Emotionale Beweglichkeit - Susan David - E-Book

Emotionale Beweglichkeit E-Book

Susan David

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Beschreibung

Der Weg zur persönlichen und beruflichen Erfüllung verläuft selten geradlinig. Diejenigen, die ihre größten Ziele erreicht haben oder in glücklichen Beziehungen leben, haben immer auch Geschichten über unerwartete Irrwege auf Lager. Was zeichnet diese Menschen aus? Die Antwort ist: Beweglichkeit – Emotionale Beweglichkeit. Emotionale Beweglichkeit, der #1 Bestseller des Wall Street Journals, umfasst einen revolutionären, wissenschaftlich fundierten Ansatz, der es uns ermöglicht, den Wendungen des Lebens mit Selbstakzeptanz, Klarheit und einem offenen Geist zu begegnen. Die renommierte Psychologin Susan David baut dieses Konzept auf ihrer mehr als zwanzig Jahre andauernden Forschung zu Emotionen, Glück und Leistung auf. Ihr Resümee: Entscheidend für Erfolg und Glück ist die Art und Weise, wie wir durch unsere innere Welt – unsere Gedanken, Gefühle und Selbstgespräche – navigieren. Mit dieser Roadmap der Emotionen entdecken Sie Wut oder Angst als Quelle von Energie und Kreativität neu. Das vom Harvard Business Review als „groundbreaking idea of the year” bezeichnete Konzept baut auf vier Schlüsselkomponenten auf. Diese ermöglichen uns, unangenehme Erfahrungen anzuerkennen, sie mutig und mitfühlend anzusehen, während wir uns gleichzeitig von ihnen lösen. Auf diese Weise können wir kleine, aber wirkungsvolle Änderungen in unserem Handeln vornehmen, die uns lebenslang wachsen lassen. Susan David beweist, dass kein Merkmal ausschlaggebender für Erfolg ist als die Fähigkeit, eine elegante Verbindung zu den eigenen Emotionen zu schaffen. Dies zu lernen ist wie der Unterschied zwischen einem Kampf und einem Tanz! — Marshall Goldsmith, Unternehmensberater und Bestseller-Autor In eindrucksvoller Weise zeigt uns Susan David, wie Gedanken, Gefühle und Motive uns ermächtigen oder auch aus der Bahn werfen können. In ihrer Arbeit verbindet sie überzeugende Forschungsansätze, einen engagierten Stil und jede Menge praktische Weisheit, damit wir unser Leben grundlegend ändern können und auf allen Ebenen erfolgreich werden. — Peter Salovey, Präsident der Yale University

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Susan David, PhD

Emotionale Beweglichkeit

Für freie Entfaltung mit klarem Blick und offenem Geist

Susan David, PhD

Emotionale Beweglichkeit

Für freie Entfaltung mit klarem Blick und offenem Geist

1. deutsche Ausgabe 2020

978-3-96257-143-6

© 2020, Narayana Verlag GmbH

Titel der Originalausgabe:

Emotional Agility

Get Unstuck, Embrace Change, and Thrive in Work and Life

Copyright © 2016 by Susan David

Book design by Gretchen Achilles

Jacket design: Rodrigo Corral

Jacket image: Esteban Navia / EyeEm / Getty Images # 547064905

Übersetzung aus dem Englischen: Julia Augustin

Coverdesign: Rodrigo Corral

Coverabbildung: Esteban Navia / EyeEm / Getty Images # 547064905

Coverlayout: Annette Ahrend

Herausgeber:

Unimedica im Narayana Verlag GmbH,

Blumenplatz 2, D-79400 Kandern

Tel.: +49 76 26 974 970-0

E-Mail: [email protected]

www.unimedica.de

Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlags darf kein Teil dieses Buches in irgendeiner Form – mechanisch, elektronisch, fotografisch – reproduziert, vervielfältigt, übersetzt oder gespeichert werden, mit Ausnahme kurzer Passagen für Buchbesprechungen.

Sofern eingetragene Warenzeichen, Handelsnamen und Gebrauchsnamen verwendet werden, gelten die entsprechenden Schutzbestimmungen (auch wenn diese nicht als solche gekennzeichnet sind).

Die Empfehlungen in diesem Buch wurden von Autor und Verlag nach bestem Wissen erarbeitet und überprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Namen und kennzeichnende Charakteristika wurden verändert und in einigen Fällen erfunden, um die Privatsphäre einzelner hieran beteiligter Personen zu schützen.

Für die Liebe meines Lebens, Anthony, & meine Schätze Noah und Sophie, die wissen, wie man jeden einzelnen Tag tanzt

» INHALT

1. VON STARRHEIT ZU BEWEGLICHKEIT

Starr oder beweglich?

Präsent sein

Heraustreten

Für die eigenen Werte einstehen

Weiterziehen

2. GEFANGEN

Langsam und schnell denken

Die vier häufigsten Fallen

3. DER VERSUCH, SICH ZU BEFREIEN

In der Angstspirale

In der Glücklichkeitsfalle

4. PRÄSENT SEIN

Selbstmitgefühl

Ihr innerer Kritiker

Aus vollem Willen

Was funkt?

5. HERAUSTRETEN

Das geheime Leben der Dinge, die Sie sehen

Den Raum dazwischen erschaffen

Loslassen

6. FÜR DIE EIGENEN WERTE EINSTEHEN

Wie stelle ich mir mein Leben vor?

Die eigenen Werte erkennen

Der Whistleblower

Für die eigenen Werte einstehen

Widersprüchliche Ziele

7. WEITERZIEHEN: DAS PRINZIP DER WINZIGEN Veränderungen

Eine neue Perspektive: Die Veränderung unserer Denkweise

Moralischer Zeigefinger oder bereitwilliges Herz: Wie wir unsere Motivation verändern

Langfristige Erfolge: Wie wir unsere Gewohnheiten verändern

8. WEITERZIEHEN: DAS WIPPENPRINZIP

Der Fluch der Bequemlichkeit

Die Kohärenz schlechter Entscheidungen

Die Herausforderung annehmen

Gefordert bleiben

Das Plateau verlassen

Zäh sein oder aufgeben?

9. EMOTIONALE BEWEGLICHKEIT BEI DER ARBEIT

Autopilot-Verhalten bei der Arbeit

Persönliche Stolperfallen

Stolperfallen beim Umgang mit Gruppen

Gruppenversagen

Bei der Arbeit präsent sein

Der Sinn der Arbeit

Emotionsarbeit

Den eigenen Job optimieren

10. EMOTIONAL BEWEGLICHE KINDER GROSSZIEHEN

Den Sprung wagen

Mit gutem Beispiel vorangehen

Einander sehen und wahrnehmen

Wie, nicht Was denken

Empathische Kinder großziehen

Emotionales Coaching

Das ist alles

11. FAZIT: ECHT WERDEN

Danksagung

Referenzen

Index

Über die Autorin

GEFANGEN

PRÄSENT SEIN

HERAUSTRETEN

FÜR DIE EIGENEN WERTE EINSTEHEN

WEITERZIEHEN

ERFOLGREICH SEIN

» KAPITEL 1

VON STARRHEIT ZU BEWEGLICHKEIT

Vor etlichen Jahren, zu Zeiten von „Downton Abbey“, also etwa um die vorletzte Jahrhundertwende, stand ein angesehener Kapitän auf der Kommandobrücke eines britischen Kriegsschiffes und betrachtete den Sonnenuntergang über dem Meer. Die Geschichte besagt, dass der Kapitän sich anschickte, zum Abendessen nach unten zu gehen, als der Ausguck plötzlich vom Krähennest herunterrief: „Licht, Sir! Zwei Meilen voraus!“

Der Kapitän drehte sich wieder zum Steuer um.

„Beweglich oder fest?“, fragte er, da dies noch die Zeit vor der Erfindung des Radars war.

„Fest, Käpt’n.“

„Dann melden Sie diesem Schiff Folgendes“, befahl der Kapitän schroff. „Sie sind auf Kollisionskurs. Ändern Sie Ihren Kurs um 20 Grad!“

Die Antwort der Lichtquelle traf nur wenige Momente später ein: „Rate dazu, dass Sie Ihren Kurs um 20 Grad ändern.“

Der Kapitän war empört. Nicht nur, dass seine Autorität in Frage gestellt wurde – dies geschah auch noch vor einem Matrosen niederen Ranges!

„Schicken Sie noch eine Nachricht!“, knurrte er. „Wir sind die HMS Defiant, ein 35.000 Tonnen schweres Dreadnought-Großkampfschiff. Ändern Sie Ihren Kurs um 20 Grad!”

„Hervorragend, Sir”, kam prompt die Antwort. „Ich bin Obermatrose O’Reilly. Ändern Sie Ihren Kurs unverzüglich.“

Vor Weißglut völlig rot im Gesicht schrie der Kapitän: „Wir sind das Flaggschiff von Admiral Sir William Atkinson-Willes! ÄNDERN SIE IHREN KURS UM 20 GRAD!”

Nach einem Moment der Stille antwortete Obermatrose O’Reilly: „Wir sind ein Leuchtturm, Sir.“

Im Laufe unseres Lebens wissen wir Menschen nur selten, welchen Kurs wir nehmen sollen oder was genau noch vor uns liegt. Es gibt keine Leuchttürme, die uns vor stürmischen Beziehungen retten. Wir haben weder Ausguck noch Radarsystem, die uns dabei helfen, versteckte Gefahren aufzuspüren, die unsere Karrierepläne beerdigen könnten. Stattdessen haben wir unsere Emotionen – Gefühle wie Angst, Beunruhigung, Freude und Begeisterung –; ein neurochemisches System, das entstanden ist, um uns beim Navigieren durch die komplexen Stromschnellen unseres Lebens zu helfen.

Gefühle – von blinder Wut bis hin zu blinder Liebe – sind die unmittelbaren physischen Antworten unseres Körpers auf wichtige Signale der Außenwelt. Wenn unsere Sinne Informationen aufnehmen – Anzeichen von Gefahr, von romantischem Interesse, Signale, dass wir von unseren Mitmenschen akzeptiert oder ausgeschlossen werden – passen wir uns körperlich an diese eingehenden Botschaften an. Unser Herz schlägt schneller oder langsamer, unsere Muskeln spannen sich an oder lockern sich, unser geistiger Fokus richtet sich völlig auf die Gefahr oder entspannt sich in der Wärme vertrauter Gesellschaft.

Diese physischen, „verkörperlichten“ Antworten sorgen dafür, dass unser innerer Zustand und unser nach außen gerichtetes Verhalten mit der aktuell vorgefundenen Situation im Einklang stehen. Sie helfen uns nicht nur dabei zu überleben, sondern auch dabei, erfolgreich zu sein und voranzukommen. Genau wie im Fall von Matrose O’Reillys Leuchtturm ist unser natürliches Leitsystem, das sich über Millionen Jahre hinweg durch ständige evolutionäre Versuche und Irrtümer weiterentwickelt hat, für uns gerade dann umso hilfreicher, je weniger wir versuchen, es zu bekämpfen.

Doch das ist nicht immer einfach, da unsere Gefühle nicht durchgehend verlässlich sind. In einigen Situationen helfen sie uns dabei, Heucheleien und falsche Posen zu durchschauen. Wie eine Art innerer Radar erstellen sie uns das genaueste und aufschlussreichste Bild dessen, was gerade wirklich geschieht. Wer von uns kennt nicht dieses Bauchgefühl, das uns warnend zuflüstert: „Dieser Typ lügt“ oder „Irgendetwas bedrückt meine Freundin, auch wenn sie behauptet, dass es ihr gut geht“?

Doch in anderen Situationen können unsere Gefühle unschöne alte Geschichten wieder aufwärmen. Dann wird unsere Wahrnehmung dessen, was in einem bestimmten Moment passiert, durch sich plötzlich zu Wort meldende Wunden aus der Vergangenheit in die Irre geführt. Solche starken Empfindungen können die völlige Kontrolle über uns übernehmen, unser Urteilsvermögen trüben und uns direkt auf die Klippen zusegeln lassen. In so einer Situation kann es passieren, dass Sie „ausflippen“ und Ihrem dreisten Gegenüber möglicherweise sogar Ihren Drink ins Gesicht kippen.

Natürlich lassen sich die meisten Erwachsenen nur sehr selten von ihren Gefühlen übermannen und zu unangemessenen öffentlichen Zurschaustellungen hinreißen, für die sie sich noch Jahre später schämen. Es ist weitaus wahrscheinlicher, dass sie sich auf wesentlich weniger dramatische, aber dafür umso heimtückischere Weise selbst ein Bein stellen. Viele Menschen überlassen das Ruder die meiste Zeit ihrem emotionalen Autopiloten, wenn sie auf bestimmte Situationen eher unbewusst und manchmal sogar völlig ohne einen erkennbaren Willen reagieren. Andere wissen sehr genau, dass sie zu viel Energie dafür aufwenden, ihre Gefühle zu beherrschen oder zu unterdrücken. Im besten Fall behandeln sie ihre eigenen Emotionen wie aufmüpfige Kinder, im schlimmsten Fall wie Gefahren, die ihr eigenes Wohlergehen bedrohen. Wieder andere glauben, dass ihre Gefühle sie daran hindern, das Leben zu leben, das sie sich wünschen – insbesondere dann, wenn es sich um problematische Empfindungen wie Wut, Scham und Angst handelt. Mit der Zeit werden unsere Antworten auf die Signale der realen Welt immer schwächer und unnatürlicher. Sie lenken uns von unserem richtigen Kurs ab, anstatt unseren Interessen zu dienen.

Ich bin Psychologin und biete auch Coachings für Führungskräfte an. Schon seit über zwei Jahrzehnten beschäftige ich mich mit der Erforschung von Gefühlen und unserer Interaktion mit ihnen. Wenn ich meine Klienten frage, wie lange sie bereits versuchen, sich ihrer Gefühle, insbesondere der herausfordernden, bewusst zu werden, sie geradezubiegen, mit ihnen zurechtzukommen oder Situationen besser zu bewältigen, in denen diese Gefühle hervorbrechen, antworten sie meist fünf, zehn oder sogar zwanzig Jahre. Manchmal lautet die Antwort sogar: „Seit ich ein kleines Kind bin.“

Die offensichtliche Antwort darauf ist: „Und glauben Sie, dass Sie mit dem, was Sie tun, Erfolg haben?“

Mein Ziel ist es, Ihnen mit diesem Buch zu helfen, sich Ihrer Gefühle besser bewusst zu werden. Sie lernen, diese zu akzeptieren und Frieden mit ihnen zu schließen. Dadurch werden Sie emotional beweglicher und können sich weiterentwickeln. Die Werkzeuge und Techniken, die ich zusammengetragen habe, werden Sie nicht zu einem perfekten Menschen machen, der niemals etwas Falsches sagt oder nie von starken Gefühlen wie Scham, Schuld, Wut, Angst oder Unsicherheit geplagt wird. Der Versuch, perfekt sein zu wollen oder stets glücklich zu sein, wird bei Ihnen nur zu Frustration und Fehlschlägen führen. Ich erhoffe mir stattdessen, Ihnen dabei zu helfen, auch mit Ihren schwierigsten Emotionen zurechtzukommen. Ich möchte, dass Sie erfolgreichere Beziehungen führen, Ihre Ziele erreichen und Ihr Leben in vollen Zügen genießen können.

Doch das ist nur der „emotionale“ Teil von emotionaler Beweglichkeit. Der „Beweglichkeitsteil“ konzentriert sich auch auf Ihr Denken und Ihre Verhaltensprozesse – die Gewohnheiten Ihres Geistes und Körpers, die Ihnen ebenfalls im Weg stehen können, und zwar besonders dann, wenn Sie wie der Kapitän des Schlachtschiffs Defiant in neuen oder andersartigen Situationen auf dieselbe alte und starrsinnige Weise reagieren.

Störrische Reaktionen können von einer alten, kontraproduktiven Geschichte herrühren, die Sie sich selbst schon über eine Million Mal erzählt haben: „Ich bin so ein Versager“ oder „Ich sage immer das Falsche“ oder „Ich kneife immer dann, wenn ich für das kämpfen sollte, was mir zusteht“. Dieses festgefahrene und kontraproduktive Verhalten kann sich aus der völlig normalen Gewohnheit entwickelt haben, geistige Abkürzungen zu nehmen und Vermutungen oder Faustregeln zu akzeptieren. Diese mögen Ihnen früher durchaus geholfen haben, sei es in der Kindheit, während Ihrer ersten Ehe oder zu einem früheren Zeitpunkt Ihrer Karriere. Doch jetzt hilft Ihnen ein „Man kann den Menschen nicht trauen“ oder ein „Ich werde nur verletzt werden“ nicht mehr weiter.

Immer mehr Forschungsergebnisse zeigen, dass emotionale Unbeweglichkeit – sich von Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen leiten zu lassen, die uns nicht weiterhelfen – mit einer ganzen Reihe psychologischer Leiden in Zusammenhang steht, wie zum Beispiel Depressionen und Angstzuständen. Im Gegensatz dazu ist emotionale Beweglichkeit – die Fähigkeit, flexibel mit Gedanken und Gefühlen umzugehen und so optimal auf alltägliche Situationen zu reagieren – der Schlüssel zu Erfolg und Wohlergehen.

Dennoch geht es bei emotionaler Beweglichkeit nicht darum, die eigenen Gedanken zu kontrollieren oder sich zu zwingen, positiver zu denken. Forschungsergebnisse zeigen nämlich auch, dass es gewöhnlich nicht funktioniert, Menschen dazu zu bringen, ihre negativen Gedanken („Ich werde diese Präsentation in den Sand setzen“) in positive Gedanken („Ich werde es allen zeigen, du wirst schon sehen“) zu verwandeln. Es kann sogar kontraproduktiv sein.

Bei emotionaler Beweglichkeit geht es darum, lockerer zu werden, sich zu beruhigen und bewusster und absichtsvoller zu leben. Es geht darum zu wählen, wie wir auf unser emotionales Warnsystem reagieren wollen. Dieser Ansatz orientiert sich an Viktor Frankl, dem Psychiater, der mehrere nationalsozialistische Konzentrationslager überlebte und das Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ schrieb. Darin zeigt er auf, wie wir ein sinnvolleres Leben führen können; ein Leben, in dem wir unser menschliches Potential entfalten: „Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegt unser Wachstum und unsere Freiheit.“

Wie sich gezeigt hat, kann uns emotionale Beweglichkeit durch das Schaffen dieses Raums zwischen unseren Gefühlen und der Reaktion auf unsere Gefühle bei einer ganzen Reihe von Problemen helfen: bei einem negativen Selbstbild, Kummer, Schmerzen, Ängsten, Depressionen, pathologischem Aufschiebeverhalten, schwierigen Übergangsphasen etc. Doch emotionale Beweglichkeit hat nicht nur positive Auswirkungen auf Menschen, die mit persönlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Sie beruht auch auf verschiedenen Disziplinen der Psychologie, die die Charakteristiken erfolgreicher und aufstrebender Menschen erforschen, wie beispielsweise Frankl, der den Horror der Konzentrationslager überlebte und danach Großes leistete.

Emotional bewegliche Menschen sind dynamisch. Sie reagieren flexibel auf unsere sich schnell verändernde und komplexe Welt. Sie können großen Stress ertragen und Niederlagen verkraften – und dabei trotzdem engagiert, offen und empfänglich bleiben. Sie wissen, dass das Leben nicht immer einfach ist. Trotzdem orientieren sie sich bei ihrem Handeln kontinuierlich an ihren wichtigsten Werten und verfolgen große und langfristige Ziele. Auch sie empfinden Gefühle wie Wut, Trauer und so weiter – wer tut das nicht? –, doch sie begegnen diesen Gefühlen mit Neugier, Selbstmitgefühl und Akzeptanz. Statt sich von diesen Gefühlen in die Knie zwingen zu lassen, widmen sich emotional bewegliche Menschen unbeirrbar und auf erfolgreiche Weise ihren ehrgeizigsten Vorhaben.

Mein Interesse für emotionale Beweglichkeit und diese Art der Resilienz wurde während der Apartheid in Südafrika geweckt. Als ich während dieser gewalttätigen Zeit der erzwungenen Segregation dort aufwuchs, war es für die meisten Südafrikanerinnen und Südafrikaner wahrscheinlicher, vergewaltigt zu werden, als lesen zu lernen. Regierungstruppen zwangen die Menschen, ihre Wohnungen zu verlassen und folterten sie. Die Polizei erschoss Bürger, die einfach nur zur Kirche gingen. Schwarze und weiße Kinder wurden in allen Bereichen der Gesellschaft voneinander getrennt: in Schulen, Restaurants, Toiletten oder Kinos. Und obwohl ich weiß bin und daher nicht in solch extremer persönlicher Weise leiden musste wie schwarze Südafrikanerinnen und Südafrikaner, blieb ich von der gesellschaftlichen Gewalt um uns herum trotzdem nicht gänzlich verschont. Eine meiner Freundinnen wurde von einer Gruppe Männer vergewaltigt. Mein Onkel wurde ermordet. Daher wollte ich schon in einem recht jungen Alter verstehen, wie Menschen mit dem Chaos und der Grausamkeit um sie herum umgehen (oder eben nicht umgehen).

Als ich sechzehn Jahre alt war, erhielt mein Vater mit gerade einmal 42 Jahren die Diagnose „Krebs im Endstadium“. Ihm wurde gesagt, dass er nur noch ein paar Monate zu leben hätte. Das war für mich eine traumatische und isolierende Erfahrung. Es gab nicht viele Erwachsene, denen ich mich anvertrauen konnte, und keiner meiner Freunde oder Schulkameraden hatte etwas Ähnliches durchgemacht.

Ich bin froh, dass ich eine sehr warmherzige Englischlehrerin hatte, die uns Schülerinnen dazu ermunterte, Tagebuch zu führen. Wir durften über alles schreiben, was wir wollten, und mussten ihr nur jeden Nachmittag unsere Tagebücher geben, damit sie auf unsere Einträge antworten konnte. Irgendwann begann ich, über die Krankheit und später auch den Tod meines Vaters zu schreiben. Meine Lehrerin antwortete schriftlich mit aufrichtigen Überlegungen auf meine Tagebucheinträge. Darin fragte sie mich, wie ich mich fühlte. Das Tagebuchschreiben wurde zu einem der wichtigsten Dinge, die mir Unterstützung und Rückhalt gaben. Ich merkte schnell, dass es mir dabei half, meine Erfahrungen zu beschreiben, in ihnen Sinn zu finden und sie dadurch zu verarbeiten. Meine Trauer wurde deshalb nicht kleiner. Aber das Schreiben ermöglichte es mir, mich durch mein Trauma hindurchzukämpfen. Es zeigte mir auch, wie hilfreich es ist, sich schwierigen Gefühlen zu stellen, statt ihnen auszuweichen, und führte mich schlussendlich auf meinen Berufsweg, den ich seitdem kontinuierlich weiterverfolge.

Glücklicherweise gehört die Apartheid in Südafrika der Vergangenheit an. Auch wenn unser heutiges Leben wohl kaum frei von Trauer und Schrecken ist, leben die meisten von Ihnen, die dieses Buch lesen, ohne die ständige Bedrohung durch institutionalisierte Gewalt und Unterdrückung. Und dennoch gibt es auch in den relativ friedlichen und wohlhabenden USA, in denen ich seit über einem Jahrzehnt lebe, sehr viele Menschen, die nur schwer mit ihrem Leben zurechtzukommen. Sie schaffen es nicht, es auf die ihnen bestmögliche Weise zu leben. Fast alle Leute, die ich kenne, sind gestresst. Sie sind von den Anforderungen ihres Berufs, ihrer Familie, ihrer Gesundheit und ihrer Finanzen überfordert. Hinzu kommt ein Rattenschwanz an gesellschaftlichen Einflüssen, wie eine unbeständige Wirtschaft, schnelle kulturelle Veränderungen und ein nie endender Ansturm neuer umwälzender Technologien, die uns ständig ablenken.

Gleichzeitig bringt uns das viel gelobte Multitasking – die moderne Standardantwort auf Überarbeitung und Überforderung – keine Erleichterung. Eine aktuelle Studie fand heraus, dass sich die Auswirkung von Multitasking auf die menschliche Leistungsfähigkeit tatsächlich mit Autofahren in alkoholisiertem Zustand vergleichen lässt. Andere Studien zeigen, dass auch geringer Alltagsstress (sei es die Schulbrotdose, die in letzter Sekunde gefüllt werden muss, der Handy-Akku, der ausgerechnet dann den Geist aufgibt, wenn Sie einen wichtigen Konferenzanruf erwarten, der Zug, der immer Verspätung hat oder ein riesiger Stapel offener Rechnungen) unsere Gehirnzellen bis zu einem Jahrzehnt schneller altern lassen kann.

Meine Klienten erzählen mir immer wieder, dass die Anforderungen unseres modernen Lebens dazu führen, dass sie sich wie frisch gefangene Fische fühlen, die hilflos an der Angel zappeln. Sie haben größere Pläne für ihr Leben, möchten die Welt entdecken, heiraten, ein Projekt abschließen, beruflich mehr Erfolg haben und starke, innige Beziehungen zu ihren Kindern und anderen Familienmitgliedern aufbauen. Doch ihre alltäglichen Bemühungen bringen sie diesen Zielen und Wünschen kein Stück näher (sondern bewirken tatsächlich oft das Gegenteil). Auch wenn diese Menschen sich stark darum bemühen, das für sie Richtige herauszufinden und anzunehmen, stecken sie nicht nur aufgrund ihrer jeweiligen Umstände, sondern auch wegen ihrer eigenen kontraproduktiven Gedanken und Verhaltensweisen fest. Zusätzlich dazu machen sich die Eltern unter meinen Klienten auch unablässig darüber Gedanken, wie sich ihr Stress und ihre Überarbeitung auf ihre Kinder auswirkt. Wenn es jemals eine richtige Zeit für emotionale Beweglichkeit geben sollte, dann genau jetzt. Wenn der Boden unter unseren Füßen zu schwanken beginnt, müssen wir wendig und flexibel sein, um nicht auf die Nase zu fallen.

STARR ODER BEWEGLICH?

Als ich fünf Jahre alt war, beschloss ich, von zu Hause wegzulaufen. Ich war wegen irgendeiner Sache sehr wütend auf meine Eltern. An den genauen Grund kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ich weiß aber noch, dass ich glaubte, dass Weglaufen in dieser Situation das einzig Richtige wäre. Ich packte sogar eine kleine Tasche mit einem Glas Erdnussbutter und Brot aus dem Vorratsschrank, zog meine geliebten rotweißen Marienkäfersandalen an und machte mich auf den Weg in Richtung Freiheit.

Wir wohnten damals in der Nähe einer sehr stark befahrenen Straße in Johannesburg. Meine Eltern hatten mir schon früh eingeimpft, dass ich diese Straße niemals, unter gar keinen Umständen, allein überqueren durfte. Als ich mich der Straßenecke näherte, wurde mir klar, dass mein weiteres Vordringen in die große weite Welt doch keine Option war. Das Überqueren dieser Straße war ein absolutes und nicht zur Debatte stehendes Tabu. Also tat ich das, was jede gehorsame Fünfjährige auf der Flucht von zu Hause tun würde, der es nicht erlaubt ist, auch nur einen Fuß auf die verkehrsreiche Straße zu setzen: Ich lief um den Block herum. Immer wieder, ohne Pause. Als ich nach meinem ach so dramatischen Weglaufen schließlich doch wieder nach Hause ging, hatte ich denselben Block mehrere Stunden lang umrundet. Dabei war ich jedes Mal an unserem eigenen Tor vorbeimarschiert.

Auf die eine oder andere Weise tun wir alle so etwas. Wir laufen (oder rennen) immer wieder um dieselben Blöcke unseres Lebens herum. Dabei gehorchen wir Regeln, die niedergeschrieben wurden, vorausgesetzt werden oder einfach nur eingebildet sind. Wir lassen uns zu Lebensweisen und Handlungen verdammen, die uns nicht weiterhelfen. Ich vergleiche dieses Verhalten oft mit dem von Aufziehspielzeugen: Wir stoßen wiederholt gegen dieselben Wände, ohne zu bemerken, dass gleich links oder rechts von uns eine Tür offensteht.

Sogar wenn wir einsehen, dass wir feststecken und Hilfe brauchen könnten, sind die Menschen, denen wir uns zuwenden – Familie, Freunde, freundliche Vorgesetzte, Therapeuten –, uns dabei nicht immer behilflich. Sie haben ihre eigenen Probleme, ihre eigenen Grenzen und ihre eigenen Sorgen.

Gleichzeitig propagiert unsere Konsumkultur die Vorstellung, dass wir die allermeisten Dinge, die uns Probleme bereiten, kontrollieren und reparieren können, während wir die Dinge, bei denen dies nicht möglich ist, einfach wegwerfen sollen. Unglücklich in der Beziehung? Auf zur nächsten! Nicht produktiv genug? Auch dafür gibt es eine App. Wenn uns nicht gefällt, was in unserem Innenleben vor sich geht, handeln wir nach derselben Maxime. Wir gehen shoppen, suchen uns eine neue Therapeutin oder werden unsere Frustration und unsere Unzufriedenheit los, indem wir eben „positiv denken“.

Leider funktioniert nichts davon wirklich gut. Der Versuch, unangenehme Gedanken und Gefühle zurechtzubiegen, führt dazu, dass wir uns obsessiv mit ihnen beschäftigen. Der andere Versuch, einfach über sie hinwegzusehen, kann zu Problemen wie sinnloser Selbstbeschäftigung oder einer ganzen Reihe selbstberuhigender Abhängigkeiten führen. Und der wieder andere Versuch, sie von etwas Negativem in etwas Positives umzudeuten, ist eine fast todsichere Methode, sich noch schlechter zu fühlen.

Viele Menschen fangen an, Selbsthilfebücher zu lesen oder an Kursen teilzunehmen, die ihnen beibringen, besser mit ihren Gefühlen umzugehen. Die meisten dieser Ansätze verstehen das Prinzip der Selbsthilfe aber leider völlig falsch. Vor allem diejenigen, welche positives Denken lobpreisen, liegen besonders schief. Sich selbst glückliche Gedanken aufzuzwingen ist sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, da nur sehr wenige Menschen es schaffen, negative Gedanken einfach abzustellen und sie durch angenehmere zu ersetzen. Dieser Rat ignoriert zudem eine Kernwahrheit: Unsere sogenannten negativen Gefühle arbeiten in Wirklichkeit oft in unserem eigenen Interesse.

Negativität ist sogar etwas Normales. Das ist eine grundlegende Tatsache. Wir sind einfach so geschaffen, dass wir von Zeit zu Zeit negative Gefühle haben. Es ist Teil unserer menschlichen Natur. Der zu hohe Fokus auf der positiven Einstellung in unserer Kultur führt dazu, dass normale Gefühlsschwankungen, zu wilde Kinder und Frauen mit Hormonschwankungen mit hohen Dosen Medizin sprichwörtlich ruhiggestellt werden.

In den vergangenen zwanzig Jahren meiner Arbeit in den Bereichen Beratung, Coaching und Forschung habe ich die Prinzipien der emotionalen Beweglichkeit getestet und weiterentwickelt, um zahlreiche Klienten dabei zu unterstützen, ihre großen Lebensziele zu erreichen. Zu diesen Klienten zählten Mütter, die in Sackgassen feststeckten, während sie versuchten, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen; Botschafter der Vereinten Nationen, die sich bemühten, Impfprogramme für Kinder in feindlich gesinnten Ländern einzuführen; Führungskräfte komplexer multinationaler Konzerne sowie Menschen, die einfach das Gefühl hatten, dass ihnen das Leben noch viel mehr zu bieten hat.

Vor kurzem veröffentlichte ich einige meiner Arbeitsergebnisse in einem Artikel, der in der Harvard Business Review (HBR) erschien. Darin beschrieb ich, wie fast alle meiner Klienten – ich selbst eingeschlossen – dazu neigten, in verfestigten negativen Mustern festzuhängen. Im Anschluss darin beschrieb ich ein Modell für die Entwicklung einer größeren emotionalen Beweglichkeit, um sich von diesen Mustern zu lösen und dauerhaft erfolgreiche Änderungen zu erzielen. Der Artikel blieb monatelang auf der Most-Popular-Liste des Magazins und wurde innerhalb kurzer Zeit von fast einer Viertelmillion Menschen heruntergeladen, was der gesamten Druckauflage der HBR entsprach. Der Artikel wurde von HBR als „Management-Idee des Jahres“ bezeichnet und später von zahlreichen anderen Publikationen aufgegriffen, unter anderem dem Wall Street Journal, Forbes und Fast Company. Die Herausgeberinnen und Herausgeber beschrieben emotionale Beweglichkeit als „die nächste emotionale Intelligenz“. Sie würdigten das Konzept als eine bedeutende Idee, die die Art und Weise verändert, wie unsere Gesellschaft über Gefühle denkt. Dies erwähne ich nicht, um mich selbst in den Vordergrund zu rücken, sondern um aufzuzeigen, dass die Reaktionen auf diesen Artikel verdeutlichten, wie stark diese Idee den Nerv der Leser getroffen hatte. Millionen von Menschen sind, wie es scheint, auf der Suche nach einem besseren Weg.

Dieses Buch enthält eine stark erweiterte und detailliertere Version der Forschung und Beratung, die ich im HBR-Artikel angeboten habe. Bevor wir zur Sache kommen, möchte ich Ihnen einen Ausblick auf das Gesamtbild verschaffen, damit Sie wissen, wohin die Reise gehen soll.

Emotionale Beweglichkeit ist ein Prozess, der es uns erlaubt, im Moment zu bleiben. Dabei können wir unsere Verhaltensweisen verändern oder beibehalten und so leben, wie es am besten zu unseren Intentionen und Werten passt. Bei diesem Prozess geht es nicht darum, schwierige Gefühle und Gedanken zu ignorieren. Es geht darum, sich nicht zu stark an diese Gefühle und Gedanken zu klammern. Stattdessen lernen Sie, sich mutig und gleichzeitig verständnisvoll mit ihnen auseinanderzusetzen, um sie dann hinter sich zu lassen. So können Sie die nächsten Schritte tun, weiterziehen und der Verwirklichung Ihrer großen Lebensziele näherkommen.

Der Prozess, bei dem diese emotionale Beweglichkeit erreicht wird, vollzieht sich in vier wichtigen Schritten:

PRÄSENT SEIN

Woody Allen sagte einst: „Dabeisein ist 80 Prozent des Erfolgs.“ Im Kontext dieses Buches bedeutet „dabei“ oder „präsent“ sein, dass wir uns mit unseren Gedanken, Gefühlen und unserem Verhalten bereitwillig und mit Neugier und Verständnis auseinandersetzen. Einige dieser Gedanken und Gefühle sind berechtigt und der gegebenen Situation angemessen. Andere sind alte Versatzstücke unserer Psyche, so wie ein Ohrwurm, der uns schon seit Wochen durch den Kopf geht.

Unabhängig davon, ob diese Gedanken und Gefühle ein korrektes Abbild der Realität wiedergeben oder aber verfängliche Verzerrungen sind, können wir lernen, mit ihnen umzugehen und weiterzuziehen.

HERAUSTRETEN

Nach der Auseinandersetzung mit unseren Gedanken und Gefühlen besteht unser nächster Schritt darin, uns von ihnen loszulösen. Dabei erkennen wir sie als das an, was sie sind – nur Gedanken, nur Gefühle. Indem wir dies tun, kreieren wir Frankls offenen und vorurteilsfreien Raum zwischen unseren Gefühlen und den auf sie folgenden Reaktionen. Dadurch können wir schwierige Gefühle erkennen, wenn wir sie empfinden, und passendere Reaktionsweisen finden. Eine distanzierte Beobachtung verhindert, dass unsere vorübergehenden mentalen Erfahrungen uns kontrollieren.

Durch das Heraustreten aus einer bestimmten Situation gewinnen wir einen besseren Überblick. Wir lernen, uns selbst wie ein Schachbrett mit vielen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu betrachten, und nicht wie eine einzelne Schachfigur, die auf wenige, bereits vorherbestimmte Züge festgelegt ist.

FÜR DIE EIGENEN WERTE EINSTEHEN

Nachdem wir unsere mentalen Prozesse geordnet, unseren Geist beruhigt und den Raum geschaffen haben, den wir zwischen unseren Gedanken und uns als Denkenden brauchen, können wir anfangen, uns stärker auf das Wesentliche zu konzentrieren: unsere wichtigsten Werte und Ziele. Das Erkennen, Akzeptieren und schlussendliche Distanzieren von all diesen angsteinflößenden, schmerzhaften oder störenden Gefühlen gibt uns die Möglichkeit, mehr mit dem Teil von uns zu interagieren, der auf die fernere Zukunft ausgerichtet ist. Dieser Teil verbindet unser Denken und Fühlen mit unseren langfristigen Werten und Zielen. Er hilft uns dabei, neue und bessere Wege für das zu finden, was wir uns vornehmen.

Wir treffen jeden Tag Tausende Entscheidungen. Soll ich nach der Arbeit ins Fitnessstudio gehen oder lieber darauf pfeifen und die Happy Hour mitnehmen? Soll ich den Anruf der Freundin entgegennehmen, die meine Gefühle verletzt hat, oder sie auf den Anrufbeantworter sprechen lassen? Ich nenne diese kleinen Entscheidungsmomente Wahlpunkte. Unsere wichtigsten Werte liefern uns den Kompass, der uns den Weg in die richtige Richtung weist.

WEITERZIEHEN

DAS PRINZIP DER WINZIGEN VERÄNDERUNGEN

Traditionelle Selbsthilfekonzepte konzentrieren sich meist auf Veränderungen, die sehr hoch gesteckte Ziele und eine völlige Verwandlung anvisieren. Doch Forschungsergebnisse belegen das Gegenteil: Es sind die kleinen, gut durchdachten und auf unseren Werten basierenden Veränderungen, die unser Leben stark beeinflussen. Das ist besonders dann der Fall, wenn wir Routinen und gewohnheitsmäßige Abläufe anpassen. Die tägliche Wiederholung dieser Dinge kann eine unglaublich große Veränderungskraft bewirken.

DAS WIPPENPRINZIP

Eine Weltklasse-Turnerin lässt die schwierigsten Bewegungen durch ihre Beweglichkeit und dank der gut trainierten Muskeln ihres Oberkörpers – ihres Zentrums – völlig mühelos aussehen. Wenn sie durch etwas aus der Balance gerät, hilft ihr ihr Zentrum, sich wieder zu stabilisieren. Doch wenn sie auch auf der höchsten Leistungsstufe mithalten will, muss sie weit aus ihrer Komfortzone heraus und bis an ihre eigenen Grenzen gehen, um immer schwierigere Bewegungsabläufe erfolgreich zu meistern. Auch wir müssen die perfekte Balance zwischen unseren Herausforderungen und Kompetenzen finden, damit wir weder selbstzufrieden noch überfordert sind, sondern begeistert, enthusiastisch und mit Schwung auf die Anforderungen des Lebens reagieren können.

Sara Blakely, die Gründerin von Spanx Shapewear und einst jüngste Selfmade-Milliardärin der Welt, erzählte einmal, dass ihr Vater sie jeden Abend am Esstisch fragte: „Erzähl‘ mal, was ist heute bei dir schiefgelaufen?“ Mit dieser Frage wollte ihr Vater sie aber nicht entmutigen. Er beabsichtigte damit genau das Gegenteil: Er wollte seine Kinder dazu ermuntern, über ihre eigenen Grenzen hinauszugehen. Es war in Ordnung, wenn nicht sogar bewundernswert, zu scheitern, wenn man zuvor etwas Neues und Schwieriges ausprobiert hatte.

Das wichtigste Ziel emotionaler Beweglichkeit besteht darin, sich das gesamte Leben über einen Sinn für Herausforderungen und den Wunsch nach persönlichem Wachstum zu bewahren.

Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen als nützlicher Wegweiser für eine nachhaltige Verhaltensänderung dient – eine neue Form des Handelns, die Ihnen dabei hilft, das Leben zu leben, das Sie sich wünschen, und mit der Sie es schaffen, auch Ihre schwierigsten Gefühle als Quelle von Energie, Kreativität und hilfreicher Einsichten in Ihr Leben zu integrieren.

Gehen wir es an!

» KAPITEL 2

GEFANGEN

Ein Hollywood-Filmskript steht und fällt mit seinem „Aufhänger“, sprich dem Ausgangspunkt, der das Interesse des Publikums weckt, die Geschichte in Gang setzt und die Handlung vorantreibt. Ein Aufhänger braucht einen Konflikt. Erst durch diesen Konflikt verfolgen wir die Handlung aufmerksam und schauen weiter, weil wir gebannt sind und wissen wollen, wie er aufgelöst wird.

Als Psychologin finde ich meist die Bücher und Filme am spannendsten, in denen der Konflikt – oder zumindest ein großer Teil davon – im Inneren des Protagonisten oder der Protagonistin stattfindet. Ein erfolgloser Schauspieler hat Probleme, Frauen zu verstehen, bis er so verzweifelt auf der Suche nach Arbeit ist, dass er vorgibt, auch im richtigen Leben eine Frau zu sein (Tootsie). Eine naive Frau hat Angst davor, sich zu binden (Die Braut, die sich nicht traut). Oder einer der besten Aufhänger aller Zeiten: Ein professioneller Auftragsmörder wird außer Gefecht gesetzt, kommt mitten in einer Intrige wieder zu Bewusstsein und hat keine Ahnung, wer er ist oder was er eigentlich vorhatte (Die Bourne Identität).

Auch wenn wir keine Cabrios unter Palmen spazieren fahren oder uns mit Filmstars treffen, schreiben wir alle unser ganz persönliches Hollywood-Drehbuch. Wir agieren quasi während jeder einzelnen Minute des Tages als Drehbuchautoren unseres eigenen Kopfkinos. Unsere eigenen Lebensgeschichten ziehen uns allerdings derart in den Bann, dass wir vor lauter Spannung unruhig auf dem Kinosessel herumzappeln. Wir lassen uns auf andere Art und Weise von ihnen fesseln: durch selbstzerstörerische Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen.

Der menschliche Geist ist eine Maschine, die unablässig versucht, Sinn zu erzeugen. Ein großer Teil unserer menschlichen Natur besteht darin, in mühevoller Kleinarbeit die Unmenge an sensorischen Informationen, die uns tagtäglich bombardiert, zu verstehen und mit Sinn zu erfüllen. Wir bringen Sinn in all die Anblicke, Geräusche, Erfahrungen und Beziehungen, die uns umgeben, indem wir sie zu einem zusammenhängenden Narrativ zusammenfügen: Das bin ich, Susan. Ich wache gerade auf. Ich liege in einem Bett. Das kleine Wesen, das auf mir herumspringt, ist mein Sohn, Noah. Früher lebte ich in Johannesburg, jetzt wohne ich in Massachusetts. Ich muss heute aufstehen und mich auf einen Termin vorbereiten. Das ist meine Arbeit. Ich bin Psychologin und treffe mich mit Menschen, um zu versuchen, ihnen zu helfen.

Diese Narrative erfüllen einen Zweck: Wir erzählen uns diese Geschichten, um unsere Erfahrungen einzuordnen und geistig gesund zu bleiben.

Doch leider machen wir dabei Fehler. Menschen, die eine aus realistischer Sicht wenig stimmige Geschichte erzählen oder aber etwas, das völlig von der Realität abweicht, werden schnell als „psychotisch“ angesehen. Die meisten von uns hören keine Stimmen und fallen auch nicht durch einen ausgeprägten Größenwahn auf. Trotzdem nehmen wir uns bei der Konstruktion unserer eigenen Geschichten einige Freiheiten. Manchmal bemerken wir nicht einmal, dass wir es tun.

Wir akzeptieren diese überzeugenden, selbst konstruierten Narrative dann so, als seien sie die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Solche Narrative haben sich in unserer Wahrnehmung vielleicht schon in der dritten Klasse festgesetzt, oder sogar bevor wir laufen oder sprechen konnten. Wir lassen diese Fabeln zu einem Teil von uns werden. Dabei nehmen wir hin, dass ein Satz oder ein Abschnitt davon, der vielleicht schon dreißig oder vierzig Jahre alt ist und nie objektiv getestet oder bestätigt wurde, die Gesamtheit unseres Lebens repräsentiert. Solche fatalen Selbstzuschreibungen gibt es in ähnlich hoher Zahl wie Menschen auf dieser Welt:

„Gleich nach meiner Geburt ließen sich meine Eltern scheiden. Also bin ich daran schuld, dass meine Mutter Alkoholikerin wurde.“

„In einer sehr extrovertierten Familie war ich das introvertierte Mauerblümchen. Darum liebt mich niemand.“

Und so geht es endlos weiter.

Wir konstruieren solche Geschichten täglich, auch in kleinerem Maßstab. Ich weiß, dass ich es getan habe. Hier ein Beispiel: Vor einigen Jahren informierte mich ein Kollege ganz beiläufig per Sprachnachricht darüber, dass er sich eines meiner Konzepte „ausleihen“ würde – ein anderes Wort dafür wäre wohl stehlen –, um es als Titel seines nächsten Buches zu verwenden. Er hoffe, es würde mir „nichts ausmachen“. Dabei fragte er mich nicht einmal um meine Erlaubnis, sondern formulierte dies wie eine lapidare Tatsache.

Hallo?! Natürlich machte es mir etwas aus! Er benutzte mein Konzept, das ich, so hatte ich es jedenfalls vorgehabt, später selbst verwenden wollte. Ich verfluchte den Tag, an dem ich es ihm in einem unachtsamen Moment am Rande einer Konferenz erzählt hatte. Aber was sollte ich tun? Profis schreien sich nun einmal nicht gegenseitig an.

Ich unterdrückte meinen Ärger und tat, was wohl die allermeisten von uns tun würden: Ich rief meinen Mann an, um meinem Ärger Luft zu machen. Doch mein Mann ist Arzt und als er meinen Anruf entgegennahm, sagte er: „Suzy, ich kann jetzt nicht reden. Ich habe gerade einen Patienten im OP, der auf eine Notoperation wartet.“ Da saß ich nun, ein zweites Mal „übergangen“, und dieses Mal von meinem eigenen Ehemann!

Das Einleuchtende an dieser Situation – dass es für meinen Mann in jenem Moment wichtiger war, das Leben seines Patienten zu retten, als mit mir zu reden – half mir kein bisschen dabei, meinen wachsenden Zorn zu besänftigen. Wie konnte mein Mann mich nur so behandeln – das eine Mal, wenn ich ihn wirklich brauchte? Dieser Gedanke verwandelte sich schnell in ein „er ist nie wirklich für mich da“. Meine Wut verstärkte sich immer mehr – genau wie mein Plan, seine späteren Rückrufe zu ignorieren. Ich war in einer Gefühlsspirale gefangen.

Ganz richtig. Ich suchte nicht das Gespräch mit meinem Kollegen, um ihm sachlich, aber sehr bestimmt mitzuteilen, dass ich sein Vorgehen keineswegs schätzte, und versuchte auch nicht, dabei zu einer zufriedenstellenden Lösung zu gelangen. Stattdessen war ich zwei Tage lang beleidigt und sprach kein Wort mit meinem Mann, weil er „nie für mich da“ war!

Genial, oder?

Diese fragwürdigen, nicht immer zutreffenden Geschichten, die wir uns selbst erzählen, sorgen nicht nur dafür, dass wir uns innerlich zerrissen fühlen, unsere Zeit verschwenden oder zu Hause tagelang eisige Stimmung herrschen lassen. Das größere Problem ist der Konflikt zwischen der Welt, die diese Narrative beschreiben, und der Welt, in der wir leben möchten; einer Welt, in der wir das Beste aus uns und unserem Leben machen wollen.

An einem durchschnittlichen Tag sagen die meisten von uns etwa 16.000 Wörter. Doch unsere Gedanken – unsere innere Stimme – plappern Tausende mehr. Diese Stimme des Bewusstseins ist eine leise, aber unermüdliche Quasselstrippe, die uns heimlich und pausenlos mit Beobachtungen, Kommentaren und Analysen unter Beschuss nimmt. Sie ist auch das, was Literaturprofessoren einen unzuverlässigen Erzähler nennen – wie zum Beispiel Humbert Humbert in Lolita oder Amy Dunne in Gone Girl – Das perfekte Opfer. Wie bei diesen beiden Buchcharakteren, deren Darstellung der Ereignisse man nicht voll und ganz Glauben schenken darf, ist auch unser eigener innerer Erzähler voreingenommen, verwirrt oder sogar in eine beabsichtigte Selbstrechtfertigung oder -täuschung verwickelt. Schlimmer noch: Er hält einfach nie die Klappe. Sie mögen in der Lage sein, sich zurückzuhalten und nicht gleich jeden Gedanken auszusprechen, der Ihnen in den Sinn kommt. Aber können Sie auch verhindern, dass solche Gedanken überhaupt entstehen? Viel Glück dabei.

Oftmals glauben wir, dass die Dinge, die aus diesem unablässigen Geplapper nach oben strömen, Tatsachen sind. Dabei handelt es sich bei den meisten von ihnen nur um eine komplexe Mischung aus Einschätzungen und Bewertungen, die durch unsere Gefühle verstärkt wird. Einige dieser Gedanken sind positiv und hilfreich, andere sind negativ und kontraproduktiv. In beiden Fällen ist unsere innere Stimme nur sehr selten neutral oder leidenschaftslos.

Ich sitze zum Beispiel gerade an meinem Schreibtisch und schreibe dieses Buch, mit dem ich nicht wirklich schnell vorankomme. „Ich sitze an meinem Schreibtisch.“ Das ist ein einfacher Gedanke, der auf einer Tatsache beruht. Das gilt auch für „Ich schreibe ein Buch.“ Oder für „Ich schreibe langsam.“

So weit, so gut. Doch nun kann es schnell passieren, dass meine faktenbasierten Beobachtungen in das Reich meiner persönlichen Meinungen und Überzeugungen abdriften. Die Geschichte, die ich mir erzähle, könnte mich schnell in den Bann ziehen. Ich würde mich dann an diesem zweifelhaften, nicht überprüften Gedanken wie an einem Köder festbeißen und anfangen, herumzuzappeln wie ein Barsch an der Angel, der später auf dem Teller irgendeines Anglers landet.

„Ich bin beim Schreiben zu langsam.” ist die selbstkritische Einschätzung, die meist allzu schnell auf ein „Ich schreibe langsam.“ folgt. Eine weitere wäre „Ich bin langsamer als die meisten anderen Autoren.“ Diese verwandelt den faktenbasierten Gedanken in einen Vergleich. „Ich gerate in Verzug.“ fügt dem Ganzen noch ein Stresselement hinzu. Als Zusammenfassung fällt am Ende dann das vernichtende Urteil: „Ich habe mir etwas vorgemacht, als ich dachte, ich könne das alles noch bis zum Abgabetermin schaffen. Warum kann ich nicht ehrlich zu mir selbst sein? Jetzt habe ich ein Problem.“ Das ist ziemlich weit entfernt von meinem faktenbasierten Ausgangspunkt „Ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe langsam an einem Buch.“

Wenn Sie selbst herausfinden möchten, wie schnell wir uns dazu verleiten lassen, aus Fakten Meinungen, Urteile und Ängste werden zu lassen, testen Sie sich einfach mit der folgenden Übung. Denken Sie über jedes der unten aufgelisteten Stichworte nach:

Ihr Handy

Ihre Wohnung

Ihre Arbeit

Ihre Schwiegereltern

Ihre Hüften

Wenn Sie Ihren Gedanken freien Lauf lassen, sind einige davon wahrscheinlich faktenbasiert. „Ich war letzte Woche mit meinen Schwiegereltern essen.“ oder „Ich muss am Montag mein Projekt präsentieren.“ Doch dann werden Sie bemerken, wie schnell fatale Meinungen, Urteile, Vergleiche und Sorgen auf den Plan treten:

Mein Handy … braucht ein Update.

Meine Wohnung … versinkt immer im Chaos.

Meine Arbeit … ist Stress pur.

Meine Schwiegereltern … verwöhnen die Kinder.

Meine Hüften … könnten eine Diät vertragen.

In meinen Workshops bitte ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer manchmal, schwierige Situationen aufzuzählen. Dann sollen sie mir die Gedanken und Gefühle nennen, die ihnen dazu einfallen. Hier sind einige solcher Situationen und die daraus entstehenden kontraproduktiven, selbst konstruierten Narrative, die von einer Gruppe einflussreicher Führungskräfte zusammengetragen wurden:

Eine andere Person hat mehr Erfolg: „Ich bin nicht gut genug. Warum war ich nicht die Nummer eins? ”

Vollzeitarbeit: „Mein Leben ist eine Chronologie des Scheiterns. Alles um mich herum ist ein Fiasko, und meine Familie hasst mich dafür, dass ich immer den ganzen Spaß verpasse, den wir zusammen haben könnten.“

Eine schwierige Aufgabe bewältigen: „Warum zur Hölle dauert das so lange? Wenn ich nur einen Funken Talent hätte, könnte ich das wesentlich schneller hinkriegen.“

Eine verpasste Beförderung: „Ich bin ein Idiot, und ein Waschlappen dazu. Ich lasse mich einfach so ausbooten.“

Eine neu zugewiesene Aufgabe: „Ich habe fürchterliches Muffensausen. Das wird nie funktionieren.“

Eine gesellschaftliche Verpflichtung: „Ich werde sofort zur Salzsäule erstarren. Alle anderen werden denken, dass ich ein menschenscheuer Einsiedler bin.”

Negatives Feedback: „Ich werde bestimmt gefeuert.“

Ein Wiedersehen mit alten Freunden: „Ich bin ein Versager. Die haben alle ein viel interessanteres Leben als ich. Und sie verdienen mehr Geld!“

Der Versuch abzunehmen: „Ich bin ein widerliches fettes Schwein. Ich sollte einfach aufgeben. Alle in diesem Raum sehen besser aus als ich.“

Und hier finden Sie einen Anhaltspunkt dafür, warum dieser Übergang von neutralen Gedanken zu kontraproduktiven Urteilen, die uns lähmen, so schnell und leicht vonstattengeht:

Backe, backe ____________.

„Kuchen“, stimmt’s? Das war nicht so schwer. Dieses Wort ist ganz automatisch in Ihrem Kopf aufgetaucht.

Genauso reflexhaft sind auch viele unserer Antworten. Daher ist es fast unausweichlich, dass wir uns von ihnen lähmen und in die Irre führen lassen.

Der Auslöser dafür ist meist eine normale Alltagssituation. Es könnte ein schwieriges Gespräch mit unserem Vorgesetzten oder ein Treffen mit einem Verwandten sein, vor dem wir uns drücken wollen. Oder es ist eine Diskussion mit unserer besseren Hälfte über das liebe Geld, das enttäuschende Schulzeugnis eines unserer Kinder oder vielleicht einfach nur der ganz normale Feierabendstau.

Sofort schaltet sich unser Autopilot ein und reagiert auf diese Situation. Vielleicht sagen wir etwas Sarkastisches. Oder wir bleiben still und unterdrücken unsere Gefühle. Möglicherweise drücken wir uns vor der Situation oder verlassen einfach den Raum, fangen an, grimmig vor uns hin zu grübeln oder brechen einen lautstarken Streit vom Zaun.

Wenn wir automatisch auf kontraproduktive Weise reagieren, lassen wir uns gefangen nehmen. Das Ergebnis ist genauso vorhersehbar wie das Wort „Kuchen“, das uns nach „Backe, backe“ in den Sinn schießt. Der Köder hängt direkt vor unserer Nase und wir schnappen zu, ohne auch nur einen Moment zu zögern.

Das „Gefangennehmenlassen“ beginnt dann, wenn wir unsere Gedanken für Fakten halten.

Ich kann das nicht. Ich vermassele es immer.

Oftmals versuchen wir daraufhin, Situationen zu vermeiden, die solche Gedanken hervorrufen.

Ich werde es gar nicht erst probieren.

Oder wir lassen diesen Gedanken endlos Kreise ziehen.

Es war so demütigend, als ich es das letzte Mal probiert habe.

Manchmal versuchen wir, solche Gedanken zu verscheuchen, weil uns vielleicht eine wohlmeinende Freundin oder ein Familienmitglied dazu geraten hat.

Ich sollte so etwas nicht denken. Es ist absolut nicht hilfreich.

Und manchmal versuchen wir einfach, tapfer und unbeirrt weiterzumachen. Dabei zwingen wir uns zu etwas, wovor uns eigentlich graut – sogar dann, wenn diese Handlungen nur von einem Köder ausgelöst werden und nicht auf etwas basieren, das uns wirklich wichtig ist.

Ich muss es wenigstens probieren. Ich muss lernen, es zu mögen, auch wenn es mich umbringt.

All dieses innere Geplapper ist nicht nur verwirrend, sondern auch unglaublich anstrengend. Es laugt uns aus und erschöpft wichtige geistige Ressourcen, die wir viel gewinnbringender einsetzen könnten.

Zu dieser uns lähmenden Kraft unserer Gedanken kommt noch hinzu, dass viele unserer geistigen Gewohnheiten von Natur aus schnell mit unseren Gefühlen verschmelzen. Das provoziert unweigerlich eine Turboreaktion.

Nehmen wir einmal an, Sie nähmen an einem Kurs teil, um eine neue intergalaktische Sprache zu lernen. In dieser Sprache wird eine der oben abgebildeten Figuren „buba“ und die andere „kiki“ genannt. Bei einem Überraschungstest fragt Sie die Lehrerin, welche Figur welche ist. Sie könnten zum Beispiel die links abgebildete Figur als „kiki“ und die rechts abgebildete Figur als „buba“ bezeichnen.

Die Erfinder dieses Experiments, V. S. Ramachandran und Edward Hubbard, fanden heraus, dass 98 Prozent aller Befragten genau diese Wahl trafen. Sogar Zweijährige, die noch keine Sprachmuster erlernt hatten und kein Englisch sprachen, kamen zu diesem Ergebnis. Von Ramachandrans Campus an der University of California, San Diego, bis zu den Stadtmauern von Jerusalem und den abgeschiedenen Ufern des Lake Tanganyika in Zentralafrika, wo Suaheli gesprochen wird, ist dies eine universelle Präferenz, die in unserem Gehirn verankert ist: Unabhängig von Sprache, Kultur oder Alphabet legt sich das menschliche Hörzentrum innerhalb von Sekunden nach dem Anschauen dieser wenig Sinn ergebenden Symbole darauf fest, dass das Wort „kiki“ spitz und das Wort „buba“ weicher und abgerundeter klingt.

Es wird angenommen, dass die Assoziation einer bestimmten Form mit einem bestimmten Laut zum Teil deshalb auftritt, weil der Gyrus angularis, die Hirnregion, in der diese Einschätzung getroffen wird, genau zwischen unserem Berührungs-, Hör- und Sehzentrum liegt. In dieser Hirnregion werden Sinneseindrücke vernetzt, das heißt Geräusche, Gefühle, Bilder, Symbole und Gesten miteinander verflochten. Dem Gyrus angularis verdanken wir vermutlich auch unsere Fähigkeit, in Metaphern zu denken. So sagen wir zum Beispiel „Das ist ein knalliges Hemd!“ oder „Dieser Käse ist scharf.“, obwohl das kitschige Hawaii-Hemd überhaupt kein Geräusch erzeugt und das Stück äußerst aromatischer Cheddarkäse, das wir gerade essen, uns bestimmt nicht den Finger abschneidet. (Patienten, deren Gyrus angularis in Mitleidenschaft gezogen wurde, können in der Lage sein, perfekt zu sprechen, verstehen aber keine Metaphern. Dies ist auch bei weniger entwickelten Primaten der Fall, deren Gyrus angularis nur einem Achtel unseres menschlichen Gyrus angularis entspricht.)

Unsere Fähigkeit, Sinneseindrücke zu vernetzen, hilft nicht nur Dichtern und Schriftstellern, beeindruckende sprachliche Wendungen zu Papier zu bringen. Sie führt leider auch dazu, dass wir uns selbst zu schnell in die Falle gehen und darin hängen bleiben. Der Grund dafür ist, dass wir unsere Gedanken nicht emotionslos und völlig neutral wie Mr. Spock wahrnehmen und gleichzeitig analysieren: „Mir scheint, dass ich gerade von einem Rivalen ausgestochen werde. Höchst interessant.“

Stattdessen treten unsere Gedanken in voller Montur auf, komplett ausgestattet mit visuellen Bildern, Symbolen, eigenwilligen Interpretationen, Urteilen, Schlussfolgerungen, Abstraktionen und Handlungen. Dies verleiht unserem geistigen Innenleben eine temperamentvolle Intensität. Es beeinträchtigt aber auch unsere Objektivität und lässt uns zum Spielball zudringlicher Ideen werden, egal ob diese wahr sind oder nicht oder ob sie uns nützen oder nicht.

Vor Gericht erlauben die Richter normalerweise, dass der Jury Autopsiebilder gezeigt werden. Bei Tatortfotos sieht das schon anders aus. Das hängt damit zusammen, dass diese chaotischen, schockierenden und blutigen Bilder sich wie ein emotionaler Schlag ins Gesicht anfühlen können. Die Richter befürchten daher oft, dass dies die erhofften logischen und neutralen Erwägungen der Geschworenen beeinträchtigt, da diese sich von den Bildern überwältigen lassen könnten. Autopsiebilder werden bei hellem Licht auf einem Tisch aus Edelstahl in sehr klinischer Atmosphäre fotografiert. Doch Tatortfotos können kleine Details zeigen, die das Opfer schnell wieder sehr menschlich erscheinen lassen – vielleicht das Bild eines Kindes auf der blutbespritzten Kommode oder die offenen Schnürsenkel abgenutzter Laufschuhe. Oder sie weisen auf dramatische Weise auf die Qualen hin, die das Opfer durchmachen musste. Solche emotional aufwühlenden Bilder könnten die „Unempfindlichkeit“ der Geschworenen beeinträchtigen und sie in einen racheähnlichen Gemütszustand versetzen: „Das Opfer war genau wie ich. Der Angeklagte hat ein ziemlich gutes Alibi, aber irgendjemand muss für dieses Verbrechen bezahlen!“

Dass die kognitive Verarbeitung unserer Eindrücke, die mit unseren Gefühlen vermischt und dadurch verstärkt wirkt, so lebendig und kinoähnlich abläuft, ist eine evolutionäre Anpassung, die uns gut weiterhalf, als noch Schlangen, Löwen oder benachbarte Stämme hinter uns her waren. Wenn Gefahr von einem Feind oder einem angreifenden Raubtier drohte, konnte unser Nullachtfünfzehn-Jäger und Sammler keine Zeit damit verschwenden, erst wie Mr. Spock die Situation zu analysieren: „Ich schwebe in Gefahr. Zu welchem Resultat käme wohl eine realistische Einschätzung der verschiedenen Optionen, die mir offenstehen?“

Die Art von Antwort, die unsere Vorfahren zum Überleben brauchten, erforderte, dass sie die Gefahr instinktiv spürten und so verstanden, dass dies automatisch zu einem vorhersehbaren Verhalten führte, das durch einen hormonell gesteuerten Prozess ausgelöst wurde: die Kampf-oder-Flucht-Reaktion.

Als ich Anfang zwanzig war und ein Jahr lang bei meiner Mutter lebte, wurde eine meiner Freundinnen zusammen mit ihrem Freund in ihrer Wohnung von einer Gruppe Verbrecher überfallen, vergewaltigt und zusammengeschlagen. Die Täter waren in ihre Wohnung eingebrochen und hatten dort auf sie gewartet, als die beiden nach einem gemeinsamen Abendessen zurück nach Hause kamen. Solche entsetzlichen Verbrechen waren, wie ich bereits erwähnt habe, in Johannesburg an der Tagesordnung. Nachdem dies passierte, war ich angespannter und nervöser als jemals zuvor.

Eines Nachts auf dem Nachhauseweg verfuhr ich mich komplett und landete in einem sehr gefährlichen Stadtteil. Als ich den Weg zurückfand und nach Hause fuhr, bekam ich plötzlich Panik. Ich hatte Angst, dass mir jemand folgte. Doch als ich zu Hause ankam, konnte ich niemanden sehen. Ich ging ins Haus und wollte später mein Gepäck aus dem Auto holen. Als ich nach etwa 30 Minuten aus dem Haus trat und zum Auto lief, schien alles friedlich und sicher zu sein. Plötzlich hörte ich ein kehliges Geräusch. Ich sah zwei Männer mit gezückten Waffen auf mich zukommen. Da ich bereits Stunden zuvor große Angst gehabt hatte und die Erinnerungen an den Überfall auf meine Freundin hochkamen, war ich gefühlsmäßig so überreizt, dass ich ohne zu zögern einfach losbrüllte. Die lautesten, obszönsten und aggressivsten Schimpfwörter sprudelten aus meinem Mund. (Ich bin bestimmt nicht prüde, aber glauben Sie mir, diese Ausdrücke waren viel zu vulgär, als dass ich sie hier wiederholen möchte). Die Männer waren völlig überrascht von meiner Reaktion und starrten nun mich entsetzt an. (Ich kann mir kaum vorstellen, was ihnen beim Anblick dieser komplett durchgeknallten jungen Frau in den Sinn gekommen sein mag.) Dann verdrückten sie sich. Sie flohen zurück in die Büsche, aus denen sie gesprungen waren, und verschwanden im unteren Verlauf der Straße. Bis zum heutigen Tag bin ich meinem Gehirn für die Vernetzung meiner Sinneseindrücke dankbar: sehen, erinnern, fühlen, hören und reagieren – und zwar alles gleichzeitig.

Diese unglaubliche Vernetzungsfunktion sorgt aber auch dafür, dass wir schnell in einer Sackgasse landen. Heutzutage sind unsere häufigsten Probleme und auch die meisten Gefahren glücklicherweise eher vager und langfristiger Natur. Es sind nicht mehr Dinge wie „Aaaah! Eine Schlange!“, sondern eher „Ist mein Arbeitsplatz sicher?“, „Werde ich bis zur Rente genug Ersparnisse beisammenhaben?“ oder „Werden die Noten meiner Tochter immer schlechter, weil sie so oft mit diesem nichtsnutzigen Peterson-Jungen abhängt?“. Doch weil unsere Gefühle mit unseren Gedanken verbunden sind, werden auch die kleinsten Lebensabschnittsszenarien, die in unserem Kopf entstehen – ein Paar, das älter wird, oder ein verliebter Teenager – zu Triggern, die eine automatische Antwort aus hoher Angespanntheit, Furcht und dem Gefühl einer unmittelbaren Gefahr hervorrufen.

Ein emotionaler rechter Haken ist nur einer der vielen „Spezialeffekte“, durch die unsere selbstgeschriebenen Geschichten, die Sinn in unser Leben bringen sollen, so mächtig werden – auch wenn die Handlung reine Fiktion ist. Der Dichter John Milton fasste dies im 17. Jahrhundert so zusammen: „Der Geist ist eine Welt für sich, in der die Hölle zum Himmel und der Himmel zur Hölle werden kann.“ Und doch gibt es in der Welt ausdrucksstarker Aphorismen auch Aussagen wie diese: „Wenn Wünsche Flügel wären, dann könnten Schweine fliegen“ – was nichts anderes heißt als: Ja, unser Geist schafft sich seine eigene Welt, und trotzdem nein, wir können unsere Probleme nicht allein durch affirmatives Verhalten und positives Denken beseitigen. Es ist sogar so, dass esoterisch angehauchte Lösungsansätze, die unsere Probleme mit kleinen Smiley-Aufklebern überdecken, diese nur noch schlimmer machen. Also stellt sich die Frage: Wer bestimmt – der Denkende oder der Gedanke?

Andererseits mag ein Teil des Problems auch die Art und Weise sein, wie unsere Gedanken verarbeitet werden.

LANGSAM UND SCHNELL DENKEN

1929 wirbelte der belgische Maler René Magritte die Kunstwelt mit seinem Werk Der Verrat der Bilder gehörig durcheinander. Sie kennen es wahrscheinlich: Eine Tabakpfeife schwebt über dem legendären Ceci n’est pas une pipe. Übersetzung: „Das ist keine Pfeife.“

Vielleicht denken Sie zunächst, dass der Künstler einfach ein, nun ja, Surrealist war, und sein Publikum mit dem Absurden provozieren wollte. Doch seine Einschätzung ist tatsächlich eine warnende Lehre, die uns zeigt, wie wir Informationen verarbeiten. Manchmal stürmt unser Geist voran und nimmt Abkürzungen. Dabei zieht er ab und an leider die falschen Schlüsse oder gerät in gefährliche kognitive Spurrinnen.

Wenn wir uns Der Verrat der Bilder anschauen, sehen wir pigmentiertes Öl, das so auf eine Leinwand aufgebracht wurde, dass wir an eine Pfeife denken. Doch Magritte hat absolut recht: Es ist keine Pfeife. Es ist eine zweidimensionale Darstellung unserer Vorstellung von einer Pfeife. Die einzige Möglichkeit, wie sich diese Pfeife rauchen ließe, wäre, die Leinwand in kleine Stücke zu zerreißen und diese in eine echte Pfeife zu stopfen. Auf seine ganz eigene Weise erklärte uns Magritte, dass ein Bild nicht die Sache selbst ist, oder wie es der Philosoph Alfred Korzybski ausdrückte: „Die Landkarte ist nicht das Gebiet.“

Wir Menschen lieben es, Kategorien zu bilden und Dinge, Erfahrungen und sogar Menschen in diese einzuordnen. Wenn etwas nicht in eine Kategorie passt, wird es in die Schublade „Zeug, das nicht dazu passt“ einsortiert. Kategorien können hilfreich sein – zum Beispiel, wenn Aktien in die Kategorien risikoreich oder risikoarm eingeordnet werden. Das macht es uns leichter, die Anlageform zu wählen, die am besten zu unserer Anlagestrategie passt.

Doch wenn wir uns zu sehr an feste, bereits bestehende Kategorien gewöhnen, folgen wir dem, was Psychologen eine vorzeitige kognitive Anhaftung nennen – eine gewohnheitsmäßige, unflexible Reaktion auf Ideen, Dinge und Menschen und sogar auf uns selbst. Diese schnellen und einfachen Kategorien und die spontanen Urteile, zu denen sie führen, werden oft als Heuristiken