Elisabeth Joris - Elisabeth Joris - E-Book

Elisabeth Joris E-Book

Elisabeth Joris

0,0

Beschreibung

Die Historikerin Elisabeth Joris prägte die Schweizer Frauengeschichtsschreibung wie keine andere. 1987 publizierte sie zusammen mit Heidi Witzig das erste umfassende Werk zum Thema und wurde auf einen Schlag bekannt. 1946 in Visp im Oberwallis geboren, gehörte Joris einer Frauengeneration an, der man noch den Besuch des Gymnasiums verweigert hatte. Es brauchte mehrere Umwege, bis sie 1970 endlich ihren Traum, Geschichte zu studieren, verwirklichen konnte. Diese Erfahrungen und die aufkommende 68er-Bewegung beeinflussten sie. Joris war aktiv in der linken Gruppierung «Kritisches Oberwallis» und wurde Mitte der 1970er-Jahre zur überzeugten Feministin, was sich auf ihre weitere Arbeit als Historikerin auswirkte. Aufgrund von Gesprächen zeichnet Denise Schmid die lebhaft erzählte Biografie einer ganz besonderen Persönlichkeit mit ihrem reichen privaten, politischen und historischen Erfahrungsschatz nach.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Vorwort

Das Buchprojekt, das zahlreiche Türen öffnete

Ein Nonkonformist ohne Karrieredrang

Die wunderbare Fähigkeit, aus allem etwas zu machen

Der Geruch von verbranntem Laub

Ungelöste Widersprüche

«D’Jorisjjni sind gschit, aber nit agipasst»

Au-pair in London und Gasthörerin mit Überstunden

Männer sind auch Menschen

Woodstock im Wallis, keine Dissertation und zwei Fichen

Frauenbewegte Zeiten

Kinder haben zwischen Theorie und Praxis

Frauen- und Geschlechtergeschichte in allen Facetten

Enkelkinder, Alphütten und fürs Klima nach Strassburg

Nachwort

Chronologie

Anhang

Vorwort

21. November 2022. Heute Vormittag war das «Kick-off-Meeting». Elisabeth Joris sass mir gegenüber am Besprechungstisch im Verlag und nannte unser Treffen zu diesem Buchprojekt spontan so. Wir mussten beide sofort lachen. Über dieses Businesswort, das gar nicht zu dem passen will, was wir gemeinsam anpacken werden. Aber so falsch war es auch nicht.

Wir einigten uns auf das weitere Vorgehen: Im Abstand von zwei Wochen führen wir Gespräche über ihr Leben. Ich schreibe die Kapitel, sie redigiert, ich redigiere, hin und her, bis die Version steht, die für uns beide stimmt. Wir sind uns der Fallstricke einer solchen biografischen Aufarbeitung bewusst.

Auf der Suche nach der Erzählweise haben wir uns auf die Ich-Form geeinigt. Elisabeth Joris rang mit dieser Entscheidung. Nach unserem ersten Gespräch im Oktober hatte ich einen Text über ihren Vater geschrieben. Einmal in der ersten und einmal in der dritten Person. Sie las beide Versionen. Dachte darüber nach, weshalb ich die erste Person favorisierte. Sie habe zwei, drei schlaflose Nächte gehabt, sagte sie mir heute. Selbstzweifel, Angst, das «Ich» aus der Hand zu geben. Geht das? Kann sie es mir als Autorin überlassen? Aber sie ist mutig. Ich verstehe gut, dass sie einen Moment brauchte, um zu erkennen, was ich mir vorstellte. Elisabeth Joris spricht so lebhaft, so anschaulich. Sollte das alles nacherzählt werden, mit endlos vielen Zitaten? Würde sie so nicht zu sehr zum Objekt meiner Beobachtungen? Das Direkte wirkt lebendiger, das Innenleben wird anschaulich, auch wenn das Geschriebene am Ende nicht eins zu eins der Erzählung entspricht – nur schon, weil wir uns auf Schweizerdeutsch unterhalten. Ich erstelle keine Transkription, bin nicht die Ghostwriterin von Elisabeth Joris, ich erfinde aber auch nichts. Sie liefert das Rohmaterial, die Anekdoten, den Stoff, den ich strukturieren und zu einem Erzählfluss komponieren werde. Ich werde mich da und dort beim Zuhören irren, was sie korrigieren wird. Die Kontrolle liegt bei ihr. Sie kann streichen, ergänzen, anpassen. Es sind ihre Geschichten, ihre Wahrnehmungen, die ihr durch den Filter meiner Darstellung wiederbegegnen werden. Mitunter werden wir diskutieren, wie etwas gesagt werden darf oder soll, vor allem, wenn es um noch lebende Personen geht. Eine Biografie auf diese Art zusammen zu schreiben, ist auch immer Verhandlungssache. Es ist unser Gemeinschaftswerk, mit meinem Namen als Autorin und ihrem Namen als Protagonistin auf dem Buchcover. Trotz Ich-Form ist es keine Autobiografie. Es ist ihr wichtig, dass man das versteht – und mir auch.

Elisabeth Joris hat sich im Laufe ihres Lebens immer wieder mit dem Thema Biografien auseinandergesetzt, damit, was es heisst, über Erlebtes und Erfahrenes zu schreiben. Sie holte unterschiedliche Frauenleben ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, «brave Frauen und aufmüpfige Weiber», bürgerliche Frauen, Walliser Bergbäuerinnen, Frauen im Umfeld von Tunnelbaustellen und viele mehr. Ihr feministisches Engagement seit den 1970er-Jahren und ihre Arbeit als Historikerin haben sich mehr und mehr verschränkt. Sie zeigte auf, dass man weibliche Handlungsspielräume im 19. Jahrhundert und davor praktisch nur über biografische Ansätze erforschen kann, über private Korrespondenz und Tagebücher, weil Frauen keine öffentlichen Rollen zugestanden wurden.

Nun wird sie selbst im Fokus stehen, ihr Leben, ihre Erinnerungen. Sie gehört zur Generation der Achtundsechziger. Sie war und ist eine politische Aktivistin und eine der bekanntesten Schweizer Historikerinnen und Feministinnen. Sie ist eine Walliserin, die schon lange in Zürich, mit ihrem Mann Peter, lebt. Sie ist Mutter von zwei Söhnen, Grossmutter von fünf Enkelinnen und Enkeln und eine höchst begabte Netzwerkerin, die enorm viele Beziehungen pflegt. So weit der Rahmen, der Aussenblick. Was erwartet mich im Inneren dieses Lebens?

Etwas weiss ich bereits – sich mit Elisabeth Joris zu unterhalten, macht Spass. Nur schon deshalb ist es ein Privileg, dass ich dieses Buch schreiben darf, über sie und mit ihr. Sie ist ein Energiebündel mit scharfem analytischem Verstand. Sie kann gut zuhören und auf Fragen eingehen. Und wenn sie spricht, habe ich mitunter den Eindruck, dass ihre Gedanken wie Funken stieben. Es sind so viele, dass das Gegenüber höllisch aufpassen muss, den Faden nicht zu verlieren. Sie weiss enorm viel, und ihr Gedächtnis ist auch mit 76 Jahren noch beeindruckend. Beste Voraussetzungen für unsere Gespräche also.

Elisabeth Joris ist zwanzig Jahre älter als ich und sozusagen die Heldin meiner Studienzeit. Das erzählte ich ihr heute. In den vergangenen fünf, sechs Jahren waren unsere Begegnungen vom Verhältnis zwischen Autorin und Verlegerin geprägt. Sie publiziert in unserem Verlag.

Das erste Mal begegnete ich ihr in den 1990er-Jahren. Ich war eine Studentin, Mitte zwanzig, im grossen Hörsaal des Historischen Seminars der Universität Zürich. Sie war die Referentin, in ihren Vierzigern. Als ich damals Geschichte studierte, gab es in Zürich nur Professoren in diesem Fach. Das fiel mir erst auf, als eines Tages die deutsche Historikerin Ute Frevert ein Kolloquium anbot, das ich mit Begeisterung besuchte. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Wo waren die Frauen im Lehrkörper? Wie war das möglich? Und wieso hatte es mich bis anhin nicht gestört? Dann kam dieser Moment, als Elisabeth Joris auf Einladung von Ute Frevert mit ihr gemeinsam einen Anlass bestritt. Ich kannte natürlich Joris’ Standardwerk «Frauengeschichte(n)» von 1986, die beeindruckende Quellenedition und erste umfassende Aufarbeitung der Schweizer Frauengeschichte. Nun sass ich im Hörsaal und Joris stand mit Frevert als Dozentin vorn. In meiner Erinnerung trägt sie etwas leuchtend Grünes, ihre dunklen Augen, das unbändige Haar fallen ebenso auf wie ihre schnelle, präzise Art zu sprechen, ihre Lebhaftigkeit und Begeisterungsfähigkeit, ihre Energie, ihr Humor, der wache Widerstandsgeist. Ich war hingerissen von ihr. Diese Frau war ebenso toll wie ihr Buch.

Die Jahre sind vergangen. Wir schätzen uns beruflich. Privat kennen wir uns kaum. Und nun werde ich ihr und ihrem Leben über unsere Gespräche auf eine ganz besondere, sehr detaillierte und auch private Art näherkommen. Das war bei den bisherigen Biografien, die ich verfasst habe, ebenfalls so. Auf diesen Prozess freue ich mich, er ist ganz besonders.

Ich sprach mit Elisabeth Joris bereits vor einigen Jahren darüber, dass ihr Leben einmal aufgeschrieben werden sollte. Es selbst zu tun, das wollte sie nicht. Einer Zusammenarbeit gegenüber war sie nicht abgeneigt, sie fand aber, es sei irgendwie zu früh. Einige Zeit später signalisierte sie mir dann ihr Interesse, doch ich hatte keine Zeit. Nun passt es und wir hatten unser Kick-off-Meeting. Der Startschuss ist gefallen.

Wir einigten uns heute darauf, dass jedes Kapitel wie eine kleine, abgeschlossene Geschichte funktionieren und dass diese Geschichten chronologisch geordnet sein sollen, sie da und dort auch ineinandergreifen dürfen. Wir haben ein erstes thematisches Grundgerüst entworfen. Historische Informationen als separate Elemente könnten interessant sein. So liesse sich der grössere Zusammenhang vertiefen, ohne den Lesefluss allzu stark zu unterbrechen. «Elisabeth Joris. Ein Leben in Geschichte(n)» soll das Buch heissen, in Anlehnung an das Werk, das sie als Historikerin vor fast vierzig Jahren bekannt gemacht hatte. Der Rahmen steht also, ebenso die kommenden Gesprächstermine. Wir sind beide strukturiert und organisiert. Das hilft. Es kann losgehen, unser Schreibabenteuer, die Reise zurück in das Leben von Elisabeth Joris.

Das Buchprojekt, das zahlreiche Türen öffnete

1986 Das Autorinnenduo Elisabeth Joris und Heidi Witzig auf der ETH-Terrasse, fotografiert von Gertrud Vogler, einer der herausragenden Zürcher Fotografinnen sozialer Bewegungen.

Am Anfang war ein Buch. Und es veränderte das Leben von Heidi Witzig und mir auf eine Art und Weise, wie wir es nie für möglich gehalten hätten. Im September 1986 erschien «Frauengeschichte(n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz». Es war das erste umfassende Werk zu diesem Thema.

Die Idee dazu war sechs Jahre zuvor recht spontan auf einer Pfingstwanderung an einem sonnigen Maitag im französischen Jura besprochen und mit einem Glas Champagner besiegelt worden. Wir waren mit rund einem Dutzend Leuten aus drei Wohngemeinschaften unterwegs, wie in den Jahren zuvor, als wir uns den grossen Pfingstmärschen im Rahmen der Anti-AKW-Proteste angeschlossen hatten. Der Ausflug 1980 aber war nun privater Natur, wandern mit Gleichgesinnten, so wie wir es bis heute alljährlich zu Pfingsten tun.

Heidi und ich kannten uns damals nur von fern. Felix Müller, ein guter Kollege von mir an der Kantonsschule Riesbach, wo ich Geschichte unterrichtete, brachte uns zusammen. Ich hatte ihm erzählt, dass ich nun fünf Jahre allein an meiner Lizenziatsarbeit gearbeitet hätte. Und ich nun am liebsten mit jemand anderem etwas zur Frauengeschichte auf die Beine stellen wollte. Felix sagte: «In meiner WG in Uster wohnt Heidi Witzig, sie hat Geschichte studiert und in Kunstgeschichte promoviert. Sie arbeitet beim Fernsehen in der Dokumentationsabteilung und sucht auch nach einem solchen Projekt.» Heidi war zwei Jahre älter als ich, ebenfalls in ihren Dreissigern, und engagierte sich wie ich in der Frauenbefreiungsbewegung (FBB). Die Idee eines Mannes, uns zu verbinden, stand sozusagen am Anfang unseres Buches zur Schweizer Frauengeschichte.

Während wir durch den Jura wanderten, diskutierten Heidi und ich unsere Vorstellungen. Sie hatte bereits an einer Quellensammlung zur Schweizer Arbeiterbewegung mitgearbeitet, die im Zürcher Limmat Verlag erschienen war. In meiner Lizenziatsarbeit hatte ich mich mit dem sozialen Wandel im Oberwallis im ausgehenden 19.Jahrhundert befasst. Wir beschlossen, die Schweizer Frauengeschichte seit dem 19.Jahrhundert anhand unterschiedlicher Quellen aufzuarbeiten.

Wer schreibt über die Vergangenheit? Was wird erzählt und wie? Die Verbindung von Sozial- und Geschlechtergeschichte war damals noch recht neu und wurde von gestandenen Koryphäen des Fachs eher belächelt; sie galt als typisch linkes Anliegen. Noch während meiner Ausbildung zur Sekundarlehrerin Ende der 1960er-Jahre waren zweisemestrige Vorlesungen über Bismarck und andere «grosse Männer der Geschichte» nicht unüblich gewesen. Es war ein verengter Blick aus der Perspektive von Historikern – Männer, die sich für andere Männer interessierten. Wir aber waren Frauen und fanden, es sei überfällig, den Horizont zu öffnen, auf neue Themenfelder und aus anderen Perspektiven auf die Geschichte zu blicken. Heidi und ich wollten ein Buch schreiben, das etwas mit uns als Historikerinnen, als politisch engagierte Feministinnen und berufstätige Mütter zu tun hatte. Wir wollten untersuchen, was es mit dem «weiblichen Geschlechtscharakter», der Frau als «Gattungswesen», auf sich hatte und wie Strukturen, Vorurteile, Zuschreibungen, soziale und politische Umstände zu den Definitionen von Weiblichkeit beigetragen hatten.

Das Thema lag seit Ende der 1960er-Jahre in der Luft, überall in der westlichen Welt wurde dazu publiziert. Wir wollten nicht nachstehen. Die Schweizerinnen hatten auch ihre Geschichte, und was für eine. Wir waren uns einig, dass die Erarbeitung auf wissenschaftlich fundierter Basis geschehen sollte – wir hatten unser Handwerk ja gelernt –, aber es sollte ein Buch für ein breites Publikum werden.

Wir entwickelten die Buchstruktur und trafen uns regelmässig einmal pro Woche im Café Zähringer in Zürich, in der Nähe der Zentralbibliothek, um uns ein oder zwei Stunden auszutauschen.

Heidi war die Unbekümmerte, ich die ewige Reflektiererin. Sie konnte knapp formulieren, ich machte Bandwurmsätze – wir ergänzten uns gut. Doch im Laufe der Arbeit wurde das Projekt grösser und grösser, die Bereiche immer vielfältiger. Entgegen unserem ursprünglichen Enthusiasmus schien das Ende nicht absehbar. Wir hatten beide einen Job und kleine Kinder. Heidi stillte ihre Tochter noch, als wir mit dem Buchprojekt begannen, und ich bekam ein Jahr nach Beginn der Zusammenarbeit meinen zweiten Sohn. Dank unserem Leben in Wohngemeinschaften und mit verständnisvollen Partnern hatten wir zwar immer eine gute Abfederung der Kinderbetreuung. Ausserdem war die Arbeit spannend und erfüllend. Dennoch, sie musste sehr flexibel in die kleineren und grösseren Lücken unseres privaten und beruflichen Alltags eingepasst werden. Das Thema war riesig und unsere verfügbare Zeit begrenzt.

Da hörte Heidi über den Historiker Josef Wandeler, der am Historischen Seminar der Uni Zürich beschäftigt war, dass 1983 an der Universität Bern eine erste Historikerinnentagung stattfinden sollte. Beatrix Mesmer, Professorin an der Uni Bern, ihre damalige Assistentin Brigitte Schnegg und Regina Wecker, damals Assistentin an der Universität Basel, schlossen sich zusammen, um ein Forum für Forscherinnen zu schaffen, die sich mit Frauengeschichte befassten. Während sich die etablierte Geschichtswissenschaft schwertat mit dem Thema, gingen informelle Gruppen die neuen Fragestellungen seit den 1970er-Jahren mit freien Tutoraten an. Diese Forscherinnen sollte die Tagung vernetzen. Das Thema war die Geschichte weiblicher Arbeits- und Lebensbedingungen in der Schweiz. Wir waren beide freischaffende Historikerinnen, Heidi hatte promoviert, ich nicht. Konnten wir an diesem akademischen Zirkel einfach so teilnehmen? Wir bewarben uns und wurden angenommen, als einzige ausseruniversitäre Referentinnen. Wir stellten unser Buchprojekt vor und sprachen zur Entwicklung der «Töchterberufe», also über die den tonangebenden Männern ewig zudienenden Frauenberufe wie Krankenschwester, Lehrtochter, Bürotochter, Ladentochter, Serviertochter etc. Das Referat kam sehr gut an, das Interesse an der Quellenedition war gross, die Diskussion lebhaft. Wir waren glücklich, einen Kreis von so interessanten Mitstreiterinnen gefunden zu haben.

Doch als Brigitte Schnegg und Regina Wecker den Tagungsband zusammenstellten, sagte Beatrix Mesmer zunächst, unser Referat passe nicht so recht zu den wissenschaftlichen Beiträgen. Es habe mehr den Charakter eines

Ein langer Weg – Historikerinnen und die Schweizer Frauengeschichte

Das Interesse an der historischen Forschung zur Frauen- und Geschlechtergeschichte entwickelte sich ab den 1960er-Jahren aus der neuen Frauenbewegung in den westlichen Ländern heraus, allen voran den USA. In der Schweiz war das Thema bis in die 1970er-Jahre an den Universitäten inexistent. «Die Bezeichnung ‹Frauengeschichte› selbst wirkte hier lange zugleich provokant und lächerlich: lächerlich durch die Nähe zu ‹Frauengeschichten› und provozierend durch den impliziten Vorwurf, dass die Geschichtswissenschaft bisher Männergeschichte betrieben und Frauen bewusst und unbewusst ausgeschlossen hatte», schreibt die Historikerin Regina Wecker in einem Aufsatz 1991.

Das mangelnde Interesse hatte nicht zuletzt mit dem Fehlen von Professorinnen im Fach Geschichte zu tun. Beatrix Mesmer wurde 1973 die erste Professorin für Schweizer Geschichte an der Universität Bern und stellte die Sozial-, Mentalitäts- und Geschlechtergeschichte ins Zentrum ihrer Forschung. Während zwanzig Jahren war sie die einzige Lehrstuhlinhaberin mit diesem Fokus. 1983 fand nicht nur die von ihr mitinitiierte erste Historikerinnentagung der Schweiz statt. Im selben Jahr wurde auch der Verein Feministische Wissenschaft Schweiz (FemWiss) gegründet. Bis 2007 wurden elf weitere Historikerinnentagungen durchgeführt; seither findet der Austausch unter dem Namen «Tagung für Geschlechtergeschichte» statt. Regina Wecker wurde 1993 Assistenzprofessorin für Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Basel und 1997 ausserordentliche Professorin. Ebenfalls in Basel erhielt Andrea Maihofer 2001 das erste Ordinariat für Gender Studies. Die Einrichtung eigener Forschungsinstitute zu Gender Studies an Schweizer Hochschulen begann Ende der 1990er-Jahre. Heute gibt es sie an fast allen Hochschulen und an mehreren Fachhochschulen. Am Historischen Seminar der Universität Zürich dauerte es bis 2003, bis die ersten beiden Professuren mit Frauen besetzt wurden. Während in Zürich inzwischen fast die Hälfte der Lehrstuhlinhaberinnen in der Geschichtswissenschaft Frauen sind, ist die Schweizer Frauen- und Geschlechtergeschichte an den Hochschulen weiterhin institutionell wenig verankert. Pionierinnen wie Regina Wecker in Basel oder Brigitte Studer in Bern wurden in den letzten Jahren pensioniert oder sind wie Brigitte Schnegg mittlerweile verstorben.

Regina Wecker, Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. Heft 3, 41 (1991). S. 308–319.

Essays. Rückblickend hatte sie wohl recht. Doch damals zeigten wir uns empört. Wir fragten uns, ob Mesmers Haltung wohl damit zu tun hatte, dass wir nicht zum universitären Kreis gehörten.

Professor Rudolf Braun, der meine Lizenziatsarbeit betreut hatte und ein aufgeschlossener Pionier der Sozialgeschichte war, stattete der Tagung einen kurzen Besuch ab. Ich hatte etwas Bammel, dass er in unseren Vortrag kommen könnte. Aber er tauchte nicht auf. Es wurde mir allerdings zugetragen, was er gesagt haben soll: «Wieso spricht die Joris da? Sie soll lieber ihre Dissertation schreiben.» Dazu muss man wissen: Ich hatte eine so umfangreiche Lizenziatsarbeit verfasst, dass Rudolf Braun fand, es brauche nur noch wenig Recherche, vielleicht ein halbes Jahr, und die Arbeit liesse sich als Dissertation einreichen. Das war 1980 gewesen. Ich hatte mich dagegen entschieden und kurz darauf mit Heidi die Arbeit an unserer «Frauengeschichte(n)» in Angriff genommen. Das passte ihm ganz offensichtlich nicht, was in meinen Augen widersprüchlich war. Professor Braun hatte 1978 unter dem Titel «To suffer and be still. Die Frau im 19. Jahrhundert» die erste offizielle Lehrveranstaltung an einer Schweizer Universität zum Thema Frauengeschichte durchgeführt. Für das Thema hatte er Verständnis und Sympathie, nicht aber für meinen Auftritt.

Mesmers und Brauns Reaktionen waren kleine Nadelstiche. Aber der Historikerinnentagung erging es im Kreis der etablierten Historiker nicht etwa anders. Als Beatrix Mesmer den Tagungsband als Sondernummer der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte publiziert hatte und Alain Dubois, Professor in Lausanne, ihn an der Jahresversammlung der Allgemeinen Geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz vorstellen sollte, überging er ihn und leitete mit den Worten «befassen wir uns mit Ernsthafterem» rasch zum nächsten Thema über.

Abgesehen davon war die Tagung für Heidi und mich aber von unschätzbarem Wert. Sie brachte uns mit gleichgesinnten Wissenschaftlerinnen in Kontakt, woraus sich jahrelange Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen entwickelten. Ohne dieses starke Frauennetzwerk hätten wir das Buch kaum je beenden können. Eine wichtige Rolle spielte in der Folge wiederum Josef Wandeler, der von nun an als «Sekretär» unseres Projekts fungierte und uns den Kontakt zu einer Gruppe von jungen Historikerinnen am Seminar vermittelte. Sie erforschten und schrieben schliesslich einen Grossteil des Kapitels «Weiblichkeit als Norm». Das Buch war ein grosses Teamwork. Entsprechend ist nach jedem Beitrag deklariert, wer jeweils dahintersteht. Mit unserer Publikation befanden wir uns auf einer Welle der historischen Forschung, die sich gerade aufzubauen begann. Das Buch kam zum richtigen Zeitpunkt.

Die Idee für den Titel «Frauengeschichte(n)» mit der Klammer am Ende hatte Helen Pinkus-Rymann. Der Verlag wehrte sich gegen die Klammer, aber Heidi, Helen und ich beharrten darauf. So musste das Buch heissen, und einen Teil seines Erfolgs verdankt es wohl auch dieser ungewöhnlichen Wahl.

Ebenso beharrlich hatten Heidi und ich darauf bestanden, dass Helen das Buch gestalten würde. Uns war sonnenklar, dass sie die Richtige war, weil sie sich genauso in der Frauenbewegung engagierte wie wir und ganz grundsätzlich verstand, worum es uns ging. Trotz finanzieller Bedenken des Verlags, Helen zu beauftragen, setzten wir uns schliesslich durch.

Heidi interessierte sich nicht sehr für die Buchgestaltung, ich dafür umso mehr, und so verbrachte ich einen Grossteil des Sommers 1986 in Helens Atelier. Sie trug den bekannten Namen ihres Mannes André Pinkus und war damit sozusagen mit dem «linken Adel» der Stadt Zürich verbunden. Ihre Schwiegereltern waren der ebenso legendäre wie streitbare Alt-Linke Theo Pinkus und seine Frau Amalie Pinkus-De Sassi, die im Niederdorf unweit von Helens Atelier die Buchhandlung Pinkus betrieben.

Aussenstehende hätten sich gewundert, wenn sie Helen und mich in ihrem Grafikatelier hinter dem Restaurant Neumarkt bei der Arbeit gesehen hätten. Ein langer Raum im ersten Stock eines uralten kleinen Ökonomiegebäudes. Jeden Morgen stieg ich die schmale Stiege hoch. Helen war immer schon da. Wir machten uns gleich ans Werk. Der Sommer war heiss, der Schweiss rann uns häufig schon am Vormittag von der Stirn, und so zogen wir Blusen und Röcke aus und bearbeiteten manchmal nur noch in Büstenhalter und Slip die 600 Seiten der «Frauengeschichte(n)». Computer mit Grafikprogrammen gab es damals noch nicht. Helen hatte ein Layout mit ein- und zweispaltigen Seiten entworfen. Einzelne Bilder wurden in die Quellenteile, nicht aber in die erzählenden Texte eingefügt. Ausserdem gab es zum Einstieg in die Hauptkapitel grosszügige Bildstrecken. Wir wussten, wie viele Zeichen auf eine Seite passten und hatten die Manuskripte. Auf dieser Basis berechneten und gestalteten wir Seite um Seite. Wir schnitten die Bilder und Quellentexte zurecht, klebten und markierten, wo was hingehörte. Wir breiteten die Seiten auf den zusammengerückten Tischen aus oder hängten sie an Wäscheleinen auf, um die Übersicht zu behalten. Das Fotomaterial war auf Glasplättchen, Film oder Papier vorhanden und musste für den Druck entsprechend aufbereitet werden. Helen hatte zum Glück schon einen Kopierer, mit dem man vergrössern und verkleinern konnte. Verglichen mit der heutigen Arbeit am Bildschirm war es eine sehr physische, ja sinnliche Art, das Buch in seiner ganzen Komplexität vor unseren Augen entstehen zu lassen.

Helen und ich waren in den rund zehn Jahren zuvor gute Freundinnen geworden. Als wir uns Mitte der 1970er-Jahre kennenlernten, wusste ich schon eine ganze Weile, wer sie war, aber sie kannte mich nicht. Sie war eine Art Prominente in der linken Szene. Ende der 1960er-Jahre hatte sie auf den Stufen der Riviera an der Limmat aus Protest gegen Miss-Wahlen eine Kleiderversteigerung mitorganisiert. Sie gehörte ab der ersten Stunde zu den Frauen der FBB. Als 1969 im Schauspielhaus Zürich mit einem Festakt «75 Jahre Kampf für das Frauenstimmrecht» gefeiert wurde, erboste das junge linke Frauen, darunter auch Helen. Die Schweizerinnen hatten ja noch immer kein Stimmrecht. Was genau gab es da also zu feiern? Sie störten die Veranstaltung, und als jemand von der Presse fragte, wie die aufmüpfige Gruppe hiesse, sagten die Frauen spontan und gleichsam als Witz «Wir sind die Frauenbefreiungsbewegung!». Die FBB bestand aus jungen Feministinnen, die sich nicht länger vertrösten lassen wollten. Die Gruppe wuchs schnell und wurde zu dem, was man in Abgrenzung zur alten die neue Frauenbewegung nannte. 1974 eröffnete die FBB das erste Frauenzentrum der Schweiz an der Lavaterstrasse 4 im Zürcher Enge-Quartier. Es entstanden verschiedene Arbeitsgruppen, woraus sich unter anderem die Frauenberatungsstelle Infra entwickelte. Ich ging dort Mitte der 1970er-Jahre hin, um mich einzubringen und entschied mich für die Mitarbeit. Helen wurde mir als Mentorin bei meiner ersten Abtreibungsberatung für die Infra zur Seite gestellt. Daraus wurde eine Freundschaft, und zehn Jahre später gestaltete sie unser Buch.

Helen stürzte sich ebenso leidenschaftlich in die Bildersuche wie ich. Wir besuchten zahlreiche Archive in Bern und Zürich und durchforsteten deren Bildbestände. Helen kannte viele Fotografen und bat diese um Material. Heidi wohnte in Uster neben dem legendären Fotografen Jakob Tuggener, der seit Jahrzehnten keine Bilder mehr zur Veröffentlichung freigegeben hatte. Sie lud ihn in ihre WG ein und brachte ihn dazu, uns etliche seiner Fotos zu überlassen – kostenlos. Wo immer wir mit unserem Projekt hinkamen, gingen die Türen auf.

So ungemein rund vieles im Laufe der Buchentstehung lief, am Ende gab es doch noch ein gravierendes Problem. Die 600 Seiten waren fertig gesetzt und gingen in Druck. Dort passierte ein Fehler: Man schnitt die Seiten der ersten Exemplare oben und unten falsch. Der Text rutschte zu weit hoch und unten war zu viel Weissraum. Wie das genau geschehen konnte, weiss ich nicht mehr, es betraf wohl nicht die ganze Auflage, an der Buchvernissage im Kanzleischulhaus Anfang November 1986 waren trotz Grossandrangs jedenfalls nur elf Exemplare vorhanden – ein Desaster! Doch ausser dem Verlag regte sich niemand darüber auf. Die Gesamtauflage von 5000 Büchern konnte wenige Tage später ausgeliefert werden und war bis Ende Jahr ausverkauft. Das Werk stand auf der Bestsellerliste, wurde vier Mal nachgedruckt und 2021 als erweiterte und ergänzte Neuauflage herausgegeben. Mittlerweile kann man von einem Klassiker sprechen.

«Frauengeschichte(n)» katapultierte Heidi Witzig und mich in die Öffentlichkeit, mit einem Drall, der nun bald vierzig Jahre anhält. Ohne dieses Buch wäre mein Leben anders verlaufen. Von der Geschichtslehrerin ohne Doktortitel wurde ich auf einen Schlag zur weithin bekannten Historikerin. Steht ein Jahrestag im Zusammenhang mit der Frauengeschichte an, etwa anlässlich der Einführung des Frauenstimmrechts, gibt es eine Kontroverse wie 2013 nach der SRF-Filmreihe «Die Schweizer», in der nur Männer porträtiert wurden, oder geht im Internet der Me-too-Sturm los – immer klingelt mein Telefon und die Medien wünschen eine Einordnung. Auch Museen, Verlage, Autorinnen oder Autoren melden sich mit Anfragen, ob ich an einer Ausstellung, einer Publikation mitarbeiten könnte.

Ich bin kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und im katholisch geprägten und von Clan-Strukturen dominierten Wallis aufgewachsen. Meine Rolle als Feministin und öffentliche Historikerin wurde mir keineswegs in die Wiege gelegt. Damalige Strukturen verhinderten, dass ich als junge Frau einen gradlinigen Weg gehen konnte. Aber schaue ich heute zurück, dann stelle ich fest, dass, neben vielem anderen, Glück häufig eine Rolle in meinem Leben spielte. Dazu zähle ich auch meine Herkunft aus einem relativ liberal denkenden Elternhaus.

Ein Nonkonformist ohne Karrieredrang

Er sitzt abends in seinem Ohrensessel im Wohnzimmer, den Kopf über ein Buch gebeugt, die Gedanken weit entfernt von uns in einer anderen Welt. Dieses Bild des lesenden Vaters hat sich mir eingeprägt. Es waren die 1950er-Jahre. Fernsehen gab es nicht, und er war ein Bibliomane.

Meist war er in das Buch eines französischen Verlags vertieft, in seiner Rechten lag ein Brieföffner. Damit schlitzte er das Papier auf. Die grossen Druckbögen der berühmten Verlage wie Gallimard oder Plon wurden gefaltet und ungeschnitten gebunden. Lesende mussten sie alle paar Seiten selbst aufschneiden. Der crèmefarbige Buchblock aus dickem Papier sah am Ende ganz ausgefranst aus.

Mein Vater Louis Joris kam 1902 in Martigny zur Welt. Er war Nonkonformist, im Wallis sowieso. So wie ihn stellte man sich Männer dieses Kantons nicht vor.

Er glich äusserlich einem englischen Gentleman und von der Einstellung her einem französischen Intellektuellen. Ein Mann, der sich aufgrund seiner Körpergrösse den Anzug schneidern liess und ihn aus finanziellen Gründen bis zu dessen bitterem Ende trug. Der Tweedsakkos und Hosen aus Manchesterstoff liebte. Dazu rauchte er über Jahre so viele filterlose Parisiennes, dass seine Finger braun wurden. Wenn er schrieb, benutzte er einen edlen Füllfederhalter, den er zwischen Zeige- und Mittelfinger einklemmte. Auf diese Art pflegte er eine grosszügig geschwungene und charaktervolle Schrift.

Er war ein schöner Mann, 1.84 Meter gross, einer der Grössten in Visp damals. Ein Patriarch war er nicht. Er liess uns Kinder machen, schimpfte selten, wir mochten ihn.

Was meinen Vater fesselte, waren Dinge des Geistes und die internationale Politik. Er lebte in seinem Kopf, in seinen Gedanken. Er war in der französischen Geisteswelt daheim. Meist las er bis zwei Uhr nachts. Er brauchte nur fünf Stunden Schlaf.

Mein Vater las alles, Aragon und Triolet, Camus, Beauvoir, Stendhal, Proust und Boris Vian, Klassiker und avantgardistische Texte, historische Wälzer zu Napoleon oder Voltaire, früh schon Bücher von Vertretern der neueren Sozialgeschichte und Anthropologie wie Fernand Braudel und Georges Duby. Auch sehr schöne Fotobände in Schwarz-Weiss über die Alpen, den Himalaya und andere Regionen. Vielfältige Lektüre, doch gesprochen haben wir darüber kaum je. Erst als Erwachsene begegnete ich diesen Werken im Studium wieder. Da realisierte ich, dass ich all die Namen als Kind gehört hatte, dazu Worte und Gedanken, die ich damals kaum verstand – seine Auseinandersetzung mit Jean-Paul Sartre und Michel Foucault, mit André Gide und Manès Sperber. Das war die Grundmelodie meiner Kindheit. Sie schlummerte in mir und gab später den Anstoss, mich ebenfalls dafür zu interessieren und genauer hinzusehen.

Manchmal spielte er allein Schach, mithilfe französischer Schachbücher. Eine schwere Zinnkanne mit Gravur erinnerte daran, dass er einmal Walliser Schachmeister gewesen war – davon erzählt hat er allerdings nie.

Mittags kam er von seinem Arbeitsplatz bei der Lonza nach Hause. Wir sassen meistens im Esszimmer oder auch in der Küche, im Sommer auf der Terrasse. Es war seine Aufgabe, bei Tisch allen zu schöpfen. Es lief Radio Sottens, und während wir assen, las er in der Zeitung neben seinem Teller. Er war ein unersättlicher, unerschütterlicher, ein besessener Leser, arbeitete sich durch Le Monde, L’Express, Le Canard enchainé, Die Weltwoche, die Tribune de Lausanne, aber auch durch Walliser Lokalzeitungen. Er schien immer nur zu lesen, seelenruhig, inmitten einer Familie mit sechs Kindern, die durch das Haus tobten. Abends kam er aus der Fabrik und las auf der Strasse gehend Zeitung. Er konnte sich überall perfekt von seiner Umwelt abkapseln. Seine etwas wunderliche Art blieb nicht unbemerkt. Man wusste in Visp, das ist der Joris, der mit der Zeitung vor der Nase rumläuft und bei dem das Licht zu Hause bis spätnachts brennt.

Für uns war, quasi als Hintergrundgeräusch, die französische Politik immer präsent; die Befreiungskriege in Algerien und der «Chochinchine» in Indochina. Vaters Ablehnung von Charles de Gaulle war spürbar, ebenso seine noch stärkere Ablehnung der OAS, der «Organisation de l’armée secrète», ein Verbund französischer Offiziere, welche die Unabhängigkeit Algeriens nicht akzeptieren wollten. Das verrieten seine Kommentare beim Zeitunglesen und Radiohören, darüber sprach er auch mit meiner Mutter, nicht aber mit uns. Bezug zur Musik hatte er keinen. Gartenarbeiten wie Umstechen und Spritzen erledigte er, aber ein Flair für Pflanzen fehlte ihm.

Er war ein ruhiger, geduldiger Mensch. Aus seinem Mund konnte man eher eine ironische als eine liebenswürdige Bemerkung erwarten. Es umgab ihn eine gelassene Freundlichkeit, alle mochten ihn. Als ich mal seinen früheren Hausarzt traf, erzählte er mir, er habe meinen Vater stets als letzten Patienten des Tages bestellt, weil er sich gern länger mit ihm unterhalten habe. Das sei immer sehr interessant gewesen.

Nach heutigen Kriterien war mein Vater wohl hochbegabt. Mit vier Jahren kam er in Martigny in die Primarschule, mit sechzehn machte er im Collège Saint-Michel in Fribourg die beste Matura seines Jahres. Er wäre gerne an die ETH gegangen. Doch dafür musste man damals achtzehn Jahre alt sein. Sein Aufnahmegesuch wurde abgelehnt. Also begann er ein Chemiestudium an der Universität Lausanne. Seinen Vater, einen Apotheker, hatte er bereits 1913, im Alter von elf Jahren, verloren. Der Mutter fehlten längerfristig die Mittel, um ihrem älteren Sohn die Ausbildung bis zum Ende des Studiums zu finanzieren. Daher sollte er, so erzählte es mir meine Mutter nach seinem Tod, baldmöglichst verdienen. Er hat das Studium wohl kurz vor dem Abschluss abgebrochen und ging zurück ins Wallis. Bei der Firma Lonza in Visp fand er als «ingénieur chimiste» – so seine Berufsbezeichnung – eine Anstellung.

Meine Mutter Geneviève, genannt Geno, und mein Vater lernten sich um 1935 auf dem Tennisplatz kennen. Sie heirateten 1939. Da war er bereits 37 Jahre alt, sie 29. Sie war es, die heiraten wollte, und sie war es auch, die die Verantwortung im Alltag übernahm. Was meinem Vater fehlte, dieses Nichtgreifbare, das man mit Lebenstüchtigkeit umschreiben

Die Lonza – grösste Arbeitgeberin der Region Visp

Die zur Basler Chemie zählende Lonza wurde 1898 in Gampel am Ausgang des Lötschentals eröffnet und 1909 um das Werk Visp erweitert, wo insbesondere Stickstoffdünger hergestellt wurde. Vom Werkmeister über den Ingenieur bis zum Direktor waren die meisten Kaderpositionen mit Männern aus anderen Kantonen besetzt, die mit ihrer Familie zugezogen waren. Im Produktionsbetrieb setzte die Lonza dagegen auf einheimische, ungelernte männliche Arbeitskräfte aus Tal- und Berggemeinden. Bis in die Nachkriegszeit drosselte die Fabrik in der Regel die Produktion in den Wintermonaten, da von November bis März wegen ausbleibender Gletscherschmelze keine ausreichende Menge an Energie zur Verfügung stand. Diese Schwankungen waren mit ein Grund für die enge Verbindung der Lonza mit der traditionellen Berglandwirtschaft, in der ein bedeutender Teil der einheimischen Beschäftigten als Arbeiterbauern verankert blieben. Sie leisteten mehrheitlich Schichtarbeit, weil sich dadurch die Lohnarbeit mit der Arbeit im eigenen landwirtschaftlichen Betrieb verbinden liess. Die Hauptlast der Arbeit in der Land- und Viehwirtschaft lag allerdings auf den Schultern der Ehefrauen.

Die im Wallis bis in die 1950er-Jahre tonangebenden Politiker und Kleriker sahen im Arbeiterbauern angesichts der nicht aufzuhaltenden Industrialisierung einen Garanten für das Weiterbestehen der tradierten Ordnung. 1946 kamen die Beschäftigten aus rund 45 Gemeinden, vom Lötschental bis ins Goms, wobei der Radius sich bis in die 1970er-Jahre noch weiter vergrösserte. Während Arbeiter aus Visp und Umgebung vorwiegend mit dem Fahrrad zur Fabrik fuhren, nahmen anfänglich noch viele Arbeiterbauern stundenlange Arbeitswege zu Fuss auf sich. Mit dem Ausbau der Strassenverbindung in die Bergdörfer setzte die Lonza zunehmend betriebseigene grüne Busse für den Transport der Arbeiter ein. Dank der rasanten Ausweitung der Produktion im Zeichen der Hochkonjunktur wurde die Ausbildung männlicher Lehrlinge im Betrieb ausgebaut und die saisonale Beschäftigung beendet. Frauen arbeiteten ausser in der sogenannten Sackfabrik, die Verpackungsmaterial für Kunstdünger herstellte, bis in die 1950er-Jahre kaum im Produktionsbetrieb, wohl aber als Büroangestellte.

Elisabeth Joris, Tunnelbau und Grossindustrie im Oberwallis: eine Geschichte von Männern und Frauen, in: Luigi Lorenzetti, Nelly Valsangiacomo (Hg.): Alpi e patrimonio industriale, Mendrisio 2016, S. 21–51.

könnte: Meine Mutter besass es. In grossem Ausmass, sodass es am Ende für alle acht Menschen unserer Familie reichte.

Wie das Leben meines Vaters vor der Ehe ausgesehen hatte, darüber weiss ich kaum etwas. Er lebte bis zur Heirat an Wochentagen als Mieter in einem Zimmer, nahm seine Mahlzeiten im Bahnhofsbuffet ein und verbrachte die Sonntage bei seiner Mutter und Schwester in Sitten. Ausserdem war er ein passionierter Billardspieler. Dass er Mitgründer des Tennisclubs Visp gewesen war, das wussten wir Kinder schon früh. Alle spielten wir Tennis, auch Turniere und Interclub-Meisterschaften, oft unter den Augen des Vaters, der mitfieberte, bei Fehlern fluchte oder durch das Gitter rief: «Mouve ton lard! Mouve ton lard!», wenn wir zu langsam rannten – seltene Momente, in denen sein Feuer rauskam. Als ich mit sechzehn Jahren ein Walliser Tennisturnier gewann, war er enorm stolz auf mich und kaufte mir im besten Geschäft einen kurzen Tennisjupe mit dazu passendem Shirt: Marke Fred Perry. Ein dreimaliger Wimbledon-Sieger. Streit mit meinem Vater gab es eigentlich nie, ausser wir Kinder spielten schlecht Tennis, das nervte ihn. Pokale in Form von Zinnkannen in verschiedenen Grössen erinnerten uns an seine sportlichen Erfolge als Doppelspieler. Mit dem Tennisclub, wo er fast alle kannte und im Sommer oft hinging, sowie einigen engeren Bekannten aus dem Club Romand und aus seinem Arbeitsumfeld endeten seine sozialen Beziehungen in Visp mehr oder weniger. Und das in einer Zeit, in der Schweizer Gemeinden ein Eldorado der Vereinskultur waren. Andere Väter waren im Männerchor, im Schiessverein, im Turnverein, in der Feuerwehr, im Ski-, im Fussballclub … Das hätte alles nicht zu ihm gepasst. Er war kein Netzwerker, kein Vereinsmeier.

Wir waren zwar eine recht grosse Kernfamilie, aber alles andere als ein Walliser Clan. Selten hatten wir Besuch. Zu Ostern und Weihnachten kam jeweils Vaters ledige Schwester, «Tante Camille». Viele Freunde hatte mein Vater nicht. Mit einem Tennislehrer verstand er sich gut und mit Dr. Thaddeus Stachelski, einem jungen Chemiker, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen zur Lonza kam. Dieser war allein, und so lud ihn Vater zu uns ein und unterstützte ihn bei der Integration in die fremde Umgebung. Thaddeus Stachelski wurde zu einem Freund der Familie. Er war Patenonkel des zweitjüngsten Bruders und stieg die Karriereleiter hinauf bis zum Direktor der Lonza Visp.

Alles, was meinen Vater fesselte, tat er mit grosser Passion und Intensität. Er besass eine Leica und fotografierte leidenschaftlich gern, die Alpen, die Familie, und bei religiösen Anlässen auf Bitte von Leuten aus dem Dorf auch andere Kinder. Denn kaum jemand besass damals einen Fotoapparat. Früher hatte er Schach gespielt, später exzessiv Patience, ganz für sich allein. Sein Verhalten hatte Züge einer Spielsucht. Im Wallis und in der Westschweiz organisierte er Tennisturniere. Sein analytischer Geist kam ihm dabei zu Hilfe. Als der Fernseher aufkam, sah er sich Skirennen an – immer auf dem Westschweizer Sender –, und Sendungen zur internationalen Politik. Lokalpolitik interessierte ihn nicht. Nur einmal besuchte er eine politische Veranstaltung, als Karl Dellberg auftrat, der schweizweit bekannte linke Sozialdemokrat.

Das Verhältnis meiner Eltern untereinander kann ich nur schwer einschätzen. Manchmal zeigte sich meine Mutter unzufrieden. Einmal kam sie vom Kino nach Hause und ich hörte, wie sie sich stritten. Alles mache sie allein, er beachte sie kaum. Und dann hörte ich meinen Vater sagen: «Was ist das Problem? Du kannst machen, was du willst.» Ich denke, das war wohl ihre Abmachung. Er liess sie machen. Sie liess ihn machen. Sie respektierten sich, waren sich zugeneigt. Als wir Kinder aus dem Haus waren und sie langsam alt wurden, hatten es meine Eltern gut zusammen. Vielleicht besser denn je. Sie gingen täglich gemeinsam spazieren und meine Mutter vermisste ihn nach seinem Tod.

Mein Vater Louis starb 1987 an einer Hirnblutung. Innerhalb von zwei Tagen war er tot. Der Hausarzt meinte, er hätte Glück gehabt, er sei bereits etwas vergesslich geworden. Mein Vater hatte gespürt, dass sein phänomenales Gedächtnis langsam nachliess, was er ironisch kommentierte: «… avec ma mémoire comme une passoire». Er sprach zu Hause ausschliesslich Französisch. Hochdeutsch beherrschte er zwar und sprach es bei der Arbeit, aber er dachte und fühlte in seiner Muttersprache.

So begabt mein Vater in vielem war, es fehlte ihm vor allem etwas: Er konnte seine Talente nie in Erfolg umsetzen, in Äusserlichkeiten wie Geld, Karriere oder Ansehen. Es gelang ihm nicht, weil er es gar nie versuchte. Es interessierte ihn nicht.

Er arbeitete bei der Lonza im Versuchslabor und war an mehreren erfolgreichen Erfindungen beteiligt. So viel ich weiss, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, deswegen mehr Lohn oder gar eine Beförderung zu verlangen. Er arbeitete als einfacher Angestellter bis zur Pensionierung. Geld war uninteressant. Mit dem, was er tagsüber tat, reichte es für das Nötige. Wozu mehr? Die Steuererklärung füllte er in der Regel nicht aus, auf Aufforderungen und Mahnungen des Steueramts reagierte er nicht. Also schätzte man ihn ein und er bezahlte zu viel Steuern. Später hat mich das sehr erbost, denn die Folgen davon spürte meine Mutter.

Das Geld war bei uns knapp – immer hiess es sparen. Meine Eltern waren in vielerlei Hinsicht gegensätzlich, doch sie brauchten beide für sich nicht viel Geld. Kleinbürgerlichen Geiz gab es bei uns nicht. Deshalb wurde auch nicht ums Geld gestritten. Doch es war meine Mutter, die schaute, dass es bis zum Monatsende reichte. Ich musste häufig zu meiner Klavierlehrerin sagen, dass ich erst nächste Woche bezahlen würde – wenn Vaters Lohn da war. Es gab für uns Kinder Musikunterricht oder Ballettstunden, trotz knappen Mitteln. Wir machten nie Ferien. Wir hatten kein Auto. Und unzählige Male wurde das Telefon für wenige Tage abgestellt – bis die Rechnung bezahlt war.

Ich hatte nie Schwierigkeiten mit meinem Vater, aber auch keinen besonders engen Kontakt, schon gar nicht körperlich. Nur an eine regelmässige Szene kann ich mich erinnern, wo es so etwas wie Nähe mit ihm gab: Weil unser Boiler zu wenig Wasser fasste, wurden wir jüngeren Kinder samstags zu dritt gebadet. Wir waren in der Wanne, plantschten und spielten. Mein Vater sass am Badewannenrand, seifte uns ein und wusch uns mit einem Waschlappen. Der Spass zum Schluss war, dass er den mit kaltem Wasser getränkten Lappen auswrang, und zwar auf einem unserer Rücken. Wir wussten nicht auf welchem, und erwarteten mit freudigem Schauder, wen es diesmal wohl treffen würde. Fröhliches Schreien und Gelächter bildeten den Abschluss des samstäglichen Rituals mit unserem Vater.

Ich liebte ihn, sehr sogar. Auch wenn er eine distanzierte Figur war. Ein Mann, der neben seinem abgeschotteten Geistesleben ab und zu den Rucksack packte und für einige Tage verschwand. Er ging auf Bergtouren. Meine Mutter wusste nicht genau wohin, und wenn er zurückkam, erzählte er nicht viel.

Einem Kind galt seine besondere Sorge. Es war mein zwei Jahre älterer Bruder Jean-Pierre. Dieser erkrankte mit sieben Jahren an Kinderlähmung, war fast ein Jahr weg von zu Hause. Das hat ihn geprägt, auch wenn die körperlichen Folgen ihn in seinem Leben nicht stark behinderten. Ihm – so schien es mir – war mein Vater näher als uns fünf anderen.

Als kleines Mädchen fürchtete ich um Vaters Seelenheil. Er war nicht gläubig, was man uns verschwieg, um uns nicht zu ängstigen. Wir wurden gut katholisch erzogen, Kirche war Pflicht, obwohl auch die Mutter nicht sehr gläubig war. Aber sie besuchte am Sonntag die Messe, meistens war sie etwas zu spät. Sie tat es wegen uns, auch weil sie Teil der Dorfgemeinschaft war. Als wir erwachsen waren, ging sie zunehmend seltener.

Doch Vater begleitete uns von Anfang an nie, auch nicht am Sonntag – eine Todsünde. Ein Verhalten, das für mich schwierig zu verstehen war. Ich hatte Angst, er käme in die Hölle. Die Mutter beruhigte mich, der Vater gehe bereits morgens um fünf im Wohlfahrtsgebäude der Lonza mit den Schichtarbeitern zur Messe, wenn wir noch schliefen. Weil er ab und zu früh in die Fabrik gerufen wurde – ins Labor – und am Morgen tatsächlich sehr zeitig aus dem Haus ging, wollte ich die Geschichte glauben. Tatsache aber war: Er war nicht gläubig. Wenn es sein musste, ging er zur Kirche, aber er konnte nichts mit dem Katholizismus anfangen. Genauso wenig wie mit dem Schweizer Militär. Er war ein Antimilitarist und leistete nie Militärdienst. Mit welcher Begründung es ihm gelang, dieser Pflicht zu entkommen, weiss ich nicht.

Schaut man weiter zurück, sieht man, dass es in der Familie Joris mehrfach widerständige Persönlichkeiten gab. Alexis Joris gehörte zu den Vorfahren meines Vaters, aber trotz desselben Familiennamens nicht in direkter, sondern über eine weibliche Linie. Mitte des 19. Jahrhunderts führte er Freischärlerzüge des Unterwallis gegen Sitten an und ging danach ins Waadtland ins Exil, um im Sonderbundskrieg unter General Dufour an der Spitze der siegreichen eidgenössischen Truppen ins Wallis einzumarschieren: ein Held im Gedächtnis der Unterwalliser Radicaux, ein Held auch des späteren freisinnigen Bundesrats Pascal Couchepin. Im Historischen Lexikon der Schweiz heisst es zur Familie Joris: «Im 19. Jh. spielten die zahlreichen Notare, Magistraten, Grossräte, Richter und Offiziere der Fam. eine wichtige Rolle im Wallis.» Mein Vater gehörte nicht zu den Notabeln, die eine grosse Rolle spielten, aber ein Widerständiger war er, ein totaler Individualist.

Als ich 1961 in die französische Mittelschule kam, bat ich meinen Vater um Hilfe mit den französischen Klassikern. Das tat er gern. Er konnte seitenweise Racine und andere Autoren auswendig deklamieren. Er machte Stilübungen mit mir, métaphores, allitérations und vieles mehr. Erst in dieser Zusammenarbeit ging mir das Ausmass seiner ungeheuren Belesenheit auf, und wie sehr ihn das alles faszinierte.

Er war immer präsent und dennoch ein ferner Vater, interessant, liebenswürdig, etwas weltfremd und selbstironisch. Aber es war eine Zeit, in der es nicht weiter auffiel, wenn Väter sich so verhielten. Kinder waren Sache der Mütter.

Die wunderbare Fähigkeit, aus allem etwas zu machen

Bei schönem Wetter konnte es vorkommen, dass meine Mutter den Besen in die Ecke stellte und sagte: «Los, jetzt gehen wir spazieren. Am Dreck ist noch niemand gestorben, der kann warten, die Sonne nicht!» So war sie. Spontan, lebhaft und ebenso wie mein Vater nicht immer konform. Aber auf eine ganz andere Art: Er war der intellektuelle Eigenbrötler, sie die Rebellin. Die Tochter einer solchen Mutter zu sein, fand ich in meiner Kindheit anstrengend und häufig schwierig. Mama, wie wir sie nannten, war ungemein tüchtig und voller Energie. Sie konnte fünf Dinge parallel erledigen. Ich bin ihr Abbild, und je älter ich werde, desto mehr gleiche ich ihr. Ebenso klein gewachsen wie sie, dieselbe Stimme, dieselbe Gestik, dieselbe Energie. Das heisst nicht, dass wir ein Herz und eine Seele gewesen wären. Lange Zeit rieb ich mich an ihr. Sie war die Verkörperung von allen möglichen Widersprüchen, aber im Gegensatz zu mir reflektierte sie diese nicht. Sie war einfach, wie sie war.

In meinen Kindheits- und Jugendjahren genierte ich mich oft, wenn sie etwas tat, was mir peinlich war. Sie hatte starke Meinungen und setzte sie im konservativen Wallis durch. Das Verbot der Schule, dass ich im Winter, bei ungeräumter Strasse, für den Weg nicht die von ihr genähte Skihose tragen durfte, konnte sie nicht akzeptieren. Sie war eine Apothekertochter. Für sie war das Tragen von Röcken und langen Strümpfen – Strumpfhosen trug man noch nicht – bei Minustemperaturen eine Gesundheitsgefährdung.

Ich war in der zweiten Klasse. Es hatte geschneit, der Pferdepflug war noch nicht in unserer Siedlung angekommen, aber ich weigerte mich, in Hosen zur Schule zu gehen, eben weil es verboten war. «Ja, dann bleibst du halt zu Hause.» Und so war es. Nach vielleicht zwei Tagen, an denen ich auf Mutters Geheiss «gestreikt» hatte, sah ich abends von der Strasse, wo ich spielte, die junge Lehrerin in ihrem schwarzen Nonnenkleid auf unser Haus zugehen. Ich versteckte mich. Nachdem sie wieder gegangen war, kehrte ich heim. Sie hatte mit meiner Mutter einen Kompromiss ausgehandelt: Solange die Strasse ungepflügt war, sollte ich über der Skihose einen Jupe tragen. Kein anderes Mädchen ging so zur Schule. Ich beeilte mich, in meine Mädchenklasse zu kommen, wo ich das Ding schleunigst auszog und auf den Haken an der Wand warf. Ich sehe das Bild heute noch vor mir, wie sie da hängt, die einzige Hose zwischen lauter Mänteln und Jacken. In der vierten Klasse kam es zu einer ähnlichen Situation. Meine Mutter wollte, dass ich in Hosen zur Schule ging. Ich wehrte mich lange, doch sie setzte sich durch. Ich kam zu spät, und da sagte meine Lehrerin Schwester Monika doch tatsächlich zu mir: «Du hast wohl so lange getrotzt, bis du eine Hose tragen durftest.» Es war unglaublich, sie dachte, ich hätte mich aufgelehnt gegen die Norm. Wieder zwei Jahre später nähte mir meine Mutter eine Gehhose, eine absolute «Nouveauté» für Mädchen in Visp Ende der 1950er-Jahre. Nun trug ich an freien Tagen im Winter – selbst ohne Schnee – eine sehr hübsche, karierte Hose. Da meine beiden jüngeren Brüder ebenfalls karierte Hosen hatten, liefen die Buben hinter mir her, lachten mich aus und riefen: «Die het d’Hose vo ire Briiädere a.» Das Hosenthema war für mich eine leidige Geschichte.

Das Denken und Handeln nach ihrem Gutdünken liess sich meine Mutter nicht verbieten. Sie konnte sich zwar anpassen und machte die katholischen Rituale mehr oder weniger mit. An der Fronleichnamsprozession gehörten wir immer zu den am hübschesten gekleideten Kindern im Ort. Aber alles hatte seine Grenzen. Als meine ältere Schwester Madeleine in der fünften Klasse war, hatte der Gemeinderat unter der Leitung des Demokraten und Schriftstellers Adolf Fux bestimmt, dass die Mädchen künftig in Kniestrümpfen zur Schule gehen durften. Das war ein Politikum, denn die Schule unterstand zwar der Gemeinde, wurde aber vom Klerus präsidiert und kontrolliert. Die älteren Priester waren mit der Neuregelung nicht einverstanden, ebenso wenig die Ursulinerinnen, welche die Mädchen unterrichteten.

Sittlichkeit, Keuschheit und die entsprechende Kleidung waren damals immer ein Thema. Madeleine besuchte die Klasse von Schwester Caritas, die zwar eine gute Lehrerin, aber völlig fixiert auf das Thema Keuschheit und gegen die neue Liberalität war. Sie hiess Caritas, doch barmherzig war sie nicht. Als Madeleine in Kniestrümpfen zur Schule ging, wurde sie von ihr wegen «Unkeuschheit» heimgeschickt. Meine Mutter schäumte vor Wut. Beim nächsten Elternabend stand sie auf und warf der Nonne, unter deren Haube kein einziges Haar hervorschaute, an den Kopf: «Wenn Sie in einem muslimischen Land leben würden, wären sie trotz Ihres Schleiers unkeusch, weil sie Ihr Gesicht nicht bedecken.» Die anderen Eltern schwiegen, einige sagten zu meiner Mutter hinterher, wie recht sie gehabt habe. Diese Feigheit erzürnte sie gleich nochmals.

Lange schämte ich mich für ihre unkonventionelle Art. Morgens stand sie auf und zog sich als Erstes einen bequemen Trainingsanzug an. Keine andere Frau in Visp trug so etwas! Sie aber liebte das legere Kleidungsstück, zu dem sie schicke Pantoletten mit Keilabsatz aus Kork trug. Im Rückblick erkenne ich, dass damit ein Hauch der amerikanischen Fifties durch unser Haus wehte. Sie ging in die Küche und bereitete unseren Frühstücksporridge zu. Manchmal zog sie sich danach richtig an, manchmal ging sie aber auch, so wie sie war, schnell in den Laden um die Ecke. Was die Leute darüber dachten, war ihr egal. Geneviève Joris kümmerte sich nicht um das Gerede der anderen. Ich wäre so gern «normal» gewesen, aber bei uns schien immer alles etwas anders zu sein als in anderen Familien.

Meine Mutter hatte Seiten, die mir zu schaffen machten. Als Kind litt ich darunter, dass sie mich bei meiner Heimkehr aus der Schule manchmal mit Ablehnung anschaute und kaum mit mir sprach. Ich wusste dann nur, dass ich etwas falsch gemacht hatte, aber nicht was. Mit meiner Mutter zu diskutieren, ihr gar zu widersprechen, wagte ich nicht. Sie hatte etwas Unerbittliches an sich und ich getraute mich lange nicht, mit ihr zu streiten. Jahrelang kam das nur in meinen nächtlichen Träumen vor. Als ich schon fast vierzig Jahre alt war, wachte ich eines morgens auf und war verblüfft. Ich hatte einen Traum gehabt, in dem ich mit meiner Mutter redete – ohne zu streiten.

Sie war intelligent und eloquent, und ich dachte als Kind und Jugendliche, ich könne ihr nicht Paroli bieten. Also schwieg ich. Oder erzählte eine Notlüge. «Hast du