine kindlich naive, offene Art bewahrt hat und voll Vertrauen auf das Leben blickt. Als sein Vater ihm auf dem Totenbett offenbart, dass seine Mutter nicht tot ist, wie Arne geglaubt hat, sondern in Berlin lebt, und ihm gleichzeitig den Auftrag gibt, sie dort aufzusuchen und ihr ein verschlossenes Kästchen zu übergeben, beginnt für ihn ein wundersames Abenteuer. Mit äußerst rudimentären Deutschkenntnissen und guten Mutes macht Arne sich auf die Reise – und gerät schon bald in Schwierigkeiten. Doch ihm zur Seite stehen zwei Menschen, die der Himmel höchstpersönlich geschickt zu haben scheint: ein etwas wirrer Professor und eine kluge junge Frau im Rollstuhl. Wird Arne seiner Mutter begegnen? Wird er sein Glück finden in Berlin?

Zum Autor

HÅKAN NESSER, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.

Håkan Nesser

Elf Tage in Berlin

Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »ELVA DAGAR I BERLIN« bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm

1. Auflage

Copyright © 2015 Håkan Nesser

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Zitat auf Seite 288: FRITIOF UND CARMENCITA.

Musik und Text: Evert Taube © Körlings Förlag AB.

Printed with permission from Gehrmans Musikforlag AB.

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Molesko Studio/Shutterstock

Autorenfoto: © Cato Lein

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-17648-8

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Für Elke

Vorbemerkung

Gewisse Details in der Fasanenstraße, der Knobelsdorffstraße und der Kyffhäuserstraße entsprechen nicht der Wirklichkeit. Sie entspringen der freien Fantasie des Autors; wenn man es recht bedenkt, gilt dies für das gesamte hier vorliegende Buch.

duva/dufva, -an, -or, Taube -n f.

Wörterbuch Schwedisch–Deutsch

»Eine Botschaft habe ich nicht. Aber ich möchte für Toleranz gegenüber dem menschlichen Wahnsinn werben.«

Astrid Lindgren

Vorspiel 1

1

Nach seinem sechzigsten Geburtstag wurde Arne Murbergs Vater schwermütig, und fünf Jahre später starb er.

Dies geschah im November, und es hatte von morgens bis abends geregnet. Arne und sein Onkel Lennart waren die letzten anderthalb Tage nicht von der Seite des Sterbenden gewichen, aber in jenem einmaligen Augenblick, in dem die Grenze überschritten wurde, lag Arne auf einer abgewetzten Kunstlederpritsche im Korridor und machte ein Nickerchen. Es war gegen elf Uhr abends, Onkel Lennart rüttelte ihn an der Schulter und erklärte, es sei vorbei.

»Er starb im Schlaf, ganz still und leise, ich habe seine Hand gehalten.«

Arne rieb sich die Augen und überlegte, ob er »ausgezeichnet« oder sogar »super« sagen sollte, beschloss jedoch zu schweigen. Woher sollte er das wissen, sein Vater war zum ersten Mal gestorben, und er empfand nur eins, eine große Leere. Eventuell auch eine Art einsames und verlassenes Kitzeln, das ihm den Hals zuschnürte. Beinahe so wie damals, als Sack-Peppe versucht hatte, ihn mit einem Schal zu erwürgen.

»Der Krebs hat ihn am Ende besiegt«, fuhr Onkel Lennart fort. »Jetzt muss Torsten nicht mehr kämpfen. Für ihn ist es besser so. Und es war schön, dass er dir noch das von deiner Mutter sagen konnte.«

»Ja, ja, genau«, erwiderte Arne und setzte sich auf seiner Pritsche auf. Als er sich aufrichtete, musste er sauer aufstoßen und dachte, dass dies sicher an den drei Marzipanteilchen lag, die er vor dem Einschlafen zum Kaffee verspeist hatte.

»Möchtest du zu ihm gehen und ihn noch einmal sehen? Das gehört sich irgendwie so.«

»Ja, ja, genau«, wiederholte Arne, woraufhin sie gemeinsam in Zimmer acht gingen, in dem Torsten Murberg die letzten Wochen seines Lebens verbracht hatte.

Und die kitzelnde Leere erschien ihm noch trostloser und noch trauriger, vielleicht auch, weil der Regen sowohl auf das Fensterblech als auch auf diverse Wellblechdächer draußen in der Welt trommelte. Vater hätte nicht gewollt, dass ich hier stehe und flenne, dachte Arne, und deshalb biss er sich in die Wange und kämpfte dagegen an.

Das mit seiner Mutter kam erneut zur Sprache, als Onkel Lennart und er am Vormittag des nächsten Tages in der Teeküche saßen und Kaffee tranken. Vorher hatten sie jedoch ein Schild in die Ladentür gehängt – WEGEN EINES TRAUERFALLS IN DER FAMILIE GESCHLOSSEN. Onkel Lennart hatte den Text in Druckbuchstaben geschrieben, blaue Buchstaben auf gelbem Grund, da sie weder schwarz noch weiß gefunden hatten.

»Tja, deine Mutter«, setzte er an. »Sie war nun einmal, wie sie war und wie sie vermutlich immer noch ist. Und für jemanden wie Torsten war sie natürlich viel zu schön.«

Arne nickte und dachte, dass er das verstand. Es gab ein Bild von seiner Mutter Violetta, hinter Glas und eingerahmt und an dem ihm gebührenden Platz auf der Familienkommode in der guten Stube. Zwischen dem Reiher aus Teakholz, den er etwa ein Jahr vor seinem Unglück im Werkunterricht geschnitzt hatte, und einem anderen Foto: dem von Großvater Albin und Großmutter Helga. Sie waren lange vor Arnes Geburt gestorben, worüber er insgeheim ganz froh war, denn sie sahen so griesgrämig und hinterlistig aus, dass sie niemandem Freude bereitet haben konnten.

Auf der Porträtaufnahme sah man lediglich die obere Hälfte seiner Mutter, aber Arne hatte sich immer gesagt, dass es die schönere Hälfte war. Dunkle, lockige Haare hatte sie, die auf ihre Schultern fielen, einen breiten Mund, der lachte und eine schöne Reihe glänzend weißer Zähne freigab, sowie eine Art Funkeln in den Augen. Doch selbst Arne begriff, dass sie eine schöne Frau gewesen war. Und vielleicht noch war. Solange er zurückdenken konnte, hatte es geheißen, sie sei tot, aber nun lebte sie ganz offensichtlich. Weder Vater Torsten noch Onkel Lennart hatten gerne über sie gesprochen, und Tante Polly hatte immer nur die Augen verdreht und geseufzt, wenn doch einmal von ihr die Rede gewesen war.

Vor einer Woche war Arne dann jedoch über diese neuen – andererseits recht alten – Details informiert worden.

Zimmer acht. Auf der Bettkante, was ein bisschen unbequem gewesen war, aber sein Vater Torsten hatte ihn dort haben wollen. Er hatte Arnes Hand in seine beiden Hände genommen, was auch ziemlich ungewöhnlich gewesen war, musste man sagen, seine gebrochenen Augen auf ihn gerichtet und so unheimlich verbittert ausgesehen – fast so wie sein Vater und seine Mutter auf dem Kommodenporträt, oder wie sonst immer, wenn ihnen das Geld ausging und das Geschäft auf dem absteigenden Ast war.

»Arne, mein Sohn«, hatte er gesagt. »Mein einziger Sohn, ich bin bald nicht mehr, das hast du doch sicher verstanden, nicht?«

Arne hatte genickt, und es war ihm gelungen, ein »Ja, klar« hinunterzuschlucken, denn es gab so einiges, was man nicht sagen sollte, wenn der Tod vor der Tür stand. Was sich nicht gehörte. Schweigen wie ein Grab, wie Onkel Lennart ihm bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit riet. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

»Ich möchte mit dir über etwas sprechen, ehe es zu spät ist. Du musst mir gut zuhören.«

»Ich höre«, erwiderte Arne, denn das tat er.

Onkel Lennart saß auf einem Stuhl am Fenster und blickte in den Regen hinaus. Seinem Bruder und seinem Neffen kehrte er den Rücken zu.

»Also, dann wollen wir mal«, fuhr Vater Torsten fort. »Das Leben verläuft nicht immer nach Plan, das begreift man, wenn man so weit gekommen ist wie ich. Aber man muss es zu einem guten Ende bringen, und es gibt Dinge, die man vorher noch regeln sollte.«

»Richtig«, sagte Arne.

»Verstehst du, was ›regeln‹ bedeutet?«

»Ja, klar«, antwortete Arne.

»Man wird dir mit Sicherheit nie einen Nobelpreis verleihen, mein Sohn, aber du bist ein guter Mensch, und das ist mehr, als man von Krethi und Plethi behaupten kann.«

»Krethi und Plethi?«, erkundigte sich Arne.

»Von den meisten«, verdeutlichte Vater Torsten.

Arne nickte. Sein Vater räusperte sich und spuckte Schleim in den dafür vorgesehenen Plastikbecher.

»Die Wahrheit …«, sagte er nachdenklich, während er mit gerunzelter Stirn den Inhalt des Bechers studierte, und es klang, als wäre ihm bei dem Wort nicht ganz wohl oder als riefe er sich in Erinnerung, was es bedeutete, »die Wahrheit über deine Mutter lautet, dass sie nicht bei diesem Segeltörn vor der dänischen Westküste gestorben ist.«

»Ach, wirklich?«, entgegnete Arne. »Wie ist sie dann gestorben?«

Sein Vater stellte den Becher ab. »Sie ist gar nicht gestorben. Sie ist mit einem Troubadour durchgebrannt. Du warst ein gutes Jahr alt. So sieht es aus, und es wird Zeit für dich, sie aufzusuchen.«

»Mit einem Troubadour?«, fragte Arne.

»Das ist eine Art Dichter, er sang Lieder und so.«

»Ich verstehe«, sagte Arne, was er jedoch nicht tat. Nicht wirklich.

»Ein hagerer, schmalzig-schöner Typ«, verdeutlichte sein Vater mit einem tiefen Seufzer. »Nicht mehr und nicht weniger. Koteletten. Er hieß Lummersten, und sie gingen nach Berlin. Egon Lummersten.«

Onkel Lennart hüstelte und murmelte etwas auf seinem Stuhl. Doch dabei blieb es, er kommentierte die Angelegenheit nicht, starrte nur weiter stur aus dem Fenster, obwohl es dort draußen nichts zu sehen gab außer einem Stück stürmischen Himmel und der Rückseite von Glahns stillgelegter Schuhfabrik.

»Berlin«, wiederholte Vater Torsten. »Das liegt in Deutschland.«

»Das ist mir bekannt«, erwiderte Arne, denn so war es.

»Früher lag die Stadt in West- und in Ostdeutschland, aber heute liegt sie einfach nur in Deutschland.«

Arne glaubte auch das zu wissen, behielt es aber für sich. Stattdessen entstand nun eine lange Pause, in der sein Vater die Augen schloss und eine ganze Reihe tiefer, leicht röchelnder Atemzüge machte. Arne fragte sich, worauf dieses Gespräch eigentlich hinauslaufen sollte. Onkel Lennart zog sein Mobiltelefon heraus und starrte eine Weile darauf. Der einhundertdreijährige Grönberg hinter seinem Wandschirm drüben an der Tür ließ einen fahren und grunzte zufrieden in seinem ewigen Schlaf. Onkel Lennart hatte Arne erklärt, dass er auf die Art mit sich selbst spreche, das Hinterteil mit dem Vorderteil, es komme vor, dass alte Menschen in Erwartung des heiligen Petrus und in Ermangelung von etwas Besserem solchen Dingen ihre Zeit widmeten.

Vater Torsten schlug die Augen wieder auf, und der Griff um die Hand seines Sohnes wurde fester.

»Fahr zu ihr«, sagte er. »Du wirst deine Mutter in Berlin aufsuchen. Dies ist der Auftrag, den ich dir gebe, mein Sohn.«

»Ja, aber, wie …?«, entgegnete Arne.

»Suche sie auf!«

»Ich habe verstanden.«

»Ich habe ihre Adresse, sie steht in meinem Notizblock in der Nachttischschublade. In dem alten roten mit dem Gummiband darum. Es ist natürlich denkbar, dass sie umgezogen ist, aber das darf dich nicht aufhalten. Der Troubadour ist jedenfalls tot, er ist betrunken von einem Balkon gefallen, das weiß ich aus sicherer Quelle.«

»So kann es gehen«, meinte Arne.

»Es gibt etwas, was du deiner Mutter übergeben wirst. Es liegt in derselben Schublade wie der Notizblock, es ist ein kleines Kästchen. Versprich mir, dass du das tust, wenn ich nicht mehr bin.«

»Ja, sicher, Papa«, erwiderte Arne. »Ich verspreche es.«

»Das Kästchen ist abgeschlossen. Du darfst es nicht öffnen. Ich habe es einer Hellseherin abgekauft, es war nicht billig.«

Mehr war zu diesem Thema nicht gesagt worden, da eine der Krankenschwestern, die mit den kurzen roten Haaren und einem kleinen Tattoo von einer Niere oder eventuell auch einem Bumerang auf dem Hals, mit einem Wagen ins Zimmer klapperte und erklärte, es sei Zeit für eine Runde Pillen.

Doch nun, an dem wackeligen kleinen Tisch in der Teeküche hinter dem Geschäft – am Tag nach dem Eintreten des Todes – wurde also mehr dazu gesagt. Der Kaffee war in Gesellschaft eines Himbeerkuchens, den Tante Polly aus dem Gefrierschrank geholt hatte und der noch nicht ganz aufgetaut war, sich aber dennoch essen ließ.

»Sie hatte keine Zeit, einen neuen zu backen«, bemerkte Onkel Lennart. »Oder keine Lust. Dafür muss man Verständnis haben, sie hatte Torsten auch sehr gern. Auf ihre Art.«

Arne überlegte, was auf ihre Art bedeutete, fragte aber nicht. »Es ist, wie es ist«, sagte er stattdessen. »Der Tod macht einem ganz schön zu schaffen.«

Er wartete darauf, dass Onkel Lennart weiter ausholen würde. So drückte er sich häufig aus. Was hältst du davon, wenn wir ein wenig weiter ausholen. Um uns mehr in die Problematik zu vertiefen.

»Wie gesagt, viel zu schön«, fuhr er jetzt fort. »Deine Mutter, deines Daseins Ursprung. Schönheit führt früher oder später immer ins Verderben, so wahr ich hier sitze.«

»Tante Polly ist ja ziemlich hässlich«, kommentierte Arne seine Worte, um zu zeigen, dass er dem Gedankengang folgen konnte.

»Nun ist es natürlich andererseits so, dass die inneren Werte zählen«, entgegnete Onkel Lennart ein wenig verstimmt und schnitt sich ein Stück von dem halbgefrorenen Himbeerkuchen ab. »Nur die zählen und sonst nichts. Aber was den letzten Wunsch deines Vaters angeht, müssen wir ein bisschen weiter ausholen. Das mit Berlin.«

»Ich werde hinfahren«, sagte Arne, denn das hatte er beschlossen, als er am Vorabend wach lag und nicht einschlafen konnte. »Ich fahre nach Berlin und suche meine Mutter auf. Für mich spielt es ehrlich gesagt keine Rolle, ob sie schön ist oder nicht.«

»Vollkommen richtig«, bestätigte Onkel Lennart mit vollem Mund. »So etwas spielt wirklich keine Rolle. Und du wirst dich dem letzten Willen deines Vaters nicht widersetzen, so bescheuert er auch sein mag. Aber bevor du dich auf den Weg machst, werden wir dich wohl ein wenig präparieren müssen.«

»Präparieren?«, sagte Arne.

»Ich würde natürlich gerne mitkommen, aber wir müssen schließlich auch an das Geschäft denken. Torsten hätte sicher nicht gewollt, dass wir den Laden grundlos schließen, und es sind harte Zeiten. Wer soll den Betrieb am Laufen halten, wenn nicht ich?«

Arne nickte. Jetzt, da sein Vater nicht mehr unter den Lebenden weilte, war es natürlich so klar wie Kloßbrühe, dass Onkel Lennart hinter der Ladentheke stehen musste. So war es schon in den letzten Monaten gewesen, ja, noch länger. Tante Polly konnte im Notfall schon einmal für eine Stunde einspringen, hatte ansonsten aber genug mit ihren Wehwehchen zu tun. Vor seinem Tod hatte Torsten Murberg seinem Sohn anvertraut, dass seine fette Schwägerin an sämtlichen in der westlichen Welt bekannten sowie ungefähr einem Dutzend unbekannten Krankheiten litt. Es gleiche einem Wunder, dass sie morgens überhaupt aus dem Bett komme.

»Jetzt müssen wir erst einmal Torsten unter die Erde bringen«, holte Onkel Lennart aus. »Und dann musst du Deutsch lernen. Zumindest rudimentär.«

»Hä?«, sagte Arne.

»Rudimentär. Das bedeutet, dass du nicht unbedingt jedes Wort verstehen musst. Nur die wichtigsten. Scheiße und Krankenhaus, um nur zwei Beispiele zu nennen.«

»Scheiße«, sagte Arne.

»Bravo. Mit etwas gutem Willen und einem ordentlichen Lehrbuch müsste das in ein paar Monaten zu schaffen sein. Du kannst ja nicht nach Berlin kommen und nur Schwedisch sprechen.«

»Zwai Bir. Ser sjön«, sagte Arne, um zu zeigen, dass er nun wirklich kein Dummkopf war und bereits das eine oder andere aufgeschnappt hatte.

»Allerhöchstens ein halbes Jahr«, meinte Onkel Lennart und seufzte. »Ich werde dich persönlich unterrichten. Ich habe in den Sechzigern auf der Realschule Deutsch gelernt.«

2

Arne Murberg war kurz nach Anbruch der achtziger Jahre als Folge eines Spermavolltreffers zur Welt gekommen. Torsten Murberg und Violetta Dufva lernten sich auf einer Busreise nach Italien kennen, einem Zehntagetrip, bei dem drei Dutzend Menschen in Begleitung einer halbprofessionellen Reiseleitung durch die Landschaft rund um den Comer See und den Lago Maggiore geführt wurden und in kleinen, pittoresken Pensionen in der schönen Natur der Alpen übernachteten. Es war im Monat Mai. Die letzten zwei Tage verbrachte man in Venedig, der romantischsten Stadt der Welt, und dort kam es zu besagtem Volltreffer.

Violetta Dufva hatte diese Reise überstürzt gebucht, da sie ihre eben erst gescheiterte Beziehung zu einem drogenabhängigen und gewalttätigen dänischen Rocksänger namens Truls verarbeiten musste. Sie hatte das Abenteuer gesucht, im halben Jahr dieser Beziehung jedoch bedeutend mehr davon abbekommen, als sie sich erhofft hatte, und als Torsten im Nachhinein zu verstehen versuchte, was in aller Welt sie nur in ihm gesehen hatte, konnte er keine andere Antwort finden als die düsterste von allem: Sicherheit. Der in sich gekehrte, leicht gehemmte Bauernsohn aus der Grenzregion zwischen den Landschaften Värmland und Närke war beim besten Willen kein bildschöner oder charmanter Mann, aber er würde wenigstens niemals auf die Idee kommen, die Hand gegen eine Frau zu erheben. Und so kam es nach ein paar Gläsern Wein und einer ausnehmend angenehmen Gondelfahrt, wie es kommen musste.

Hinzu kam möglicherweise, dass zweiunddreißig Mitreisende Frauen waren und die drei übrigen Männer ausnahmslos über sechzig. Violetta dagegen war achtundzwanzig und Torsten nicht viel älter.

In letzter Sekunde, als sie selbst schon gekommen war und Torsten sich auf der Schwelle zum Explosionsaugenblick befand, rief sie ihm noch zu, ihn herauszuziehen.

Was Torsten, ganz der Gentleman, der er war, auch tat, bedauerlicherweise jedoch eine Sekunde zu spät. Ein Monat später, in weiter Ferne von allen Gondeln und Alpenseen, rief sie ihn eines Abends an und erklärte ihm die Lage.

»Ich habe nicht vor, das Kind abzutreiben«, erklärte sie darüber hinaus. »Du wirst mich schon heiraten müssen.«

Womit sich Torsten, als der Gentleman, der er immer noch war, einverstanden erklärte – nachdem er sich zunächst kurz mit seinem fünf Jahre älteren Bruder und dessen Verlobter Polly beraten hatte. In den folgenden dreißig Jahren sollte die Letztgenannte häufig unterstreichen, dass die beiden einfältigen Brüder zu diesem Entschluss gekommen waren und sie von Anfang an entschieden abgeraten hatte.

Jedenfalls knüpften Torsten Murberg und Violetta Dufva schon im August desselben Jahres in der Kirche von K. das Band der Ehe, und ein halbes Jahr später wurde ohne große Komplikationen Arne Albin Hektor geboren. Albin kam vom Großvater väterlicherseits, Hektor vom Großvater mütterlicherseits. Arne war eine gemeinsame Entscheidung (allerdings auch der Name von Violettas erstem Liebhaber, ein Umstand, den sie jedoch für sich behielt, bis es zu spät war, den Namen zu ändern).

Warum Torsten bei dieser Busreise mitgefahren war?

Er hatte sie gewonnen, weil er einen Slogan für eines der beliebtesten Katzenfutter Schwedens formuliert hatte. Man könnte durchaus behaupten, dass Arne Murberg die späte Frucht eines dänischen Rocksängers und eines Katzenfutters aus Småland war, aber soweit bekannt, hat das nie jemand behauptet.

Dass Arne Murberg seine Mutter niemals kennenlernte – und sie deshalb auch nicht vermisste –, muss als eine traurige, aber unbestreitbare Tatsache betrachtet werden. Sie stillte den Jungen nicht; wenn er in seinen ersten Lebensmonaten nachts aufwachte und Hunger hatte, war es immer sein Vater Torsten gewesen, der aufstand und den Muttermilchersatz erwärmte. Im Laufe der Zeit den Brei. Sie wohnten in dieser ersten (und eigentlich einzigen) Zeit in einer Dreizimmerwohnung über dem Kino Saga am Marktplatz in K. Violetta litt gelegentlich unter Migräne – aber auch unter dem Ton der Abendvorstellung, der durch den Fußboden zu ihr hochschallte, ein Problem, das sie schließlich löste, indem sie stattdessen hinunterging und sich in den Kinosaal setzte. Nach und nach entwickelte es sich zu einer festen Routine, dass sie sowohl in der Vorstellung um sieben als auch in der um neun saß, zu einem stark ermäßigten Preis, um nicht zu sagen gratis – sie hatte schöne, veilchenblaue Augen, und der Kartenabreißer Rundström war auch nur ein Mensch –, und während des Films Der Liebe verfallen, mit Meryl Streep und Robert de Niro in den Hauptrollen, begegnete sie dann dem Troubadour und Dichter Egon Lummersten, der ausgerechnet an jenem Abend vor dem Auftritt auf der Jubiläumsgala des Rotary Clubs am folgenden Tag im Stadthotel übernachtete.

Nicht zuletzt, um sich ausführlich über den Film austauschen zu können, der sie beide tief berührt hatte, begleitete Violetta Dufva ihren neuen Bekannten auf sein Zimmer in dem Hotel auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Es war ihr vollkommen natürlich erschienen, schließlich waren sie beide ausgesprochen kulturinteressiert, ein Interesse, das Torsten seit seiner Heimkehr aus Italien gänzlich vermissen ließ, und dass dann eins zum anderen führte, war letztlich nicht weiter verwunderlich, denn … denn wenn einem die Sicherheit im Hals steckenbleibt wie kalt gewordener Haferschleim, muss man die Suppe auslöffeln, den Brechreiz unterdrücken und sich anschließend wieder seinem Lieblingsspiel widmen. Diesmal mit Kondom.

Oder wie auch immer man es ausdrücken will. Die außereheliche Beziehung lief jedenfalls einige Monate – lief und vertiefte sich –, und als es Vater Torsten dann endlich wie Schuppen von den Augen fiel und er ihr das machte, was man trotz allem als eine Szene bezeichnen muss, brannten sie am nächsten Morgen durch. Die Ehefrau und der Troubadour.

Unklar blieb allerdings, wohin. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.

Ein halbes Jahr später kam ein Brief mit einer Adresse in Berlin. Ein Gruß an den jungen Arne Albin Hektor und eine Aufforderung, ein Paket mit Violettas zurückgelassenen Kleidern an besagte Adresse zu schicken.

Dieser Aufforderung wurde allerdings niemals Folge geleistet. Bis zum kleinsten Slip hatte Torsten zu diesem Zeitpunkt bereits alles, was ihn eventuell an seine entlaufene Frau erinnern konnte, der Heilsarmee geschenkt. Mit Ausnahme des gerahmten Porträts, denn man musste ja nicht gleich das Kind mit dem Bad ausschütten.

Außerdem war er in eine ruhigere Wohnung gezogen, auch sie eine Dreizimmerwohnung, in der Frithiofs gata, hinter dem Sportplatz.

Außerdem hatte er auf Anraten seines älteren Bruders einen Tabakladen in vorteilhafter Lage an der Kreuzung Rutevägen und Floras gata erworben.

Da war der kleine Arne ein Jahr und sieben Monate alt und ahnte von all dem glücklicherweise nichts. Sein Vater Torsten war exakt dreiunddreißig. Das Leben ging weiter.

3

Fünf Häuser weiter in der Frithiofs gata wohnten Lennart und Polly Murberg in einer weiteren Dreizimmerwohnung. Das war praktisch, denn die beiden mussten keine eigenen Kinder großziehen und Arne fühlte sich in der einen Wohnung schon bald ebenso heimisch wie in der anderen. Sein Vater war Hals über Kopf zu einem Junggesellen geworden, der einen kleinen Sohn am Hals hatte, und so war es ganz selbstverständlich, dass sein einziger Bruder und dessen Gattin ihm zur Seite standen. An mindestens zwei Abenden in der Woche übernachtete der Junge bei seinen Verwandten, bei denen er ein eigenes Zimmer hinter der Küche hatte, und es löste eine gewisse Verwunderung aus, als er in der ersten Klasse der Stava-Schule seiner Lehrerin Frau Månsson gegenüber mit Nachdruck erklärte, er habe nicht zwei Eltern wie die meisten seiner Schulkameraden, sondern drei.

Ein vierter Elternteil stand allerdings niemals zur Debatte, obwohl sein Vater gelegentlich Frauen zu Besuch hatte. Dies war immer dann der Fall, wenn Arne bei Onkel Lennart und Tante Polly übernachtete, und keine der Frauen blieb länger als bis zum Frühstück, und bei keiner von ihnen lohnte es sich, sich ihren Namen zu merken.

Tante Polly arbeitete, wenn auch nur halbtags, als Konditorin in Sveas Konditorei, Onkel Lennart war städtischer Angestellter. Was Letzteres eigentlich bedeutete, fand Arne nie heraus, aber jeden Morgen um Viertel vor neun setzte sich sein Onkel auf sein schwarzes Fahrrad der Marke Fram und radelte die achthundert Meter zum Rathaus am Marktplatz. Gegen Viertel nach fünf Uhr nachmittags kehrte er zurück. Bei jedem Wind und Wetter, und auf dem Gepäckträger transportierte er eine Aktentasche, die eine Brotdose und zwei Äpfel enthielt, aber wenn er heimkehrte, hatte er jedes Mal ausnahmslos wieder einen Apfel dabei.

Für den Fall, dass man Überstunden machen muss. Diese Drohung war, wenn Arne recht sah, niemals wahr geworden bis zu dem Tag, an dem Onkel Lennart nach zweiundvierzig Jahren im Dienste der Allgemeinheit mit einer goldenen Uhr in den Ruhestand verabschiedet wurde. In den ersten fünfzehn Jahren war Arne allerdings noch nicht auf der Welt gewesen, ganz genau wusste er es also nicht.

Samstags half Onkel Lennart meistens im Tabakladen aus, und nachdem er ungefähr zu der Zeit, als Torsten Murberg schwermütig wurde, in Pension gegangen war, verbrachte er gerne täglich einige Stunden hinter der Ladentheke, umgeben von Zigaretten, Pfeifentabak, Schnupftabak, Illustrierten und Süßigkeiten. Manchmal zusammen mit seinem seit neuestem schwermütigen, jüngeren Bruder, häufiger jedoch in Gesellschaft seines Neffen, der nach seinem Unglück keiner normalen Arbeit nachgehen konnte.

Die Frage, was der eigentliche Grund für Torsten Murbergs schwindenden Lebensmut war, fand ihre Antwort, als man in seinem Magen eine Krebsgeschwulst entdeckte. Jedenfalls musste diese anfangs noch diffuse Plage in der Geschichtsschreibung die Hauptverantwortung übernehmen – will sagen in Onkel Lennarts und Tante Pollys Geschichtsschreibung, und die war maßgeblich. Es war nun einmal so sicher wie das Amen in der Kirche, dass es einem nicht gutging, wenn man mit einem schmerzenden Handball im Magen herumlief, wovon insbesondere Tante Polly ein Lied singen konnte. Es soll darüber hinaus nicht unerwähnt bleiben, dass dem Ehepaar ein Drittel des Tabakladens gehörte, so dass die beiden durchaus ein Interesse daran hatten, dafür zu sorgen, dass das Geschäft ordentlich weiterlief, auch wenn der arme Torsten sich nicht mehr so ins Zeug legen konnte wie früher.

Bis zu dem Unglück – seinem eigenen Unglück, nicht dem des Vaters – hatte Arne zahlreiche Freunde. Es gab einen Jimmy, einen Niklas, einen Krille und einen Hassan, die beiden Erstgenannten waren Klassenkameraden, die Letztgenannten Nachbarskinder aus dem Viertel. Darüber hinaus existierte noch eine heimliche Freundin, ein Mädchen namens Beata. Sie war ein Jahr älter als Arne und wohnte in einem alten Holzhaus, das genau in der Mitte zwischen seinen beiden Elternhäusern lag. Auf ihrem Hof stand ein großer Kastanienbaum, und Beata saß oft hin- und herschwingend auf einer Schaukel, die an einem der unteren Äste in diesem Baum hing, wenn Arne in der einen oder anderen Richtung auf dem Bürgersteig vorbeikam.

Beata war süß, hatte aber einen Vater, der trank, und in jenem Sommer vor dem Unglück hatte sie Brüste bekommen. Sie wollte sie im Grunde gar nicht haben, aber Arne fand sie hübsch und nahm an, dass es schön wäre, sie anzufassen, und in seinem späteren Leben kam ihm häufig der Gedanke, dass er Beata bestimmt geheiratet hätte, wenn es nicht so gekommen wäre, wie es dann kam.

Es war der 24. August, ein Samstag. Die erste Schulwoche nach den Sommerferien war abgehakt, er ging in der Stava-Schule in die sechste Klasse. Sie hatten einen neuen Lehrer bekommen, der Lindblom hieß und in den Pausen hinter den Fahrradständern Pfeife rauchte. Das Wetter war schön, ein herrlicher Spätsommertag. Arne und Hassan beschlossen, zum Mörtsjön zu radeln und zum letzten Mal in diesem Jahr schwimmen zu gehen. Auf dem Gepäckträger hatten sie Proviant, gut und gerne fünfundzwanzig Comichefte sowie eine kleine Schachtel Prince Denmark, die Arne in einem unbeobachteten Moment im Geschäft hatte mitgehen lassen. Immerhin waren sie beide zwölf, und es wurde Zeit, sich gewisse Gewohnheiten zuzulegen.

Die Fahrradtour durch die Wälder dauerte eine gute Stunde. Wesentlich schneller ging es auf dem Rückweg im Krankenwagen, obwohl Arne sich dieser Fahrt nicht bewusst war, da er angeschnallt auf einer Pritsche lag und zwischen Leben und Tod schwebte.

Es wurde ihm auch niemals bewusst, was eigentlich passiert war, seine Erinnerungen an diesen Samstag endeten für alle Zeit damit, dass Hassan und er ihre Fahrräder an einen Baum in der Nähe des kleinen Parkplatzes am Mörtsjön lehnten. Den Rest erzählte ihm später Hassan, es war keine komplizierte Geschichte.

Nachdem sie jeder eine Prince Denmark geraucht hatten – was ehrlich gesagt ziemlich ekelhaft war, wie Hassan zugab, davon sollte man lieber die Finger lassen –, hatten sie beschlossen, schwimmen zu gehen. Trotz des schönen Wetters waren nicht viele Leute am See, höchstens zehn Menschen, aber die Jungen beschlossen trotzdem, nicht von dem wackeligen Steg aus ins Wasser zu springen, wie man es normalerweise machte. Stattdessen trotteten sie durch das Unterholz am Seeufer bis zu einem Felsvorsprung, der etwa fünfzig Meter von der eigentlichen Badestelle entfernt lag. Arne meinte sich zu erinnern, dass man von der Felskante aus hineinspringen konnte, möglicherweise war Hassan der gleichen Ansicht, aber in diesem Punkt blieb er vage. Eventuell hatte er sogar davon abgeraten.

Jedenfalls sprang Arne. Oder tauchte vielmehr mit einem Kopfsprung ins Wasser ein, wie sich das gehörte, wenn man kein Mädchen oder Waschlappen war. Hassan blieb auf der Felskante stehen, schaute zu und sah seinen Freund zunächst unter der schwarzen Oberfläche verschwinden, danach in einer großen Blutwolke auf dem Wasser nach oben treiben und anschließend erneut versinken. Wieder an die Oberfläche und wieder nach unten.

Hassan reagierte geistesgegenwärtig, so geistesgegenwärtig, wie man es sich nur erhoffen konnte. Er schrie um Hilfe, rutschte auf dem Po die steile Böschung neben dem Fels hinunter, warf sich ins Wasser und schaffte es, nach einem Zeitraum, den er selbst auf ein halbes Jahr schätzte, der in Wahrheit jedoch kaum mehr als eine Minute umfasst haben dürfte, sich seinen Freund zu greifen. Dieser war blutüberströmt und bewusstlos. Hassan schleppte ihn zum Seeufer, wo bereits zwei andere Badegäste vor Ort waren, darunter zum Glück der Fahrer eines Krankenwagens. Er hatte seinen Krankenwagen zwar nicht dabei, aber ein wenig gesetzeswidrig bei sich zu Hause, gerade einmal drei Kilometer vom Mörtsjön entfernt, abgestellt.

Innerhalb von zwanzig Minuten traf das Fahrzeug ebenso am Ort des Unglücks ein wie seine Ehefrau, die zufällig Krankenschwester war, und kurz darauf war der weiterhin bewusstlose Arne Albin Hektor im Eiltempo unterwegs ins Provinzialkrankenhaus in Ö-bro. Während der Wartezeit waren gewisse lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen worden, Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage und was noch alles. Hassan stand unter Schock und brachte kein vernünftiges Wort heraus, auch dieser Junge benötigte eindeutig medizinische Hilfe, wenngleich anderer Art, und dass er im Krankenwagen mitfahren durfte, erschien deshalb allen ganz natürlich. An diesem schönsten aller Augustsamstage herrschte ein einziges Chaos.

Als Arne Murberg sechs Wochen später in die Frithiofs gata zurückkehrte, war es schon Oktober, und er war nicht mehr derselbe. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst, das war leicht festzustellen, und man tat gut daran, sich damit abzufinden. Seine drei Eltern vergossen abwechselnd Tränen darüber, wie die Dinge standen, allerdings nie so, dass Arne etwas davon merkte. Man ging in die Küche oder ins Badezimmer und weinte, Diskretion war Ehrensache.

Nicht dass Arne ihnen ihre Verstimmung übelgenommen hätte oder sie ihm auch nur aufgefallen wäre, aber trotzdem. Außerdem war er ja schließlich noch am Leben. Konnte beide Arme und Beine bewegen und sah im Großen und Ganzen noch so aus wie zuvor.

Es war sein Kopf, der Schaden genommen hatte. Innerlich.

»Aus ihm ist die Luft heraus«, bemerkte Onkel Lennart.

»Es ist so traurig«, meinte Tante Polly. »Er scheint gar nicht richtig da zu sein.«

Wenn Arne sie so hätte reden hören, wäre er vermutlich mit beiden Diagnosen einverstanden gewesen. Es kam ihm vor, als wäre alle Luft aus ihm gewichen und als hätte sich eine dicke Schicht aus fetter Watte zwischen ihn und den Rest der Welt gelegt. Alles spielte sich irgendwie in Zeitlupe ab oder wurde abgebremst, sobald es in seinen Schädel kam. Wenn jemand etwas sagte, erreichte ihn die Äußerung zunächst als diffuser Klangbrei, aus dem er die Wörter einzeln herausfischen musste, ehe er sie zu einer verständlichen Mitteilung zusammensetzen konnte. Er fand es schon anstrengend, sich auch nur wachzuhalten, und er schien die Bezeichnungen für eine große Zahl von Dingen vergessen zu haben, bei denen er sich ganz sicher war, dass er sie vor jenem unglückseligen Badesamstag gekannt hatte.

Zum Beispiel Korkenzieher. Wasserschlauch. Bratpfanne. Reißverschluss. Rippe. Sowie diverse andere Worte, die er nun von Neuem lernen musste. Außerdem fand er es ärgerlich, fragen zu müssen, denn dann trat immer so ein trauriger Ausdruck in seines Vaters Augen, wenn Arne sich etwa erkundigte, wie diese längliche, leicht gekrümmte Frucht eigentlich hieß, oder wie man es nannte, wenn man Schnüre oder Haare mit Hilfe einer Schere abtrennte.

Am unangenehmsten entwickelte sich seine Situation jedoch in der Schule. Arne fiel es schon schwer, selbst die einfachsten Anweisungen zu verstehen, außerdem schien er das komplette Einmaleins vergessen zu haben. Bei einem Test, den Lehrer Lindblom äußerst diskret durchführte, stellte sich heraus, dass Arne nicht mehr wusste, wie die skandinavischen Nachbarländer hießen, wer Jesus von Nazareth war, in welcher Reihenfolge die Monate aufeinander folgten – auch wenn er einige von ihnen nennen konnte. Außerdem schlief er am Ende der Schulstunden häufig ein und hatte ganz offensichtlich Probleme mit seinen Klassenkameraden, die immer mehr dazu übergingen, ihn als einen Sonderling und Irren zu betrachten. Dass er so verrückt gewesen war, einen Kopfsprung in ein unbekanntes Gewässer zu machen, verbesserte die Lage nicht unbedingt, und einige Wochen vor Weihnachten wurde deshalb beschlossen, dass Arne der sogenannten Sondergruppe zugeteilt werden sollte. Diese kleine Schar bestand aus einer Clique zu Prügeleien neigender Jünglinge zwischen zehn und fünfzehn Jahren, die angepasst an die individuellen Voraussetzungen jedes Einzelnen von einem Major außer Dienst unterrichtet wurden, der Kornblatt hieß, von allen jedoch nur der Nazi genannt wurde.

Zu den Osterferien des nächsten Jahres wurde Arne Murberg ganz aus der Schule genommen. Auf der pädagogischen Ebene waren keine Fortschritte erzielt worden, außerdem war er mehrfach von seinen sogenannten Kameraden in der Sondergruppe verprügelt worden, insbesondere von einem gewissen Percy, der ihm sogar mit einem Messer eine Wunde am Oberschenkel zugefügt hatte.

Unterricht im Elternhaus lautete die Lösung, die von da an für Arne Murberg gelten sollte, und ein gutes Jahr lang kam tatsächlich eine junge, halb ausgestiegene Lehrerin in die Frithiofs gata und paukte Rechtschreibung, Mathematik und Leseverständnis mit ihrem immer widerwilligeren Schützling. Ihr Einsatz verlief jedoch langsam im Sand, nicht zuletzt, weil Frau Myllymäki, wie die Lehrerin hieß, wegen Anorexie ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, und da im Tabakladen jede helfende Hand willkommen war, wurde diese Laufbahn eingeschlagen. Im Alter von fünfzehn Jahren konnte Arne nachweislich sowohl den richtigen Preis für die meistverkauften Artikel kassieren, als auch den Kunden einigermaßen korrekt ihr Wechselgeld zurückgeben. Allerdings ließ man ihn aus Rücksicht auf alle Beteiligten im Laden nur selten allein. Vater Torsten leistete ihm Gesellschaft oder Onkel Lennart, Letzterer zunächst nur samstags, nach seiner Pensionierung und der goldenen Uhr jedoch auch an manchen Wochentagen. Schon bald kannten alle Kunden Arne, und da ihnen auch seine Geschichte bekannt war, grüßten sie ihn höflich und betont langsam und fragten ihn, wie es ihm gehe und ob er eine Ansicht zum herrschenden Wetter beizusteuern habe.

ENDE DER LESEPROBE