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Wie können systemische Ansätze gerade für die Herausforderungen einer Einzelpsychotherapie deutlich wirksamer gestaltet werden? Welcher zusätzlichen Methoden und Perspektiven bedarf es, um störungsspezifische Muster der Persönlichkeit gezielt, lösungsorientiert und nachhaltig zu wandeln? Michael Raisch räumt den Emotionen als transformative Kraft einen wichtigen Platz im systemischen Theoriegebäude ein und erweitert damit den therapeutischen Möglichkeitsraum. Er erläutert die Grundlagen emotionsbasierten Arbeitens und zeigt, wie erlebnisorientierte Zugänge die systemische Praxis bereichern können. Michael Raisch stellt Verfahren wie Schematherapie, Emotionsfokussierte Therapie und Innere-Kind-Arbeit detailliert vor und erläutert anhand zahlreicher Fallbeispiele, wie ein neues emotionales Verstehen resiliente und selbstfürsorgliche Erfahrungen ermöglicht.
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Seitenzahl: 619
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Michael Raisch
Emotionen in der systemischen Therapie
Grundlagen und Methoden für eine integrative Praxis
Mit 18 Abbildungen und 18 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.
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Umschlagabbildung: © shutterstock.com/agsandrew
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-647-99452-9
Inhalt
Einleitung
1Emotionen: Bedeutung, Theorie und Therapie
1.1Bedeutung von Emotionen
1.1.1Was sind Emotionen?
1.1.2Emotionale Intelligenz und Achtsamkeit
1.1.3Basalemotionen
1.1.4Gefühle als Signale
1.1.5Emotionen als Bedürfnisnavigator
1.1.6Grundbedürfnisse und Affektsysteme
Bindungs- und Zugehörigkeitsbedürfnis
Autonomiebedürfnis
Anerkennungs-/Selbstwertbedürfnis
Drei Affektsysteme
1.1.7Emotionen und psychische Gesundheit
1.2Systemtheorie und Emotionen
1.2.1Stellenwert der Emotionen bei Luhmann und Co.
Soziales vs. psychisches System
Geflecht der Systeme und Verortung der Emotionen
1.2.2Psychotherapie als »die Verwaltung der vagen Dinge«
1.2.3Sinn als zentraler Begriff in der Architektur der Systemtheorie
1.2.4Beitrag Luc Ciompis
Kollektive Emotionen
Affekte als Operatoren
Chaostheorie und Synergieeffekte
1.2.5Das bio-psycho-soziale Systemmodell
Strukturelle Koppelungen zwischen den drei Systemebenen
Bio-soziale Koppelungen
1.2.6Emotionen auf drei Systemebenen
1.3Das biologische System
1.3.1Limbisches System – das emotionale Gehirn
Zwei Wege der Emotionsverarbeitung
Individualität der Stressregulation
1.3.2Polyvagaltheorie
Sympathikus und Parasympathikus
Zwei grundverschiedene Funktionsweisen des Vagusnervs
Dorsaler Vagus
Ventraler Vagus
Wechselspiel der neuronalen Pfade
Neurozeption
Ventraler Vagus und Ko-Regulation
Paardynamik der Nervensysteme
Nutzen für die Therapie
1.4Das psychische System
1.4.1Störungsspezifische Therapieforschung
Grundgefühl Angst
Störungsspezifischer Umgang mit Angst
Bewertung der Emotionen als impliziter Prozess
1.4.2Die Trias: Verletztheit, Beschämung und Wertlosigkeit
Emotion 1: Verletztheit
Emotion 2: Scham bzw. Beschämung
Emotion 3: Wertlosigkeitsgefühl
Selbstbeschämungsmuster
Scham als Ausdruck tieferer Bedürfnisse
1.4.3Veränderungsorientierte Emotionen
1.5Das soziale System
1.5.1Bindungsforschung oder: Aller Anfang ist systemisch
»Mutterschaftskonstellation« und die Unterstützung durch das soziale Umfeld
Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit des Kindes
Bedeutung frühkindlicher Bindungserfahrungen
1.5.2Familiensystem
Loyalitätskonflikte und Bezogenheiten
Familie als zentraler Ort der Emotionsregulation
1.5.3Therapie als soziales System
1.6Eine kurze Geschichte der Emotionen
2Emotionsbasierte Verfahren (EBV)
2.1Grundidee und Vorläufer
2.1.1Grundidee
2.1.2Vorläufer
Gestalttherapie
Psychodrama
Transaktionsanalyse
2.1.3Emotionsbasierte Verfahren
2.2Die Schematherapie
2.2.1Was ist ein Schema?
2.2.2Schemata im Einzelnen
2.2.3Schemaentstehung
Verletzung psychischer Grundbedürfnisse
Zur Frage der Dysfunktionalität und Veränderbarkeit von Schemata
2.2.4Modusmodell
Bewältigungsmuster
Der Innere-Eltern-Modus: Eltern als Modell und Komplement für Beziehungsmuster
Der Innere-Kind-Modus und der verletzte innere Kindanteil
2.2.5Therapeutische Methoden 1: Werkzeuge und Basisinterventionen
Modusmodell als Tool
Fallbezogene Exploration als Tool
Kognitive und verhaltensbezogene Interventionen
2.2.6Therapeutische Methoden 2: Emotionsaktivierende Interventionen
Stuhlarbeit
Imaginationsarbeit
2.2.7Therapeutische Beziehung
Fürsorgliche Nachbeelterung
Empathische Konfrontation
2.2.8BEATE-Modell
2.2.9Systemischer Nutzen
2.3Emotionsfokussierte Therapie (EFT)
2.3.1Grundlagen der EFT
2.3.2Emotionstheorie der EFT
Emotionale Schemata
Unterschiedliche Emotionstypen
Emotionen als Verweis auf mögliche Auftragsziele
Somatische, psychische und kommunikative Marker
Resümee des emotionsfokussierten Ansatzes
2.3.3Therapeutische Methoden 1: Tools und Interventionen
Emotionales (Selbst-)Verstehen und Selbstakzeptanz
Empathie als Schlüssel zur Selbstakzeptanz
Die fünf Variationen der Empathie
Achtsamkeit und Emotionsregulation
Emotionsanalyse
Bedürfnisanalyse emotionaler Prozesse
2.3.4Therapeutische Methoden 2: Erlebnisaktivierende Methoden
Stuhldialoge
Arbeit mit selbstkritischen Anteilen
Arbeit mit angsterzeugenden Anteilen
Liaison von innerem Kritiker und Angstmacher
Unfinished Business
2.5.3Systemischer Nutzen der EFT
2.4Innere Kindarbeit (IKA)
2.4.1Grundzüge und Vorläufer der IKA
2.4.2Methoden und Anwendungsgebiete der IKA
Gestaltung der Begegnung
Geführte Meditationen nach Bradshaw
Potenzielle Hindernisse
Hilfreiche Rituale
Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) nach Reddemann
Der innere sichere Ort
2.4.3Systemischer Nutzen der IKA
2.5Compassion Focused Therapy (CFT)
2.5.1Die heilende Kraft des Mitgefühls
2.5.2Anwendung mitgefühlsorientierter Übungen im therapeutischen Setting
2.6Emotionsbasierte Verfahren als ressourcenorientierte Beziehungsarbeit
2.7Kombinierbarkeit emotionsbasierter Verfahren
3Integrative Praxis – Verbindung von systemischer und emotionsbasierter Therapie
3.1Systemische Therapie und emotionsbasierte Verfahren (EBV) – ein Vergleich
3.1.1Menschenbild
3.1.2Therapeutische Haltung und Werte
Umgang mit schmerzhaften Emotionen
Retrospektiver Fokus
3.2Integration emotionsbasierter Arbeit und systemischer Ideen
3.2.1Systemische Sichtweisen als Grundlage emotionsbasierter Arbeit
3.2.2Vorteile der EBV gegenüber rein systemischen Verfahren
3.2.3Wirkungsweisen emotionsbasierter Verfahren
3.3Synergien systemischer Therapie und emotionsbasierter Verfahren
3.3.1Therapeutische Sinnangebote
3.3.2Emotionen als Auftragswegweiser
3.4Grundriss einer systemisch-emotionalen Psychotherapie (SEP)
3.4.1Systemtheorie als Grundlage
(Rück-)Kopplungsprozesse zwischen den Systemebenen
Biografische Selbstrekursivität
3.4.2Integration emotionsbasierter Prinzipien und Methoden
Basisinterventionen
Dialoge mit der emotionalen Seite
Drei Lupen
3.4.3Störungsspezifische Betrachtung
Erforschung sich wiederholender Muster und Persönlichkeitsstörungen
Umgang mit Persönlichkeitsstörungen in der SEP
3.5Therapeutische Perspektive
3.6Schlussbetrachtungen
4Anhang
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Ich möchte an dieser Stelle gerne meiner Frau für ihre Geduld und ihre stetige Unterstützung, Dagmar Tontschewa für die grafische Umsetzung und meinen Lehrtherapeutinnen, besonders Gunter Schmidt und Fritz Simon aus dem systemischen Feld sowie Imke Herrmann und Lars Auszra aus dem emotionsbasierten Bereich für die weise Führung und die vielen Anstöße danken, ohne die das Werk niemals in dieser Weise gelungen wäre.
Verstand ohne Gefühle ist unmenschlich; Gefühl ohne Verstand ist Dummheit. (Egon Bahr1)
Einleitung
Weshalb braucht jede Psychotherapie die Einbeziehung der Gefühle wie ein guter Koch erlesene Gewürze oder jede Kellnerin ein freundliches, kundenorientiertes Auftreten? Sind auf Grundlage moderner neurobiologischer und psychologischer Erkenntnisse emotionale Prozesse womöglich bei der Entstehung psychischer Störungen entscheidend beteiligt? Und wie lassen sich diese Prozesse für eine systemische Theoriebildung ebenso wie für eine fundierte integrative psychotherapeutische Praxis nutzen?
Zwei Überlegungen führten mich letztlich zum Verfassen dieses Buches: zum einen die Einsicht in die grundsätzliche Bedeutung der Emotionen, die ich in den letzten beiden Jahrzehnten als eine Art Quantensprung für die Weiterentwicklung und Vertiefung meiner Kenntnisse und meiner psychotherapeutischen Fähigkeiten erkennen durfte. Zum anderen die Frage, wie die Einbeziehung der Emotionen und insbesondere der emotionsbasierten Verfahren sowohl die Theorie als auch die Praxis der systemischen Psychotherapie bereichern kann.
Diese Frage stellt sich dabei an einem historischen Wendepunkt der systemischen Therapie, die in Deutschland im Begriff ist, in eine neue Dimension der Bedeutung vorzustoßen. Nachdem sie über viele Jahrzehnte als innovatives Verfahren in Familien- und Paartherapie, Supervision und Coaching, Sozialarbeit und Organisationberatung reüssiert hatte, erhielt sie nach der wissenschaftlichen Anerkennung schließlich auch die Zulassung als sozialrechtlich genehmigtes Einzeltherapieverfahren. Mit diesem großen Schritt ist es nun nicht mehr damit getan, sich vorrangig auf die Kommunikation zu fokussieren, wie auch schon die Heidelberger Schule, eine Art Vordenkerschmiede systemischer Innovationskraft, mit ihrem einschlägigen Kongressthema »Reden reicht nicht!?« (2014; 2016) aufgezeigt hat (vgl. auch Bohne, Ohler, Schmidt u. Trenkle., 2016).
Die Wurzeln systemischer Therapie reichen weit zurück. Ihre Pionierinnen hatten sie bereits Mitte des letzten Jahrhunderts als Familientherapie zunächst in US-amerikanischen psychiatrischen Kliniken erprobt. Sie wurden durch neue Sichtweisen inspiriert, die aus modernen philosophischen Theorien ihr innovatives Denken speisten. Erwähnt seien hier besonders der Konstruktivismus, die Kybernetik (später die Kybernetik 2. Ordnung) und die Systemtheorie. Mit ihnen gelang ein Paradigmenwechsel, der das Verständnis von psychischen Störungen grundlegend veränderte. Indem die Kommunikation in jenen sozialen Systemen, in denen Abweichungen passierten – insbesondere in Familien, aber auch in den klinischen Systemen selbst –, in den Fokus gerückt wurde, konnte Sinnhaftigkeit im Verhalten des Einzelnen besser verstanden und die Annahme von »Verrücktheit« bzw. einer individuellen, endogenen, nicht verstehbaren psychischen Krankheit überwunden werden.
Dieser fundamentale Wechsel der Perspektive ging einher mit einer Vielzahl an neuen Methoden, die auch die therapeutische Grundhaltung veränderten. Mittels der Methodik des zirkulären Fragens, mittels Unterschiedsfragen, einer Klärung des Auftrags, des Reframings (deutsch: Umdeutung), des positiven Konnotierens (um hier nur einige zu benennen) sowie der prinzipiell wertschätzenden und würdigenden Grundhaltung des Therapeuten gelang es, eine neue Art der Gleichrangigkeit mit der Klientin2 zum Ausdruck zu bringen und deren Selbstverantwortung zu stärken. Die neue Sichtweise wertete den Klienten spürbar auf, indem sie ihn in seiner Selbstorganisation vollständig anerkannte und ihm alle erdenklichen Potenziale, Ressourcen und Kompetenzen zutraute. Dies befreite den therapeutischen Alltag und damit auch die Sichtweise der Klientinnen auf sich selbst von einer einseitigen Problem- und Leidensfokussierung. Dieser Wandel wurde auch als Übergang vom Problemsystem zum Lösungssystem respektive von einer Problemtrance zu einer Lösungstrance diskutiert.
Bereits Mitte der 1980er Jahre fand die systemische Therapie mehr und mehr Anwendung als Einzeltherapieverfahren. Die stringente Lösungsfokussierung des US-amerikanischen Psychotherapeutenehepaares Steve de Shazer und Insoo Kim Berg wurde in diesem Zusammenhang zu einer Erfolgsgeschichte. Aber auch die Hypnotherapie Milton H. Ericksons, die von meinem Heidelberger Lehrtherapeuten Gunther Schmidt zu einer hypnosystemischen Therapie weiterverarbeitet wurde (2005), ebnete den Weg zu einer fundierten Einzeltherapie. Damit einher ging das attraktive Angebot, Probleme kurzzeittherapeutisch lösen zu können.
Als ich die systemische Familientherapie Mitte der 1980er Jahre für mich entdeckte, hatte ich schon einige andere Therapieverfahren wie Verhaltenstherapie, Gestalttherapie und Bioenergetik kennengelernt. Die neuen Erkenntnisse und die mit ihnen verbundenen innovativen Sichtweisen auf Therapie und Beratung, ihre fundamentale Kritik an der Pathologie- und Defizitorientierung und ihre eleganten systemisch-lösungsorientierten Interventionen faszinierten mich und bereicherten meine praktische Arbeit zunächst in der Sozialpsychiatrie, dann in der eigenen Praxis. Für die Einzeltherapie ließen sich zusätzlich auch hypnosystemische und verhaltenstherapeutische Methoden integrieren, immer auf Basis einer den Krankheitsbegriff dekonstruierenden Grundhaltung.
Doch es ergaben sich auch erste Schwierigkeiten. Bei der Umsetzung in meiner psychotherapeutischen Praxis musste ich mit der Zeit erkennen, dass jenes konsequent lösungsorientierte Vorgehen, das bei mir selbst größtmögliche Zuversicht und Begeisterung erzeugt hatte, nicht bei jedem Klienten gleichermaßen anschlussfähig war. Besonders die »schwierigen« Patienten mit langer »Krankheitsgeschichte« zeigten sich nicht immer bereit, Ressourcen- und Lösungsorientierung für sich selbst anzunehmen und meinen anfänglich ausgeprägten Veränderungsenthusiasmus zu teilen. Und auch, wenn ich die Nicht-Veränderungsseite des Klienten positiv würdigte, erreichte ich damit zwar ein gelingendes Joining, aber nicht unbedingt aktivierende und dauerhafte Therapieimpulse.
Eine weitere Entdeckung machte ich, als Klienten einige Jahre nach einer gelungenen Therapie wieder zu mir kommen wollten. Ich bemerkte bei ihnen, dass sich teilweise ihre die Symptome erzeugenden Muster nicht dauerhaft verändert hatten. Kommentare wie »Ich verstehe einfach nicht, dass ich das, was ich in der ersten Therapie bei Ihnen alles gelernt habe, immer noch nicht umsetzen kann!« oder »Dass ich so vieles wieder vergessen habe, ärgert mich auch!« waren keine Seltenheit. Dies alles trug dazu bei, dass ich mein rein auf Lösungen fokussiertes Konzept zu hinterfragen begann. Waren die durchgesprochenen Aufträge und ihre Umsetzung zu speziell, als dass sie auf andere Lebenskontexte übertragbar waren? Oder waren die durchdachten Lösungen zu kognitiv, um über längere Zeiträume Gültigkeit zu behalten? Ist die stringente Lösungsfokussierung vielleicht nicht für jedes Problem bzw. für jeden meiner Patienten gleichermaßen angemessen? Sind problematische Einstellungs- und Beziehungsmuster doch bisweilen gefestigter, als dass sie sich durch die Reflexion von Ausnahmen, das Stellen der Wunderfrage und durchgespielte Lösungsideen umstrukturieren ließen?
Mit der Zeit führten mich diese Fragestellungen dazu, mir die Prozesse genauer anzuschauen, die im Verhalten und Denken meiner Klienten dazu beitrugen, dass Veränderungen zwar für bestimmte Situationen gelangen, aber oftmals nicht nachhaltig wirkten. Woran lag es, dass viele Klientinnen die mittels der Therapie angedachten, doch so lukrativen und mit allen erdenklichen Sinnen fokussierten Lösungsideen nicht dauerhaft umzusetzen vermochten? Waren spezifische biografische Muster, die sich in der Selbstorganisation der Patienten niedergeschlagen hatten, doch wirksamer, als ich aus der Warte des Optimismus der stringenten Lösungsfokussierung vermutet hatte? Angetrieben durch meine Neugier stieß ich zunächst auf die Dynamik der inneren Anteile und schließlich auf sogenannte emotionale Schemata als eine wesentliche Grundlage psychischer Störungen. Und in der Folge meines neu entfachten Erkenntnisinteresses entdeckte ich die Macht der Gefühle als bisher vernachlässigte Basis dessen, wie Menschen sich wahrnehmen und bewerten, wie sie ihre problematischen Muster aufrechterhalten und auch wie sie diese wieder zu wandeln vermögen.
Zunächst nahm ich die Bedeutung des Emotionalen bereits in der Beziehungsanbahnung in meiner therapeutischen Praxis wahr. Klientinnen kamen offensichtlich gern wieder, wenn sie sich bei mir wohl und angenommen fühlten. So wirkten die Prozesse des Joining und Pacing3 offenbar immer dann, wenn bei meinem Gegenüber Gefühle wie Sympathie und Vertrauen entstehen konnten. Das Einbringen von lösungsorientierten Fragen und Lösungsideen, zumindest in den ersten Stunden, war bei der Frage, ob eine Weiterführung der Therapie erwünscht war, deutlich weniger für meine Klienten wichtig, als ich angenommen hatte und stieß entsprechend auf geringere Resonanz. Meine akzeptierende Grundhaltung und weitere Aspekte wie Verständnis und Empathie hingegen halfen vielen Patienten zumindest anfangs deutlich mehr als reflexive Veränderungs- und Lösungsfragen. So lernte ich mit der Zeit, dass das Bedürfnis, verstanden zu werden, offensichtlich zunächst für viele derjenigen Menschen, die eine Therapie aufsuchen, das wichtigste Motiv darstellt.
Konnte es dann nicht sein, dass auch für die Veränderbarkeit meiner Klienten die Emotionen eine sehr viel bedeutsamere Rolle spielten, als ich bis dahin dachte? Und war deren Emotionsregulation nicht auch ein Teil ihrer eigenen Selbstorganisation, entstanden aus einem Puzzle vieler biografischer Erfahrungen und deren Konditionierungsgeschichte? War aus dieser Perspektive Therapie nicht doch besser als ein längerfristiger Prozess zu verstehen und dementsprechend auch zu gestalten, gerade für Menschen, die bereits mit einer über viele Jahre gewachsenen komplexen psychischen Selbststeuerung in die Therapie kommen, in der kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Prozesse symptombildend zusammenwirken?4
Wie könnte es mit einem veränderten Therapieverständnis gelingen, kognitive, emotionale, somatische und soziale Prozesse gleichermaßen zu berücksichtigen? Wäre es denkbar, dass erst durch die Erlebnisdimension Lösungen zu einem Teil der Autopoiese (der Selbsterzeugung und -erhaltung) des psychischen Systems werden und in das nachhaltige implizite Gedächtnis einfließen?
Für die Suche nach Antworten auf diese Fragen boten sich die Erkenntnisse moderner Therapieverfahren an, die sich mit der Thematik der Emotionsregulation und deren störungsspezifischen Komponenten auseinandersetzen. So entdeckte ich in der Folge verschiedene emotionsbasierte Verfahren, zuerst die Schematherapie und später die emotionsfokussierte Therapie, die meine Arbeit auf ein neues, vorher nicht zu erwartendes Niveau heben sollten.
Die Grundthese dieser Ansätze besagt, dass zumindest langwierige psychische Störungen dadurch entstehen, dass biografisch erworbene Verletzlichkeiten, die individuellen Versuche ihrer Bewältigung und die Geschichte ihrer Konditionierung zusammenwirken. Die auf diese Weise entstandenen emotionalen Schemata können als jene Operatoren im psychischen System betrachtet werden, die für die Entwicklung störungsspezifischer Phänomene und in der Folge auch für deren nachhaltige therapeutische Veränderung als entscheidend zu verstehen sind.
Daher würde ich die reine Lösungsfokussierung heute dahingehend relativieren, dass für nachhaltigen Wandel auch die Würdigung, Exploration und Transformation biografisch verankerter kognitiver und emotionaler Muster einzubeziehen ist. Durch eine Festlegung auf kurzfristig erreichbare Lösungen wird hingegen suggeriert, Wandel könne immer auch gelingen, ohne die tiefer liegenden emotionalen Schemata zu berücksichtigen. Dies kann dazu führen, dass Klienten sich wegen zu geringer Umsetzungserfolge über sich selbst ärgern oder auch die Therapie abwerten, sobald sie wieder in ihre störungsspezifischen Kreisläufe geraten. Auch andere systemische Therapeuten erkannten die Mängel, die bei ausschließlich auf Kurzzeit angelegten Therapien evident wurden. So konstatiert die aus Wien stammende amerikanische Systemtherapeutin Eve Lipchik, die in den 1970er Jahren zusammen mit Insoo Kim Berg und Steve de Shazer das Brief Family Therapy Center in Milwaukee aufbaute, dass bei reiner Lösungsorientierung »Feinheit, Geduld und Einfühlungsvermögen« (Lipchik, 1994, S. 234) zu kurz kommen.
Es stellt sich daher die Frage, ob die attraktive systemische Idee, Leiden auf dem schnellsten Weg durch Lösungsorientierung zu minimieren, nicht auch dazu verführen kann, dass elementare und als negativ aufgefasste Emotionen in der klassischen systemischen Therapie zu schnell umschifft werden, indem tendenziell nach Lösungen für die aktuell belastende Situation gesucht wird, was womöglich wichtige Elemente für nachhaltigen Wandel übersehen lässt. In diesem Fall würde ein blinder Fleck in der systemischen Therapie ersichtlich werden, der schon in der Systemtheorie offenkundig wird (▶Kapitel 1.2).
Die Hauptthese dieses Buches lautet: Erst mittels einer Hinwendung zum emotionalen Verstehen und zu gezielten empathischen und gefühlsexplorierenden Prozessen kann die Sinnhaftigkeit einbezogen werden, die schmerzhafte und belastende Emotionen für das Verstehen und Erkennen der eigenen zum Teil abgewehrten und vernachlässigten Bedürfnisse und damit auch für tiefere, nachhaltige Lösungen bedeuten. Gleichzeitig besteht im Verstehen der eigenen Emotionen inklusive ihrer bedürfnisbezogenen Seite eine große Chance für die Aktivierung von Selbstakzeptanz und Selbstachtung.
Selbstredend sind Freude, Erfolge, Fortschritte, Lösungen und Glücksgefühle erstrebenswerte Zustände, die wir uns alle zutiefst für unsere Klienten und für uns selbst wünschen, und alle systemischen Verfahren dienen der Förderung dieser Zustände. Allerdings zeigen meine Erfahrungen, dass diejenigen Therapien, die emotionale Schemata einbeziehen, zumindest bei »schwierigen Patienten« (in der klassischen Terminologie häufig mit dem Etikett »Persönlichkeitsstörung« belegt), aber auch bei fast allen anderen Patientengruppen mit sich wiederholenden Mustern zu besseren Erfolgen führen (vgl. auch Wagner und Russinger, 2016). Die Erlebnisorientierung ist offensichtlich ein wichtiger Parameter, um die Selbstwirksamkeit zu erhöhen.
Dieser Wandel in der Perspektive ist in meinen Augen, auch wenn für eine Implementierung eventuell längere Zeitabschnitte benötigt werden, ein Gebot der Nachhaltigkeit (und wird in der heutigen Zeit auch pragmatisch durch die Anerkennung der systemischen Therapie als Krankenkassenleistung unterstützt, wodurch die Finanzierbarkeit auch einer längerfristigen Therapie gewährleistet wird).
Ziel meines Buches ist es, zu untersuchen und aufzuzeigen, wie eine systemisch-konstruktivistische Therapie, die mit den verschiedensten Klientinnen psychotherapeutisch erfolgreich arbeiten möchte, durch die Einbeziehung emotionsbasierter Verfahren bereichert werden kann. Ich bin überzeugt, dass wir sowohl innerhalb der Theorieentwicklung als auch besonders für die methodische Ausrichtung der Therapie am Beginn einer neuen Phase der Integration stehen, welche die psychotherapeutische Praxis verändern wird. Dazu werde ich im ersten Teil des Buches den Begriff und das Verständnis von Emotionen aus dem Blickwinkel verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven betrachten, die sich für Psychotherapeuten als relevant erweisen.
Der zweite, praxisorientierte Teil stellt verschiedene emotionsbasierte Verfahren theoretisch und methodisch vor und liefert Erfahrungen aus meiner therapeutischen Praxis. In einem dritten, ebenfalls auf die therapeutischen Prozesse bezogenen Teil wird schließlich die Nützlichkeit der Integration systemischer und emotionsbasierter Konzepte reflektiert.
Im ersten Kapitel dieses Buches wird zunächst mittels eines Ausflugs in verschiedene Wissensgebiete anhand der Gegenüberstellung verschiedener Erkenntnisse einige Schlaglichter zur grundsätzlichen Bedeutung der Emotionen und ihres Wandels in der heutigen Zeit reflektiert, bevor die Frage »Was sind Emotionen und was kann unter Basalemotionen verstanden werden?« aufgegriffen wird. Es folgen Abschnitte zur Thematik, wie wir emotionale Intelligenz begreifen und Gefühle als Signale und als Bedürfnisnavigatoren nutzen können. Gedanken zu den drei Affektsystemen, drei Grundbedürfnissen und zum Einfluss der Emotionen auf die psychische Gesundheit runden dieses Kapitel ab.
Darauf folgt ein theoretisch orientierter Versuch, das Thema Emotionen innerhalb der für systemische Therapeuten hoch relevanten Systemtheorie zu verorten. Es zeigt sich dabei, dass jede Theorie blinde Flecken aufweist, obwohl sich das Thema »Emotionen« wie wohl kein anderes für die Verknüpfung der drei Systemdimensionen des biologischen, des psychischen und des sozialen Systems eignet. Daher versuche ich herauszuarbeiten, Emotionen als einen Schlüssel, wenn nicht als zentrales Missing Link bei Fragen der strukturellen Koppelung im bio-psycho-sozialen Systemmodell zu betrachten.
Es schließt sich eine Analyse dieser drei Systemarten in Bezug auf das Thema Emotionen an: Wie werden Gefühle neurobiologisch und körperlich, wie psychisch und wie sozial prozessiert, und wie werden diese Prozesse wiederum permanent rückgekoppelt? Diese spannende Forschungsfrage kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings nur skizziert werden.
Im Abschnitt über das biologische System werden das limbische System, die Individualität der Stressreaktion und die Polyvagaltheorie in ihrer Bedeutung für Entstehung und Bewertung von Emotionen dargestellt, drei Themen, die ich für das Verständnis der später illustrierten Therapiekonzepte als besonders wertvoll erachte. Es folgt ein Abschnitt über das psychische System, in dem störungsspezifische und veränderungsorientierte Emotionen einander gegenübergestellt werden. Für die erste Gruppe werden dabei Grundgefühle wie Angst, Verletztheit,Scham und Wertlosigkeit differenziert erläutert. Im Abschnitt über das soziale System geht es mit »Aller Anfang ist systemisch« um Aspekte der Bindungsforschung, bevor der potenzielle Einfluss der Familie sowie anderer sozialer Systeme – auch des Systems Therapie – auf die Emotionen analysiert wird. Einen Exkurs bildet der Abschnitt »Eine kurze Geschichte der Emotionen«, der die Geschichtsforschung nach Beiträgen zum Verständnis der Emotionen durchstreift.
Im zweiten Teil werden die emotionsbasierten Therapieformen exploriert und nach einer kurzen Würdigung einiger Vorläufer vor allem die Schematherapie in ihrer Theorie und in ihren methodischen Werkzeugen vorgestellt. Sie nimmt deshalb besonders breiten Raum ein, weil sie auf faszinierende Art und Weise die Komplexität psychischer Selbstorganisation in einem übersichtlichen Modell vereint und für ein störungsspezifisches Verständnis wie auch für ein lösungsorientiertes psychotherapeutisches Vorgehen wertvolle Grundlagen liefert.
Für das Verstehen und Explorieren der Dynamik psychischer Prozesse und für das Erlangen des Therapieziels Selbstakzeptanz sind wiederum die Errungenschaften der emotionsfokussierten Therapie von höchstem Nutzen. Ihr Ansatz und ihre Methodenvielfalt, unter anderem die fünf Variationen der Empathie und die vielen hochwirksamen Stuhl- und Imaginationsübungen, bieten einen Fundus, der die gezielte Arbeit mit Emotionen außerordentlich bereichert. Der Einsatz dieser Übungen wird in den praktischen Teilen auch anhand vieler Beispiele illustriert. Innere-Kind-Arbeit und die Mitgefühlsorientierte Therapie runden den methodisch-praktischen Teil dieses Buches ab.
Im Schlussteil werden schließlich nach einer Skizzierung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten vielfältige Synergieeffekte der emotionsbasierten Verfahren mit der systemischen Therapie vorgestellt, die unterstreichen, welche positive Kraft aus einer möglichen Integration dieser beiden Therapiefelder hervorgeht. Damit gehe ich auch der Frage nach, ob es für eine Weiterentwicklung der Psychotherapie nicht der Vereinigung der effektivsten Verfahren auf Basis einer stimmigen philosophischen Theorie bedarf, wie sie systemischkonstruktivistische und emotionsbasierte Therapieformen eindrücklich in der derzeitigen therapeutischen Landschaft verkörpern. Diese komplexe Integration fasse ich im Abschnitt Grundriss einer systemisch-emotionalen Psychotherapie (SEP) zusammen.
In Weiterführung der konstruktivistisch ausgerichteten systemischen Therapie stelle ich in diesem Buch letztlich die These auf, dass nicht nur die kognitiven Wirklichkeitskonstruktionen als Ausdruck der Selbstorganisation, sondern auch und insbesondere das emotionale Erleben als Ausdruck der dynamischen psychischen Selbstorganisation jedes Klienten geachtet, gewürdigt und für den therapeutischen Prozess systematisch genutzt werden können.
Daher möchte ich Sie nun zu einer Reise durch das weite Feld der Emotionen anregen mit der besonderen Einladung, die Virtuosität emotionsbasierter Verfahren zu entdecken und diese, wenn Sie sich dazu angesprochen fühlen, als innovative Erweiterung für den psychotherapeutischen Prozess und die eigene Praxis kennenzulernen.
1Süddeutsche Zeitung, 2015.
2Ich nutze im vorliegenden Buch im Wechsel die weibliche und männliche Form, damit Gendersensitivität und Lesbarkeit Hand in Hand gehen. Die Leserinnen und Leser lade ich ein, diesen kontinuierlichen Perspektivwechsel mitzuvollziehen.
3Joining bezeichnet die Phase in einer Therapie oder Beratung, in der eine Verbindung zwischen Therapeut und Klient hergestellt wird, um therapeutisch kooperieren zu können. Pacing wird als Fähigkeit des Therapeuten verstanden, mit dem Klienten mitzuschwingen, bevor der Prozess des Leading eintritt, also der Therapeut die Beratung in eine gewünschte Richtung lenken kann.
4Wobei dies nicht zwangsläufig zu bedeuten hat, dass die Anzahl der Sitzungen insgesamt enorm hoch und die Frequenz über längere Zeit sehr engmaschig sein müsste. Das ist wie immer im konkreten Einzelfall zu entscheiden. Der Prozess einer Umgestaltung emotionaler Schemata kann sich allerdings sehr wohl über mehrere Jahre erstrecken.
1Emotionen: Bedeutung, Theorie und Therapie
1.1Bedeutung von Emotionen
Moderne Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass neben dem technischen Fortschritt auch Emotionen einen immer höheren Stellenwert erfahren. Von verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen werden sie als eine Triebfeder menschlichen Daseins verstanden, die sich sowohl für Handlungen, Motivationen und Entscheidungen als auch für Stimmungslagen und Wohlbefinden als elementar erwiesen hat. Auch für die psychische und somatische Gesundheit wird die Bedeutung der Emotionen in Theorie und Praxis mehr und mehr anerkannt und zunehmend stärker einbezogen, nachdem über Jahrhunderte die Rationalität und in verschiedenen Bereichen der Psychotherapie zudem jahrzehntelang ein kognitives Primat vorherrschten.
Die Bedeutung der Emotionen unterliegt im kulturellen und historischen Vergleich größtmöglichen Unterschieden. Dies werde ich etwas ausführlicher im Kapitel über die Geschichte der Emotionen darstellen (▶Kapitel 1.6). Auch wenn es universelle Emotionen geben mag, die sich als anthropologische Grundlagen in der biologischen Grundausstattung des Menschen wiederfinden, ist doch der sozialkonstruktivistische Anteil bei der Bedeutungszuschreibung gigantisch. Dies zeigt die Bandbreite der Unterschiede in der Wahrnehmung, Auslegung und Bewertung emotionaler Zustände. Daher sollte sich jeder Emotionsforscher bewusst sein, dass bei dem Versuch, diesen Gegenstand für therapeutische Anliegen übersichtlich darzustellen, immer nur auf dem Kenntnisstand unserer heutigen Zeit aufgebaut werden und sich dieser in Zukunft wieder verändern wird.
Die Beachtung des Emotionellen hat in den letzten Jahrzehnten einen ungeheuren Aufschwung erlebt. Emotionale Prozesse werden mittlerweile gesellschaftlich deutlich mehr anerkannt und fließen in unser Denken und unsere Sprache ein. Die Werbung bedient sich ihrer ebenso wie das Marketing in der gezielten Ausrichtung auf den Kunden und dessen spezielle Interessen. Wir leben in einem Zeitalter des »affektiven Individualismus« (2012, S. 80), wie die israelische Soziologin Eva Illouz unter anderem in ihrem Werk »Warum Liebe weh tut« betont. Sie zeigt auf, dass sich unsere gesamte Kultur sowohl in ihrer ökonomischen Entwicklung als auch im Privaten immer stärker über Gefühle definiert. Emotionale Diskurse werden nicht nur in der Kundenorientierung, sondern mehr und mehr auch am Arbeitsplatz, in der Familie und besonders in sozialen Beziehungen eingeführt. Von der Partnerinnensuche bis zur Trennungsfrage dominieren emotionale Fragestellungen die Entscheidungsfindung. Sprache und Denkmuster bezeugen diesen Prozess, wenn die in eine Beziehung getätigten Investitionen mit den unerfüllten Erwartungen oder – wie auf Datingplattformen – die übereinstimmenden Präferenzen mit Matching-Punkten hochgerechnet werden. Illouz’ Schlussfolgerung ist daher völlig einleuchtend: Wir befinden uns in einem Wandel zu einem »emotionalen Kapitalismus« (2007, S. 13).
Während in früheren Gesellschaften die Mitgift und der ökonomische Stand als wichtigste Voraussetzungen für eine Eheschließung betrachtet wurden, gilt heute die emotionale Kraft der Liebe als zentrale Grundlage, differenziert über die Wahrnehmung und das Empfinden verschiedener Formen der Attraktivität, die in eine Beziehung eingebracht werden. Der Diskurs der romantischen Liebe, der einen schwer erreichbaren Idealzustand glücklicher Partnerschaft zu einer weitverbreiteten Erwartungshaltung erhebt, verweist auf einen Übergang in der gesellschaftlichen Wertehierarchie von der rein ökonomischen zu einer zunehmend emotionalen Sphäre. Mit diesem Wandel einher geht auch der immense Bedeutungsgewinn jener Wissenschaftszweige, die sich mit Emotionen auseinandersetzen.
Psychologische und mittlerweile auch neurobiologische Erkenntnisse fließen in unser Allgemeinwissen ein, sich manifestierend unter anderem in einer unaufhörlich anwachsenden Ansammlung von Produkten einer wahren Ratgeberindustrie, die als eigene Branche mit hohem Wachstumspotenzial angesehen werden kann. Sie profitiert davon, dass, beginnend mit dem Ende des 19. Jahrhunderts, die Publikation psychiatrischer, sozialpsychologischer und psychoanalytischer Erkenntnisse eine gesamtgesellschaftliche Verbreitung dieser Denkmuster ermöglichte. Der französische Philosoph Michel Foucault hat dies im Rahmen seiner Diskurstheorie sehr dezidiert als einen neuen Diskurs der »Sorge um sich« und der »Sorge um das kranke Selbst« dargestellt (1986).
Andere Philosophen konstatieren seit Mitte der 1990er Jahre einen Wandel der gesellschaftlichen Diskurse hin zur Biologie als neuer Leitdisziplin (so z. B. Vollmer, 1995|2015; Krohs u. Toepfer, 2005). Der deutsche Historiker Jan Plamper stellt dabei die These auf, dass sich der Prozess der diskursiv-medialen Emotionalisierung in den Nachwirkungen der 9/11-Terroranschläge in den USA immens beschleunigt habe: »[…] wenn es also den einen Geburtsort der heutigen Emotionsgeschichte geben soll, so war es Manhattan am Morgen des 11. September 2001« (2012, S. 75). Seither sei, ausgehend von den USA, ein »emotionaler Boom« entfacht worden, der sich tatsächlich vor allem in der Welt des Internets entfesselt verbreitet hat. Angst und Hass sind zu gängigen Emotionen mit hoher Anschlussfähigkeit geworden und haben eine Art emotional turn eingeläutet. Bestimmte negative Gefühle erfahren eine Enttabuisierung. Während sogenannte Wutbürger noch traditionell ihren Protest auf die Straße tragen, vervielfältigen sich auf den Datenautobahnen des World Wide Web Hass-E-Mails im anonymen Raum und erzeugen eine Polarisierung, die das Potential einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung in sich trägt. Sogar ganz neue Sprachschöpfungen wie der Begriff »mütend« auf dem Höhepunkt der Coronapandemie, als diese und die Einschränkung vieler Grundrechte die Gesellschaft zunehmend ermüdeten und gleichzeitig Ärger produzierten, bereichern die emotionale Sprache.
Jedoch ist der emotional turn längst auch in andere Sphären eingedrungen. Emotionen sind in aller Munde. So werden nicht ganz den Tatsachen entsprechende Aussagen seit einigen Jahren gern mit der semantischen Hinzufügung »gefühlt« unterstrichen, zum Beispiel: »Es regnet gefühlt seit einer Woche!« Auch bei Sportereignissen wird der Mehrwert aus den »puren Emotionen« oder bei spannenden Spielverläufen aus einer »Achterbahn der Gefühle« gezogen und als Ursache für Siege von Außenseitern häufig ein »stärkerer Siegeswille« attestiert, der sich wiederum auf ein höheres Maß an »Gier« bzw. »Erfolgs-Hunger« zurückführen lasse. Auffallend ist hierbei die Umwertung früher eindeutig als negativ eingestufter Motivationslagen (wie beispielsweise Gier) zu erstrebenswerten Eigenschaften. Eine Umwertung, die ebenfalls in der Werbeindustrie zur Anregung des Konsumverhaltens eingesetzt wird, beispielsweise mit dem Slogan »Geiz ist geil«.
Kurz: Fühlen ist in geworden.
Die Veränderung hin zur emotionalisierten Sprache findet sich auch in der Schilderung von Lebensgeschichten wieder, wie sie beispielsweise in literarischen Autobiografien oder in der Selbstdarstellung in Talkshows präsentiert werden. Bei der Erzählung der eigenen Geschichte kommt es inzwischen zu keiner schambesetzten Tabuisierung schwieriger Lebensereignisse mehr, sondern es ist zu einer neuen Normalität geworden, biografische Brüche und krisenhafte Erfahrungen als wesentliche Transformationen und somit als gewinnbringend in das Narrativ einzubeziehen.
Insofern ist es kein Wunder, dass die gesellschaftlich weitverbreitete Emotionalisierung unserer Wahrnehmung und Sprache mit der Therapeutisierung der Gesellschaft nicht nur Hand in Hand geht, sondern sich auch unmittelbar im Verständnis psychischer Gesundheit und therapeutischer Transformationsarbeit niederschlägt.
1.1.1Was sind Emotionen?
Die Frage, was Emotionen exakt sind, ist nicht einfach zu beantworten. Zum einen, weil es verschiedene Definitionsversuche aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gibt, zum anderen, weil selbst Forschungen aus den Neurowissenschaften aufzeigen, dass tatsächlich sogar verschiedene Zentren im Gehirn existieren, die für verschiedene Prozesse der Sinneswahrnehmung und der Emotionsverarbeitung zuständig sind. Bereits die Frage der Lokalisierung, ob Emotionen primär im Körper oder in der Psyche zu verorten sind, ist nach wie vor umstritten, und in der Beschreibung bzw. zum Verständnis von Emotionen werden je nach Forschungs- oder Anwendungsfeld die unterschiedlichsten Begriffe verwendet:
Befindlichkeiten, Affekte, Gefühle, Stimmungen, (Grund-)Bedürfnisse, Motivationen, Motive, Intentionen, Erregungszustände, Felt Sense, Bewertungen, Primary Appraisal, Secondary Appraisal, Kognitionen, Sinn, Kommunikation etc.
Die Erkenntnisse der verschiedenen Forschungszweige lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Affekte werden definiert als primär unbewusste emotionale Zustände, Stimmungslagen und Befindlichkeiten, die sich als körperliche Effekte (sog. Affektdurchbrüche wie Weinen, Erröten, Zittern) zeigen können. Man könnte sagen, der Organismus nimmt Bewertungen der Situation vor, die vorbewusst oder implizit ablaufen und zu einer Reaktion zumindest auf der »Bühne des Körpers« veranlassen. Diese erste affektive Bewertung findet in der Regel bereits im limbischen System statt und wirkt steuernd für weitere Impulse (▶Kapitel 1.3.1). Der von Gendlin (1978) definierte Felt Sense nimm hier seinen Ausgangspunkt.
Diesem affektiven System folgen implizite Motivationen, beispielsweise Annäherungs- oder Vermeidungsmotivationen, Flucht- oder Angriffsimpulse. Ist mir ein Mensch sympathisch oder unsympathisch, finde ich ihn attraktiv oder unattraktiv, erlebe ich eine Situation als bedrohlich oder harmlos – solche primären Bewertungen werden zunächst von unserem Affektsystem gesteuert. Wenn ich in einem späteren Teil dieses Buches von emotionalen Schemata als hoch bedeutsam für das Zustandekommen psychischer Störungen und von ihrer therapeutischen Wandlungsfähigkeit sprechen werde, wird der Einbezug der impliziten, affektiv-motivationalen Ebene besonders relevant.
Es gibt einen lang anhaltenden wissenschaftlichen Streit, ob Emotionen evolutionär, das heißt biologisch und somit auch universalistisch zu verstehen sind, wie es bereits Charles Darwin (1872) angenommen hat und wie es von dem US-amerikanischen Emotionsforscher Paul Ekman (2016) mit modernen Forschungsdaten unterstrichen wurde. Dem gegenüber steht eine große Gruppe an Wissenschaftlern, die die Bedeutung der sozialen Konstruktion bei der Wahrnehmung, Bewertung und Äußerung von Emotionen hervorhebt. Ich werde auf diese Debatte im Abschnitt über die Geschichte der Emotionen zurückkommen (▶Kapitel 1.6).
Auch was bei emotionalen Prozessen in welcher zeitlichen Abfolge passiert, war immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen: War die Definition dessen, was wir fühlen, Ausdruck eines kognitiven Bewertungsprozesses (als unmittelbare Folge auf eine unspezifische physiologische Erregung), also ein Akt einer Zuschreibung, oder entspringen Affekte einer potentiellen Gleichzeitigkeit von körperlichem Fühlen und der Wahrnehmung eines Gefühls inklusive einer diesem Prozess inhärenten Bedeutungsgebung.
Die Cannon-Bard-Theorie (nach den beiden US-amerikanischen Physiologen Walter Cannon und Philip Bard, 1927/28) geht davon aus, dass Prozesse des emotionalen Erlebens und der physiologischen Erregung bzw. körperliche Reaktionen wie beispielsweise Weinen, Erröten oder Zittern häufig gleichzeitig ablaufen. Der Thalamus als Teil des limbischen Systems leitet entsprechende Reize auf vorprogrammierten neuronalen Bahnen zum Kortex, wo das emotionale Erleben erfasst wird. Parallel werden über den Hirnstamm bestimmte Körperfunktionen angeregt und auf diesem unmittelbaren Weg körperliche Symptome ausgelöst.
Seit den 60er Jahren galt dann für viele Jahre die Zwei-Faktoren-Theorie von Stanley Schachter und Jerome Singer als wissenschaftliche Grundlage für das Verständnis emotionaler Prozesse (1962). Die beiden US-amerikanischen Sozialpsychologen nahmen an, dass Emotionen auf einer unspezifischen physiologischen Erregung beruhen, die erst über die kognitive Zuordnung mit einer bestimmten Emotion assoziiert würden. Zum Beispiel kann in einer bedrohlichen Situation die unter dem Einfluss von Adrenalin auftretende physiologische Erregung als Furcht oder als Ärger interpretiert werden. Diese unterschiedliche kognitive Attribuierung diente über Jahrzehnte als Ausgangspunkt therapeutischer Veränderungsarbeit zumindest innerhalb der verhaltenstherapeutisch orientierten Community. Um die Emotionen und das auf sie folgende Verhalten zu verändern, galt es die zugrundeliegenden Kognitionen umzustrukturieren.
Nach der kognitiven Wende der 1960er Jahre findet gegenwärtig innerhalb der neurowissenschaftlich fundierten Psychotherapieforschung ein weiterer Paradigmenwechsel statt, der nun den gesamten Organismus einbezieht. Neben dem Embodiment und dem Erfassen des Felt Sense und der somatischen Marker hat die Welle neurobiologischer Erkenntnisse dabei inzwischen längst auch den Emotionsbegriff erfasst und zu einer differenzierten Sichtweise auf das Zustandekommen und die Verortung von Emotionen geführt. So lässt sich mittlerweile konstatieren, dass die Amygdala für viele emotionale Prozesse5 ein zentrales Organ darstellt und die meisten Emotionen im limbischen System prozessiert und über den Hirnstamm in den Körper geleitet werden, wo ein Fühlen stattfinden kann. Im präfrontalen Kortex wiederum findet das bewusste Wahrnehmen und Erkennen dieses Fühlens statt, womit auch das Bewusstsein Anteil am emotionalen Geschehen nehmen kann.
Aus dieser sich heute zunehmend durchsetzenden Sichtweise darf mit Antonio Damasio, einem auf dem Gebiet der Emotionsforschung höchst anerkannten Neurobiologen der Gegenwart, gefolgert werden: »Die Emotionen treten auf der Bühne des Körpers auf, die Gefühle auf der Bühne des Geistes« (2005, S. 38). Das heißt, Vorgänge auf der Basis der Selbstorganisation des Gehirns können auch unmittelbar subkortical und auf der somatischen Ebene als Emotionen prozessiert werden, ohne dass das Bewusstsein dies erkennen muss.
Es ist daher keineswegs angemessen, es als Verdrängung oder gar Verleugnung zu definieren, wenn Menschen ihre Emotionen nicht wahrnehmen und versprachlichen können. Im Gegenteil, ich möchte behaupten, es erfordert vielmehr eine besondere Begabung, den Weg von der Selbstbeobachtung und der Bewusstwerdung einer körperbezogenen Emotion zu einem über das Bewusstsein erkennbaren Gefühl zu schaffen und gleichzeitig dieses Gefühl in Sprache umzusetzen. Erst mit diesem Schritt jedoch kann die Fähigkeit entwickelt werden, mit Emotionen selbstbestimmt, selbstbewusst und transparent umzugehen.
Emotionen sind laut neuestem neurobiologischem Kenntnisstand somit dem biologischen System zuzuordnen und ursprünglich daran ausgerichtet, das Überleben zu sichern. Damasio beschreibt Emotionen als »komplizierte Bündel von chemischen und neuronalen Reaktionen, die ein Muster bilden; alle Emotionen haben eine regulatorische Funktion und führen […] zur Entstehung von Umständen, die vorteilhaft für den Organismus sind […]. […] ihre Aufgabe besteht darin, dem Organismus zu helfen, am Leben zu bleiben« Und weiter folgert er: »Emotionen [sind] biologisch determinierte Prozesse, die von angeborenen Hirnstrukturen abhängen, und diese wiederum verdanken ihre Existenz einer langen evolutionären Geschichte« (2009, S. 68). In diesem Sinne sind auch Reflexe, Stoffwechselveränderungen und Immunantworten, Schmerzzustände sowie alle Arten von Antrieben, Begierden und Motivationen als Basiselemente primärer Emotionen zu verstehen (vgl. Damasio, 2005, S. 39 ff.). Diese Elemente sind nicht linear aufeinander bezogen, sondern verlaufen selbstreferenziell oder, wie Damasio betont, verschachtelt.6
Als grundlegende oder primäre Emotionen lassen sich Antworten unseres psychischen Immunsystems auf jede Art der Bedrohung auffassen, wozu Ängste und Furcht genauso wie Wut und Ekel sowie als Reaktion auf (drohenden) Verlust Empfindungen der Trauer zählen. Aber auch Freude, Lust und Glücksmomente sind als primäre Emotionen zu werten. Des Weiteren unterscheidet Damasio davon soziale Emotionen und Hintergrundemotionen. Letztere beschreiben Befindlichkeiten, die über das momentane Gefühl im Hier und Jetzt hinausreichen, beispielsweise die Traurigkeit nach einem Verlust, die länger anhält, auch wenn es gelingt, sich zwischenzeitlich abzulenken und anderweitig zu fokussieren.
Auch soziale Emotionen können als überlebenswichtige Strategien angesehen werden, die ursprünglich der Optimierung der Regulation des Zusammenhalts in der Gemeinschaft dienen sollten, wie beispielsweise bei Scham- und Schuldgefühlen, Entrüstung und Verachtung, aber auch Empathie, Mitgefühl und Dankbarkeit7. Wie sehr die Regulation unserer Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Autonomie und Anerkennung im sozialen Kontext unserer primären Bindungserfahrungen die Persönlichkeitsentwicklung inklusive wesentlicher Prozesse der Emotionsregulation prägt, werde ich im Abschnitt über die Bindungsforschung vertiefen (▶Kapitel 1.5.1).
Emotionen bzw. Gefühle lassen sich neurobiologisch und psychologisch als differenzierbare Elemente auffassen, die auf drei Ebenen miteinander interagieren:
–die Emotion selbst als ein neurobiologisches Phänomen
–das Fühlen dieser Emotion als somatisches und möglicherweise psychisch implizites Erleben
–die bewusste Wahrnehmung dieser Emotion
Der Gehirnforscher Gerhard Roth beschreibt in »Wie das Gehirn die Seele macht«, dass auch die Bewertung der meisten Emotionen im Gehirn gemäß bisheriger Codierungen implizit abläuft (Roth u. Stüber, 2014). Dies ist eine Erklärung dafür, dass rein kognitive Therapieansätze zu wenig Einfluss auf die impliziten Bewertungsprozesse nehmen können, die unser Empfinden und unsere Handlungsimpulse leiten.
Um es an dieser Stelle vorwegzunehmen: Während kognitiv orientierte Therapieansätze in der Regel erst bei Stufe (3) der im obigen Kasten aufgeführten Triade ansetzen, versuchen emotionsbasierte Verfahren bereits die auf Stufe (2) ablaufenden impliziten emotionalen Regulationsprozesse mittels therapeutischer Interventionen zu transformieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Hervorbringen der Emotionen nicht allein einem genetischen Programm des Menschen, sondern in weiterer Linie der biografischen Sozialisations- und Konditionierungsgeschichte entspringt, die sich von Mensch zu Mensch gravierend unterschiedlich entwickeln kann.
Auch wenn die Grundthese, dass Emotionen primär unser Überleben bzw. das Überleben (in) unserer Gruppe sichern wollen, einen grundsätzlich wertschätzenden Blick auf das Entstehen von Emotionen wirft und diese als Ressourcen verstehen lässt, ist es keineswegs so, dass Emotionen immer positiv zu bewerten wären. Aufgrund von Über- oder Unterregulationsprozessen, die sowohl biografisch bedingt die psychische Selbstorganisation betreffen als auch neurobiologisch beispielsweise über hormonelle und/oder neuromodulare Steuerungsprozesse ablaufen können, ist es möglich, dass Emotionen zu beträchtlichen Ungleichgewichten und Fehlsteuerungen beitragen. So kann beispielsweise die Emotion Angst überreguliert werden, indem Personen dieses Gefühl nicht wahrnehmen und in Risiken geraten bzw. diese sogar bewusst oder halbbewusst aufsuchen. Andere Personen leiden unter Angststörungen, weil Ängste ständig oder zu zahlreich oder in zu starker Intensität auftreten (mit anderen Worten: unterreguliert) oder weil sie ihre Ängste so negativ bewerten, dass die Angst vor der Angst eine permanente Auseinandersetzung und Aufmerksamkeitssteuerung mit diesem Gefühl bedingt.
Wenn neueste Forschungserkenntnisse darauf hinweisen, dass implizite Prozesse der Emotionsregulation als Schlüssel für die meisten psychisch relevanten Vorgänge anzusehen sind, bedeutet dies auch eine Herausforderung für psychotherapeutische Theoriebildung und zielführende Interventionen, nämlich eine Erweiterung des therapeutischen Handlungsspektrums, welches bisher vornehmlich die kognitive Selbstorganisation des Psychischen und die kommunikativen Prozesse in sozialen Systemen umfasste. Das Erkenntnisinteresse moderner Therapiekonzepte wendet sich daher mehr und mehr den impliziten emotionalen Prozessen zu. Diese lassen sich, so die Hauptthese emotionsbasierter Therapieansätze, am besten im aktivierten Zustand verändern.
Damasio unterscheidet in der Folge auch zwei Bewusstseinsstufen: das Kernbewusstsein, welches das Überleben respektive unsere Ablaufprogramme im Hier und Jetzt sicherstellt, und das erweiterte Bewusstsein, welches Vergangenes und die antizipierte Zukunft miteinbezieht (2009, S. 28 ff.). Auch auf diese beiden Bewusstseinsformen zielt selbstredend psychotherapeutische Veränderungsarbeit. Emotionen finden im Hier und Jetzt statt und lassen sich aktualisiert am besten bearbeiten. Beim erweiterten Bewusstsein ist hingegen das Narrativ, die sich verändernde Selbstbeschreibung und erzählung der Klientin von Relevanz, wofür emotionale Verarbeitungs- und Bewertungsprozesse ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen.
1.1.2Emotionale Intelligenz und Achtsamkeit
Nach den sozialen Kompetenzen und der sozialen Intelligenz wurde 1990 der Begriff der emotionalen Intelligenz von den US-amerikanischen Psychologen John D. Mayer und Peter Salovey in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Er bezeichnet die Fähigkeit, erstens die eigenen Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und mit ihnen umzugehen und zweitens Empathie für die Gefühle anderer Personen zu entwickeln (vgl. Goleman, 1997, S. 65). Was in früheren Zeiten »Herzenswärme« oder – beispielsweise von Johann Wolfgang Goethe – »Herzensbildung« genannt wurde, lässt sich heute also per EQ-Test messen. Es wird angenommen, dass die Kompetenzen, die der emotionalen Intelligenz innewohnen, für die meisten gesellschaftlichen Anforderungen, die mit Teamarbeit und Menschenführung in Zusammenhang stehen, mindestens ebenso wichtig sind wie der IQ, der lange Zeit der einzige Maßstab messbarer Intelligenz gewesen war.
Laut dem US-amerikanischen Psychologen Daniel Goleman gründet die emotionale Intelligenz auf der Fähigkeit der gesunden Selbsteinschätzung, die bereits Sokrates als apollonische Weisheit in Delphi verkündete: »Erkenne dich selbst!« Sie galt dem griechischen Philosophen damals als Aufforderung, nicht ständig andere Menschen zu kritisieren, sondern auf sich selbst zu achten. Goleman greift diesen Gedanken auf und verknüpft ihn mit einem Grundprinzip der in den 1970er Jahren beginnenden Ära der Achtsamkeit: die eigenen Gefühle wahrzunehmen, ohne zu (ver-)urteilen.8
Vier aufeinander aufbauende Kompetenzen können als Ideale emotionaler Intelligenz zusammengefasst werden:
(1) Erkenne deine Gefühle als Antriebe deines Verhaltens und deiner Motivationen.
Dieses Erkennen beruht auf der Idee der Selbstakzeptanz, da Menschen, die ihre Gefühle bekämpfen, verleugnen und unterdrücken, leicht in Stress geraten und nicht sinnvoll mit ihren Gefühlen umgehen können.
(2) Lerne, deine Gefühle so zu beeinflussen, dass du angemessen mit ihnen umzugehen verstehst.
Dies gilt insbesondere für die Gefahr der Dramatisierung wie für die der Geringschätzung und Bagatellisierung. Hauptziel dieses Postulats ist es, sich bei jenen Emotionen, die mit größerer Erregung einhergehen, selbst zu beruhigen, um wieder adäquat handeln bzw. kommunizieren zu können. Umgekehrt gilt es, Gefühle wahrzunehmen und zu achten, die als wichtige Signale für das weitere Handeln angesehen werden können.
(3) Nutze deine Gefühle, um deine Ziele zu erreichen.
Dies bedeutet nach Goleman beispielsweise, kurzfristige Verlockungen für einen späteren Erfolg (oder Genuss) zurückstellen zu können (sog. Belohnungsaufschub). Ich würde ergänzen wollen, dass es auch möglich ist, Emotionen wie z. B. Ängste oder Wut als eine Art Energie zu nutzen, um diese in Entschlossenheit oder Konzentration umzusetzen. Auch Verletztheiten lassen sich, wie ich später zeigen werde, als Ressourcen für das Aufzeigen der eigenen Bedürfnisse nutzen (▶Kapitel 2.3).
(4) Versuche, die (teils versteckten) Signale anderer zu verstehen, um herauszufinden, was sie brauchen.
Dieses Postulat kann als ein Grundsatz der Menschlichkeit aufgefasst werden. Empathie ist für den Zusammenhalt und das reibungslose Funktionieren sozialer Systeme eine wichtige Voraussetzung. Für therapeutische Zwecke ist diese Fähigkeit geradezu unerlässlich. Allerdings weist Goleman darauf hin, dass die Fähigkeit zur Empathie auch missbräuchlich eingesetzt werden kann, um andere Menschen zu manipulieren. Sie ist demnach wertneutral zu verstehen und unterscheidet sich mit dieser Einschränkung vom Mitgefühl.
Ein hervorragendes Beispiel für die Macht der Gefühle liefert Goleman in der Beschreibung einer Prüfungssituation seiner eigenen Studienzeit, auf die er sich nicht genügend vorbereitet hatte:
» Ich war nur einmal in meinem Leben von Furcht gelähmt. Der Anlass war eine Mathematikklausur im ersten Studienjahr. […] Ich warf nur einen kurzen Blick auf die Prüfungsaufgaben. Aussichtslos. Eine Stunde lang starrte ich auf diese Seite, und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken an die Folgen, die ich würde erdulden müssen. Es waren immer dieselben Gedanken, die sich endlos wiederholten, ein Endlosband an Furcht und Zittern. Ich saß reglos da, wie ein Tier, das […] gelähmt worden war. […] Ich saß einfach da, fixiert auf meine Angst, und wartete, dass die Qual endlich vorüberginge« (Goleman, 1997, S. 106).
Emotional intelligent ist es daher, in angstbesetzten Situationen, die womöglich sogar lähmend wirken, Fähigkeiten zur Selbstberuhigung – wie beispielsweise Atem- und Entspannungsübungen – einzusetzen. Darüber hinaus sind Optimismus, positives Denken und die Entwicklung von Zuversicht Antriebsfedern, um aus lähmender Angst und Ohnmachtsgefühlen herauszukommen bzw. diesen vorzubeugen. Dafür ist es hilfreich, sich die Ziele so zu stecken, dass sie wieder erreichbar erscheinen. Im obigen Beispiel könnte dies darin bestehen, eben nur das schaffen zu wollen, was mit dem gegenwärtigen Wissen plus Intuition (und etwas Glück) umgesetzt werden kann. Die Fixierung auf die Angst, das Scheitern vor Augen, fördert hingegen Black-out-Situationen.
Die systemische Therapie greift diesen motivierenden Gedanken auf, indem sie die Achtsamkeit auf Ressourcen und Lösungen fokussiert. Die gegenteilige Ausrichtung, welche Hilflosigkeit und Ohnmacht suggeriert, wird in Anlehnung an die Hypnotherapie auch gern Problemtrance genannt. Für die emotionale Intelligenz ist es daher eine entscheidende Frage, wie die Fokussierung der Aufmerksamkeit den Glauben an sich selbst sowie in der Folge Optimismus und Zuversicht hervorzubringen vermag.
1.1.3Basalemotionen
Dass Emotionen kulturspezifisch unterschiedlich gelebt, gezeigt und bewertet werden, kann man in unzähligen anthropologischen und ethnografischen Studien, aber auch anhand von Reiseberichten erkennen. Der US-amerikanische Emotionsforscher Paul Ekman hat hierzu vergleichende Studien in verschiedensten Erdteilen angestellt und dabei ein Set universal vorkommender Emotionen identifiziert und erforscht (vgl. 2016). So zählen Wut, Ekel, Furcht, Traurigkeit, Fröhlichkeit und Überraschung laut Ekmans neurokulturellem Ansatz zu den sogenannten Basalemotionen. Zu jeder dieser Basalemotionen gehöre ein dazu passender, unverwechselbarer Gesichtsausdruck. Noch zu prüfen sei, ob dies auch für die Emotionen bzw. emotionalen Zustände Verachtung, Schuld, Scham, Peinlichkeit und Ehrfurcht zutreffe.
Gleichzeitig konstatiert Ekman, dass es kulturell sehr verschiedene display rules gibt, also implizite Vorzeigeregeln, welche Emotionen wie und wann gesellschaftlich akzeptiert gezeigt werden dürfen. Und mehr noch: Selbst wenn soziale Normen den Ausdruck einer Basalemotion verbieten, könne ein mikroskopischer Niederschlag, der sich nur in Bruchteilen einer Sekunde im Gesicht offenbare, nicht gänzlich unterdrückt werden. Dafür sind über zwanzig mimische Gesichtsmuskeln zuständig, die sich einer bewussten Kontrolle entziehen. Diese Erkenntnisse verleiteten Ekman in seinem Buch »Ich weiß, dass du lügst. Was Gesichter verraten« zu der Behauptung, sowohl Basalemotionen als auch Lügen mittels exakter Beobachtung der Mikroausdrücke der Gesichtsmimik dechiffrieren zu können (2011).
Neben der Universalität der Mimik identifiziert Ekman weitere Affektprogramme, die weitestgehend unabhängig von der soziokulturellen Prägung bei allen Primaten ähnlich ablaufen. Sowohl körperliche Reaktionen als auch Verhaltensmuster gehören zu diesen phylogenetisch vererbten Affektprogrammen, wie beispielsweise die Flucht vor einer unmittelbaren Bedrohung oder das Erstarren, sobald ein Entrinnen unmöglich erscheint.
Unabhängig von diesen als universal postulierten Körperreaktionen und Verhaltensmustern bleibt der Einfluss der spezifischen sozialen und kulturellen Bedingungen auf die Entwicklung von Gefühlen und die Möglichkeiten der psychischen Selbstorganisation jedoch immens. Sozialen Einflussfaktoren unterliegen laut Ekman beispielsweise die Fragen, welche Bedingungen als Auslöser für bestimmte Emotionen gelten können, wie die jeweilige Situation und insbesondere die Angemessenheit der Emotionen bewertet wird, welche Vorzeigeregeln es für die betreffenden Emotionen gibt und welche Coping-Strategien bzw. Bewältigungsfertigkeiten für den Umgang mit ihnen als sinnvoll erachtet werden.
1.1.4Gefühle als Signale
Emotionen werden in den modernen Neurowissenschaften als biochemische Impulse definiert, die überwiegend im limbischen System organisiert werden und sich auf der somatischen Bühne zeigen.
Sie können als direkt vermittelte Impulse wahrgenommen werden, die mittels Weiterleitung zu unmittelbaren Reaktionen auf der Körperebene und zu automatisierten Verhaltensreaktionen führen. Besonders bei als Bedrohung wahrgenommenen Impulsen reagiert das limbische System mit schneller und direkter Weiterleitung zur Aktivierung bestimmter Körperfunktionen (Tab. 1). Die bekannte flight or fight-Reaktion (Flucht oder Kampf) stellt sofortige physiologische Erregung mittels Steigerung der Pulsfrequenz und des Blutdrucks her (▶Kapitel 1.3). Es gibt jedoch noch eine dritte Reaktionsmöglichkeit des Körpers auf Bedrohung, die insbesondere bei Signalen der Hilflosigkeit und Ohnmacht entfacht wird: die freeze-Reaktion, also das plötzliche Erstarren vor Schreck.
Ich werde die neurobiologischen Grundlagen dieser verschiedenen Reaktionsweisen auf Bedrohung im Rahmen der Polyvagaltheorie genauer skizzieren (▶Kapitel 1.3.2).
Ein Dilemma der Emotionsverarbeitung in modernen Gesellschaften zeigt sich darin, dass das Ausmaß an bereitgestellter Energie durch die übermäßige Aktivierung des sympathischen Nervensystems und verschiedener Stresshormone Überreaktionen förmlich prädestiniert. Wir können in den typischen Stresssituationen im Arbeitsleben, im Verkehr, in der Partnerschaft oder bei der Kinderbetreuung keineswegs das ganze Ausmaß an psychophysiologischer Erregung nutzen, das uns unser Körper unmittelbar bereitstellt. Daher geraten Menschen fast grundsätzlich in zwei miteinander verwandte Dilemmata, die sich an den Polen Überversus Unterregulation und Überreaktion versus Unterordnung verdeutlichen lassen. Das heißt, entweder reagiere ich, wenn ich die Emotionen in bedrohlichen Situationen erlebe, über, reagiere fahrig, nervös, reizbar, aggressiv oder mit anderen Affektdurchbrüchen. Oder ich versuche mich anzupassen, der Situation unterzuordnen, meine Gefühle nicht zu zeigen und auch möglichst nicht wahrzunehmen, reguliere sie also, soweit dies möglich ist, unter, was aber häufig auf einer funktionalen Ebene des Körpers Spannungen und Nervosität und bei andauernder Unterordnung somatoforme Störungen wie beispielsweise Kopfschmerzen, Rückenbeschwerden, Magenschmerzen, Zähneknirschen etc. hervorrufen kann.
Psychosomatische Beschwerden können daraufhin untersucht werden, welche Emotionen und (damit verbundene) Bedürfnisse zu kurz kommen bzw. unterdrückt und vernachlässigt werden. In aller Regel lässt sich dabei eine Dilemmasituation feststellen, die dem Einzelnen zumeist nicht bewusst ist. Es versteht sich von selbst, dass ein Gleichgewicht bzw. ein Sowohl-als-auch und damit die Erhöhung der Wahlmöglichkeiten zwischen diesen polaren Funktionen wünschenswert wäre. Doch da viele solcher psychophysischen Programme automatisiert ablaufen, bedarf es zum Erkennen, Verstehen und zur Umbewertung dieser emotionalen, somatischen und verhaltensorientierten Muster eines dafür geeigneten selbstreflexiven Raumes, wie ihn eine Psychotherapie darstellen kann. Und aufgrund der bio-psycho-sozialen Konditionierungsgeschichte jedes einzelnen Menschen benötigt die Wandlung dieser Muster die Fokussierung der automatisierten Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Verhaltensprozesse in bzw. nach bedrohlichen Situationen und der mit ihnen verbundenen automatisiert hervorgerufenen Emotionen.
1.1.5Emotionen als Bedürfnisnavigator
Emotionen jeglicher Art haben eine Signalwirkung und können – so eine der Hauptthesen dieses Buches – als bedeutsam für unsere Bedürfnisse aufgefasst werden. Sie bilden wichtige Informationsquellen, die uns auf unmittelbare Art und Weise etwas über unser Befinden zeigen. Wenn wir sie wahrnehmen und adäquat zu interpretieren vermögen, tragen sie dazu bei, uns selbst verstehen zu lernen. Unmittelbar weisen sie darauf hin, was uns unangenehm ist und was angenehm, ob wir uns in Gefahr befinden oder dass wir etwas brauchen.
Gefühle haben also aus neurowissenschaftlicher Sicht eine wertvolle Funktion. Aufgrund ihrer lebensgeschichtlichen Relevanz sind sie dabei gleichzeitig immer auch als konditioniert aufzufassen. Wahrnehmung, Bewertung und ebenso die Reaktion auf Gefühle werden in der eigenen Lebensgeschichte auf Basis der geltenden sozialen Regeln und vermittelt durch biografische Erfahrungen gelernt. Es bildet sich eine persönliche Konditionierungsgeschichte im Umgang mit den eigenen Emotionen. Daher hängen die Funktionen spezifischer Emotionen immer auch sehr eng mit der jeweiligen individuellen Biografie und der bisherigen psychischen Selbstorganisation zusammen.
Tabelle 1: Bedrohungsimpulse und entsprechende Reaktionen
Der implizite Charakter unserer biografischen Selbstorganisation im Umgang mit unseren Gefühlen bringt es dabei mit sich, dass die Funktionalität unserer Emotionalität nicht notwendigerweise mit unserer rationalen Auffassung der Sinnhaftigkeit jeder einzelnen Befindlichkeit kompatibel ist. Das heißt, dass Emotionen durchaus auch als störend oder unpassend für die Gegenwartsbezüge interpretiert werden können, obwohl sie einen Sinn zumindest im Rahmen der eigenen Lebensgeschichte ergeben, der jedoch nicht immer auf der Hand liegen muss.
Weil viele Gefühle negativ oder zumindest unangenehm erlebt werden (siehe Tab. 2, S. 36), würden die meisten Menschen wohl liebend gern auf etliche dieser Zustände verzichten. Da sie aber aus emotionspsychologischer Sicht eben durchaus eine Funktion und Bedeutung besitzen, sollten vielmehr ein adäquater Umgang und eine stimmige Regulation dieser Emotionen ein erstrebenswertes Ziel sein. Als Beispiele seien Aggression, Angst, Verletzlichkeit und Scham genannt.
Die US-amerikanische Psychotherapeutin Berne Brown beschreibt in ihrem Werk »Verletzlichkeit macht stark« (2013) die Bedeutung derselben. Lebewesen sind per se verletzlich, ein gewisser Schutz ist daher sinnvoll und notwendig. Auf der psychischen Ebene bedeutet Verletzlichkeit derweil häufig Beschämung und ist bei vielen Menschen in unserem Kulturkreis mit Erfahrungen bzw. Empfindungen verknüpft, in den Augen anderer schlecht dazustehen und nicht liebenswert zu sein, was demzufolge Gefühle und Gedanken der eigenen Wertlosigkeit, Wut und Ärger oder zumindest Erregung und psychischen Stress hervorruft. Je nachdem, wie diese Verknüpfung von Verletzlichkeit und gefühlter Wertlosigkeit in der Biografie verankert wurde, können sowohl Aggressionen als auch (beleidigtes) Zurückziehen die Folge sein. Daher werden Verletzlichkeit und Scham von vielen Forschenden als Grundlagen einer Reihe psychischer Störungen angesehen.
Tabelle 2: Ausgewählte Emotionen und die damit verknüpften Risiken, Funktionen und Chancen
Emotion
Risiko
Funktion/Bedürfnis
Chance
Angst; Furcht
Erstarrung; Lähmung; Grübeln; Nervosität; Übererregung; Phobien; Angst vor der Angst; generalisierte Angst
Schutz; Sicherheit
Überwindung von Ängsten; Flow
Wut; Aggression
Negativität; Aggressivität; Störung der Impulskon trolle; Dominanzstreben; Konflikte; Unbeliebtheit; Verbitterung
Schutz durch Selbstwehrhaftigkeit; Selbstbehauptung/Macht; Rache/Vergeltung
Selbstbestimmung; Durchsetzungsfähigkeit; Versöhnung; Integration
Freude
Leichtsinn; Größenwahn; Manie
Spaß; Wohlfühlen; Genießen; Feiern
Lebenslust; Lebensfreude; Teilen von Freude
Trauer
Untröstlichkeit; Tristesse; Melancholie; Sinnlosigkeitsge fühle; Hoffnungs losigkeit; De pres sivität
Trost; Verständnis; Mitgefühl; Ruhe; Geborgenheit
Verlustverarbeitung; Integration; Auffüllen der Energiereserven durch temporären Rückzug; Wiedergewinnung von Lebensfreude; Lachen
Ekel
Ausgrenzung anderer; Verbitterung; Angst vor Fremdem
Schutz vor Unbekömmlichem; Abstand; Distanz; Abwehr
Balance zwischen gesunder Abgrenzung und Offenheit
Scham; Peinlichkeit
Vermeiden jeder Art von Herausforderung; Vermeiden von Sozialkontakten; sozialer Rückzug
soziale Unauffälligkeit; Achtung; Vermeiden von Ablehnung; ungefährdete soziale Zugehörigkeit und Anerkennung
Akzeptanz der Grenzen anderer; Überwindung von Scham; Erlernen von Selbstverständnis und Selbstakzeptanz; Ausbalancierung von Selbstwertempfinden und Bezogenheit
Verletzlichkeit
starke Erregbarkeit; verstärkte Rückzugs- und/oder Aggressionsbereitschaft; Wertlosigkeits- und Insuffizienzgefühle
Schutz; Anerkennung; Verständnis; Wertschätzung
Selbstakzeptanz; gesteigertes Selbstwertempfinden
Verwirrung
Zwänge; Wahn
Klarheit; Verstehen; Sicherheit
Klärung; Erkenntnisgewinn; Integration
Eifersucht
Verlustängste; Kontrollzwänge/wahn; Autonomieverlust; Grübeleien; Streitigkeiten
Bestätigung der eigenen Einzigartig keit und besonderen Bedeutung; Sicherheit; Zugehörigkeit; Verbindlichkeit
Überwindung von Verlustangst; Verbundenheit; unbedingte Liebe und Selbstliebe
Müdigkeit
Ausgelaugtsein; Erschöpfung; Burn- oder Boreout
kurzfristig: Schlaf; Erholung; langfristig: Rückgewinnung von Wachheit/Munterkeit
Zur-Ruhe-Kommen; Kraftgewinn
Antriebslosigkeit
depressiver Rückzug; Unterforderung; Sinn- und Wertlosigkeitsgefühle
kurzfristig: Rückzug; Regeneration; langfristig: Rückgewinnung von Lebenslust und Antrieb
Steigerung von Motivation und Antrieb; Rückgewinn von Energien
Verzweiflung
Zerrissenheit; Grübeleien in Endlosschleifen; Verlust an Lebensfreude
Klarheit; Sicherheit
Erkenntnis und Verständnis des Sowohl-als-auch; Erlernen von Priorisieren und Temporalisieren
Einsamkeit
Isolation; Verlust an Verbundenheit und Bezogenheit
Kontakt; Verbundenheit; Vertrautheit; Zugehörigkeit; Liebe
Wahrnehmung bzw. Vertiefung der Bezogenheit zu sich selbst und zu anderen
Lust
Gier; Sucht
Genuss
Erfüllung; Zufriedenheit
Ungeduld
Stress; Überforderung; Rastlosigkeit; Aggressivität; ständige (Selbst-)Kritik
Zielerreichung; Erfülltheit
Finden einer Geduld-Ungeduld-Balance; Entwickeln von innerer Ruhe und Gelassenheit
Brown zeigt nun jedoch auf, dass wir Verletzlichkeit keineswegs als mit Beschämung und Wertlosigkeitsgefühlen verbunden erleben müssten, sondern dass sie eine in gewisser Weise natürliche Eigenschaft jedes Lebewesens ist, welches auf soziale Verbundenheit, Zusammengehörigkeit und damit einhergehende soziale Bedürfnisse angewiesen ist (2013). Für die mit diesen sozialen Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten verbundene Verletzlichkeit müsste sich also eigentlich niemand schämen. Da wir aber in der Regel so sozialisiert wurden, dass Beschämungen und die Invalidierung unseres Selbstwertgefühls mit Verletzungserfahrungen einhergingen, ist diese Koppelung als permanente Bedrohung in unserem limbischen System gespeichert. Aggression und schützende Rückzugsneigung sind daher verständliche, weitverbreitete automatisierte Bewältigungsprogramme, die unsere Emotionen nach entsprechenden Auslösesituationen bestimmen. Mit einer Vertiefung der Fähigkeit zur Akzeptanz unserer verletzlichen emotionalen Zustände könnten diese jedoch mit wesentlich geringerer Folgewirkung reguliert werden.
Insgesamt kann daher thesenhaft davon ausgegangen werden, dass zum Verständnis von Emotionen zwei unterschiedliche Ebenen von größter Bedeutung sind: der Gegenwartsbezug, der erklären kann, welche Emotionen in welcher Situation ausgelöst werden, und der in die Vergangenheit gerichtete biografische Bezug, der aufzeigen kann, weshalb bestimmte Emotionen eine individuell stärkere Intensität und Verschachtelung mit weiteren Emotionen sowie mit der Aktivierung von Stresshormonen, somatischen Reaktionen und einem konditionierten Verhaltensrepertoire aufweisen.
Das Bedürfnis, sich vor Verletzungen zu schützen, ist in Situationen psychophysiologischer Erregung allerdings meistens nicht das einzig relevante Bedürfnis. Wir wollen gleichzeitig nicht negativ auffallen, nicht über das Ziel hinausschießen, unseren Arbeitsplatz nicht gefährden, unsere Angehörigen nicht durch eine aggressive Überreaktion erschrecken, aber uns auch nicht zu lange (beleidigt) zurückziehen. Das heißt, wir stecken oft in einem Dilemma beispielsweise zwischen den Impulsen stressbedingter körpereigener Überreaktion und dem Bedürfnis nach sozialem Frieden und Harmonie.
Für das Verständnis der Bedeutung von Emotionen sind zwei Zeitbezüge zu beachten:
(1) der Gegenwartsbezug, aus dem ich eine Emotion wahrnehme und ihr eine Sinnhaftigkeit für ein Bedürfnis zuordnen kann;
(2) der Vergangenheitsbezug, der mir aufzuzeigen hilft, inwiefern die Funktion dieser Emotion mit meiner Konditionierungsgeschichte und möglichen früheren Verletzungen bzw. Entbehrungen einhergeht.
Im Folgenden möchte ich anhand einiger ausgewählter Beispiele aufzeigen, welche Bedürfnisse und Funktionen mit welchen Emotionen verknüpft sind, welche Risiken sich vor allem aus der Unterregulierung ergeben können und welche möglichen Wandlungschancen aus diesen Emotionen sich zum Beispiel für psychotherapeutische Anliegen anbieten und aufgreifen lassen.9 Natürlich ist diese Darstellung innerhalb einer Psychotherapie mit einfühlsamer Neugier im jeweiligen Einzelfall zu prüfen und gemeinsam mit dem Klienten zu explorieren. Dabei steht immer der systemische Grundsatz im Vordergrund: Der Klient ist die Autorität für das Bestimmen seiner Anliegen und das Aufgreifen therapeutischer Angebote. Und auch die möglichen Chancen und Veränderungsziele sind auf der Basis der Selbstexploration und der Selbstverantwortung der Klientin für ihre eigenen therapeutischen Zielsetzungen zu entwickeln. Die Akzeptanz und das Verstehenwollen der Gefühlszustände sind dabei die wichtigste Voraussetzung.
Die hier aufgeführten Emotionen und ihre Funktionen, Chancen und Risiken stellen selbstredend nur eine Auswahl dar. Es ist in jedem Fall sehr hilfreich, sich bei den verschiedenen Gefühlen seiner dahinterstehenden Bedürfnisse bewusst zu werden. Diese Strategie kann dem Klienten Orientierung geben, inwiefern die bisherigen Verhaltensweisen, die mit den Emotionen strukturell gekoppelt auftreten, tatsächlich auch zur Erfüllung der eigenen Bedürfnisse beitragen. So zeigt sich dann bei manchen Emotionen, dass die mit ihnen verbundenen Verhaltensmuster zwar verständlich, aber nicht unbedingt dem Zweck der eigentlichen Bedürfnisse dienlich sind.
Fallbeispiel
Herr Krause fühlt sich bei Kritik schnell angegriffen. Er hatte einen sehr aggressiven und dominanten Vater, der sich sowohl mit der Mutter häufig stritt und diese von oben herab behandelte als auch die beiden Kinder züchtigte. Erst in der Pubertät wagte Herr Krause es aufzubegehren, wodurch er sich etwas Respekt verschaffen konnte. Inzwischen ist Herr Krause verheiratet. Seit es in seiner Ehe Nachwuchs gegeben hat, nehmen die Streitigkeiten zwischen ihm und seiner Frau auch gerade über die Kindererziehung ständig zu, so dass beide Ehepartner schon offen über eine Trennung nachgedacht haben. Die alltäglichen Anforderungen und besonders die Kritik seiner Frau machen Herrn Krause schnell wütend. Er wird dann sehr laut und auch verletzend.
Als wir seine Bedürfnisse besprechen, die mit diesen Emotionen verknüpft sind, fällt ihm auf, dass er sich nichts gefallen lassen will, da es ihn seinem Empfinden nach demütigt, wenn er so oft kritisiert wird. Andererseits spürt er ein Bedürfnis, sich zu verständigen und wieder Harmonie herzustellen. In seiner Wertehierarchie siedelt er dieses Bedürfnis sogar deutlich über dem Bedürfnis an, sich nichts gefallen zu lassen. Letzteres kann er als Relikt aus seiner Kindheit erkennen. Doch aufgrund dessen, dass seine Wehrhaftigkeit zutiefst mit traumatischen Erlebnissen verknüpft ist, nimmt diese einen höheren Stellenwert ein, sobald sich Herr Krause durch die Kritik seiner Frau in seinem Selbstwert bedroht fühlt. Anders gesagt: Seine aggressive Reaktionsbereitschaft ist emotional oft deshalb dominanter, da sie mit als existenziell bedrohlich erlebten Situationen der Gewalterfahrung verkoppelt ist.
In dieser Analyse wird deutlich, dass die emotionalen Reaktionen aufgrund der biografischen Entwicklung zwar sehr verständlich sind, diese in der Folge das höhere Ideal, die Familie zu erhalten, jedoch permanent gefährden. Natürlich gilt es, beiden Bedürfnissen Raum zu geben und zu prüfen, wie ein Sowohl-als-auch in der Partnerschaft ermöglicht werden kann, wofür auch systemisch-zirkuläre Ansätze einer Paartherapie eingesetzt werden können. Im Rahmen der Einzeltherapie von Herrn Krause kann eine Prioritätensetzung zwischen den beiden Bedürfnissen dabei helfen, seine starke und schnelle Wut als Reaktion auf frühere Verletzungen zu verstehen, aber nicht dahingehend überzubewerten, die Partnerschaft unbedingt verlassen zu müssen. Auf dieser Basis gewinnt das Anliegen therapeutische Bedeutung, die Gegenwart von den biografischen Traumatisierungen mithilfe der emotionsbasierten Verfahren Schritt für Schritt zu entkoppeln, die Traumatisierungen besser zu verarbeiten und eine adäquate Selbstberuhigung zu verfolgen.
Auch bei anderen Gefühlen, beispielsweise vielen Ängsten sowie Scham und Verletztheit, führen die meist damit verwobenen Verhaltensmuster wie Rückzugs- und Vermeidungsverhalten nicht unbedingt dazu, die sozialen Bedürfnisse nach verbesserter Bezogenheit, Zuwendung und Anerkennung, nach Verständnis und Geborgenheit etc. zu erfüllen. Sie erzeugen einzig einen besseren Schutz, jedoch bleiben dabei die eigentlichen Bedürfnisse zumeist unerfüllt.
Daher ist es auch bei scheinbar alltäglichen Gefühlen wichtig, die verschiedenen dahinterstehenden Bedürfnisse nicht aus dem Auge zu verlieren und zu prüfen, inwieweit die automatisierten Reaktionsmuster mit diesen kompatibel und für ihre Erfüllung angemessen erscheinen. Gerade in Konflikt- und Bedrohungssituationen ist dies wegen der schnellen Reaktionsgeschwindigkeit bisweilen kompliziert, weswegen sich dann die Frage stellt, wie die ursprünglichen Bedürfnisse bei Überreaktionen mit den sozialen Folgen und Rückwirkungen auf die Überreaktion wieder in Einklang gebracht werden können.
Beispielhaft reagieren viele Menschen mit Rückzug, nachdem sie sich missverstanden oder gar ungerecht behandelt gefühlt haben. Dieser Rückzug signalisiert möglicherweise ein Schutzbedürfnis. Das dahinterstehende Bedürfnis könnte jedoch auch als Harmonie- oder Anerkennungsbedürfnis gewertet werden, für dass sich womöglich andere, z. B. proaktive Verhaltensmuster besser eignen würden als ein lang anhaltendes Rückzugsverhalten.
1.1.6Grundbedürfnisse und Affektsysteme
Für unser Verständnis, was sich hinter unseren Gefühlen verbirgt, ist es hilfreich zu erkennen, welche Grundbedürfnisse ganz allgemein für das menschliche Wohlergehen von Relevanz sein können.10 Aus meiner Sicht sind hierbei für den psychotherapeutischen Kontext in erster Linie drei Faktoren besonders beachtenswert: das Bindungs- und Zugehörigkeitsbedürfnis, das Autonomiebedürfnis und das Anerkennungs-/Selbstwertbedürfnis.
Bindungs- und Zugehörigkeitsbedürfnis
Bindung wird als das zentrale Grundbedürfnis betrachtet, ohne das beispielsweise das Überleben eines Neugeborenen nur schwer vorstellbar ist. Genauere Ausführungen zu diesem Thema finden sich im Abschnitt zur Bindungsforschung (▶Kapitel 1.5.1). Dort wird auch die Bedeutung unterschiedlicher Bindungsstile für das spätere Beziehungsverhalten eines Menschen aus der Perspektive der Bindungstheorie betrachtet.
Andere Bedürfnisse, die für Entstehung emotionaler Schemata von essenzieller Bedeutung erscheinen, sind mit dem Bindungsbedürfnis verwandt oder können als dessen Unterthemen angesehen werden. Für mich ist hier zentral das Zugehörigkeitsbedürfnis zu nennen, welches sich als Bedürfnis beschreiben lässt, sich mit einer Gruppe, einem Verein, einer Familienbande, einer politischen Gruppierung oder auch einer Idee bzw. Ideologie zu identifizieren.
Daneben sind auch die Bedürfnisse nach Geborgenheit und Sicherheit mit den beiden vorgenannten Bedürfnissen nach Bindung und Zugehörigkeit verwandt. Die Bedürfnisse nach Anerkennung und Zuwendung wiederum rekurrieren in ihrer Grundstruktur ebenfalls auf das Bedürfnis, die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe bzw. Partnerschaft zu sichern, werden sich aber spätestens in einer auf das Individuum bezogenen Gesellschaft zu eigenständigen Bedürfnissen ausdifferenzieren.
Autonomiebedürfnis